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Irrwege

Teil 14 - Coming Out

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Coming out

Zuhause ist ein seltsames Wort, eines, das ich im Moment nicht so recht definieren kann. Wo ist Zuhause? Fahren wir gerade nach Hause oder verlasse ich es jetzt – im Schritttempo noch dazu, weil Lucas und ich nur zwei von gefühlten Millionen sind, die alle der Großstadt am frühen Nachmittag des letzten Adventssamstags den Rücken zukehren wollen. Und wieder … von Wollen kann nicht wirklich die Rede sein, so ungern wie ich Kim ausgerechnet jetzt, an Weihnachten, allein lasse. Ist er mein neues Zuhause? Und Basti, Kristin, Ole, Jonna und Leah? Auch wenn ich mehrmals in der Woche mit ihnen telefoniert habe, meine Eltern habe ich in den letzten Monaten nur dreimal gesehen, meine Schwestern noch seltener.

Lucas ist der einzige Fixpunkt in meinem Leben, die Verbindung zwischen früher und heute. Wo ich bin, da ist auch er, die Zeit ohne ihn nicht mitgerechnet, sie wird ausradiert, hat nie stattgefunden. Auch jetzt sitzt er neben mir, die Augen geschlossen, müde.

Für uns alle war die Nacht zu kurz, zu vieles ist passiert, über das wir nicht gesprochen haben, weil … Weihnachten ist. Eine Zeit der Freude und der guten Laune, da will man nichts Unangenehmes zur Sprache bringen, weder den Streit mit dem besten Freund noch das Gefühl der Einsamkeit, das mit jedem Jahr schlimmer wird, ganz besonders zu dieser Jahreszeit, in der sich alles um eine Sache drehen sollte: Zusammensein.

„Du kannst weiterfahren.“ Lucas’ Stimme reißt mich aus meinen Gedanken, ich lasse den Wagen langsam weiterrollen.

„Vielleicht hätten wir doch mit der Bahn fahren sollen“, murmele ich, als wir nach dreißig, vierzig Metern wieder zum Stehen kommen.

„Und uns diese einmalige Gelegenheit entgehen lassen?“, fragt Lucas. „Markus, wir sind allein! Nur wir beide, zu zweit in der großen weiten Welt … deines Wagens. Wer weiß, wann wir wieder so ungestört miteinander reden können, zum Beispiel …“

„Über Musik“, unterbreche ich ihn. „Sorry, du zuerst.“

„Nein, Musik ist okay. Wie fandest du’s gestern Abend?“

„Klasse. Die Auswahl der Songs war toll. Den einen fand ich ganz besonders gut, war das schwedisch?“

„Das waren Anja und Maj-Britt, die kommen aus Schweden. Ihre Version von Fairytale in New York war spitze, nicht?“

„Oh ja. Außerdem nicht zu verachten: Kristin. Ich meine, so langsame, gefühlvolle Songs bin ich von ihr gewohnt, aber sie ist richtig wild geworden – wow! Und ja, die … die ganze Band … man merkte richtig, dass sie schon lange zusammenarbeiten und …“ Hm, was kann ich denn noch über Kristins Band sagen? „Ja, also …“

„Okay, schon klar“, grinst Lucas, „du willst mich quälen. Ist in Ordnung, kriegst du sehr gut hin … Jetzt spuck’s endlich aus: Wie war ich?“

„Ganz ehrlich?“, frage ich und versuche dabei möglichst ernst dreinzuschauen.

„Mhm.“

Ich atme tief ein, sehe ihm in die Augen und bekomme gerade noch ein Grottenschlecht heraus, bevor ich das Lachen nicht mehr zurückhalten kann.

„Du hast Glück, dass wir im Auto sitzen, noch dazu mit so vielen gelangweilten Zuschauern um uns herum, sonst würde Peter Pan dich für deine Lügen ein für alle Mal vernichten.“ Oh, da wird Captain Hook auf einmal ganz anders …

Die Autos vor uns werden rarer, die meisten verlassen noch innerorts die Hauptstraße, die letzten Meter bis zur Stadtgrenze haben wir bald hinter uns. Unsere Geschwindigkeit pendelt sich irgendwo zwischen vierzig und fünfzig ein, mehr ist bei dem heftiger werdenden Schneefall nicht drin. Ich glaube, der Moment ist gekommen, das Versprechen, das ich Kristin gegeben habe, wenigstens teilweise einzulösen.

„Kristin“, setzen wir beide an, bevor ich Lucas auffordernd zunicke.

„Also, sie hat da sowas gesagt wie … dass ich die Uni wechseln sollte. Ich meine, sie hat es wahrscheinlich nicht mal ernst gemeint, aber ich hab drüber nachgedacht. Und, na ja, was würdest du davon halten? Nicht dass sie mich auch wirklich nehmen, aber … falls doch, wäre das okay für dich?“

Er hat ihren Vorschlag also doch ernst genommen und sich Gedanken gemacht – wer hätte das gedacht?

Es geht um Musik, seine größte Leidenschaft, seit der allerersten Stunde bei Frau Zoënn, etwas, was er verloren geglaubt und wiedergefunden hat, da kann ich ihm schlecht im Weg stehen. „Erinnere dich daran, wie du dich letzte Nacht gefühlt hast, nach dem Auftritt“, fordere ich ihn auf. „Dann hast du meine Antwort, Lucas.“

Er war absolut in seinem Element. Ich glaube nicht, dass er sich jemals so wohl, so selbstsicher, so eins mit irgendjemandem oder irgendetwas gefühlt hat wie mit der Musik auf der Bühne des bxd. Seine Stimme hat nicht nur bei mir eine Gänsehaut hervorgerufen, bei seiner Darbietung von Joni Mitchells River hat sogar Jonna ein paar Tränen vergossen, obwohl sonst kein anderer Mann als ihr geliebter Johnny Depp sie zu derartigen Gefühlsausbrüchen verleiten kann.

„Es gibt allerdings etwas, was mir ganz und gar nicht passt“, gestehe ich ihm. „Dass du mich das überhaupt fragst. Nein, warte. Ich meine nicht die Frage an sich, sondern, dass du bereit wärst, auf diese Chance zu verzichten, wenn ich es sagen würde.“

„Ich würde auf gar nichts verzichten“, widerspricht er. „Musik kann ich auch ohne eine Hochschulausbildung machen, die brauch ich nicht.“

„Bestimmt, aber es wäre nicht fair. Uns beiden gegenüber, verstehst du?“ Er schüttelt den Kopf. „Du … du versuchst mir schon ewig Eigenständigkeit beizubringen, ein eigenes Leben, eins, von dem du ein Teil, aber nicht mehr das Zentrum bist. Und jetzt, da ich es endlich geschafft habe, mit Kim und der WG, mit Noah und der Lerngruppe, jetzt willst du dein Leben nach mir richten. Soll ich … soll ich mich schuldig fühlen – dafür, dass ich glücklich bin?“

„Das bin ich doch auch“, wendet er ein.

„Wirklich, Lucas? Willst du mir weismachen, dass dir Jesse nicht immer noch fehlt? Oder dass du nicht lieber deine ganze Energie in die Musik stecken würdest, anstatt dich mit Markttheorien zu beschäftigen, die dich überhaupt nicht interessieren?“

Lucas sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wie kommst du denn da drauf?“

„Kristin hat mir die Augen geöffnet.“

„Verstehe“, flüstert er. Keine Sekunde später schlägt er sich mit den Fäusten auf die Oberschenkel. „Scheiße, Markus! Hast du eine Ahnung, was das bedeuten würde? Wir würden uns kaum noch sehen, wir müssten Termine abmachen, nur um uns mal zum Quatschen zu treffen. Das ist doch …“

„Eine erwachsene Freundschaft“, beende ich seinen Satz, woraufhin Lucas scharf ein- und ausatmet. Dann nickt er langsam, während er seinen Blick abwendet und der weißen Landschaft dabei zusieht, wie sie an uns vorbeizieht.

Er schmollt, das glaube ich einfach nicht! Das kann er doch nicht ernst meinen! In den letzten Tagen haben wir uns außerhalb der Vorlesungen kaum gesehen, sind jetzt das erste Mal wieder allein und wollen uns doch eigentlich unterhalten, und er … Was hat er denn erwartet, dass ich Nein sage? Dass ich ihn anflehe, nicht zu wechseln, damit er mir hinterherdackelt und Jesse letzten Endes doch Recht behält?

„Keine Chance!“

„Was?“, wendet sich Lucas wieder mir zu.

„Ich werde dich nicht anbetteln zu bleiben, aber auch nicht zu gehen. Wenn du wirklich so dumm bist, dir eine solche Chance entgehen zu lassen, aus welchen Gründen auch immer, dann viel Spaß dabei – aber versuch nicht, mir deswegen ein schlechtes Gewissen einzureden, klar?“

„Klasse!“, grinst er und gibt mir damit zu verstehen, dass alles nur Show war. Oder?

„Du hast mich auf den Arm genommen“, stelle ich fest.

„Bist du verrückt? Hast du dich in letzter Zeit mal gewogen? Ich bin schließlich nicht Superman!“, lacht er. „Ich werd’s tun. Sobald wir wieder zurück sind, lass ich mir von Kristin die Bewerbungsunterlagen mitbringen und dann, mal sehen … vielleicht laden sie mich irgendwann mal ein – so in zwei, drei Semestern.“

„Am Dreißigsten, um genau zu sein“, unterbreche ich seine lauten Gedanken.

„Was ist da? Wir haben extra nichts geplant für die Ferien, Markus. Hat deine Mutter etwa wieder …?“ Damit spielt er darauf an, dass Mom, was Weihnachten und die Woche danach angeht, unsere Zeit gern mit Familienterminen verplant: Verwandtenbesuche, Spieleabende, das obligatorische Weihnachtsessen am ersten Weihnachtsfeiertag – von morgens bis abends. Wenn es um Weihnachten geht, versteht sie keinen Spaß. Dass Lucas sich letztes Jahr nach Österreich abgesetzt hat, hat sie fast zur Weißglut getrieben – nur Paps weiß, wie er sie besänftigen konnte.

„Nein“, beruhige ich ihn. „Sie hat nichts geplant, wir haben die ganzen Ferien für uns. Bis auf den Dreißigsten, da müssen wir zurück.“

„Verstehe“, meint er, „du willst Silvester mit Kim feiern. Bring das mal deiner Mutter bei.“

„Keine Angst, sie wird nichts dagegen haben, immerhin geht’s um deine Zukunft.“

„Mhm“, macht er und ich kann förmlich sehen, wie sein Gehirn auf Hochtouren läuft bei dem Versuch, meinen Worten einen Sinn zu entnehmen.

„Um vierzehn Uhr hast du einen Termin bei Kristins Prof“, erlöse ich ihn endlich von seinem Leiden.

Er stutzt, sieht zu mir rüber, zuerst mit gerunzelter Stirn, dann mit immer größer werdenden, leuchtenden Augen. In Zeitlupe bewegt sich sein Arm in meine Richtung, legt sich um meine Schulter. Der Wagen schlittert ein paar Mal, als er mich an sich drückt. Grinsend sehe ich ihn an, er schüttelt den Kopf und sagt dann lachend: „Guck lieber auf die Straße, bevor wir noch im Graben landen und ich die Chance meines Lebens verpasse!“


Dies ist das erste Mal, dass ich nach mehr als drei Wochen in meine Geburtsstadt zurückkehre, denn vor der Uni habe ich sie nur für Klassenfahrten, Tages- oder Wochenendausflüge und Urlaube verlassen – und letztere haben nie länger als drei Wochen gedauert. Im Unterschied zu früher, als wir die Stadt beim Heimkommen genauso vorfanden, wie wir sie verlassen hatten, als wäre die Zeit stehengeblieben, als hätten Menschen, Bäume und Vögel aufgehört zu atmen, bis wir wieder aus dem Taxi oder aus unserem Minivan ausstiegen, ist die Zeit in den letzten drei Monaten weitergelaufen – ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass Lucas und ich vielleicht etwas verpassen könnten.

Er hat vorgeschlagen, dass wir einen Umweg fahren und die Bundesstraße an der südlichsten Ausfahrt verlassen, um auf den ersten Blick keinerlei Veränderungen zu erkennen. Die Hauptstraße scheint genauso auszusehen wie jeden Winter – mehr Schnee am Straßenrand, sonst aber nichts weiter. Sieht man jedoch genauer hin, fallen die ersten Unstimmigkeiten ins Auge: Der kleine Spielzeugladen neben der Post bietet heute griechische Spezialitäten an, das seit Jahren leerstehende Haus eine Ecke weiter beherbergt jetzt ein stylisches Nagelstudio und unser Lieblingsbuchladen, praktischerweise unserem alten Gymnasium gegenüber gelegen, ist mittlerweile doppelt so groß und trägt unter dem eigenen Namen den Schriftzug einer Kette, die jüngst auch auf dem Campus eine Filiale eröffnet hat.

„Glaubst du, der alte Wikowsky hat freiwillig verkauft?“, fragt Lucas und bittet mich, an der nächsten Kreuzung nach links abzubiegen. Allmählich fängt es an zu dämmern, als wir auf Lucas’ Wunsch hin vor dem Haus von Bellas Eltern halten.

„Du bist wohl nicht so scharf darauf, nach Hause zu kommen, was?“, erkundige ich mich indirekt nach dem Grund unseres Zwischenstopps.

„Schon, aber vorher müssen wir noch was erledigen“, meint er geheimnisvoll und klingelt an der Tür. Bellas Gesicht späht durchs Fenster hinaus, eine Sekunde später macht Kevin auf.

„Da seid ihr ja endlich“, ruft Bella und stellt sich hinter ihren Freund, der mit der Hand auf Bellas Zimmer deutet.

„Dort drin sind wir ungestört“, sagt er und macht das Ganze damit nur noch mysteriöser. Ein unerklärliches, beklemmendes Gefühl beschleicht mich, als ich die Tür hinter mir zudrücke und mich plötzlich einer menschlichen Mauer gegenüber wiederfinde. Alle drei stehen sie da mit ernsten Gesichtern und gekreuzten Armen und sehen mich an, als sollte ich wissen, worum es geht, als sollte ich anfangen – womit auch immer. Was äußerst seltsam ist, weil sich ja sonst weder Bella noch Lucas besonders schwer damit tun, drauflos zu plappern.

„Ist Benni gestorben?“, frage ich das erste, was mir einfällt, und hoffe zugleich inständig, dass Kevins dreizehnjähriger Mischling nicht das Zeitliche gesegnet hat.

„Nein, der ist hinten im Garten und tobt im Schnee, du weißt ja, wie verrückt … Wir sind deinetwegen hier“, unterbricht Bella sich selbst.

Klingt einleuchtend, die ganze Welt dreht sich ja ausschließlich um mich … „Ähm“, teile ich meine Erleuchtung mit ihnen.

„Du willst dich outen“, kommt Lucas endlich auf den Punkt, „und wir möchten dir helfen.“

Ach so, dann kann ich mich ja wieder entspannen. Ich lasse mich in Bellas alten Lesesessel fallen und sehe sie erwartungsvoll an.

„Lucas hat mir erzählt, dass Bastian keine große Hilfe war. Wir alle kennen deine Eltern …“

„Ich nicht“, wirft Kevin ein, bevor Bella ihn mit einem Kopfschütteln wieder zum Schweigen bringt.

„Sie lieben dich, Markus, aber wenn’s ums Schwulsein geht, hört man die merkwürdigsten Geschichten. Man weiß nie vorher, wie sie reagieren werden.“ Sie klingt, als spräche sie aus eigener Erfahrung – ich muss mich beherrschen, sie nicht damit aufzuziehen.

„Du hast keinen Plan, keine … Strategie“, meint Lucas und setzt sich auf einen Stuhl, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Strategie“, nicke ich verstehend. „Na ja, ich dachte, ich versuch’s erst mal mit einem Sturmtrupp aus Elitesoldaten, dann mit Bio-Waffen und wenn es dann immer noch nicht vorbei ist, lass ich eine Atombombe aufs Haus fallen.“ Sie sehen mich an, als wäre ich vollkommen durchgeknallt. „Leute, ich führ hier keinen Krieg gegen meine Eltern, okay? Ich brauche keine Strategie …“

„Er hat Recht“, wendet sich Lucas an Bella, „wenn sie das nicht so gut aufnehmen, ist es eigentlich auch egal, er übernachtet sowieso bei mir.“

Findet es außer mir noch jemand spitze, wenn sie über einen sprechen, als wäre man gar nicht im Raum?

„Mein altes Zimmer gehört jetzt Emma“, kläre ich Bella auf.

„Es geht aber nicht um heute Nacht“, sagt Kevin leise und zieht damit alle Blicke auf sich. „Nicht nur. Es geht um den Rest deines Lebens. Vergeig dein Coming Out und die Beziehung zu deinen Eltern wird nie mehr so sein wie jetzt.“ Ein paar Sekunden sagt keiner was, auch Kevin nicht, er lässt seine Worte wirken. Dann fährt er fort: „Erinnert ihr euch an Römchen?“

Römchen, eigentlich Roman Schneider, war in der Mittelstufe Kevins bester Freund, bis er von einem Tag zum nächsten verschwand. „Was ist eigentlich aus ihm geworden?“

„Sie haben ihn rausgeschmissen. Er hat ein paar Nächte bei mir übernachtet, dann war er eines Tages nicht mehr da, als ich von der Schule kam. Heute wohnt er in Amsterdam, hat da zusammen mit seinem Freund ein kleines, nettes Café. Es geht ihm gut, er ist …“

„Doch nicht etwa glücklich?“, hake ich nach.

„Fast. Aber seine Eltern hat er seit damals nicht mehr gesehen. Das kann keiner wollen, oder?“

„Ihr macht euch unnötig Sorgen“, beruhige ich sie.

„Ja, vielleicht. Wahrscheinlich. Du solltest dir nur bewusst sein, dass diese Möglichkeit besteht – mehr nicht.“

Ist das die große Hilfe, die sie mir anbieten wollten? „Das ist mir klar, Leute. Und deswegen bin ich auch sehr froh, dass ihr da seid, aber ich werde mich nicht outen.“

„Nicht? Aber …“ Nicht nur Lucas ist sprachlos.

„Seht mal: Ich habe mir mehr Gedanken darüber gemacht, als ihr mir offenbar zutraut, hab heute Morgen nochmal mit Kim darüber geredet, und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich es nicht tun werde. Zumindest nicht offen. Ich bin keine Fünfzehn mehr, ich werde mich nicht wie ein Kind vor sie hinstellen und eine Ansprache halten und hoffen, dass alles gut geht. Ich bin verliebt, ja, und das werde ich keineswegs leugnen, wenn sie mich danach fragen. Ebensowenig wie die Tatsache, dass Kim ein Mann ist. So gesehen habe ich dann doch einen Plan, nämlich zu reagieren. Und wenn was schief geht, dann gebe ich ihnen die Zeit, die sie benötigen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sie sind keine Schneiders …“

„Nein, das sind sie nicht, sonst hätten sie euch damals, als die ersten Gerüchte in der Schule aufkamen, dass ihr zusammen wärt, bestimmt getrennt“, pflichtet Bella mir bei.

„Eben.“

„Die Frage bleibt dennoch“, lässt Kevin nicht locker. „Was machst du, wenn sie nicht so reagieren, wie ihr alle es erwartet? Ob aktiv oder passiv, wie auch immer es passieren wird, es ist trotzdem ein Coming Out – unabhängig davon, wie du es bezeichnest.“

Auch Lucas und Bella sehen mich nun fragend an. „Dann … fahr ich heim und verbringe Weihnachten mit Kim … und mit Basti. Madame Xiao kann über die Feiertage bestimmt jede Hilfe im Restaurant brauchen. Du musst dann halt mit der Bahn nach Hause kommen“, sage ich an Lucas gewandt.

„Oder ich fahr mit dir zurück. Aber dazu wird es nicht kommen“, antwortet er und legt einen Arm um meine Schulter. Das Gefühl beschleicht mich, dass er damit mehr sich selbst als mich beruhigen will.

„Dann ist alles geklärt?“, erkundige ich mich in der Hoffnung, endlich weiterfahren zu können.

„Ja, sicher“, nickt Bella. „Versprich mir nur, dass du, was auch immer passiert, nicht ausrastest und Sachen sagst, die du später bereuen könntest.“ Wie meint sie das denn? Ich bin doch immer ruhig und gelassen … „Du hast dich in den letzten Monaten sehr verändert“, fügt sie hinzu und öffnet die Tür.

Damit ist dann wohl alles gesagt. Ich folge Lucas und Bella, doch bevor ich das Zimmer verlassen kann, wird die Tür geschlossen. Von innen. Ich drehe mich zu Kevin um. Oder er zu mir, stellt sich mit dem Rücken zur Tür.

„Ich hoffe … wirklich, dass alles gut wird. Dass es so läuft, wie du es dir wünschst.“

„Danke. Aber …“

Er hebt abwehrend die Hand.

„Und ich hoffe, dass du dein Leben endlich in den Griff kriegst, dass das heute das letzte Mal war, dass … Versteh mich nicht falsch, ich habe kein Problem, dass ihr befreundet seid, aber dass ich immer die zweite Geige spiele … Ich weiß nicht, wie lange ich das noch mitmachen kann. Will. Seit Beginn des Semesters ist dein Leben ein einziges Chaos und immer eilt sie dir zur Hilfe und … Einmal hatte ich auch mal einen Wochentag frei, wollte sie mit einem Ausflug überraschen, aber als ich aufgewacht bin, lag da nur ein Zettel, dass sie zu dir gefahren ist, weil du Liebeskummer hast. Verstehst du?“

Ganz ehrlich? „Nein.“

„Fuck!“ Hilfesuchend sieht er mich an, doch ich weiß nicht, was er meint. „Ich liebe sie über alles, ich würde alles für sie tun, doch ich bin nicht bereit, sie mit dir zu teilen. Ich weiß, dass sie mich auch liebt, aber momentan werde ich das verdammte Gefühl nicht los, dass du ihr wichtiger, weit wichtiger bist als ich.“

Jetzt verstehe ich: Er fühlt sich vernachlässigt. „Da täuschst du dich“, beruhige ich ihn. „Sie liebt dich – nur dich. Und dass du es unangebracht findest, wenn sie an deinem freien Tag am frühen Morgen verschwindet, das solltest du ihr sagen, nicht mir, denn ich bin völlig deiner Meinung. Rede mit ihr, Kevin. Und hol auf jeden Fall den Ausflug nach!“

Er versucht sich an einem Lächeln, es fällt aber recht schwach aus. „Klar. Danke. Für nichts. Und frohe Weihnachten.“ Er öffnet die Tür und lässt mich durch. Bella und Lucas sind so sehr in ein Gespräch vertieft, dass sie anscheinend gar nicht merken, dass wir jetzt erst dazustoßen.

„Hey, wollen wir?“ Ich werfe Lucas seine Jacke zu und dann verabschieden wir uns, nachdem wir Bellas Eltern eine schöne Weihnachtszeit gewünscht haben.

Kaum sitzen wir wieder im Auto, ich will gerade den Zündschlüssel drehen, da legt Lucas seine Hand auf meine und fragt: „Alles okay? Was wollte Kevin von dir?“ Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich ihm von Kevins kleiner Eifersüchtelei erzähle.


Zehn Minuten später biegen wir in den Meisenweg ein, der Wagen wird langsamer, kommt zum Stehen. Hinter der nächsten Kurve, keine hundert Meter weiter, warten sie bestimmt alle darauf, dass wir ankommen, jeder auf seine eigene Art: Anna läuft aufgeregt durchs Haus, während sie mit ihrer besten Freundin oder ihrem aktuellen Freund telefoniert, Emma sitzt in ihrem Lieblingssessel in Paps’ Büro und liest, Paps tut alles, um Mom nicht im Weg zu stehen, und sie selbst wirbelt durch die Küche und jongliert mit Backblechen voller Plätzchen wie eine Zirkusakrobatin, wobei ihre alte Schürze, deren Farben vom vielen Waschen längst verblasst sind, mit ihrem Flattern Moms Bewegungen eine nicht zu verkennende Eleganz verleiht.

Mit einem Mal sehe ich Emma vor mir. Sie sitzt im Garten mit einem Buch in der Hand, blickt zu mir hoch und warnt mich erneut vor meinen Gefühlen für Lucas. Als ich sie beruhigen will, ihr sagen möchte, dass wir mittlerweile wirklich nur noch Freunde sind, verblasst sie allmählich, bis schließlich auch die unscharfen Konturen ihres Gesichtes von einem kalten Windhauch still davongetragen werden.

Ich mache den Motor aus und sehe Lucas an.

„Kalte Füße?“, fragt er mitfühlend.

„Nein. Nein, die Fußheizung ist ja an.“

„Ich meinte es auch mehr bildlich gesprochen“, klärt er mich auf.

„Ach so.“ Ich nicke und erzähle ihm von Emmas Worten an unserem letzten Abend hier, von ihrer Warnung, dass ich aufpassen soll, wem ich von meinen Gefühlen für Lucas erzähle. „Vor wem sonst, wenn nicht vor meinen Eltern, hat sie mich damals gewarnt?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Aber was ich dir sagen kann, mit Bestimmtheit, ist, dass du vor deinen Eltern keine Angst haben brauchst.“

„Da drin warst du dir nicht so sicher“, deute ich mit dem Kopf nach hinten, in Richtung Bellas Haus.

„Hmm“, macht er. „Das eben hat dich ganz schön verunsichert, oder? Tut mir leid, ich hätte dich da nicht zu zwingen sollen. War ’ne dumme Idee.“

„Sie kam nicht von dir, stimmt’s? Bella kann man nun mal nichts abschlagen, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat.“

Lucas lacht, ich bringe immerhin ein Lächeln zustande. „Ich würde es nicht verkraften, sie zu verlieren.“

„Das wirst du auch nicht“, sagt er bestimmt. „Ich verspreche es.“

Obwohl ich ihm gern glauben würde, zögere ich, starte das Auto erst wieder, als er aufmunternd meine Hand drückt.


Sehr zur Freude des städtischen Energieversorgers sieht unser Haus an Weihnachten so aus, als wäre es geradewegs einem amerikanischen Weihnachtsfilm entsprungen mit dem mannshohen Plastikschneemann vor der Tür (dessen echter Kollege sich keine drei Meter weiter bewundern lässt), der einen abends leuchtend willkommen heißt, den vielen bunten, blinkenden Lichtern in den Bäumen im schneebedeckten Vorgarten, dem von seiner von zehn riesigen Rentieren angeführten Kutsche zum Kamin hinunterkletternden Weihnachtsmann samt prall gefülltem Geschenkesack oder den unzähligen Lichterketten, die Türen und Fenster verzieren.

Mit dem Rücken an den Wagen gelehnt, lassen wir ein Weilchen das Spektakel auf uns wirken, sehen wortlos – und schmunzelnd – Mom in der Küche hektisch herumwerkeln, während Claudia, die Ruhe in Person, sie mit geöffneten Armen zum Durchatmen animiert, nur um sie beide, kaum dass wir die Klingel gedrückt haben, laut schreien zu hören: „Sie sind da!“

Als wären wir nach jahrelangem Verschollensein plötzlich wieder aufgetaucht, werden wir von unseren Müttern gedrückt, geküsst und nochmal gedrückt und dann, als wir endlich wieder Luft bekommen, zur jeweils anderen gereicht, wo das Geknuddel gleich weitergeht. Gefühlte Stunden später lassen sie von uns ab, bringen etwas Abstand zwischen sich und uns und schütteln den Kopf.

„Ihr seid beide nur noch Haut und Knochen“, meint Mom und zieht uns in die Küche, setzt uns an den Tisch, auf dem schon zwei dampfende Teller Suppe auf uns warten.

Während wir uns von innen aufwärmen, stellen sie uns ununterbrochen Fragen, ohne uns eine Chance zu geben, auch nur eine davon zu beantworten, was uns nur recht sein kann. Eine dieser Fragen lässt mich jedoch von meinem Teller hochblicken und Lucas verschluckt sich beinahe, als er sie hört. „Wo hast du denn eigentlich deinen Schatz Bastian gelassen, Markus? Dein Vater und ich hatten gehofft, ihn jetzt an Weihnachten besser kennen zu lernen, ihr passt so gut zusammen.“

Ich schaue zu Lucas rüber, er nickt kaum merklich. „Wie … meinst du das, Mutter?“

„Wie schon? Ich freu mich, dass du endlich auch jemanden gefunden hast, der dich glücklich macht. Ich weiß ja, wie schwer es dir fällt, jemanden in dein Herz zu lassen.“

„Obwohl, nachdem du Jesse verlassen hast, da haben wir eigentlich damit gerechnet, dass ihr beide ein Paar werdet“, fügt Claudia hinzu und zeigt zuerst auf Lucas, dann auf mich.

Ich verstehe die Welt nicht mehr, war meine Panik vorhin völlig umsonst? Und Lucas’ und Bellas? Und Kevins? Soll das mein Coming Out sein?

„Mutter, Bastian ist ein …“

„Mann? Ich weiß, Schatz. Die Liebe interessiert das nicht, sie ist blind. Etiketten interessieren sie nicht. Und mich auch nicht. Sei glücklich, Markus, mit wem auch immer.“

Ist es erlaubt, in einem solchen Augenblick zu weinen? Nicht viel, nur ein paar Tränen, als ich aufstehe und meine Mutter drücke. „Danke, Mom. Aber wie kommst du auf Basti?“

„Das letzte Mal, als wir dich besucht haben, da lagt ihr ganz verschlafen aneinandergekuschelt auf der Couch, da haben wir eins und eins zusammengezählt.“

„Und euch verrechnet, fürchte ich“, enttäusche ich sie nur ungern. „Bastian und ich sind nicht mehr als Freunde.“

Moms Oh klingt ziemlich enttäuscht. Sie muss Basti auf Anhieb sehr gemocht haben, was ich auch tue, nur nicht so, wie sie es anscheinend gern hätte.

„Dann habt ihr beide also doch endlich zueinander gefunden?“, erkundigt sich Claudia.

„Ja“, antwortet Lucas mit einem leisen Seufzer. „Und nein. Wir lieben uns und ich werde nie aufhören, Markus zu lieben, aber ich stehe nun mal auf Frauen, daran kann keiner von uns was ändern.“

„Wenn ihr beide Single seid, dann ist es umso wichtiger, dass ihr Weihnachten zu Hause verbringt, von Menschen umgeben, die euch gern haben.“

„Single? Das kann man so nicht sagen“, meint Lucas und sieht mich auffordernd an.

„Stimmt, das kann man …“ Weiter schaffe ich es nicht, meine Stimme versagt mir den Dienst. Stattdessen hole ich mein Handy heraus und zeige ihnen stolz einige Fotos, die ich gestern Abend geschossen habe.

„Das ist Kim, mein Freund. Er ist liebevoll, zärtlich, er bringt mich ständig zum Lachen. Er engagiert sich im Jugendzentrum, ist ein begnadeter Schauspieler und …“

„… und sehr gutaussehend“, vervollständigt Mom meinen Satz. „Wenn wir zwanzig Jahre jünger wären, hm, Claudia?“, stößt sie schmunzelnd Lucas' Mutter an.

„Hättet ihr keine Chance bei ihm“, lässt Lucas ihre Seifenblase platzen, „er ist nämlich total vernarrt in Markus.“

Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt, also lenke ich schnellstmöglich von mir ab. „Dafür liegen Lucas alle Frauenherzen der Stadt zu Füßen.“

„So ist er, der Lucas“, lacht seine Mutter. „Kaum wieder auf dem Markt, schon reißen sich die Mädels um ihn. Warte nur, bis Anna und Emma das erfahren!“

Mein Freund funkelt mich an. „Ach was, er übertreibt mal wieder. Kristin, seine Mitbewohnerin, und ich sind uns in letzter Zeit etwas näher gekommen, mehr aber nicht.“

„Ja, genau, ich hab mal wieder zu dick aufgetragen“, mache ich einen Rückzieher, bevor Lucas sich noch unwohler fühlt. „Apropos Emma, wo sind denn alle?“

„Dein Vater und Michi sind auf der Suche nach Tannenbäumen, Anna hat völlig überrascht festgestellt, dass Weihnachten vor der Tür steht und sie noch keine Geschenke hat, und Emma ist in letzter Zeit ständig unterwegs. Anna meint, sie hat einen Freund, aber du weißt ja, wie gern sie sich Geschichten ausdenkt.“

„Aber … aber heute Abend sind alle wieder hier, oder? Wir würden euch nämlich gerne etwas zeigen“, mache ich sie neugierig und grinse Lucas an, der mir allem Anschein nach am liebsten den Kopf abreißen würde. „Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich muss kurz telefonieren.“ Lucas nimmt mein Aufstehen als Stichwort, mir in den ersten Stock zu folgen.

„Ich will wirklich telefonieren, Lucas. Ich will Kim anrufen und ihm Bescheid geben, dass wir angekommen sind.“

„Kannst du gleich. Vorher sag mir bitte, dass du ihnen nur das Stück zeigen willst. Nicht das Konzert, Markus.“

Wieso nicht, was soll das? Er hat vor hundert Menschen gespielt, aber seine Familie darf es nicht sehen?

„Wo liegt das Problem?“

„Keine Ahnung, ich weiß es nicht. Ich fühl mich einfach nicht wohl dabei. Versprich mir, dass du es nicht tust, Markus, okay? Nicht … bevor ich soweit bin.“

Obwohl ich nicht verstehe, was mit ihm los ist, merke ich, wie wichtig es ihm ist. „Hier, die DVD. Du kannst selbst entscheiden, wann du sie ihnen zeigen willst, aber tu es, es ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das du ihnen machen kannst.“

„Danke. Und herzlichen Glückwunsch, du hast es hinter dir.“

„Ja, trotz deiner schmalzigen Einlage.“ Wir müssen beide lachen. „Ich werde damit auch nie aufhören“, versichere ich ihm.

„Ich weiß. Und jetzt ruf deinen Freund an“, befiehlt er und lässt mich allein im dunklen Flur stehen.

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