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Andere Welten

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Vorwort

Für Serena † 2012

vielleicht mögen uns gerade Welten trennen, aber im Herzen bist du auf ewig bei mir

Andere Welten

Es war einmal vor langer, langer Zeit … Hm, so würde vielleicht ein Märchen anfangen. Aber die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist alles andere als ein Märchen. Mal sehen, wie begann Tolkien sein größtes Werk? „Als Herr Bilbo Beutlin von Beutelsend ankündigte, dass er seinen bevorstehenden einundelfzigsten Geburtstag mit einem rauschenden Fest zu feiern gedenke …“* Na ja, das passt auch nicht so ganz. Vielleicht sollte ich von ganz vorne beginnen, beim Urschleim, wenn man es so nennen will.

* Zitat aus „Herr der Ringe“ von J. R. R. Tolkien

Man stelle sich mal eine typische High School aus Amerika vor. Wäre diese Story ein Film, müsste jetzt lautstarke Crossovermusik in den Ohren dröhnen und die Kamera würde vom strahlend blauen Himmel nach unten schwenken, direkt auf einen frisch sanierten Altbau, mit weiten Wiesen im satten Grün davor, die lediglich von weißsteinigen, breiten Wegen durchbrochen würden. Und überall tummelten sich fröhlich schwatzende Teenies in ihren entsprechenden Grüppchen.

Da wären zum einen die super coolen Sportler in ihren Vereinsjäckchen, die ihren Fußball, Basketball oder Football ständig mit sich rumschleppten. Die weibliche Form davon wären natürlich die Cheerleader in ihren knappen Röcken und hübschen Gesichtern, denen jeder männliche Mitschüler hinterhersabberte.

Weiter gäbe es die Streber, die entsprechend ihrem Spezialgebiet in Gruppen abhingen und dauernd über wilde Theorien diskutierten. Und zu guter Letzt existierten noch die Freaks, zu denen alle Extremen gehörten, egal ob Punk, Grufti, Kiffer, Hip-Hopper, Alternativer oder sonst eine andere Art, die sich durch ihr Aussehen weit von den „Normalen“ abhoben.

Zu welcher Gruppe ich gehörte? Gute Frage. Weder war ich besonders schlau noch dumm, weder besonders sportlich noch talentiert. Es gab absolut nichts Besonderes an mir. Mir fehlte dafür einfach die entsprechende Fantasie, etwas anderes zu machen, was nicht bedeutete, dass ich ein typischer Mitläufer war. Ich sagte immer frei heraus, was ich dachte, was zwar nicht oft das Klügste ist, aber in meinen Augen das Richtige.

Okay, was verband nun diese ganzen Chaoten? Warum gingen sie auf eine Privatschule inmitten von Deutschland und nicht auf eine Fachschule entsprechend ihrer Talente? Weil wir alle Mittelständer waren und keine Kohle für mehr hatten. Ganz einfach. Die Schule hatte einen guten Ruf, weswegen man als „Normalo“ relativ hohe Chancen auf einen Ausbildungsplatz in einer renommierten Firma hatte. Und so wie die Wirtschaft heutzutage ausschaute, musste man eh früh beginnen, sich beruflich zu festigen.

Was gibt es noch über die Schüler zu berichten? Ah ja. Im Gegensatz zu diesen bescheuerten Teenie-Filmen ging hier nicht jede Gruppe aufeinander los. Das hatte die Lehrerschaft super in den Griff bekommen, als sie uns gegenseitig voneinander abhängig machte. Zum Beispiel brauchten die Sportler die Streber für ihre schulischen Leistungen und die Streber die Sportler zwecks ihrer körperlichen Fitness.

Kam einer Mal nicht mit irgendwas klar, wurde ihm so was wie ein Mentor an die Hand gegeben und der stand dann mit in der Bütt. Es gab zwar noch immer das normale Gezicke unter den verschiedenen Gruppen, aber lange nicht so extrem wie in den Filmen oder auf anderen, normalen Mittelschulen.

Das war einer der Gründe, warum ich mich hier recht wohlfühlte. Keiner behelligte mich groß, ich war aber dennoch nicht einer von denen, die bei einer Mannschaftswahl als Letzter übrig blieben. Wenn ich Gesellschaft brauchte, hatte ich den ein oder anderen, mit dem ich meist zu Mittag in der Mensa saß und was aß. Die meiste Zeit über frönte ich das Leben eines Einzelgängers.

Deswegen war ich gerade auf dem Weg zu meiner Direktorin. Ich war zwei Wochen lang krank gewesen und hatte dementsprechend Stoff nachzuholen. Und da ich niemanden mit meinem Müll belasten wollte, holte ich mir alles direkt von der Quelle.

Frau Teufle wusste darüber natürlich Bescheid. Seltsamerweise kannte sie jeden ihrer Schützlinge verdammt gut, was einem manchmal schon richtig Angst machen konnte. Die Direx hatte sich den gesamten Lernstoff von den Lehrern geben lassen. Mal davon abgesehen wollte sie eh mit mir sprechen, wie mir ausgerichtet wurde. So klopfte ich also mit einem flauen Gefühl in der Magengegend an ihre Tür und betrat nach Aufforderung die Höhle der Löwin.

„Hallo Lucian“, begrüßte Frau Teufle mich und bot mir den Platz ihr gegenüber vor dem Schreibtisch an. Höflich grüßte ich zurück und setzte mich auf den Stuhl. „Wie geht es dir?“, eröffnete sie harmlos das Gespräch, was mich nervös werden ließ. Kennt ihr das, wenn ihr genau wisst, keinen Blödsinn gebaut zu haben, euch aber trotzdem irgendwie ertappt fühlt?

„Besser, danke. Ich denke, ich habe alles gut überstanden.“

„Fein. So, hier sind die Unterlagen, die du benötigst. Außerdem beginnt heute die Projektwoche, wo ihr euch in verschiedene Kursgänge hättet eintragen können. Zwar sind jetzt alle Kurse belegt, aber keine Sorge. Du warst nicht der einzige, der versäumt hat, sich für einen zu entscheiden. Die anderen warten schon in der Bibliothek. Hier ist euer Thema. Viel Spaß.“

Nett lächelte mich die Direktorin an, was ich nur mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck erwidern konnte. Ja, spinn ich? Jetzt wurde ich auch noch dafür bestraft, dass ich krank war, oder was? Toll, ganz großes Kino. Fürs Erste schien ich auf jeden Fall entlassen zu sein, weswegen ich aufstand und den Raum verließ.

Draußen wartete gleich meine Deutschlehrerin auf mich, um mich zum „Projektraum“ zu begleiten. Obwohl mir es eher so schien, als wollte sie auf Nummer sicher gehen, dass ich auch ja in die Bibliothek ging und mich nicht heimlich verzog. Seufzend betrat ich also den großen Raum der Bücher und ging langsam bis zur Mitte, wo sich kreisrund ein größerer freier Platz erstreckte, gespickt mit ein paar Tischen und Stühlen.

Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man das hier glatt für die versteckte Kamera halten. Ein fettes Glucksen unterdrückend, musterte ich die Klassenkameraden, die sich hier mehr oder weniger freiwillig eingefunden hatten. Auf der linken Seite saß in einer Ecke, hinter einem dicken Buch verkrochen, Philip Boger, einer der übelsten Mathe- und Physikstreber der Schule.

An der Brüstung gelehnt, die der Treppe als Geländer diente, stand rechts Shawn Raynold, ein Sportfreak seines Gleichens, der gerade versuchte, Juliana Schwed anzubaggern, welche als Teamchefin der Cheerleader sich mehr für ihre Fingernägel interessierte als für die Annäherungsversuche dieses Machos.

Na super, die Woche wird die Hölle! Ich war nahe dran, einfach still und heimlich rückwärts laufend mich hier wieder rauszuschleichen, als die schwere Eingangstür laut hinter mir zuknallte und sich drei Augenpaare neugierig auf mich richteten.

„Na endlich!“, maulte Philip, zückte ein kleines Heft und machte darin ein Häkchen. „Da können wir ja jetzt anfangen“, meinte er weiter und holte ein paar Unterlagen aus seinem Rucksack.

Perplex sah ich ihn an. „Sag mal, führst du etwa eine An- und Abwesenheitsliste?“

„Natürlich. Frau Teufle hat mich damit persönlich beauftragt.“

„Scheiß Streber“, kam es gleich von Juliana, samt einem zustimmenden Grunzen von Shawn. Phil beachtete den Kommentar nicht weiter, sondern schlug einen karierten Block auf und zückte einen perfekt angespitzten Bleistift.

„Also, unser Thema ist ‚Andere Welten‘. Ich denke, es geht um transdimensionale Parallelwelten, ob und wie es möglich ist, Tore in andere Dimensionen zu öffnen. Wenn wir ein großes Plakat machen und unsere Gedanken und die Informationen aus diesem Buch hier darauf projizieren, ist uns die Eins auf jeden Fall sicher.“

Das erste, was mir darauf einfiel, war: „Hä? Wer ist noch der Meinung, dass das der größte Schwachsinn ist, den er je gehört hat?“, fragte ich in die Runde, ohne eine Antwort zu erwarten.

„Sag mal, wer hat dich eigentlich zum Projektleiter ernannt?“, motzte unser Sportprofi. „Ich sage, dass das Thema mit Gewinnern und Verlierern zu tun hat. Nur wenn man gewinnt, kommt man in der Welt weiter. Anerkennung und Respekt fliegen einem dann nur so zu, die Kohle wird nie knapp und die Mädels stehen Schlange.“

Dabei lächelte er Juli aufreizend an, die aber mehr damit zu tun hatte, ihre Lippen mit Lipgloss zu beschmieren und sich dabei in ihrem kleinen Handspiegel zu bewundern. „Tja und der Verlierer landet früher oder später in der Gosse. Das ist das Gesetz des Stärkeren. Zwei komplett andere Welten.“

Das war ja noch dämlicher als der erste Vorschlag. Doch unsere Cheerleaderqueen wusste das Ganze noch zu toppen. Mit einem lauten ‚Klack‘ klappte sie ihren Handspiegel geräuschvoll zusammen und schaute erwartungsvoll in die Runde.

„Mode!“

Genau wie die anderen Jungs hatte ich ein riesiges Fragezeichen im Gesicht.

„Prada ist nicht gleich Gucci, EDC nicht gleich Esprit. Das sind komplett andere Welten, die sich einfach mit einem kleinen Catwalk veranschaulichen lassen.“

Darauf wusste niemand was zu sagen.

„Und? Willst du auch noch einen intelligenten Vorschlag machen?“ Provozierend sah mich Phil an, was die anderen ihm nach und nach gleich taten. Ich hob lediglich abwehrend meine Hände.

„Als ob dieser Grufti `ne sinnvolle Idee hätte“, schnaubte Juliana, beleidigt darüber, dass ihr Vorschlag keinen Anklang fand.

„Nur weil ich gerne dunkle Klamotten trage, macht mich das doch nicht gleich zum Grufti“, giftete ich angepisst zurück. Ich hasste es einfach, in irgendeine Schublade gesteckt zu werden, ohne dass man mich wirklich kannte. „Übrigens sind meine Haare nicht gefärbt“, setzte ich flötend nach, worauf mich Blondi böse anfunkelte.

Klasse, wir waren nicht mal fünf Minuten in einem Raum und gingen uns schon gegenseitig an die Kehle. Und wir sollten es eine Woche a sieben Stunden miteinander aushalten?!?! Das funktionierte doch niemals!

„So, jetzt beruhigen wir uns alle erstmal …“, versuchte Philip kläglich die Wogen zu glätten, doch niemand hörte ihm wirklich zu.

Stattdessen hatte Shawn sein gesamtes Interesse etwas gewidmet, was unter einem der Tische lag. Kurzerhand kroch er unter die Platte und holte einen glänzenden Gegenstand hervor. Neugierig scharrten wir uns wie die Hühner um den Sportler und schauten gespannt auf seine Hände.

Es war eine Kette mit Perlen, die Mattgold glänzten. Bedächtig strich Juli über den handtellergroßen Anhänger, welcher stark einem keltischen Kreuz ähnelte.

„Es ist wunderschön“, sagte sie bewundernd.

Phil nahm das Ende der Kette in die Hand und musterte die Perlen eingehender. „Ob das echtes Gold ist?“, nuschelte er mehr zu sich selbst.

Mir jagte dieses Schmuckstück einen kalten Schauder über den Rücken. Eben hatten sich noch alle gestritten und auf einmal herrschte bedächtige Ruhe. Doch irgendwie bekam ich diesen Gedanken nicht richtig zu fassen. Ich hatte viel mehr damit zu tun, diesen inneren Drang zu unterdrücken, gleichsam wie die anderen die Kette zu berühren. Es schien mir fast so, als ob dieses leblose Stück Edelmetall nach mir rief, mich lockte, wie die Sirenen im Meer.

Langsam, wie in Zeitlupe, streckte ich meinen Arm aus, hielt aber kurz davor inne. Die Luft um mich herum vibrierte, als wäre sie elektrisch aufgeladen. Mein Blut rauschte geräuschvoll durch meine Ohren und mein Herz pochte wild gegen meine Brust. Selbst das Zittern in meiner Hand konnte ich nicht mehr unterdrücken.

Dann, mit einem Ruck, berührte ich das Schmuckstück endlich. Und es passierte genau das, was ich befürchtet hatte: gar nichts. Lang atmete ich aus, als ich merkte, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Oh Mann. Diese Situation war echt skurril. Jetzt wusste ich zumindest, wie sich Boromir bei ‚Herr der Ringe‘ die ganze Zeit gefühlt hatte.

Ich scholl mich selbst einen Idioten und wollte die Kette mit einem dümmlichen Grinsen wieder loslassen. Aber es ging nicht! Als wäre sie mit der Luft verankert und ich an ihr geschweißt, blieb ich einfach an ihr kleben.

„Ehm Leute, nur mal so eine nebensächliche Frage: Könnt ihr die Kette loslassen?“, lachte ich, krampfhaft die aufsteigende Hysterie unterdrückend.

Die anderen drei sahen mich an, als würde ich in die Klapse gehören. Fast war ich geneigt dazu, ihnen Recht zu geben. Wie konnte ich auch nur so eine dämliche Frage stellen? Doch als sie ihre Hände zurückziehen wollten, passierte ihnen das Gleiche wie mir. Es funktionierte einfach nicht.

Stattdessen begann das Schmuckstück immer stärker zu leuchten, sodass ich mir bald die Augen abschotten musste. Wie die Verrückten rissen wir vier panisch an der Kette, die nun auch ein immer lauter werdendes Summen von sich gab. Ich hörte noch ein lautes Klirren, wie wenn Glas zerschellt. Dann erfasste uns eine Druckwelle und wir landeten hart auf dem Parket.

Stöhnend richtete ich mich etwas auf und schaute zu den Perlen auf, von denen nun einzelne über jeden von uns schwebten. Das Kreuz hing genau in der Mitte und verschwand mit einem Rauschen im Erdboden. Ängstlich kroch ich ein Stück zurück, versuchte mich vor diesen goldenen Perlen in Sicherheit zu bringen.

Doch mit einmal schossen diese direkt auf mich zu und brannten sich durch meine Haut. Schreiend bäumte ich mich auf, versuchte krampfhaft diesen intensiven Schmerz loszuwerden, bis ich nach nicht enden wollenden Sekunden mein Bewusstsein verlor und mich sanfte Dunkelheit umfing.


‚Oh man, was für ein beschissener Traum‘, dachte ich, als ich durch das fröhliche Gezwitscher der Vögel aufwachte. Vielleicht hätte ich gestern diesen einen Fantasy-Film bis spät in die Nacht nicht zu Ende gucken sollen. Mit geschlossenen Augen wälzte ich mich träge auf den Rücken und schmunzelte über diese seltsame Gruppeneinteilung. Unsere Lehrer waren zwar manchmal komisch drauf, aber so etwas Schräges traute selbst ich ihnen nicht zu. Zum Glück war es ja nur ein Traum … Ein total dämlicher Traum.

Doch als ich mich wieder auf die Seite drehte und meine Hand tastend nach der Decke ausstreckte, fühlte ich anstatt eines Lakens weiches Gras unter meinen Fingern. Erschrocken öffnete ich meine Augen und setzte mich ruckartig auf. Sofort explodierte ein Schmerz in meinem Kopf, der sich wie ein Atompilz gemächlich, aber mit immer stärkerem Nachdruck, ausbreitete.

Gequält presste ich die Handballen seitlich gegen meine Schläfen und biss die Zähne hart aufeinander, dass sie knirschten. Mit zusammengekniffenen Augen wiegte ich mich wie ein kleines Kind hin und her und hoffte, dass dieser Scheiß endlich aufhörte. Nur ganz langsam ließ der Schmerz nach, was ich am Anfang gar nicht groß bemerkte, aber dann erleichtert feststellte. Selbst als es nur noch ein leichtes Pochen war, saß ich weiterhin zitternd da, komplett durchgeschwitzt und atmete geräuschvoll ein und aus.

Zaghaft öffnete ich meine Augen und sah erst mal nur weißes Licht. Anscheinend hatten die goldenen Kugeln der Kette mich übel verblendet. Nach und nach wurde meine Sicht klarer und ich konnte endlich meine Umgebung wahrnehmen. Ich saß am Rande einer Lichtung, umsäumt von riesigen Bäumen, bei denen ich mir den Kopf verrenken musste, um zur Krone aufschauen zu können.

Die Rinde hatte ein seltsames Muster und es sah aus, als hätten sich mehrere Bäume ineinander verschlungen und wären zu einem verschmolzen. Starke Äste trieben recht tief aus und boten so eine gute Möglichkeit, um hinaufzuklettern. Ein leichter Wind fuhr über die Lichtung und brachte das dichte Blätterwerk zum Rascheln.

So seltsam wie die Situation auch war, aber ich fühlte mich wie verzaubert. Die Umgebung vermittelte eine fast schon märchenhafte Atmosphäre, mit der saftig-grünen Wiese und den vereinzelten Wildblumen, die einen zarten Duft verströmten.

Ein Stöhnen hinter mir riss mich aus meinen kindischen Gedanken. Die anderen drei kamen langsam zu sich und schienen wie ich die gleichen anfänglichen Probleme zu haben. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mich die ganze Zeit kratzte. Prüfend blickte ich auf meine Handgelenke, wo ich gerade noch die leuchtenden Punkte entdeckte, bevor sie auf beiden Seiten jeweils oben und unten in der Haut verschwanden, als würden sie in Treibsand versinken. Ebenso spürte ich auf meiner Brust und Stirn dasselbe lästige Jucken. Was verdammt nochmal ging hier nur vor?

„Alles okay bei euch?“, fragte ich meine Klassenkameraden, als diese soweit aufgestanden waren. Irgendwie musste ich mich einfach von der aufsteigenden Panik ablenken. Verhalten wurde mir nach und nach geantwortet, wenn auch nur mit einem Schulterzucken oder wortlosen Kopfnicken.

„Und ihr habt mich ausgelacht, als ich euch von den Parallelwelten erzählt habe“, meinte Phil schwach.

„Wir haben dich nicht ausgelacht, du Genie, sondern dich als komplett durchgeknallt abgestempelt“, stellte Juli arrogant klar.

„Woher willst du außerdem wissen, dass wir in einer anderen Welt sind? Vielleicht hast du ja eine Blendgranate geworfen und uns hierher verschleppt, aus Rache, weil wir so cool sind und du nicht“, meldete sich Shawn zu Wort.

„Na klar, als hätte ich den ganzen Tag nichts Besseres zu tun, als mit euch rumhängen zu müssen. Außerdem, schau dich doch mal um, du Held, oder hast du in Deutschland jemals solche Bäume gesehen?“

Oh Mann, mussten die sich jetzt anfangen zu zoffen? Genervt wandte ich mich ab und sog tief diesen wilden Duft ein, der von dieser Wiese ausging. Doch im Gegensatz zu vorhin hatte sich irgendetwas verändert. Die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern und kein einziges Lüftchen ging mehr, als ob die Lichtung den Atem anhalten würde.

Angestrengt versuchte ich zwischen den Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite etwas auszumachen, aber auch dort regte sich nichts. Ich wollte das Ganze schon als Überfunktion meiner blankliegenden Nerven abstempeln, als auf der rechten Seite der Lichtung etwas raschelte. Je mehr ich mich darauf konzentrierte, desto sicherer wurde ich, dass wir beobachtet wurden. Wirklich erklären konnte ich es nicht, aber es lag eindeutig Gefahr in der Luft.

„Hey Leute, ich glaube, wir sollten hier langsam verschwinden“, sagte ich laut über meine Schulter hinweg, ohne den Blick vom Wald zu nehmen. Doch ich wurde mit keiner Silbe beachtet. Ein Huschen hier im Dickicht, das Knacken eines Zweiges dort ließen mich wild herumfahren.

„Los! Weg hier!“, blaffte ich die drei panisch an und wollte Shawn am Arm packend hinter mir her schleifen. Doch der schüttelte mich ab wie eine lästige Fliege.

„Was geht’n mit dir, Alter?“ Abfällig musterte er mich von oben bis unten.

„Da ist irgendwas im Wald. Sagt mal, spürt ihr das nicht? Wenn wir jetzt hier bleiben, war‘s das für uns!“

Alles klar, so wie mich nun alle anstarrten, hielten sie mich absolut oberreif für die Klapse. Und das Schlimmste war, ich stimmte ihnen zu. Dieses seltsame Empfinden war doch nicht normal.

„Normalerweise würde ich das ja als Hysterie abstempeln“, meldete sich Philip zu Wort, der angestrengt zur Seite auf die Lichtung blickte. „Aber ich glaube, ich weiß jetzt, was er meint.“

Damit deutete er auf die freie Fläche, der wir uns nun alle zuwandten. Das war ein Traum, nur ein verdammt schlechter Traum und ich schwor mir hoch und heilig, nie wieder bescheuerte Fantasy-Rollenspiele zu zocken. Dieses Vieh, welches gemächlich auf die Lichtung kroch, schien regelrecht aus so einem Game entsprungen zu sein.

Die grobe Körperform glich einem riesigen Waran, nur das dieser hier viel schuppiger glänzte und vor allem viel größer war. Er hatte helle, runde Augen und schmale Nüstern, mit denen er in unsere Richtung schnüffelte. Sein Maul war leicht geöffnet und entblößte handtellergroße, spitze Zähne, zwischen denen Speichel nach unten auf den Boden tropfte.

„Ich glaube, das Vieh hat Hunger“, sagte ich unsinnigerweise. Dann zerriss ein greller Schrei die Stille. Die anderen waren ein paar Schritte zurückgegangen, während ich wie angewurzelt stehengeblieben war und mich nun zu ihnen umdrehte. Alle sahen wir entgeistert zu Juli hinüber.

„Was sollte denn das Gekreische jetzt?“, fragte Shawn voller Unverständnis. Die Wangen unseres Cheerleaders liefen komplett rot an, als sie sich versuchte zu erklären.

„Was das sollte? Erstens bin ich eine Frau und darf in Panik verfallen, wie ich gerade will! Zweitens steht keine zehn Meter von uns entfernt ein kleiner Drache, der uns locker mit einem Happs fressen könnte und verdammt hungrig ausschaut, und drittens machen das die Frauen in den Filmen auch immer so!“

Wahnsinn, was für Argumente.

„Und wir sollen dich jetzt beschützen, oder was?“, fragte Phil abfällig.

„Ihr wollt doch immer die großen Männer sein!“

„Dieser Beschützerinstinkt gilt nur für Jungfrauen, Süße“, warf ihr Shawn an den Kopf, worauf sie ihn böse anfunkelte.

Das war echt wie in einem schlechten Film. Die Darsteller schwebten in riesiger Gefahr und anstatt zusammenzuhalten oder wenigstens sich zu verziehen, stritten sie lieber. Das Witzige jedoch dran war, dass dieses Vieh uns belustigt zuzuschauen schien – zumindest bis jetzt. Denn kaum das mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, öffnete es sein riesiges Maul und brüllte uns aus Leibeskräften an.

Sofort hatten sich alle wieder gefangen, drehten sich um und rannten dann so schnell sie konnten los, dicht gefolgt von diesem Monster. Die Jagd dauerte jedoch nicht all zu lange an. Dieses ‚Tier‘ bekam mich von hinten zu packen und schleuderte mich gegen den nächstgelegenen Baum.

Ich sah erst mal nur Sterne, versuchte mich aber vehement gegen eine Ohnmacht zu wehren, was mir dank meiner Panik auch gelang. Mit dem Rücken am Baum gelehnt, stemmte ich mich verbissen auf die Beine und blickte ängstlich zu dem Drachen, der sich immer näher an mich heranpirschte.

Unter einem Hieb seiner Klauen konnte ich gerade noch so abtauchen, sodass er ‚lediglich‘ ein Großteil der Rinde hinter mir abfetzte. Knurrend richtete sich das Vieh auf seine Hinterbeine auf und wollte mich erneut angreifen, als von der Seite mit einmal einige Pfeile auf ihn niederprasselten. Zum Großteil prallten diese zwar vom schuppigen Körper ab, aber einer ritzte ihn trotzdem direkt am Hals.

Wild brüllend warf sich das Tier herum und wand sich seinem neuen Gegner zu, der leicht wie eine Feder von einem Baum sprang und sich ihm mutig entgegenstellte. Fasziniert verfolgte ich das Schauspiel und vergaß die noch immer präsente Gefahr.

Dieses Wesen glich auf dem ersten Blick einem Na‘vi aus ‚Avatar‘, nur ohne die spitzen Ohren und weniger blau. Er bewegte sich genauso katzenhaft und fauchte den Drachen regelrecht an. Dann gingen sie aufeinander los. Elegant wich der Kleinere dem Tier immer wieder aus und setzte mit Gegenangriffen nach.

Er hatte einen langen Dolch gezückt, dessen Klinge leicht gebogen war. Und jedes Mal, wenn der fremde Retter das Vieh traf, brüllte es schmerzerfüllt auf, als hätte man es mit Säure berührt. Ich konnte einfach nicht anders und schlich mich näher an die beiden heran. Ein einziges Mal wollte ich mir den Kämpfer näher anschauen.

Mit meiner Neugierde verschwand allerdings auch meine Vorsicht. Gerade als die Gegner sich schwer atmend umkreisten, setzte ich einen Fuß falsch und trat genau auf einen trockenen Ast, der laut knackend zerbrach. Der längliche Kopf des Drachens flog sofort zu mir herum und ohne weiter zu zögern, lief das Tier geradewegs auf mich zu.

Mein Retter fackelte nicht lange und warf sich nach vorn, ohne auf seine Deckung zu achten. Mir schien es so, als wolle er mir mit aller Macht dieses Vieh vom Leib halten. Mit ganzer Kraft hieb der Fremde seinen Dolch in die Innenseite der linken Pranke des Ungetüms, welches gepeinigt aufschrie und um sich schlug.

Dabei traf es mit voller Wucht meinen Retter, der weit über den Boden geschleudert wurde, bis er dumpf auf der Erde aufschlug und dort liegen blieb. Mit angehaltenem Atem sah ich zu, wie der Drache sich gefährlich knurrend seinem vermeintlichen Opfer näherte.

Ich musste irgendwas unternehmen, ich musste einfach! Schließlich war dieses ganze Desaster meine Schuld! Mein Verstand setzte komplett aus, als ich mir den erstbesten Stein schnappte und ihn nach dem Tier warf.

„Lass ihn gefälligst zufrieden, du Drecksvieh!“, brüllte ich nahe am Wahnsinn.

Ich schleuderte ein paar Äste und andere Steine nach, bis sich dieses Ungetüm endlich wieder mir zuwandte. ‚Na toll und was jetzt?‘ Auch darüber brauchte ich mir keine Gedanken zu machen, denn von allen Seiten her schienen nun kleine Äste und Steine hergeflogen zu kommen.

Ich traute meinen Augen kaum, als ich Juliana, Philip und Shawn erkannte, die in größeren Abständen am Rande der Lichtung standen und abwechselnd die Aufmerksamkeit des Drachens auf sich lenkten. Und ich dachte, die wären längst über alle Berge. Schnell lief ich zu dem Fremden, der gerade wieder zu sich kam, und half ihm auf die Beine.

Schon bei der ersten Berührung spürte ich dieses seltsame Kribbeln, welches sich von meinen Fingerspitzen her ausbreitete. Doch als er mich ansah, als ich in seine großen, grün-blauen Augen schaute, war ich wie hypnotisiert. Ihm schien es nicht viel besser zu gehen. Mit leicht geöffnetem Mund blickte er mich an, streckte seine Hand nach mir aus und berührte mich ganz sacht an der Wange.

Viel zu viele Empfindungen auf einmal strömten auf mich ein, sodass ich kaum in der Lage dazu war, eine richtig auszukosten. Leider wehrte dieser magische Moment nicht allzu lange. Während ich alles um mich herum vergessen hatte, schien der Instinkt von diesem wundervollen Wesen noch komplett zu funktionieren.

Der Drache nämlich hatte sich wieder uns zugewandt und holte mit seinen riesigen Pranken aus. Der Fremde allerdings reagiert blitzschnell. Ungeachtet seiner selbst stieß er mich mit voller Kraft aus der Gefahrenzone und ich musste mit ansehen, wie er an meiner statt von dem Monster erwischt wurde.

Doch anstelle vor Schmerzen aufzuschreien, brüllte mein Retter wütend auf und knurrte dann diesen riesigen Waran gefährlich an, mit einem dermaßen wilden Blick, als würde er ihn dafür bestrafen wollen, dass er verletzt worden war. Zwei längliche, tief ausschauende Wunden zierten den Rücken des Fremden, aus denen das Blut unerlässlich herausquoll. Lediglich am leichten Zittern seiner Arme, mit denen er sich auf dem Boden abstützte, konnte man sehen, wie schmerzhaft es wirklich für ihn war.

Wieder ging dieses Monster auf den Fremden los, bekam ihn auch zu packen und schleuderte ihn ein gutes Stück über die Wiese. Nach dem Aufprall rollte er noch ein wenig über das Gras, bis er stöhnend liegenblieb. Allerdings nicht lange, denn mein wunderschöner Retter versuchte sich abermals aufzuraffen, nur leider nicht schnell genug.

Als der Drache ihm fauchend immer näher kam, legte sich bei mir ein Schalter um. Ich nahm nichts anderes mehr wahr als diese Bestie und dieses wundersame Wesen. Weder hörte ich mein Blut pulsieren, noch mein Herzschlag, als hätte jemand einfach wie beim Fernseher auf stumm gestellt. Für mich geschah alles wie in Slowmotion.

Langsam setzte ich mich in Bewegung und hielt direkt auf dieses Vieh zu. Fast schon gemächlich tauchte ich unter dem Hals des Riesenwarans ab, wich seinen Pranken aus und riss ihn mit voller Kraft den Dolch aus dem Vorderbein, der dort nach der Attacke meines Retters immer noch steckte. Ich sah zwar, dass dieses Monster brüllte, hörte es aber nicht, nahm es nicht mal wirklich zur Kenntnis.

Ich nutzte einfach die Gelegenheit des mir dargebotenen Halses, sprang hoch und wuchtete mit ganzer Kraft und beiden Händen den Dolch in das Fleisch des Ungetüms. Die Klinge schnitt wie durch Butter und hinterließ eine weit klaffende Wunde, aus der nicht nur warmes Blut über meine Hände floss. Dann rollte ich mich zur Seite ab, stellte mich schützend vor meinem verletzten Retter und beobachtete teilnahmslos den Todeskampf des Drachens.

Doch etwas begann alles zu stören. Pfeile hagelten durch die Luft, direkt auf das Unwesen und holten mich aus meiner in Watte gepackten Welt. Mein Herz schlug so heftig, als würde jemand von innen mit Steinen um sich werfen und ein widerlicher, metallartiger Gestank kroch mir in die Nase.

Verwirrt machte ich ein paar Schritte rückwärts, als das Vieh sterbend in sich zusammensackte, nicht ohne ein letztes, gequältes Brüllen von sich zu geben. Dann drehte ich mich ruckartig um. Die Gefahr war schließlich gebannt und ich konnte mich endlich um meinen Retter kümmern. Doch dieser war einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt. Im nächsten Moment waren meine Klassenkameraden bei mir und Juliana inspizierte kundig meine Arme, welche sich teilweise rot verfärbt hatten.

„Gott sei Dank, du hast keine tiefschürfenden Wunden. Das meiste Blut hier stammt wohl von diesem Vieh“, sagte sie erleichtert.

„Dieses ‚Vieh‘ war mal ein Lebewesen“, meinte Shawn abfällig und betrachtete dann nachdenklich den toten Drachen. „Irgendwas hat ihn aufgeschreckt.“

„Oder irgendjemand“, meldete sich Philip zu Wort und deutete auf die sich nähernden Reiter.

Sofort schob ich meine Klassenkameraden etwas hinter mich und blickte die Neuankömmlinge düster an, den Dolch in meiner rechten Hand fest umklammert. Phil trat jedoch neben mich und legte mir beruhigend die Hand auf meine Schulter.

„Ganz ruhig. Lass mich erst mal reden.“ Ich hatte damit kein Problem, war eh noch viel zu aufgeputscht durch den Kampf, als dass ich ein normales Gespräch führen könnte.

Wieder fühlte ich mich wie in einem Tolkien-Film gefangen, denn der Großteil der Reiter hatte zottelige, lange Haare und trug lederne Rüstungen wie im Mittelalter. Nur dass ich unter diesen „Soldaten“ auch Frauen ausmachen konnte.

Sie ritten einfach an uns vorbei, ohne groß auf uns zu achten und zogen einen Kreis um die Lichtung, wie um diese abzusichern. Eine Handvoll verschwand sogar im Wald. Eine kleinere Gruppe hielt direkt auf uns zu, angeführt von einem hageren, alten Mann, der kurz vor uns abstieg und uns mit großen Augen und ungläubigem Ausdruck musterte.

„Herr, sie sind es wirklich. Wie in der Prophezeiung beschrieben. Ohne Zweifel, das sind die Auserwählten.“ Als würde der Typ einem Außerirdischen gegenüberstehen, streckte er langsam die Hand nach Phil aus, griff an dessen Kragen und rieb den Stoff faszinierend zwischen seine dünnen Finger. „Wirklich außergewöhnlich“, murmelte dieser fast schon weggetreten. Genervt schob Philip die Hand von sich weg.

„Was meint ihr damit ‚Prophezeiung‘, ‚Auserwählte‘… Habt ihr uns etwa hierher geholt? Und wo sind wir überhaupt, beziehungsweise wer seid ihr?“ Mein Klassenkamerad sprach zwar höflich, aber doch mit einem gewissen Nachdruck und benutzte gleich die für diese Zeit passende Anrede. Reden konnte er halt schon immer gut, auch wenn das meiste bisher Stuss war, was aus seinem Mund kam – zumindest in der Schule.

„Ihr befindet euch in Noraylia – in meinem Königreich!“, vernahmen wir eine herrische Stimme und ein Reiter drängte sich zwischen zwei andere hindurch, die wohl als Leibgarde dienten.

Eiskalt lief es mir den Rücken hinab, als ich diesen Mann zum ersten Mal sah. Zwar schaute er wunderschön aus, mit diesem schmalen Gesicht, der stattlichen Figur, den ebenmäßigen Zügen und weich wirkenden, recht langen Haaren. Doch seine Augen waren so frostig wie die Antarktis.

Man sah sofort, dass er einen höheren Stand besaß. Sein Pferd war größer, die Kleider prächtiger und sein Auftreten fast schon arrogant. Er war es auf jeden Fall gewohnt, Leute zu befehligen. Elegant stieg er von seinem Pferd ab, richtete seinen Umhang und kam dann direkt auf mich zu.

Ich umklammerte nur das Heft des Dolches fester, schließlich trug der Typ ein riesiges Schwert an seiner Hüfte. Dicht trat er an mich heran und schien jede einzelne Pore in meinem Gesicht zu mustern. Langsam hob er die Hand und strich mir eine Strähne meines Haares aus dem Gesicht.

Nachdenklich betrachtete er dann seine Finger, an denen etwas Blut klebte. Ich musste wohl echt beschissen ausschauen. Kurz entschlossen öffnete er dann den Verschluss seines Umhangs und warf diesen schützend über meine Schultern.

„Fast wären wir zu spät gekommen“, sagte er leise und klang verbittert. „Das wird mir kein zweites Mal passieren, das schwöre ich.“

Tief sah er mir in die Augen, als wolle er ein Gelübde ablegen, was meine Wangen zum Glühen brachte. Meine Gefühle hatten anscheinend eine Dauerkarte für Achterbahnfahren eingelöst und nutzten diese gerade reichlich, sodass mir fast schlecht davon wurde. Es passierte einfach viel zu viel in kürzester Zeit.

Ich war heil froh, als wir von einem Soldaten unterbrochen wurden, der irgendetwas sagte und sich vor seinem Herrn niederkniete. Widerwillig, wie mir schien, wandte sich der König von mir ab und brachte so etwas Abstand zwischen uns, worüber ich richtig erleichtert war. Der Soldat lieferte irgendeinen Bericht ab, aber ich verstand kein Wort. Die Sprache klang wie eine Mischung aus Elbisch und Japanisch. Hart blickte der König auf seinen Untergebenen hinab und nickte.

„Sehr gut. Veranlasst alles Nötige, Hauptmann, und sorgt dafür, dass auf dem Rückweg keine Überraschungen auftauchen!“

Der Soldat schlug sich auf die Brust, ging rasch zu seinen Leuten und bellte dort irgendwelche Befehle.

„Wie kommt es, dass ihr unsere Sprache sprecht, obwohl es nicht die eure ist?“, fragte Phil verwundert, was ich auch gerade dachte. Knapp winkte der König dem älteren Mann zu sich, der uns als erstes angesprochen hatte.

„Gib ihnen die Kristalle“, befahl er, worauf der andere eine leichte Verbeugung machte.

Zuerst übergab er seinen eigenen Kristall, den er selbst um den Hals trug, Philip. Skeptisch legte mein Klassenkamerad diesen um und horchte dann in die Gegend.

„Wahnsinn“, meinte er kurz darauf erstaunt. „Jetzt verstehe ich selbst die Soldaten.“

„Diese Kristalle sind äußerst selten, also gebt bitte gut auf sie Acht“, sagte der hagere Typ und kramte aus einem kleinen Lederbeutel zwei weitere Steine heraus, die er jeweils Juli und Shawn reichte. Meinen bekam ich direkt vom König, den er mir schon fast feierlich umlegte. Jetzt konnte ich wirklich alles verstehen, was an Befehlen über die Lichtung gebellt wurde. Mann, so ein Teil hätte ich in Englisch echt gut gebrauchen können.

„Kommt! Begleitet mich auf mein Schloss. Dort seid ihr erst mal sicher und wir können bei einem guten Mahl all eure Fragen beantworten.“

„Danke, Herr, für dieses großzügige Angebot. Wäre es trotz dessen in Ordnung, wenn wir uns kurz allein besprechen könnten? Es ist nur alles zu viel auf einmal.“ Offen sah Phil den König an, der kurz darauf knapp nickte und sich dann mit seinen Männern etwas entfernte.

„Also Leute, ich weiß zwar nicht, wie es euch geht, aber obwohl mir alles ein wenig unheimlich ist, sollten wir trotzdem mitgehen“, teilte uns Philip seine Meinung mit.

„Find ich auch. Der Gedanke, hier draußen übernachten zu müssen, gefällt mir gar nicht“, pflichtete Juli ihm bei.

„Mal davon abgesehen: Haben wir überhaupt eine andere Wahl? Schaut euch doch um. Überall wimmelt es von Soldaten. Er könnte uns genauso gut zwingen. So ist es allerdings für uns wesentlich bequemer. Auf mittelalterlichen Kerker hab ich keinen Bock“, stimmte Shawn zu.

Jetzt schauten mich alle drei fragend an. Wahnsinn. Vor gut einer Stunde wären wir uns noch fast an die Kehlen gesprungen und jetzt so eine Eintracht. Schon seltsam, wie sich Menschen in extremen Situationen verhielten.

„Ich bin auch dafür. Wir sollten allerdings zusammenbleiben und die Augen offen halten.“

Phil nickte nach meinen Worten und teilte dann dem König unsere Entscheidung mit. Währenddessen reichte mir Juliana ihr Halstuch.

„Hier. Du solltest den Dolch darin einwickeln. Schaut sonst so aggressiv und angriffslustig aus.“

Mit einem Schlag fiel mir wieder dieses wunderschöne Wesen ein, was uns gerettet hatte. Mit wenigen Schritten war ich bei Philip und dem König.

„Ihr habt doch den Wald ein Stück durchforstet. Habt ihr da einen jungen Mann gefunden? Er war etwas kleiner als ich, sah wie ein Waldläufer oder wie ihr hier das nennt aus. Nur dank seiner Hilfe konnten wir das Vieh dort besiegen. Allerdings wurde er schwer verwundet, kann also nicht weit gekommen sein. Der Dolch hier war seiner.“

Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus und ich ignorierte das entsetzte Gesicht meines Klassenkameraden, weil ich so unförmlich mit seiner Majestät gesprochen hatte. Mir war das pupsegal. Ich wollte meinen Retter finden und helfen, schließlich sah sein Rücken echt übel aus. Ruhig musterte unser Gastgeber die Waffe, bevor er sie mir wieder zurückgab.

„Ein sehr ungewöhnliches Stück. Gut möglich, dass es nicht einmal in meinem Land gefertigt wurde. Und du hast recht. Zur Sicherheit ließ ich einen Großteil des Waldes durchkämmen. Jedoch fanden meine Soldaten nichts Ungewöhnliches vor. Und sei dir gewiss, sie taten ihre Arbeit gründlich. Du kannst sie jedoch gerne selbst fragen.

Unter normalen Umständen würde ich dir sogar ein paar meiner Männer überlassen, damit du dich selbst überzeugen könntest. Allerdings ist die Stunde vorgerückt und ich wäre erleichterter, wenn wir vor Anbruch der Nacht im Schloss ankämen. Wie ihr ja schon feststellen konntet, ist es hier selbst bei Tage nicht sicher.“

Nach einer kleinen Weile gab ich zähneknirschend nach, schließlich ging es hier nicht nur um mich. Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick suchend über den Waldrand schweifen und betete zu wem auch immer, dass es meinem Retter soweit wie möglich gut ging. Dann gesellte ich mich zu den anderen, denen nach und nach ein Pferd gereicht wurde.

Phil half Juliana auf eines der Tiere und setzte sich dann hinter sie. Man sah ihr deutlich an, dass sie Angst vor dem Pferd hatte, aber mein Klassenkamerad händelte das super. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass Philips Mom einen kleinen Reitstall besaß und er wohl deswegen so gut damit klarkam. Shawn war ja eh der sportliche Typ und schwang sich kurz danach gekonnt in den Sattel, nachdem er sich das bei den Soldaten abgeschaut hatte.

Sanft streichelte er über den Hals des Tieres, als es leicht begann zu tänzeln, als würde er es schon lange kennen und eine kleine mentale Verbindung zwischen ihnen bestehen. Ich getraute mich nicht wirklich an eines der Tiere heran. Ob aus Angst oder gesundem Respekt wusste ich nicht genau. Mein Zögern blieb nicht unbemerkt, denn der König ritt neben mich und streckte die Hand nach mir aus.

„Du reitest mit mir“, sagte er knapp, aber irgendwie sanft, dass es nicht wirklich ein Befehl war.

Kraftvoll zog er mich zu sich rauf und bedeutete mir, mich mit den Armen an ihm festzuhalten, was ich sofort tat, als sich das Pferd in Bewegung setzte. Dieses seltsame Gefühl in der Magengegend, seit diese Leute aufgetaucht waren, wollte sich leider nicht wirklich legen und ich musste auch immer wieder zurück zu dem Wald schauen, bis wir einen Bogen schlugen und er aus meinem Sichtfeld verschwand.

‚Wer bist du bloß und wo hast du dich versteckt?‘, dachte ich ein letztes Mal an meinen Retter und versuchte mich dann auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Mein Zeitgefühl hatte ich längst verloren, da ich überwiegend damit beschäftigt war, auf dem Pferd hin und her zu rutschen. Egal wie ich mich platzierte, ich hatte immer das Gefühl, runterzurutschen. Mein Vordermann spürte meine Unruhe und legte mir beruhigend die Hand auf meinen Arm.

„Ich weiß, ihr seid das Reiten nicht gewöhnt. Dennoch können wir uns keine Rast erlauben. Erst auf meinem Schloss seid ihr wirklich sicher.“

Nach seinen sanften Worten warf mir der König einen kurzen Blick zu, worauf ich leicht nickte, damit er wusste, dass ich ihn verstanden hatte. Wohl dabei war mir allerdings nicht. Ich versuchte trotzdem die lästigen Schmerzen in meinem Hintern zu ignorieren, bis wir, nach einer für mich viel zu langen Zeit, eine Anhöhe erklommen und auf dieser kurz anhielten.

Von hier aus hatte man einen Wahnsinnsüberblick über die vor uns liegende Ebene, in deren scheinbaren Mitte ein riesiges Schloss stand. Ich spürte, wie der König tief einatmete und den Anblick in sich aufsog.

„Ivara, die Hauptstadt meines Landes und Sitz meines Schlosses.“ Die Worte schienen mehr an sich selbst gerichtet zu sein.

Ein gewisser Stolz war deutlich herauszuhören, was ich gut verstehen konnte. Dieses riesige Bauwerk, welches aus weißen Steinen zu bestehen schien, umgeben von vielen kleineren Häusern und Bauernhöfe als Ausläufer, war schon recht beeindruckend. Sanft setzten wir uns wieder in Bewegung, hinab in das Tal.

Als wir die ersten Felder passierten, legten die Bauern ihr Handwerkszeug zur Seite und liefen zur Straße, um ihren König zu begrüßen. Tief verneigten sie sich vor den Reitern, bis sie uns erspähten. Wie erstarrt blickte man uns an, begann hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln. Immer wieder hörte ich „Die Auserwählten“, „Ist das wirklich möglich?“, „Die Götter mögen ihnen beistehen!“.

So tief wie möglich verkroch ich mich unter den Umhang des Königs, als könnte ich mich auf dem Pferd wirklich verstecken. Ein Blick zu meinen Klassenkameraden bestätigte mir, dass sie sich genauso unwohl fühlten. In der Stadt war es nicht viel besser. Eng drängten sich die Leute auf den Straßen zusammen, sodass die Soldaten mit ihren Pferden eine Gasse bilden mussten, damit wir vorankamen.

Und wieder verstärkte sich dieses undeutsame Gefühl in meinem Magen. Die Menschen brachen bei unserer Ankunft nicht gerade in Jubel aus. Sie schauten uns mehr erschrocken oder bedrückt an. Bei den einen oder anderen sah ich sogar Tränen in den Augen.

„Mein Volk kann es kaum glauben, dass ihr wirklich hier seid – genau wie ich“, meinte der König zu mir, als hätte er wieder mal meine Gedanken gehört. Ich erwiderte zunächst nichts, da ich mit den ganzen neuen Eindrücken noch zu kämpfen hatte. Zu unserer aller Erleichterung passierten wir die letzte Stadtmauer, die schützend das Schloss umgab, und stiegen endlich von den Pferden ab.

„Willkommen in meinem bescheidenen Heim“, lenkte der König unsere Aufmerksamkeit auf sich. „Zsen wird euch zu euren Gemächern führen, wo ihr euch etwas frisch machen könnt. Ich werde derweil meine Getreuen zu mir rufen lassen und alles Nötige vorbereiten. Wenn ihr soweit seid, wird euch Zsen in die Bibliothek führen, wo ihr Antworten auf all eure Fragen erhalten werdet – soweit es mir möglich ist.“

Der Herrscher deutete auf einen jungen Mann, der sich zuerst tief vor seinem Herrn und dann knapp vor uns verbeugte. Danach verschwand er auch schon ins Schloss, ohne groß eine Erwiderung von uns abzuwarten. Wir vier sahen uns kurz hilflos an, bevor wir dem freundlich ausschauenden Bediensteten folgten.

Das Bauwerk war von innen genauso beeindruckend wie von außen. Große längliche Fenster ließen ungehindert Licht in die Flure, durch die wir in schier unendlicher Zahl entlanggeführt wurden. Die Wände waren mit etlichen Wandteppichen verziert, welche dem Gemäuer eine gewisse Wärme verliehen. In manchen Steinen waren sogar großflächige Muster eingraviert, was alles ein gewisses Flair verlieh.

Zwar registrierte ich das Ganze, nahm es aber nicht wirklich wahr. Automatisch hatte ich mich auf den Weg konzentriert, um hier notfalls auch wieder allein rauszufinden. Wie von selbst checkte ich mögliche Abkürzungen oder Verstecke. Diese Details sprangen mir regelrecht ins Auge, als wollten sie sich mir mit aller Macht aufdrängen. Oh Mann, was war nur mit mir los? Irritiert schüttelte ich meinen Kopf, ohne dass es viel brachte.

Nach einem viel zu langen Fußmarsch erreichten wir endlich einen halbrunden, kleinen Saal. In dessen Mitte stand, auf einem breitflächigen Teppich, ein flacher Tisch, umgeben von zwei großen, bequem ausschauenden Sesseln und einem Zweisitzer, alles in edlem Holz gehalten. Von dem Raum gingen fünf Türen ab, vor denen jeweils eine Person stand, bis auf die Mittlere.

„Das sind Tamo, Syla, Kel und Rai. Sie werden euch zu Diensten sein.“ Zsen stellte sie nacheinander vor und jeder Angesprochene machte daraufhin eine kurze Verbeugung oder einen Knicks. „Der König wies uns an, euch neue Kleider zurechtzulegen, damit ihr nicht so sehr auffallt. Sobald ihr soweit seid, geleite ich euch in die Bibliothek.“ Auch er verbeugte sich und ließ uns dann einfach stehen.

Da wir entschieden hatten, vorerst bei diesem Spiel mitzuspielen, folgten wir unseren Bediensteten in unser jeweiliges Zimmer. Ich wurde zu der mittigen Tür geführt, hinter der sich ein schmaler Waschraum befand, wie ich kurz darauf feststellte. Zwei hölzerne Badezuber hatten hintereinander gerade so Platz, dass man bequem zwischen ihnen durchgehen konnte. Am Ende der Kammer befand sich ein hohes Fenster, dessen Glas vom dichten Wasserdampf vollkommen beschlagen war.

Nachdem mir Rai frische Sachen, ein Handtuch, Seife und eine Bürste hingelegt hatte, schickte ich ihn raus. Waschen konnte ich mich schließlich noch allein. Seufzend schälte ich mich aus meinen Klamotten – bis auf die Retros. Zwar schien mir das Holz behandelt zu sein, aber auf einen Splitter in meinem Allerwertesten konnte ich gut und gerne verzichten.

Ich seifte mich gründlich ein, wusch gewissenhaft meine Haare und nahm zum Schluss die Bürste zu Hilfe. Wie ein Besessener schrubbte ich über meine Haut, bis diese rot glänzte und zu brennen begann. Die Bilder vom Vormittag, die mein Unterbewusstsein so schön verdrängt hatte, kamen mit einem Schlag wieder hoch und donnerten wie Hagelregen unerbittlich auf mich nieder.

Überall war Blut, aufgefetzte Haut, riesige Zähne, die einen zu zerfleischen versuchten, messerscharfe Klauen … Und über allem schwebte diese unbeschreibliche Angst. Erst jetzt, in diesem kurzen Moment der Ruhe, wurde mir bewusst, was genau ich getan hatte.

Ich hatte getötet und das ohne groß drüber nachzudenken. Einen niederen Instinkt folgend, hatte ich ein Lebewesen ermordet und dabei war es egal, ob es nun gerechtfertigt war oder nicht. An mir klebte Blut und ganz gleich wie gründlich ich mich wusch, es würde nie wieder abgehen.

Verzweifelt pfefferte ich die Bürste ins Wasser und umklammerte meine zitternden Beine. Warum konnte das alles nicht nur ein beschissener Traum sein? Schließlich hatte ich nie gebeten, hier sein zu dürfen! Warum war das nicht alles so toll, wie in den Filmen oder Büchern? Das Gute besiegt das Böse, metzelt dabei Unzählige nieder und hat hinterher nicht mal ein schlechtes Gewissen. Das mag sich jetzt vielleicht anhören wie ein kleines Kind, das sich verlaufen hatte, aber ich wollte einfach nur wieder nach Hause.

Ein Klopfen holte mich aus den düster-verzweifelten Gedanken. Rai teilte mir durch die geschlossene Tür hinweg mit, dass ich mich fertigmachen solle, da der König schon auf uns wartete. Ich antwortete knapp, wischte mir mit einem lautlosen Schniefen die Tränen aus den Augen und stieg aus dem Zuber. Schnell hatte ich mich abgetrocknet und angezogen, obwohl das Binden des Lendenschurzes doch eine Sache für sich war.

Wenige Minuten später gesellte ich mich zu den anderen, die in dem kreisrunden Raum schon auf mich warteten. Mit hochgezogener Braue musterte ich meine Klassenkameraden. Wir hatten alle dasselbe an, das gleiche locker sitzende, beige Hemd mit der ledernen Weste darüber, braune Stoffhose und knöchelhohe Wildlederschuhe. Nur Juliana trug anstatt der Hose ein Kleid, welches um ihre Brust herum geschnürt war wie unsere Westen. Klasse und das sollte unauffällig sein? Wir sahen wie Gott verdammte Geschwister aus!

Die anderen schienen meine „Begeisterung“ zu teilen. Zeit zum Rummeckern blieb uns nicht, da Zsen uns drängte, ihm zu folgen. Wieder durchquerten wir labyrinthmäßig etliche Flure, stiegen Treppen hinauf und Stufen hinab, bis wir durch einen riesigen Saal geführt wurden, hin zu einer hohen Doppeltür. Zsen klopfte auf das reich verzierte Holz, trat dann in den Raum und kündigte uns an.

Kurz darauf betraten wir das Zimmer und mir verschlug es fast die Sprache. Wir standen in einer riesigen Bibliothek, welche über zwei Stockwerke hinwegreichte. Bei so vielen Büchern gewann man schnell den Eindruck, dass die Wände selbst aus den gebundenen Exemplaren bestünden. Die schmalen Leitern, welche an den Regalen lehnten, waren gute zwei Meter hoch und hier und da sah ich enge Wendeltreppen, welche zu dem oberen Sims führten.

Der Blickfänger allerdings war der riesige Tisch aus massivem Holz, welcher mittig in der Bibliothek stand. Die Ränder waren reich mit Mustern verziert und die Tischbeine sahen wie in sich verschlungene Ranken aus. Am Kopfende saß unter anderem der König auf einem Stuhl mit hoher Lehne und sah uns ernst an. Zsen führte uns zu ihm und verabschiedete sich dann rasch mit einer tiefen Verbeugung.

„Ich hoffe, die Unterkünfte sind zu eurer Zufriedenheit“, begann der König mit weicher Stimme, ganz im Gegensatz zu seinem harten Gesichtsausdruck. Eine Möglichkeit zu antworten hatten wir wieder mal nicht, da es sich mehr um eine rhetorische Frage handelte. Er deutete zu seiner linken Seite und sprach sofort weiter:

„Das ist Rayka Arimaris, meine werte Gemahlin und Vertreterin in außerpolitischen Angelegenheiten. Außerdem ist sie die Leiterin unseres hiesigen Heilzentrums.“

Erhaben nickte uns die schöne Frau zu, deren Haut so hell wie Ahornholz war. Dann deutete er zu seiner Rechten.

„Und das ist Cahlur Mowas, mein Gefährte und oberster Befehlshaber der Truppen von Noraylia. Garuf Liskar ist euch ja schon bekannt. Bewahrer der Geschichten unseres Landes und Berater in Sachen Innenpolitik.“

Beide vorgestellten Männer nickten uns knapp zu. Der zuletzt genannte schleppte gerade ein dickes Buch heran, welches er schwer auf den Tisch fallen ließ. Die Seiten waren mindestens einen Meter lang und Garuf brauchte beide Hände, um zu der gewünschten Stelle zu blättern.

„Dies sind meine engsten Vertrauten. Alles, was nun hier besprochen wird, bleibt in diesem Raum, dessen könnt ihr euch sicher sein.“

Etwas hilflos blickte ich zu meinen Klassenkameraden. Irgendwie hatte ich total viele Fragen, wusste aber nicht, welche ich am besten als Erstes stellen sollte. Wie beim ersten Mal übernahm Philip das Reden für uns.

„Danke für die Fürsorge, eure Hoheit. Doch weshalb sind wir hier? Warum seid ihr so besorgt um unsere Sicherheit und warum diese Diskretion?“

„Wenn ihr erlaubt, mein König“, mischte sich Garuf ein, worauf er von ihm einen zustimmenden Wink bekam.

Der Historiker drehte das Buch zu uns herum und begann dann, aufgeregt zu erzählen:

„Die Prophezeiung ist verknüpft mit einer uralten Legende aus einer Zeit, in der Noraylia und das Nachbarland Laidaron noch ein Reich waren.“

Der alte Mann deutete auf eine Seite im Buch, auf dem ein halber Kontinent abgebildet war. Ein schmaler Gebirgszug dominierte den östlichen und südlichen Rand, während der Norden und Westen ans Meer grenzte. Wildes Flachland beherrschte den Norden und wurde von immer dichter werdenden Wäldern abgelöst, je näher man dem Süden kam.

„Einst herrschte ein weiser König über das Land und bescherte dem Volk Wohlstand und Frieden. Als er immer älter wurde, sollte bald ein Nachfolger bestimmt werden. Nun hatte der König zwei Söhne, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Der Erstgeborene, gutmütig und besonnen in seiner Art, und der ein Jahr Jüngere, von wildem und ungebändigtem Gemüt. Letzterer scherte sich wenig um sein Volk, beutete das Gebirge und den Wald rücksichtslos aus, um mehr und mehr Waffen herstellen zu können. Sein ganzes Wesen lechzte nach Blut und Krieg, um das Reich zu vergrößern.

Der ältere Bruder war in seinen Augen ein elender Schwächling, da dieser sich lediglich um Landwirtschaft und die Seefahrt kümmerte, damit er mit den Nachbarländern Handel treiben konnte. Von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr wuchs der Hass des Jüngeren auf seinen privilegierteren Bruder, der laut Erbreihenfolge das erste Anrecht auf den Thron hatte.

So schmiedete er eines Tages einen dunklen Plan, seinen eigenen Bruder töten zu lassen. Gift sollte seine Waffe werden, um alles wie eine tödliche Krankheit wirken zu lassen. Allerdings schlug der Angriff durch Verrat fehl und nun wurde er des versuchten Mordes bezichtigt.

Das Volk und die Getreuen jedoch waren zwiegespalten. Der jüngere Bruder agierte bisher im Verborgenen und war nach außen hin stets der Loyalste. So bestritt er die Vorwürfe und klagte im Gegenzug seinen Bruder an, den König beseitigen zu wollen, damit er frühzeitig den Thron besteigen könne.

Betrübt beobachtete der Vater der beiden das schändliche Schauspiel. Nicht nur, dass sich seine Söhne, die vom gleichen Blute waren, stritten, sie zogen das gesamte Land, das ganze Volk mit hinein. Das konnte und wollte der alte König nicht billigen.

So ging er also zu seinem engsten Vertrauten, einem mächtigen Magier und gab ihm eine Kette. Sie bestand aus vielen kleinen, goldenen Kugeln und einem handtellergroßen Anhänger, welcher die Form eines Kreuzes mit einem Kreis in der Mitte hatte.

Es war ein altes Familienerbstück, welches einst seiner Gemahlin und Gefährtin gehörte, die vor Jahren gestorben war. Diese Kette sollte nicht nur familiäre Bande symbolisieren, sondern auch die Einigkeit des Volkes. Gemeinsam mit seinem Vertrauten ging der König zu einem geweihten Ort, um auf dem Schmuckstück einen Zauber zu sprechen.

Vier große Charaktere aus fernem Lande
werden erscheinen im goldenen Glanze
das Volk zu befreien von ihren Bannen,
um zusammenzufügen, was gehört zusammen.

Ein Krieger, unbezähmbar und stark wird er sein,
und ein Heiler mit geschickten Händen ganz fein,
ein Redner mit geübter Zunge und einem Verstand so klar
und ein Magier samt einer Macht unsagbar.

Gemeinsam werden sie das Volk befreien
von Zwietracht und Pein,
werden stürzen die Verräter,
damit im ganzen Lande später
wieder herrscht Wohlstand und Frieden,
denn nur das Gute im Herzen kann siegen.“

Für eine kurze Zeit herrschte Schweigen. Dann ergriff Shawn das Wort:

„Ganz ehrlich, das klingt wie ’nen billiges Gedicht einer verliebten Grundschülerin mit zu viel Fantasie.“

„Irgendwas Wahres ist aber schon dran. Krieger, Heiler, Redner, Magier. Denk mal an die Lichtung. Wir sind sofort in eines dieser Schemen geschlüpft“, gab Phil zu bedenken, worauf ich eine eisige Gänsehaut bekam, als ich an den Dolch und das ganze Blut dachte.

„Du spinnst ja“, sagte der Sportler noch nicht ganz überzeugt.

„Wie kommen wir wieder nach Hause?“, fragte Juliana das, was uns am meisten interessierte.

Garuf sah uns entgeistert an.

„Nach Hause? Ihr seid die Auserwählten! Endlich soll die alte Prophezeiung in Erfüllung gehen und das Volk befreit werden. Ihr könnt doch nicht einfach unverrichteter Dinge wieder gehen! Auf euch lastet eine gewisse Verantwortung.“

„Jetzt werd mal nicht hysterisch, Alter“, stoppte Shawn den Redefluss. „Wir müssen hier gar nichts, klar. Schließlich hat uns keiner gefragt, ob wir für euch hier die Helden spielen wollen.“

„Aber …“, begann Garuf erneut, wurde allerdings vom König unterbrochen.

„Ihr habt Recht, meine jungen Freunde. Ihr seid dem Land nichts schuldig. Aus der Laune des Schicksals heraus erwählte euch das Amulett und brachte euch gegen euren Willen hier her. Da es meine Vorfahren waren, denen ihr dies verdankt, fühle ich mich dazu verantwortlich, euch wieder sicher in eure Welt zu geleiten.“

„Eure Hoheit!“, begehrte Garuf erneut auf, wurde jedoch mit einem Wink zum Schweigen gebracht.

„Wir dürfen die Lösung unserer Probleme nicht auf die Schultern Fremder abladen. Soweit ich mich an die Geschichte der alten Legende erinnere, müsst ihr den geweihten Ort aufsuchen, wo das Schmuckstück verzaubert wurde. Dort befindet sich das Amulett und sobald die Kette wieder zusammengesetzt ist, öffnet sich das Tor zu eurer Welt.“

„Moment mal, dort liegt also das Kreuz, aber wo sind die Perlen?“, mischte sich Juliana ein.

Lächelnd stand der König auf und trat so dicht an meine Klassenkameradin heran, dass sich ihre Wangen leicht rot färbten.

„Ich denke, diese Frage könnt ihr euch selbst beantworten.“

Sacht hob er seine Hand und berührte hauchzart Julis Stirn. Sofort leuchtete an dieser Stelle ganz schwach ein goldschimmernder Kreis auf. Meine Handgelenke begannen zur gleichen Zeit zu kribbeln und auch dort glänzten kleine Kreise, wie ich sie heute Morgen schon einmal gesehen hatte.

„Ihr wurdet von den Perlen erwählt und so tragt ihr sie in euch. Deren magische Kräfte lassen euch für ein geübtes Auge strahlen wie ein Signalfeuer.“

„Das ist aber nicht unbedingt von Vorteil, oder?“, überlegte ich laut. „Wenn ich die Prophezeiung richtig verstanden habe, soll durch uns ein König vom Thron gestoßen werden. Ich glaube nicht, dass dieser einfach untätig zuschauen wird, egal was wir machen. Deswegen die halbe Armee auf der Lichtung und die Eile ins Schloss zu kommen. Man hat's auf uns abgesehen und wir leuchten auch noch wie Knicklichter im Dunkeln!“ Mein Optimismus, heil aus dieser konfusen Situation rauszukommen, hielt sich in Grenzen.

„Es tut mir wirklich leid. Alles, was ich euch anbieten kann, ist eine Eskorte zu dem heiligen Ort“, sprach der Herrscher sein Bedauern aus, worauf sich dieser Cahlur zu Wort meldete:

„Und selbst das ist äußerst gefährlich. Der Ort liegt direkt an der Grenze zu Laidaron, in einem schwer passierbaren Ausläufer des Gebirges. Außerdem bin ich mir sicher, dass nicht nur wir eure leuchtende Ankunft bemerkt haben. Auch wenn wir sofort aufbrechen würden, werden uns laidarische Assassine unlängst auflauern.“

„Cahlur hat recht“, stand nun auch Rayka auf. „Ersten Späherberichten zufolge formieren sich schon jetzt laidarische Truppen. Zum Glück kennen sie noch nicht die Lage des heiligen Ortes, was uns etwas Zeit verschafft. Ich schlage deshalb ein Ablenkungsmanöver vor. Wir schicken Männer an verschiedene Orte des Landes und zwar so, dass es die laidarischen Spitzel bemerken. Somit stiften wir genug Verwirrung, um so unbehelligt wie möglich zur Höhle zu gelangen.“

Der König nickte seiner Gemahlin zu und wandte sich dann an Cahlur. „Wie lange brauchst du für die Vorbereitung?“

Der Angesprochene überlegte einen Moment, bevor er antwortete. „Es sollte so aussehen, als wollten wir alles so unauffällig wie möglich organisieren. Eine, maximal zwei Wochen und nochmal genauso lange, um an die entsprechenden Orte zu reisen.“

„Ein Monat?“, fragte daraufhin Shawn entgeistert. „Wir sollen hier einen Monat abhängen und warten, bis uns einer umbringt?“ Aufgebracht schüttelte er mit dem Kopf, während Philip sich aufgewühlt über seine kurzen Haare fuhr und Juliana die Arme um sich schlug, als wäre ihr kalt. Mein Kopf war lediglich leer. Wieder hatte ich einfach nur den Drang, nach Hause zu wollen.

„Nein. Warten solltet ihr nun wirklich nicht. Das liegt gewiss nicht in eurer Natur“, sagte der König und wechselte dann in einen verschwörerischen Tonfall. „Der Weg zu dem geheimen Ort birgt viele Gefahren und obwohl meine Männer gut sind, können sie dennoch keine Wunder vollbringen. Aber ihr schon. Mit der richtigen Ausbildung wäre es möglich, eure Kräfte für euch gezielt einzusetzen, sodass ihr im Notfall euch selbst verteidigen könnt.“

„Das ist doch Schwachsinn“, winkte Shawn ab.

„Vielleicht“, meinte Phil. „Aber das ist das Einzige, was wir zurzeit machen können. Unvorbereitet will ich mich nicht in die Höhle des Löwen begeben.“

„Wie sieht denn überhaupt diese Ausbildung aus?“, fragte Juli zaghaft.

„Zuerst einmal muss bestimmt werden, welche Gabe in euch schlummert. Das Ritual ist recht einfach und dauert nicht lange. Danach werdet ihr einem entsprechenden Lehrer zugeteilt, der euch so gut wie möglich auf die Reise vorbereitet.“

Komplett widerstandslos wollten wir uns unserem Schicksal nicht ergeben, aber was blieb uns schon übrig? Prüfend sahen wir vier uns an. Uns allen war nicht ganz wohl bei der Sache, jedoch war es immer noch besser, zu lernen wie man sich wehren konnte, als komplett hilflos der Sache gegenüberzustehen. Also gaben wir uns einverstanden und verabschiedeten uns wenig später, damit die anderen alles Nötige vorbereiten konnten.

Im runden Saal vor unseren Unterkünften hatte man den flachen Tisch für ein kleines Abendessen gedeckt, bei dem wir richtig reinhauten. Die ganzen Ereignisse und Offenbarungen hatten übel Energie gekostet. Es dauerte nicht lange, da verzogen wir uns nach und nach in unsere Zimmer. Eigentlich hätte ich nicht gedacht, dass ich so schnell einschlafe, aber kaum kroch ich ins Bett, war ich auch schon weg.

Den nächsten Morgen verfluchte ich mal wieder, weil zum einen das alles doch kein beschissener Traum gewesen war und zum anderen mein Hintern durch den langen Ritt schmerzte. Die morgendliche Hygiene war schnell erledigt und das Frühstück, welches wir wieder zusammen im kleinen Saal einnahmen, auch. Danach holte uns Zsen ab und führte uns ein wenig im Schloss herum.

Er zeigte uns die großen Stallungen mit den vielen Pferden und den Übungsplatz, wo die königlichen Truppen täglich trainierten. Außerdem stellte er uns Delal Vaskir vor, den Hofmagier, der uns kleinere Tricks seiner Kunst zeigte. Zuletzt besichtigten wir das hiesige Heilzentrum, bestehend aus einem riesigen Saal mit Betten und kleineren Zimmern, in denen man meist Salben und Medikamente lagerte beziehungsweise herstellte.

Zu Mittag aßen wir zusammen mit dem König und seinen Getreuen, wo wir auf den neuesten Stand gebracht wurden. Die Zeremonie konnte stattfinden, sobald wir darauf vorbereitet worden waren. So wurden wir also in unsere Zimmer zurückgeführt, in denen wir geweihräuchert, mit heiligem Wasser gewaschen und in gesegnete Kleidung gesteckt wurden. Würde ich nicht so einen Schiss vor dieser blöden Zeremonie haben, würde mich das alles so ziemlich abnerven.

Dann war es endlich soweit. Gehüllt in langärmlichen Kleidern standen wir vier in einem größeren Raum, der nur spärlich mit wenigen Kerzen beleuchtet war. Außer dem König waren nur noch Rayka, Cahlur, Garuf und Delal anwesend, die auch später unsere Lehrer werden sollten.

In der Mitte waren mehrere ineinander verschlungene Kreise auf den Boden gemalt, mit seltsamen Zeichen darum. Nacheinander sollten wir in den Kreis treten und die Mächte auf uns wirken lassen, welche uns führen würden, um unsere Gabe zu finden. Danach würde jeder von uns eine vorerst verhüllte Kugel aus einem blickdichten Behältnis ziehen.

Die Farbe derer entsprach dann der Gabe. Weiß stand für den Heiler, Rot für den Krieger, Lila für den Magier und Blau für den Redner. Die heraufbeschworene Macht im großen Kreis würde uns zu der richtigen Kugel führen. Ich war wirklich gespannt. Mich würde es echt nicht wundern, wenn zwei von uns die gleiche Farbe ziehen würden. Die Macht würde uns leiten … Oh Mann, waren wir hier in der Jedi-Akademie, oder was?

Philip machte freiwillig den Anfang, trat als Erstes in den großen Kreis und schloss seine Augen. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber viel passierte nicht. Nur ein kalter Wind kam auf, der irgendwie von Phil ausging. Er wurde immer blasser und Schweiß stand auf seiner Stirn. Mit einem Ruck öffnete er wieder seine Augen, griff in das Gefäß vor sich und wählte eine Kugel aus den vielen aus.

Danach ging er mit zitternden Schritten beiseite und machte Juliana Platz. Bei ihr lief es nicht viel anders, auch nicht bei Shawn. Nun war ich an der Reihe und ich hatte richtig Angst. Aber hey, ich wollte ja unbedingt ein Mann sein, ein ganzer Kerl, also stellte ich mich aufrecht in den Kreis und wartete angespannt ab.

Zuerst geschah gar nichts. Ich wollte schon fragend zu den anderen schauen, als ich abermals den kalten Wind spürte. Und dann kamen die Bilder. Sie blitzten nur ganz kurz auf und waren so schnell wieder weg, dass ich Mühe hatte, sie überhaupt zu erkennen. Ich sah mich, wie ich etwas schweben ließ oder Dinge durch die Gegend warf, ohne sie zu berühren, und ich sah Nebel um mich herum wabern, als könnte ich diesen kontrollieren. Und immer wieder hallte dieses eine Wort in meinem Kopf wider: Magier. Magier. MAGIER!

Es war wie ein näherkommendes Unwetter. Erst ist es weit weg, das sanfte Grollen des Donners fast nicht wahrnehmbar. Und dann, mit einem Mal bricht es über einem los, machtvoll und unerbittlich. Ich zitterte am ganzen Leib. Alles, nur das nicht! Das war bestimmt nicht meine Gabe.

Mit klopfendem Herzen riss ich meine Augen auf, wählte eine Kugel und stellte mich dann zaghaft zu den anderen. Meine Knie waren so weich wie Wackelpudding. Es grenzte an ein Wunder, dass ich mich alleine aufrecht halten konnte.

„Nun denn, meine Freunde. Was für eine Gabe wurde euch offenbart?“, fragte der König feierlich und schaute uns erwartungsvoll an.

„Heiler“, antwortete Phil leise, als könne er es selbst nicht glauben und öffnete das Tuch, welches seine Kugel umgab. Sie war weiß.

„Krieger“, sagte Juli fast schon weinerlich und hielt ihre Kugel hoch. Sie war rot.

„Redner“, meinte Shawn ungläubig und zeigte uns seine blaue Kugel.

Ein letztes Stoßgebet an wem auch immer schickend, befreite ich meine von ihrem Stoff. Das konnte alles nur ein dummer Witz sein, ein schlechter Taschenspielertrick. Verwirrt sah ich die lila Kugel in meinen Händen an.

„Magier“, wisperte ich.

Meine Klassenkameraden und ich waren total durcheinander. Wir hatten ja mit vielem gerechnet, aber nicht mit DEM! Uns wurden komplett andere Gaben „zugeteilt“, als wir erwartet hatten. Geschlaucht und vollkommen fix und fertig, wurden wir wieder auf unsere Gemächer geführt. Ab morgen sollte unsere spezifische Ausbildung beginnen, wozu wir alle Kraft bräuchten, die wir hatten.

Der nächste Tag begann genauso wie beim letzten Mal. Ich verfluchte mein sogenanntes Schicksal, stand auf und erledigte die allmorgendliche Routine. Dann half mir Rai in meine neuen Sachen. Auf den ersten Blick sah es wieder wie ein Kleid aus, mit langen Ärmeln und hohem Kragen, beides sehr eng anliegend. Doch an den Seiten waren von der Hüfte an breite Schlitze, sodass man die locker sitzende Hose sah, die ich darunter trug.

Knöchelhohe Stoffschuhe aus gleichem Material rundeten alles ab. Das Ganze war in einem dunklen Braun gehalten, welches fast schwarz wirkte und überall am Saum waren lila Absätze genäht. Zum ersten Mal, seit ich hier war, grinste ich und blickte an mir herab. Also ich sah echt gut aus.

Mit etwas besserer Laune trat ich aus meinem Zimmer und gesellte mich zu meinen Klassenkameraden, die nach und nach selbst aus ihren Unterkünften traten, um zu frühstücken. Auch die anderen hatten neue Klamotten bekommen und schauten nicht minder klasse aus.

Juli sah wie Xenas kleine Schwester aus, ganz in Leder, sogar so was wie einen Brustpanzer, einen passenden Rock und bis zu den Knien reichende Stiefel.

Phil hatte eine bis zu seinen Füßen reichende, hoch ausgeschnittene Tunika an, mit dreiviertel Armen und einer Knopfleiste, die vorne vom Brustbein bis hinab reichte.

Und Shawn … also ich musste zugeben, dass er richtig gut ausschaute. Seine Hose lag komplett eng an, genau wie die Weste, die er über das nur wenig lockerer sitzende Hemd trug. Die bis zu den Waden reichenden, ledernen Stiefel rundeten alles noch ab. Eigentlich war Shawn überhaupt nicht mein Typ, aber sein heißer, sportlicher Körper hatte schon was.

In zwei Dingen jedoch waren sich unsere neuen Kleider ähnlich: Alle hatten die dunkelbraune Farbe und die gleichen Stickereien beziehungsweise die farblichen Absetzungen am Saum, passend zu unseren Gaben.

Das Frühstück gestaltete sich recht entspannt. Juli meckerte über die Unbequemlichkeit ihrer „Rüstung“ und Philip konnte es nicht fassen, dass er den ganzen Tag in einem Kleid rumlaufen sollte. Unser Profisportler hatte schon jetzt keine Lust, irgendwelchen politischen Mist auswendig zu lernen und ich lehnte mich lediglich zurück und lauschte grinsend meinen Klassenkameraden.

Von Minute zu Minute wurde ich mir immer sicherer, dass diese ganze „Ausbildung“ für‘n Arsch war. Phil, der nichts mehr hasste als Biologie, als Heiler, Juliana, das Prinzessschen, als Krieger, Shawn, der Macho, als tatenloser Redner und ich, der nicht den leisesten Hauch an Fantasie besaß, als Magier … Nein, das konnte doch nur schiefgehen.

Zsen holte uns nach geraumer Zeit ab und führte uns in die große Halle, an die auch die Bibliothek grenzte. Dort verabschiedete er sich, nachdem er uns an unsere neuen Lehrer übergeben hatte. Shawn verschwand mit Garuf in der Bibliothek, Juliana mit Cahlur auf den Truppenübungsplatz und Phil mit Rayka ins Heilzentrum.

Ich folgte Delal in einen größeren Raum, recht weit oben im Schloss, in einem der Türme. Es war wohl sein Arbeitszimmer, denn die Wände waren voller Bücherregale und am hinteren Ende in der Mitte stand ein großer Tisch mit einem Sessel dahinter und einem Stuhl davor. Weiter gab es eine kleine Sitzgruppe, bestehend aus einem kleinen runden Tisch und zwei großen Ohrensessel.

Meister Vaskir, wie ich ihn jetzt zu nennen hatte, bat mich dort Platz zu nehmen und legte einen Stein auf den Tisch. Er setzte sich mir gegenüber und forderte mich auf, die Augen zu schließen und mir vorzustellen, wie der Stein fliegt. Ich hielt das für pure Zeitverschwendung, aber ich tat ihm den Gefallen. Mit geschlossenen Augen konzentrierte ich mich auf den Stein, innerlich wissend, dass es kompletter Blödsinn war.

Doch dann spürte ich dieses seltsame Kribbeln im Hinterkopf, als würde jemand mein Gehirn kitzeln. Ein begeistertes „Sehr gut“ meines Meisters ließ mich meine Augen wieder öffnen und mit voller Verwunderung betrachtete ich den Stein, der auf Kopfhöhe fröhlich vor sich hinschwebte, ohne dass ich mich groß drauf konzentrieren musste.

So lief es die gesamte Woche. Frühstück, Training, Mittag – ab und an mit dem König, wenn er die Zeit dazu fand – Training und, erst wenn es dämmerte, Abendbrot. Alle vier legten wir einen super Start hin, ganz so, wie es sich für die Auserwählten gehörte. Die Meister waren von uns begeistert und wir auch.

In vollen Zügen genossen wir den Luxus, der uns dargeboten wurde. Juli ließ sich jeden Tag massieren, Shawn wurde schon aufgeschnittene und entkernte Äpfel serviert und Phil badete täglich über eine Stunde in mit Rosenöl versetztem Wasser.

Aber jeder machte irgendwie sein eigenes Ding. Zwar redeten wir beim Essen über das, was wir so den Tag über gemacht und erlebt hatten, jedoch wollte jeder seine Gabe als die beste und interessanteste hinstellen. Mir wurde das schnell zu doof, weswegen ich mich abends recht früh in mein Zimmer verzog und andächtig den Dolch polierte, der von meinem Retter stammte. Wir waren halt alle vier sehr mit uns selbst beschäftigt.

Gegen Mitte der zweiten Woche wurde es noch heftiger. Das Training wurde härter und intensiver und nichts wollte mehr so richtig funktionieren. Selbst die einfachsten Übungen brachte ich nicht mehr fertig, was mich tierisch abnervte und meinen Meister wütend machte.

Von Tag zu Tag wurden mir mehr Zusatzaufgaben aufgebrummt, sodass ich manchmal das Abendessen wegließ und fix und fertig einfach ins Bett fiel. Den anderen schien es nicht viel besser zu gehen. Ich bekam sie kaum noch zu Gesicht und wenn, schnauzten wir uns genervt an oder rannten gehetzt aneinander vorbei.

Anfang der dritten Woche riss meinem Mentor komplett der Geduldsfaden. Nicht eine der Übungen schien ich zu schaffen, weswegen er mich gen späten Nachmittag regelrecht aus seinem Arbeitszimmer hinausjagte. Ich dürfe erst wieder auftauchen, wenn ich die Übungen endlich verinnerlicht hätte.

Total gefrustet und mit einer leicht innerlich brodelnden Wut stapfte ich durch die Flure Richtung Unterkunft. Dort angekommen trat ich angepisst gegen die Tür, die jedoch ein Wimmern von sich gab. Verwundert linste ich hinter den riesigen, hölzernen Flügel und entdeckte Juliana, welche sich in die dunkelste Ecke verkrochen hatte und leise vor sich hinschniefte. Zu diesem Zeitpunkt war mir so was wie Feingefühl vollkommen fremd.

„Was ist denn bei dir los? Hast du deine Massage nicht bekommen, oder was?“ Ich wollte mich schon rumdrehen und sie einfach sitzen lassen, als sie mit einem Mal wie eine Furie auf mich losging.

„Du Freak hast überhaupt keinen Schimmer. Von gar nichts!“

Den ersten paar Schlägen und Tritten konnte ich gerade so und rein instinktiv ausweichen. Doch dann verpasste mir Juli mit der Faust einen dermaßen harten Schlag ins Gesicht, dass ich für Sekunden Sterne sah. Im nächsten Augenblick kam Shawn aus seinem Zimmer gestürmt und warf ein fettes Buch direkt in unsere Richtung.

Ich reagierte rein automatisch. Wie selbstverständlich bündelte ich Energie und machte eine knappe Handbewegung, sodass das Buch die Flugrichtung änderte und lediglich gegen die Wand knallte. Unseren Supersportler regte das nur noch mehr auf.

„Sagt mal, geht’s vielleicht noch etwas lauter? Im Gegensatz zu euch reicht bei mir ein wenig Rumgetanze und Zauberstabgewedle nicht aus. Ich muss hier richtig trocknen Scheiß auswendig lernen. Und glaubt mir, die Eroberungskriege aus dem Jahno-Zeitalter oder die Hungersnot im Jahre des Caleo, wo angeblich die Parener dran schuld sein sollen und deswegen noch heute in manchen Regionen verfolgt und gejagt werden, ist nicht gerade einfach!“

Juli ließ sich davon wenig beeindrucken.

„Machst du jetzt ein auf Geschichtslehrer, du Streber?“

Shawn lief vor Wut komplett rot an und ging gleich auf mich los, weil ich mich darüber lustig gemacht hatte. Und so ging es eine ganze Weile. Wütend standen wir uns gegenüber und schnauzten uns an, was das Zeug hielt. Erst ein lautes Würgen und ein darauf folgender, ekliger Geruch, ließ uns verstummen.

Gemeinsam schauten wir uns um und entdeckten Philip, wie er seitlich an der schweren Holztür lehnte und sich mit dem Ärmel zitternd den Mund abwischte. Dieser Anblick berührte nicht nur mich. Klar war unser Mathegenie schon immer ein Streber und äußerlich ein Muttersöhnchen durch und durch. Aber noch nie – noch nie! – saß er heulend am Boden.

Unser Streit war sofort vergessen. Shawn ging gleich zu Phil, half ihm auf und bugsierte ihn aufs Sofa. Juliana setzte sich neben ihn, legte vorsichtig einen Arm um seine Schulter und umschloss mit der anderen Hand seine Finger. Ich gab Rai unauffällig ein Zeichen, dass er leise das Erbrochene aufwischen und schon mal ein Bad einlassen sollte.

„Sagst du mir, was passiert ist?“, fragte Juli sanft, worauf unser Klassenkamerad zuerst nicht reagierte. Weiter weinte er stumm und starrte vor sich ins Leere. Daraufhin nahm Juliana sein Gesicht in beide Hände und zwang ihn sanft, sie anzuschauen. „Phil!“, flüsterte die Kriegerin. Er schluckte schwer, bevor er zu reden begann.

„Ich habe einen Menschen umgebracht.“ Seine Stimme zitterte wie sein Körper. Er befreite sich aus Julis Umklammerung und wischte sich über seine Augen.

„Wie ist das passiert?“, fragte Shawn dermaßen einfühlsam, was man überhaupt nicht von ihm kannte.

„Ein kleiner Spähtrupp kam von einer Erkundungstour zurück. Einer der Männer hatte einen Pfeil in die Seite abbekommen. Da war so viel Blut …“ Phil schniefte kräftig und seine Augen wanderten unstetig hin und her, als ob er alles noch einmal vor sich sehen könnte.

„Rayka gab mir Anweisungen, wie ich was zu tu hatte, aber ständig machte ich alles falsch. Ich griff zum falschen Messer, hatte die falsche Zange in der Hand … Es war, als ob dieses Kribbeln in meinem Hinterkopf mich alles vergessen ließe, was ich bis dato gelernt hatte. Das schmerzvolle Schreien des Soldaten machte es nicht gerade leichter.

Und dann … dann wimmerte er nur noch. Bis er irgendwann gar keinen Ton mehr von sich gab. Und ich merkte das nicht mal. Ich versuchte noch immer, die Blutung zu stoppen, als Rayka meinte, es sei vorbei. Am Anfang wusste ich gar nicht, was sie meinte. Aber als ich hoch schaute … Als ich in die leeren Augen des Spähers blickte …“

Philip verstummte. Hatte er am Anfang noch hektisch, fast hysterisch erzählt, wurde er zum Ende hin immer leiser. „Ich habe auf der ganzen Linie versagt“, jammerte Phil, während erneut Tränen hinabflossen. „Von wegen ‚Auserwählte‘ und ‚Gabe‘. Ich bin der letzte Dreck.“

„Jetzt ist aber mal gut!“, aufbrausend war ich aufgesprungen. „Du hast einen Fehler gemacht – na und? Denkst du etwa, dass passiert den besten Ärzten in unserer Zeit nie? Und die haben ein jahrelanges Studium hinter sich. Du hast verdammt viel in verdammt kurzer Zeit lernen müssen und das alles sofort in der Praxis. Zeig mir einen, nur einen Einzigen, der das besser gemeistert hätte als du!“

„Luci hat recht“, pflichtete Shawn mir überraschenderweise bei. „Du bist der schlauste Kopf, dem ich je begegnet bin. Einmal was angeschaut, hast du‘s im Gedächtnis für ´ne Ewigkeit. Außerdem hätte Rayka schon eingegriffen, wenn der Typ noch zu retten gewesen wäre. Ich denke, es war nur ein Test, eine Möglichkeit für dich zu üben. Das war doch deine erste große Verletzung, oder?“

„Phil“, liebevoll streichelte Juli ihm übers Haar. „Wir alle machen Fehler. Keiner von uns ist perfekt. Wichtig ist nur, dass wir daraus lernen. Und du lernst alles schneller als wir alle drei zusammen. Also belaste nicht länger dein Gewissen.“

Philip sah sie lange an, atmete tief durch und nickte dann.

„Mein Herr, euer Bad ist fertig“, nutzte Rai den stillen Moment, sich zu Wort zu melden.

„Ich war so frei“, erklärte ich, worauf Phil aufstand und sich dem Badezimmer zuwandte. Kurz davor drehte er sich zu uns um.

„Danke Leute“, meinte er kleinlaut.

„Dafür sind doch Freunde da“, erwiderte Shawn schlicht und lehnte sich lässig im Sessel zurück, als wäre es das Selbstverständlichste, was je aus seinem Mund gekommen war. Ganz langsam begann unser Heiler zu grinsen. Dann verschwand er im Bad. Kaum war er weg, wandte sich Juli zu uns und sprach das aus, was mir auch aufgefallen war.

„Dieses Kribbeln im Hinterkopf, von dem Phil sprach. Habt ihr das auch?“

„Jedes Mal, wenn ich einen neuen Zauber ausprobieren soll“, antwortete ich.

„Immer wenn ich mich an was erinnern muss, was mir Meister Liskar am Vortag eingebläut hat“, sagte Shawn.

„Mir geht’s genauso“, meinte Juliana nachdenklich. „Entweder wenn ich was Neues lernen oder was Altes abrufen muss. Als würde mich jemand anfüttern wollen, damit alles gut funktioniert und dann eiskalt abservieren, sodass ich ja keine Höhenflüge bekomme.“

Wir Jungs nickten zustimmend.

„Das klingt fast nach einem bösen Zauber“, überlegte mein Gegenüber laut. „Wisst ihr, vor Jahrhunderten war es Tradition, die Leibgarde des Königspaares in einem Turnier auszuwählen. Jeder konnte teilnehmen, egal ob Mann oder Frau, adlig oder bürgerlich. Hauptsache man hatte einen gesunden Menschenverstand und war gut trainiert.

Bei den Auswahlturnieren Mitte des Thaom-Zeitalters, gab es der Legende nach eine junge Frau, die stärker und klüger war, als jeder Teilnehmer zuvor. Logischerweise hatte sie viele Neider, von denen sie einer mit Magie manipulierte. War sie vorher die Schnellste und Geschickteste gewesen, stolperte sie nun über jeden auch noch so kleinen Stein.

Erst als ein befreundeter Zauberer ihr einen Trick beibrachte, schaffte sie es, sich innerlich gegen die Attacken zu wappnen und den bösen Magier aus ihrem Kopf zu verbannen. Laut Legende wurde sie später zum Hauptmann der Leibgarde und eine der mächtigsten Kriegerinnen der Zeit.“

„Glaubt ihr wirklich, dass laidarische Magierspitzel in unseren Köpfen rumfuschen?“, fragte ich skeptisch. „Ich meine, ohne dass es unsere Meister merken?“

„Wir sind durch Raum und Zeit gereist, haben gegen widerliche Riesenechsen gekämpft, werden zu Rittern, Heiler, Redner und Magier ausgebildet, um uns gegen mittelalterliche Assassine wehren zu können. Ich halte alles für möglich!“, erklärte Juliana und wischte damit meine letzten Zweifel beiseite.

„Also brauchen wir nur einen Zauber, der uns vor Manipulationen schützt“, überlegte ich laut.

„Nicht wirklich. Dieser Trick ist mehr eine Konzentrationsübung. Eine Sensibilisierung der Sinne. Ich hatte erst letztens so ein Buch in der Hand. Sobald man den Angriff – was in unserem Fall dieses Kribbeln wäre – spürt, müssen wir uns einfach eine Mauer oder so vorstellen, woran alles abprallt. Je öfter man das übt, desto einfacher wird’s und irgendwann macht man‘s unbewusst aus reinem Reflex.“ Shawns Ausführung klang einleuchtend.

„Alles klar. Also du besorgst bis morgen das Buch, Juli kümmert sich um Phil und behält ihn im Auge, während ich mir bis dahin eine Übung ausdenke, wie wir das Ganze austesten können.“

Beide Klassenkammeraden nickten mir zustimmend zu, worauf ich aufstand, um in mein Zimmer zu gehen. Dort konnte ich mich einfach besser konzentrieren. Eigentlich durfte man keines der Bücher aus der Bibliothek entfernen, aber Shawn schien wohl Übung drin zu haben und brachte mir das Exemplar noch am gleichen Abend.

So brütete ich bis in die Nacht über die Seiten, auf denen die Legende recht detailliert beschrieben wurde. Zwar war ich deshalb am nächsten Morgen etwas verschlafen, aber nicht minder neugierig, ob alles so funktionierte, wie ich hoffte.

Die anderen saßen schon beim Frühstück. Shawn und Philip unterhielten sich angeregt über was Politisches und Juliana genoss einfach ihr Essen und warf ab und an lediglich einen knappen Kommentar ein. Mit einem fröhlichen Guten Morgen setzte ich mich auf den Sessel und tat so, als ob ich mir mein Essen zusammensuchen würde.

In Wirklichkeit startete ich eine kleine Attacke gegen unseren Spitzensportler. Hoch konzentriert drang ich ganz vorsichtig in Shawns Kopf ein. Ich manifestierte zuerst den Gedanken, dass er unbedingt einen Apfel essen möchte. Nur wenige Male musste ich es wiederholen, gleich einem Gebet. Und dann nahm er sich tatsächlich den Apfel.

Innerlich einen Jubelschrei ausstoßend biss ich selbst von einem Brötchen ab und begann zu spielen. Einmal juckte sein Ohr, dann die Nase. Ich brachte ihn dazu, seine Schuhe auszuziehen und zu husten. Erst als er sich das Hemd aus der Hose zog, um es sich über den Kopf zu streifen, kapierte er, was los war.

Ein Blick in mein Gesicht reichte. Erschrocken und wütend zugleich sprang er auf und verpasste mir im gleichen Zug einen mentalen Schlag, der mich rücklings vom Sessel fegte. Phil guckte nur verwundert und Juli bekam sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Sie hatte mein Treiben wohl schon eher bemerkt und stillschweigend zugeschaut.

„Mann, bist du schwul, oder was?“, ereiferte sich Shawn, während ich mich langsam aufrichtete und wieder den Sessel hinstellte.

„Also wenn du mich so direkt fragst: ja. Aber keine Sorge, obwohl ich deinen Body heiß finde, bist du an sich nicht mein Typ. Sag mal, bist du sicher, dass du die richtige Gabe gewählt hast?“ Schwer ließ ich mich zurück ins Polster fallen und rieb stöhnend meine Brust. Der Redner in Ausbildung sah mich verdutzt an.

„Im Ernst jetzt?“, fragte er immer noch ungläubig.

„Jetzt sag bloß, du hast das noch nicht mitgekriegt“, meinte Phil schmunzelnd.

„Er hatte mehr Augen für Liam, dem Stallburschen, als für Marie, das vollbusige Mädchen, das uns immer Obst bringt“, sagte Juli grinsend, worauf ich doch tatsächlich etwas rot wurde.

„Du siehst gar nicht so aus wie eine typische Schwuchtel“, stellte Shawn trocken fest und setzte sich auch wieder hin.

Dieser Ausdruck passte mir gar nicht, weswegen ich versuchte, ihm mental eine Kopfnuss zu verpassen. Doch dieses Mal prallte ich an einer Mauer gnadenlos ab. Als hätte ich einen kleinen Stromschlag bekommen, zuckte ich zusammen.

„Cool“, sagte ich anerkennend und sah ihn begeistert an.

„War gar nicht mal so schwierig“, wunderte sich der Sportler selbst darüber, dass seine Abwehr so gut funktionierte.

Ein paar Mal übte ich mit Shawn Angriff und Abwehr, bis wir alle zu unseren Meistern mussten. Ich hätte wirklich nie gedacht, dass dieser Egoproll so schnell lernen konnte.

Abermals verstrich eine Woche, in welcher die Mentoren nicht gerade sanft mit uns umgingen. Wir hingegen schluckten alles stillschweigend und versuchten dem gerecht zu werden, wofür wir angeblich bestimmt waren. Weiter unterrichtete man uns kaum, was die Vorbereitungen für unsere Reise betrafen. Angeblich haben sich kleinere Schwierigkeiten ergeben, über die wir unsere Köpfe nicht zerbrechen sollten.

Ehrlich gesagt kamen wir auch nicht dazu. Wenn wir nicht gerade am Üben oder Trainieren waren, wurde uns jeglicher nur denkbarer Luxus zuteil, der in dieser Epoche zu haben war. Nur das Schloss verlassen, das durften wir aus Sicherheitsgründen nicht mal mit Begleitung.

So gingen wir vier in unserer kleinen Welt richtig auf. Juli begann uns Kampftechniken beizubringen, während Phil uns erklärte, welche Kräuter gut und schlecht waren und was für ein Verband bei welcher Verletzung angelegt werden konnte. Shawn gab Geschichtsunterricht, erläuterte verschiedene Volksgruppen und wie wir mit diesen umzugehen hatten, während die anderen mit meiner Hilfe ihre mentale Mauer stärkten.

Alles verlief recht locker und ohne Zwang. Manchmal bildeten sich sogar kleine Grüppchen. Entweder diskutierten Shawn und Philip über Politik, oder Juliane und ich arbeiteten an einer neuen Angriffstechnik. Oder Phil und Juli grübelten gemeinsam über die Zusammensetzung einer Salbe beziehungsweise Shawn und ich versuchten unsere telekinetischen Fähigkeiten zu verbessern.

Es schien, als ob jeder von uns mit allen vier Gaben „gesegnet“ war und nur eine näher ausgeprägt war. Keine Ahnung, warum uns das die Meister nicht gesagt hatten. Vielleicht wussten sie es selbst nicht. Wir banden es ihnen auf jeden Fall nicht auf die Nase. Es war unser erstes, gemeinsames, kleines Geheimnis.

Zwar fand ich es toll, dass wir vier uns auf einmal so gut verstanden, aber deshalb war auch im Gemeinschaftsraum viel los und selbst in meinem Zimmer hatte ich nicht wirklich Ruhe. Entweder klopften die anderen an meine Tür oder Rai sprang um mich herum. Diesen Umständen war es zu verdanken, dass ich rastlos im Schloss umherschlich, auf der Suche nach einem stillen Plätzchen.

In einem unwichtigen Teil des riesigen Bauwerks, zwischen hohen Mauern, die nur wiederstrebend Licht über sich hinwegfließen ließen, blühte doch tatsächlich ein kleiner Garten. Grüne Hecken, säuberlich angelegte Blumenbeete, gestutzter Rasen und zwischen all der Schönheit plätscherte ein großer Steinbrunnen vor sich hin.

Lächelnd atmete ich tief den natürlichen Duft ein und ließ mich auf eine der Steinbänke nieder, die den Brunnen umgaben. Ich zog meine Beine heran, in Schneidersitz, und versuchte mich zu entspannen. Meister Vaskir gab mir auf, dass ich lernen sollte, mehrere Steine erst schweben zu lassen und dann diese in verschiedene Richtungen zu schleudern.

Natürlich bekam ich es nicht so hin, wie er es wollte, weswegen er mich wieder mal fortschickte, um zu üben. Schließlich sei es nur eine Frage der Konzentration und da konnte er mir nicht viel weiterhelfen. Die müsste ich schon selbst aufbringen.

Ich ließ also drei der weißen Steine schweben, die den Weg säumten, und stellte mir vor, dass einer rechts, einer links und einer geradeaus flog. Die zur Seite stoben davon, nur der nach vorne fiel kraftlos zu Boden. Mann, das konnte doch nicht so schwer sein.

Seufzend versuchte ich es erneut, ließ zuerst die drei Steine vor mir schweben und konzentrierte mich dieses Mal nur auf den vorderen. Die anderen waren Nebensache, weshalb ich sie nur soweit wahrnahm, als würde ich diese lediglich aus dem Augenwinkel sehen.

Und dann ließ ich sie davon sausen. Einer nach links, einer nach rechts und einer flog tatsächlich nach vorne davon, durch den kleinen Wasserfall hinüber auf die andere Seite des Springbrunnens. Jubelnd sprang ich auf, doch ehe ich mich versah, kam der Stein zurückgeflogen. Viel zu perplex um zu reagieren, knallte er direkt gegen meine Stirn.

„Au… verdammt, was …?“, fluchend hielt ich mir den Kopf und wollte noch weitere Schimpfwörter loslassen, als ich eine spöttische Stimme vernahm.

„Du solltest besser aufpassen, wo genau du deine Übungen vollführst, junger Magierlehrling.“

Anmutig trat der König hinter dem Springbrunnen hervor und sah mich offen an. Respektvoll neigte ich ein Stück meinen Kopf, so wie es uns Shawn laut Etikette beigebracht hatte. Doch der Herrscher von Noraylia umfasste mein Kinn, damit ich ihn direkt ansah.

„Ihr seid die Letzten, die sich vor mir verneigen müssen“, sagte er sanft und blickte mir tief in die Augen, was mich ganz nervös machte. Ich war echt froh, als er mir den Platz neben sich auf der Steinbank anbot, da mir in seiner Gegenwart ständig die Knie weich wurden.

„Meister Vaskir scheint noch immer sehr ungeduldig mit seinen Schülern zu sein“, meinte der König lächelnd und brachte nebenher drei Steine zum Schweben. Ich schaute ihn verdutzt an und schluckte dann endlich den fetten Kloß hinunter.

„Ehm ja, manchmal … manchmal schon. Aber ich stell mich auch nicht besonders geschickt an. Und tut mir leid, wegen des Steins“, schob ich noch schnell hinterher. Er tat es lediglich mit einer Handbewegung ab.

„Die Magie ist im Grunde genommen recht einfach“, begann er zu erklären und ließ die Steine miteinander tanzen. „Du benötigst einzig und allein den Willen, etwas zu tun. Wenn du etwas aus tiefstem Herzen möchtest, dann funktioniert es auch.“

Sacht beugte der König sich vor und berührte meine Brust, was ein leichtes Kribbeln auf meinen Wangen verursachte. „Schließ deine Augen“, forderte er mich auf und ich gehorchte sofort.

Wenn ich noch weiter in dieses ebenmäßige Gesicht hätte blicken müssen, wäre ich vielleicht auf dumme Gedanken gekommen, schließlich wollte er mir offensichtlich etwas beibringen. Doch der Herrscher machte es mir nicht gerade einfach. Er griff nach meiner Hand und legte die drei Steine hinein. Dann beugte er sich soweit herüber, dass seine Lippen fast mein Ohr berührten.

„Und jetzt lass es einfach geschehen.“

Ein wohliges Prickeln breitete sich in meiner unteren Körpermitte aus, was ich mit aller Kraft versuchte zu unterdrücken, genau wie die schmutzigen Fantasien, die gerade aufkamen. Was war das auch für eine bescheuerte Aufforderung? Vor allem nach ewigen Wochen der Abstinenz.

Irgendwie schaffte ich es trotzdem, meine Energie auf die Steine zu lenken und fühlte, dass sie von meiner Handfläche abhoben. Als ich meine Augen wieder öffnete, beobachtete ich fasziniert, wie die drei Steine kleine Kunststücke vollführten, ohne dass ich mich groß konzentrieren musste.

Ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich mit dem König zusammen in diesem Garten saß und mit ihm übte. Aber es war wirklich seltsam, dass er mir nur einmal etwas zeigen musste und ich dies kurz darauf selbst konnte. Vielleicht spornte es mich einfach an, ihm unbedingt gerecht werden zu wollen. Vielleicht waren es aber auch die Dinge, die er mir beibrachte.

Der König war der Meinung, dass es das A und O sei, sich gut verteidigen zu können, weswegen er diese speziell trainierte. Er ließ Steine auf mich zu sausen, die ich abwehren sollte, immer aus verschiedenen Richtungen, mit unterschiedlicher Intensität. Endlich Sachen, die ich auch gebrauchen konnte.

Erst als es begann zu dämmern, verabschiedete er sich – ich komplett außer Atem, während ihm nicht mal der Hauch einer Anstrengung anzusehen war. Trotzdem hatte es unheimlich Spaß gemacht, wohl auch wegen des leichten Knisterns, welches ich nach und nach in seiner Nähe verspürte.

Beschwingt suchte ich meinen Mentor, um ihm zu zeigen, dass ich meine Aufgabe erfüllt hatte, doch nirgends konnte ich ihn finden. Also lief ich zurück zum Gemeinschaftsraum, wo meine drei Klassenkameraden schon auf mich warteten.

„Mensch Alter, wo warst du denn?“, begrüßte mich Shawn, gefolgt von Juliana.

„Wir wollten schon eine Vermisstenanzeige aufgeben.“

„Sehr schmeichelhaft“, antwortete ich ironisch. „Ich hab Meister Vaskir gesucht. Habt ihr ihn vielleicht gesehen? Er ist wie vom Erdboden verschluckt.“

„Unsere Mentoren wurden zusammengerufen, um sich die Route für unsere Rückkehr anzuschauen. Wie’s ausschaut, dauert‘s wohl nicht mehr lange, bis es los geht“, meldete Philip sich zu Wort.

„Und wie lange genau sind die jetzt weg?“, fragte ich interessiert.

„Mindestens zwei Wochen meinte Meisterin Arimaris.“

Genervt ließ ich mich in den freien Sessel fallen. „Und was machen wir bis dahin?“

„Packen?“ Grinsend sah mich Juli an.

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