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Stalked

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Ich war gerade dabei den letzten Tisch hereinzuziehen, als ich aus dem Augenwinkel etwas so Surreales wahrnahm, dass ich zuerst ungläubig den Kopf schüttelte, dann die Augen schloss und sie wieder öffnete, immer noch unfähig zu glauben, dass er aus der Ecke hervorgekrochen war, in der er die meisten Abende der letzten Wochen verbracht hatte und nun tatsächlich mit zwei Büchern in den Händen an der Kasse stand und sie kaufen wollte. Er lächelte, als ich zu ihm hin eilte, ein merkwürdiges Lächeln, weil es süß aussah und sein ganzes Gesicht zum Leuchten brachte, als wollte er mir damit sagen: Ich bin ein netter Kerl, nicht der Stalker, für den du mich hältst.

Darauf achtend, nicht einmal annähernd daran zu denken, in ihm etwas anderes als einen armen Bastard zu sehen, der ganz offensichtlich keine Freunde und kein eigenes Leben hat, scannte ich die Bücher, nahm das Geld vom Tresen und reichte ihm das Wechselgeld, alles ohne meine Augen von seinen unglaublich blauen zu nehmen, einem tiefen Blau, das mit nichts zu vergleichen war, was ich je zuvor gesehen hatte. Unsere Hände berührten sich für den Bruchteil einer Sekunde, als er nach den Büchern reichte. Er steckte eins in seinen Rucksack und hielt das andere mir hin.

Sein Gesicht leuchtete ein helles Rot, als er sagte: „Das hier ist für dich. Als Dank dafür, dass du mich hier so lange geduldet hast.“ Dann drehte er sich um und bewegte sich auf den Ausgang zu, ohne eine Antwort abzuwarten, was für mich okay war, weil ich nicht in der Lage gewesen wäre, mir eine auszudenken.

Als ich schließlich zur Tür ging, um sie abzuschließen, lächelte mein Spiegelbild mich an und mir wurde klar, dass ich die ganze Zeit über gelächelt haben musste, wie ein völlig bekloppter Trottel. Meine Verlegenheit hielt nur so lange an, bis ich wieder an der Kasse stand. Gerade als ich den Rechner herunterfahren wollte, nahm ich den Titel eines der beiden Bücher wahr, genauer gesagt des Buches, das er in seinen Rucksack gesteckt hatte.

The Night Circus“, las ich in die Stille hinein. Wieso sollte er mein Lieblingsbuch in meiner Lieblingssprache Englisch kaufen? War er wirklich ein Stalker? War dies seine Art, mir zu sagen … Was genau? Seine Worte hatten mehr wie ein Abschied geklungen, weniger wie eine Drohung. Und warum hatte er mir ein Buch gekauft?

Ich nahm das Geschenk in die Hand und sah es mir endlich an. Torture the Artist stand auf dem Cover - Quäle den Künstler. Ich hatte noch nie davon gehört und war ganz bestimmt nicht bereit herauszufinden, worum es darin ging. Der Titel sagte mehr als tausend Worte. Quälen, wirklich? So was wie 50 Shades für Künstler?

„Keine Chance, du Freak!”, spuckte ich heraus, als ich das Buch zurück zum Regal brachte. Auf dem Rückweg, um endlich den Computer auszuschalten, fand ich ein Stück Papier auf dem Boden und, weil ich so ein netter Angestellter war, hob ich es auf, um es in den Papierkorb zu werfen. Dann aber warf ich einen Blick darauf und blieb stehen. Ich las das Geschriebene nochmal. Fünf Mal, bis ich es endlich kapierte. Dann ging ich zurück zum Regal, in das ich gerade Torture the Artist zurückgesteckt hatte und nahm das Buch heraus.

Ich las die Worte auf dem Papier ein weiteres Mal. „Ich finde dein Lieblingsbuch großartig“, stand darauf. „Dieses hier ist meins, für den Fall, dass du es vielleicht lesen möchtest. Schreib mir, wenn du irgendwann mal mit mir ausgehen willst. Tom.“ Darunter stand eine Handynummer.

Ich wusste nicht, was sich sagen sollte, aber ich musste auch nichts sagen, weil ich ja allein im Laden war. Meine Gefühle allerdings waren nicht so sprachlos wie mein Gehirn. Ich war wie hypnotisiert von seiner indirekten Direktheit, aber auch von seiner süßen Idee. Seine Art, mich nach einem Date zu fragen, indem er mir ein Buch kaufte, sein Lieblingsbuch, war absolut bezaubernd. Und seine regelmäßigen abendlichen Besuche, die, glaubte man meinen Kollegen, etwas stalkerhaftes an sich hatten, diese fand ich plötzlich besonders schmeichelhaft.

Auf dem Heimweg wählte ich seine Nummer drei Mal, bis ich schließlich den grünen Button drückte.

„Tom Anders. Mit wem spreche ich?“

„Ich mag den Klang von irgendwann nicht”, sagte ich, ohne mich vorzustellen und hörte ihn kurz auflachen. Ein wunderschönes Geräusch, sein Lachen.

„Morgen Abend dann?“, fragte er.

„Perfekt“, sagte ich und wir machten eine Zeit und einen Ort aus, wo wir uns am nächsten Tag treffen wollten. Dann legte ich schnell auf, bevor ich es mir womöglich doch anders überlegte.

„Mein erstes Date“, lächelte ich die Welt an und mit jedem Schritt, den ich machte, wurde mein Herz leichter, die frische Luft milder, das Lächeln in meinem Gesicht breiter. „Mein erstes Date“, murmelte ich erneut, als ich die Tür zu meinem Apartment öffnete und mich ins Bett fallen ließ, wo ich meine Augen schloss und von Tom träumte.

Von Tom und seinen tiefblauen Augen.

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