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Die Geschichte einer Liebe
Ein Deal der anderen Art
Aus alt mach neu Challenge 2018
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Informationen
- Story: Die Geschichte einer Liebe
- Autor: Hyen
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Lovestory, Challenge
Vorwort
Diese Story ist eine Fortsetzung von Audilove - Die Geschichte einer Liebe die im Rahmen der Challenge 2018 "Aus alt mach neu" entstanden ist.
[…] Es war ein Fehler. Der Mercedes brannte aus, David überlebte. Aber zu welchem Preis…
Schon geschlagene zehn Minuten starrte ich auf den kleinen Bildschirm meines Tablets, während der Cursor stetig zwischen ‚ja‘ und ‚nein‘ hin und her wanderte. In einem kleinen Anfall von Schreibflash hatte ich binnen kürzester Zeit diese süße Kurzgeschichte geschrieben, um die Geschehnisse meines langweiligen Alltags aufzuarbeiten. Gut, ich hatte hier ne Menge Zucker eingebracht – Zucker und Wunschdenken. Der Cursor rutschte auf vier Buchstaben hinüber.
Vielleicht hätte ich den Transformersmarathon gestern doch lassen sollen. Aber wie sollte ich mich sonst ablenken? Nicht, das es besonders viel Aufregendes geben würde, von dem ich mich erstmal erholen müsste. Nur, wenn wirklich mal was Erwähnenswertes in meinem Leben geschah, dann war es Blödsinn. Dumme kleine Missgeschicke, die mich gerne Kopf und Kragen kosteten. Wobei ich wieder bei dem Thema angekommen wäre, was ich versuchte, seit zwei Tagen zu verdrängen. Oder aufzuarbeiten. Mit einer kleinen, kitschigen Liebesgeschichte.
Nein, ich bin kein Auto. Aber der A4 mit sphärenblauer Metalliceffektlackierung gehörte tatsächlich mir. Oder besser gesagt meinem Paps. Ich hatte ihn mir ausgeliehen, um mir von meinen kläglichen Ersparnissen ein Bett zu kaufen, da die alte Schlafcouch aus Kindheitstagen letzte Woche den Geist aufgegeben hatte. Jetzt hieß es wieder Flyer verteilen, Animateur in der Kinderdisco oder Bedienung zu unmöglichen Zeiten spielen, nur um an etwas Geld ranzukommen, zu einem noch unverschämteren Studentenlohn. Es lebe das Studentendasein.
Aber ich schweife ab. Genau wie in meiner Geschichte. Der Cursor wanderte zurück auf das bedeutungsschwere, kleinere Wort. Natürlich verarbeiteten die meisten Autoren ihre Erlebnisse in ihren Geschichten, schmückten sie meist noch kräftig aus, mit einer guten Portion Drama, Aktion, Sex und Happy End. Denn im Gegensatz zum wahren Leben konnte man in Geschichten andere Leute steuern, sie fühlen und sagen lassen, was man selbst gerne spüren und hören wollte.
So regte sich mein Protagonist über nen dämlichen Mercedes auf, verliebte sich in einen Skoda, der natürlich dessen Gefühle erwiderte und beide lebten glücklich bis die Tage. Naja, nicht ganz. Der Skoda hatte einen Unfall, logischerweise durch einen Mercedes verursacht und beide Autos wussten gerade nicht, wie es weitergehen sollte. Genau wie ich.
Mit meinem schwer bepackten Einkaufswagen war ich nämlich vor zwei Tagen nicht mit dem Skoda kollidiert, sondern mit dem schicken Mercedes. Keine Ahnung welches Baujahr der hatte oder was für ein Typ das war. Fest stand, dass es sich um ein neueres Modell handelte und die Reparatur sicherlich verdammt teuer werden würde.
Kam meine Versicherung für sowas überhaupt auf? Hatte ich die Beiträge für den letzten Monat eigentlich bezahlt? Sollte ich einfach abhauen? Gesehen hatte mich bisher keiner. Die meisten Menschen waren eh total mit sich selbst beschäftigt, als das sie auf andere achtgeben würden. Es sei denn es gab was zu lästern. Grenzenlose sensationsgeile Egoisten.
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend hatte ich mein Zeug in Paps Auto geladen, den Wagen weggebracht und noch eine Weile gewartet, in der Hoffnung, dass der Besitzer zwischenzeitlich auftauchen würde und sich der Schaden eventuell unter der Hand regeln ließe. Nach über einer halben Stunde kramte ich dann doch einen alten Kassenzettel vor und schrieb mit zittrigen Fingern unter einem großen ‚Sorry‘ meine Telefonnummer.
Paps war beruflich viel unterwegs und brauchte sein Auto. Ich wollte ihn nicht noch länger warten lassen, als so schon geschehen. Ihm erzählte ich erstmal gar nichts. Durch seine Arbeit hatte er eine Menge um die Ohren und machte sich eh schon genug Sorgen um mich. Ein schwuler Vorstadtjunge, allein in der großen, bösen Stadt. Da kamen bei ihm die wildesten Fantasien hoch.
Vielleicht hatte ich ja von ihm mein zweifelhaftes Talent geerbt, ungewöhnliche Geschichten zu schreiben. Von meiner Mutter wusste ich leider zu wenig. Sie starb als ich gerade mal vier Jahre alt war. Krebs. War keine schöne Sache, auch wenn ich mich kaum daran erinnern kann. Mein Paps litt sehr darunter und erzählte deshalb nicht gerne von ihr. Auch wenn ich es zu hundert Prozent verstand und es nachvollziehbar war, fand ich es traurig. Beide hatten sich sehr geliebt und meine Geburt krönte angeblich wohl alles. Ich wollte einfach mehr über diese Frau erfahren, die meinen Paps so leicht um den kleinen Finger wickeln konnte.
Aber ich schweife ab. Mal wieder. Von trüben Gedanken geleitet, schwebte der Cursor auf ‚Nein‘. Nach dem Missgeschick auf dem Parkplatz brachte ich also mein neues Bett in die WG, das Auto zu Paps und radelte dann wieder zurück, um das Ganze aufzubauen. Allein. Nein, in einer Wohngemeinschaft zu leben bedeutete nicht, neue Freundschaften fürs Leben zu schließen, die einem durch dick und dünn halfen. Es bedeutete pures Überleben.
Wie in der Steinzeit. War man nicht schnell genug, bekam man eins drüber gebraten und wurde in die Höhle geschliffen. Nur, dass ich zu dumm war, um wieder abzuhauen. Vier Räume, vier Freaks, jeder bekloppter als der Nächste. Kein Wunder, warum dieses Zimmer noch frei war und einigermaßen erschwinglich.
Als hätte der Oberzombie meine Gedanken gehört, klopfte es plötzlich an der Tür. Ich zuckte dermaßen heftig zusammen, dass die Maus in meinen Händen seitlich neben meinem Schrank knallte, während ich einem halben Herzinfarkt erlag.
„Hey, die Miete ist fällig“, kam es gedämpft durch die Tür und fast glaubte ich, ein Stöhnen und Schlürfen zu hören á la Walking Dead. Oder besser: Warm Bodies. Allerdings sah da der Hauptdarsteller richtig heiß aus. Nicht so abgegriffen und strähnig wie Zombieulf da draußen.
Manchmal glaubte ich, er wäre schockgefrostet worden und fünfzig Jahre später wieder aufgetaut. Ein elender Neuzeithippie, dessen Studium der Biochemie ihn wohl manchmal zu tief in die Sphären bestimmter Pflanzenarten und deren Wirkung gebracht hatte. Sei‘s drum. Er kümmerte sich um die Miete, Strom und sonstigen Aufgaben der Wohnungsverwaltung und ließ sonst allen Mitbewohnern ihre anonyme Ruhe.
Tief atmete ich durch, um mein armes Herz wieder zu beruhigen und stand auf. Auf dem Tisch lag längst der Umschlag mit meinem Anteil, den ich Ulf kommentarlos durch den Türspalt schob. Hey, ich hatte nie behauptet, kein Freak zu sein.
Fakt war, dass mich die meisten Menschen seltsam beäugten, wenn sie mich sahen. Also, wenn mich überhaupt mal jemand aktiv wahrnahm. Dabei lag es noch nicht mal an meinen dunklen Klamotten. Es gab weitaus schrägere Typen an der Uni, die sich durchaus exzentrischer kleideten und trotzdem ständig von einem Pulk Groupies umringt waren.
Irgendetwas an meiner Art, an meiner Persönlichkeit, schreckte die Leute einfach ab, dass die ziemlich schnell das Weite suchten, sobald sie zwei Worte mit mir wechselten. Keine Ahnung warum. Mein Paps meinte mal, dass es an meiner Ausstrahlung läge, die einfach alle umhaute.
Ja klar. Er hätte dasselbe behauptet, wenn ich schlimmer aussehen würde, als der Glöckner von Notre Damm. Oder wie Alexander Gauland. Beide mit interessanter Geschichte ohne Happy End. Nur dass ich hoffte, dass beim zuletzt Genannten kein zweiter Teil rauskäme.
Zombieulf registrierte den Umschlag mit dem üblichen „Pfff … typisch Emo“ und schlurfte vor sich hin brummelnd davon. Einmal komplett pleite, aber doch irgendwie erleichtert, sammelte ich meine Maus ein, die zum Glück noch intakt zu sein schien. Als ich mich jedoch auf das Bett hockte und das Tablet zu mir drehte, starrte ich geschockt auf den Desktop.
Shit, meine Geschichte! Klar hatte ich kurz vorher noch überlegt, ob ich sowas Gefühlsduseliges überhaupt abspeichern sollte. Normalerweise waren meine Storys deutlich blutiger und gut gefüllt mit expliziterem Inhalt. Hey, ich sagte doch, dass Autoren ihre Erlebnisse gerne aufpeppten, genau mit dem, was sie am wenigsten hatten, aber dafür am meisten begehrten. Nein, ich war kein Vampir und verlangte nach Blut. Aber gegen hier und da etwas hemmungslosen Sex hatte ich absolut nichts einzuwenden.
Ja ja, ich schweife wieder ab. Ich ärgerte mich lediglich über mein fehlendes Selbstvertrauen und meine Eigeneinschätzung. War es nur zusammenhangsloser Müll, was ich da virtuell zu Papier gebracht hatte? Oder war es wirklich wert, es Anderen zum Lesen zugänglich zu machen? Natürlich anonym auf einer interessanten Website für kleine Hobbyautoren, die mir in letzter Zeit arg ans Herz gewachsen war. Warum? Na, gleich und gleich gesellt sich gern. Und wo nur lauter Bekloppte unterwegs waren, passte ich super rein.
Nervös öffnete ich das Schreibprogramm und schaute fieberhaft auf die linke Seite, wo die zuletzt gespeicherten Dokumente aufgelistet wurden. Mit zusammengepressten Lippen öffnete ich die Datei und blies die Luft erleichtert aus. Vor mir erstreckte sich das komplette Werk, nicht mehr nur die Überschrift ‚Die Geschichte einer Liebe‘.
Und damit hatte ich mir selbst meine letzten Fragen beantwortet. Sie war es allemal wert, online zu gehen. Diese kleine, niedliche Geschichte war nun mehr ein Teil von mir, auch wenn sie viel zu sehr meinen Wunsch nach Nähe ausdrückte. Allerdings kannte mich von der Community nicht einer persönlich. Und wie ich bisher feststellen konnte, biss von denen keiner – auch wenn ich mir da bei einer Tante nicht ganz so sicher war.
Ein zufälliger Blick auf die Uhr scheuchte mich erneut auf. Natürlich hatte ich mal wieder über das Schreiben hinweg die Zeit vergessen und war entsprechend spät dran. Schnell stopfte ich meine Füße in die ausgelatschten Schuhe, schnappte mir Hoodie und Umhängetasche und stolperte aus der Wohnung.
Im Treppenhaus konnte ich abermals nur laut fluchen. Die scheiß Kids von der Nachbarin hatten mal wieder die Luft aus den Reifen meines alten Drahtesels gelassen und die Pumpe versteckt. Warum vergaß ich auch jedes Mal, dieses blöde Teil mit hochzunehmen?! Egal, keine Zeit für selbstkritische Gedanken. Ich hatte ein Date und wollte es unter keinen Umständen verpassen.
Okaaaaay, Date war weitaus übertrieben. Ich steckte vielleicht doch noch ein klein wenig zu sehr in meiner letzten Geschichte. Nach meinem Malheur auf dem Parkplatz hatte ich ja meine Nummer hinterlassen und prompt am nächsten Tag meldete sich jemand, ganz klassisch via SMS. Dabei hatte ich das Ganze so schön verdrängt zwischen einem unmöglichen Bettaufbau, bei dem die Bilder der Anleitung einen mehr verwirrten, als sie eigentlich halfen und einem Referat für die Uni, was auch noch unbedingt korrigiert werden wollte.
Ich hatte mein Handy wie ein Ufo angeschaut, da es sonst nie irgendwelche Laute von sich gab, es sei denn dämliche Werbeanrufe oder eine Nachricht von Paps, in der kurz und knackig stand, wo ich mich zum gemeinsamen Essen einzufinden hatte. Nun prangte auf dem Display eine vierstellige Zahl, die es galt, binnen drei Tagen zu bezahlen. Ich war froh, dass ich gerade so die Miete zusammenkratzen konnte und wusste nicht mal, was ich morgen essen sollte. Und dann das!
Mit schweißnassen Händen tippte ich zurück, dass ich das Geld so schnell nicht aufbringen konnte und fragte nach einem Aufschub oder anderen Lösung. Wieder verging ein halber Tag, bevor eine Antwort auf dem Handy erschien:
„Möglich. Morgen. 11:00 Uhr im Park, an der alten Statue am Teich.“
Jetzt weiß zumindest jeder, aus welchem Hintergrund heraus meine kleine Geschichte entstand. Natürlich war es pures Wunschdenken, dass mich am Treffpunkt ein ansehnlicher Typ erwartete, mich zum Essen einlud, wir uns unsterblich ineinander verliebten und dabei die Kohle untern Tisch fiel.
Wenn ich mich nicht langsam sputete, würde eher mein Date ins Wasser fallen und ich dürfte zusehen, wie ich an so viel Geld käme. Und nein, meinen Paps fragen käme überhaupt nicht in Frage. Der Zwang mich doch glatt wieder bei ihm einzuziehen und ne Lehre als Elektriker anzufangen. Schüttel. Eher trug ich Baggies und hörte den ganzen Tag laut Hip-Hop. Beides eine gruselige Vorstellung.
Nun hieß es erstmal Beine in die Hand nehmen. Der Park lag natürlich am anderen Ende der Stadt und ich hatte weniger als eine halbe Stunde, um dort hinzukommen – ohne Fahrrad. Zum Glück lag die Straßenbahnhaltestelle gleich um die Ecke und – welch Freude – ließ das öffentliche Verkehrsmittel nicht lange auf sich warten. Die Fahrkarte für Studenten war das einzige, was mein Paps sich nicht nehmen ließ zu zahlen. Mehr war von seiner Seite eh nicht drin gewesen.
Kaum eingestiegen, spürte ich schon die missgünstigen Blicke auf mir ruhen. Klar, vielleicht hatte ich da auch nen ‚kleinen‘ Schaden, aber ich hasste es, auch nur kurz, im Fokus von Anderen zu stehen. Zum Glück hatte ich standartmäßig meine Kopfhörer dabei, die ich mir sofort in die Ohren stopfte und die Musik laut aufdrehte. Unter den lieblichen Klängen von Leos neustem Cover ließ ich mich durch die Stadt tragen und merkte kaum, wie ich mehr und mehr der Wirklichkeit entrückte.
Warum wollte sich der Typ unbedingt mit mir treffen? Sollte ich die Summe bei ihm abarbeiten? Vielleicht in Naturalien? Wäre ich bereit, mich und meinen Körper zu verkaufen, nur um schuldenfrei zu werden? Ein klein wenig erschrak ich über mich selbst, weil nicht sofort ein klares ‚Nein‘ in mir aufpoppte. Zwar hatte ich mir den Mist á la 50 shades of grey nicht reingezogen, aber ich musste zugeben, dass mich der Gedanke nicht unbedingt kalt ließ, einem heiß aussehenden Typen zur Verfügung stehen zu müssen. Zumal es genügend Gay-Bücher in diesem Bereich gab, die weitaus besser und expliziter waren, als dieser prüde Ami-Verschnitt eines Pseudo-BDSM-Werkes.
Wie ich mein Glück jedoch einschätzte, würde mir Fortuna milde lächelnd den Mittelfinger zeigen und mir einen fetthaarigen Fleischklops vor die Nase setzen, samt winziger Nacktschnecke zwischen den Beinen. Angeekelt verzog ich das Gesicht und schüttelte mich kurz, um die widerlichen Bilder abzuwerfen, die dank meiner überschäumenden Fantasie in mir hochkamen, wie bittere Galle. Musste ich denn auch gleich jede Vorstellung im Kopf visualisieren?!
Was es jedoch galt in diesem Augenblick zu realisieren, war die entsprechende Haltestelle, die ich gerade fröhlich hinter mir ließ, obwohl ich längst hätte aussteigen müssen. Fuck! Immer diese scheiß Tagträumerei. Wäre mein Kopf nicht fest mit meinem restlichen Körper verbunden, würde ich den glatt ebenfalls irgendwo liegenlassen, ganz in Gedanken an wild kopulierenden Menschen mit insektialen Geschlechtsteilen.
Ich ignorierte geflissentlich die böse Stimme aus dem Hinterkopf, die ‚Freak‘ hustete und sprang regelrecht aus der Bahn, als sie das nächste Mal anhielt. Wie ein angestochenes Wiesel flitzte ich zurück, sah allerdings nur noch die roten Lichter des Anschlussbusses und fluchte so laut, dass mich das Mütterchen neben mir mit bösen Blicken und einem enttäuschten Kopfschütteln bedachte.
Sofort fühlte ich mich drei Grad schlechter. Ich mochte alte Leute. Die waren genauso ehrlich und offen wie kleine Kinder, nur eben halb so nervig. Verzweifelt linste ich auf meine Uhr und stellte bitter fest, dass ich definitiv zu spät kommen würde. Der nächste Bus käme erst in einer Ewigkeit, davon mal abgesehen hatte ich eh zu viele Hummeln im Arsch, als dass ich ruhig warten könnte.
Also sah ich mich einmal kurz um, um mich zu orientieren und rannte dann los. Mit etwas Glück wartete der Typ ein paar Minuten und hatte mit mir dann noch ein Stück mehr Mitleid, wenn er sah, wie fertig mich das Ganze machte. Wieder lenkten mich meine Gedanken dermaßen ab, dass ich erst im letzten Moment mitbekam, wie direkt vor mir eine Autotür aufsprang.
Mit einer knappen Drehung um mich selbst, wich ich geradeso aus und warf ein ‚Tschuldigung‘ über die Schulter, ohne meinen Lauf abzubremsen. Blitzartig schoss die Info durch meinen Schädel, dass die aufgetakelte Lady alles andere als amüsiert darüber war, dass ich fast einen Kratzer in die Tür ihres hübschen Mercedes gemacht hätte. Genau wie naiv eigentlich die Annahme war, dass es sich bei meinem Date um eine männliche Person handelte.
Was wäre, wenn es so ein Samantha Jones-Verschnitt war like ‚Sex and the City?‘ So ein sexsüchtiges Monster, welches ihre Gelüste überall und zu jeder Zeit auslebte? Nicht, dass ich etwas gegen ältere Partner hatte. Im Gegenteil. Lieber einen zehn Jahre älteren Lover, der wusste, was er tat, als einen Jungspund, der mit seinem Schwert nicht umzugehen wusste.
Ich hatte nur etwas gegen Frauen. Also als Sexualpartner. Oder auch als Mitkommilitonen. Die meisten waren einfach viel zu geschwätzig, in einer überwiegend überhöhten Tonlage, die meine Ohren auf längere Zeit einfach nicht vertrugen. Es gab nur wenige, deren Anwesenheit ich aushielt, wobei diese Exemplare entweder älter oder vergeben waren. Oder bekloppt – wie auf meiner Autorenwebsite. Zumindest wollten die mich nicht mehr unbedingt davon überzeugen, doch noch zum ‚hübscheren Geschlecht‘ hinüber zu wechseln.
Nerviges Seitenstechen durchzog mein Unterleib, eine Folge meiner abschweifenden Gedanken. Fakt war, ich hatte unheimlichen Schiss vor diesem Treffen, wusste aber, dass es unausweichlich war. Gehetzt bog ich in den Park ein, umrundete spielende Kinder und kläffende Tölen und bremste hart vor der alten Statue ab, dass der trockene Dreck nur so aufstob.
Wieder überhäufte man mich mit missbilligenden Blicken und ein Mittvierziger kommentierte mein Auftreten, ob wir hier denn bei einer Ralley wären. Ich hatte derweil meine Hände auf die Knie gestützt und versuchte, schnaufend und vornübergebeugt Luft zu schöpfen, während ich inständig hoffte, dass mein Date noch anwesend war.
„Sie sind zu spät, Mr. Davids.“
Fuck, diese Stimme drang bis tief in meinen Magen, dass mir fast schlecht wurde. Sie klang jung, vibrierte aber dennoch angenehm in den Ohren, mit einer leicht arroganten Note, die mich nur noch nervöser machte. Mit größer werdenden Augen richtete ich mich ganz langsam auf und musterte dabei, von unten nach oben, den Ursprung der, voller Tadel klingenden, Worte.
Glänzende Schuhe, die trotz der trockenen Tage und damit eingestaubten Straßen nicht einen Schmutzfleck aufwiesen. Gutsitzende Hosenbeine, die in der sitzenden Position bis leicht über die Knöcheln reichten. Schmale Hüften, zumindest was ich so erkennen konnte, da seine langen Arme auf den übereinander geschlagenen Beinen ruhte. In den Händen ein altes Buch haltend, bei dem ich Angst hatte, es könnte jeden Augenblick zerfallen.
Neugierig beäugte ich es näher, doch der Einband war dermaßen verblichen, dass man weder Titel noch Autor erkannte. Auch die Schrift war in Altdeutsch geschrieben, weshalb ich nicht mal so nebenher ein paar Satzfetzen aufschnappen konnte. Erschrocken zuckte ich zusammen, als mein Gegenüber plötzlich das Buch zuklappte und elegant aufstand.
„Zu spät und unhöflich, wie mir scheint.“
Wieder dieses ungewöhnliche Vibrieren, dass so unangenehm in mir nachhallte. Langsam glitt mein Blick höher, wanderte über ein teuer aussehendes Hemd, dessen Ausschnitt leicht aufgeknöpft war und die Sicht freigab auf ebenmäßig glatte Haut. Weiter hinauf zum Kehlkopf, der markant hervorstach, über ein leicht spitz zulaufendes Kinn, schmale Lippen und einer kleinen Nase, auf die eine dunkle Sonnenbrille thronte. Natürlich von Ray Ben. Logisch.
Diese nahm der Mann nun gemächlich ab und maß mich mit einem abschätzenden Blick, welcher unter meiner Haut kribbelte. Vielleicht waren seine Augen nicht so farblich ungewöhnlich, wie die meiner Protagonisten in meinen Geschichten, sondern eher eine wilde Mischung zwischen grau, blau und grün, mit einer hellbraunen Umrandung. Aber die Art wie diese funkelten, hielt mich einfach gefangen, dass ich kein klares Wort herausbekam.
Wie beiläufig strich er sich eine hellbraune Strähne seines perfekt frisierten Haares beiseite, als er mit seiner Musterung fertig war und schaute mir direkt in die Augen. Sofort kam ich mir klein, unfähig und heruntergekommen vor. Während dieser Typ so offensichtlich perfekt und lässig von der Sonne angestrahlt wurde, spürte ich Rinnsale von Schweiß meinen Rücken hinabfließen. Meine längeren Haare hatten sich teilweise aus dem Zopf gelöst und hingen mir klebrig im Gesicht, wobei mir kläglich bewusst wurde, dass mein Sitecut jeweils rechts und links viel zu sehr nachgewachsen war.
Er in schicken Designerklamotten, ich mit abgewetzten Sachen ausm Outlet oder Second-Hand-Laden. Er die Ausgeburt eines selbstbewussten, in sich ruhenden jungen Mannes, ich der klägliche Emo-Nerd-Student aus der Unterschicht. Super wie ich es schaffte, mich binnen Sekunden selbst runterzumachen. Wer braucht dazu schon Feinde?
Keine Ahnung, ob er von meinem heruntergekommenen Anblick so angewidert war oder von meinen Gefühlen, die mir sicherlich so offensichtlich im Gesicht abzulesen waren. Er zumindest wandte sich ab und machte Anstalten zu gehen. Würde ich ehrlich gesagt auch gerne. Oder wahlweise im Erdboden versinken, weil ich es einfach nicht schaffte, meinen Mund zuzuklappen und einen verständlichen Ton von mir zu geben.
„Was ist? Kommst du?“
Irritiert blinzelte ich ein paar Mal, um auf Nummer sicher zu gehen, dass ich ihn auch richtig verstanden hatte. Doch er schien wirklich geduldig auf mich zu warten, das passende Sakko zum Anzug locker über den Arm gelegt, mit dem Buch in der Hand, was ihn fast aristokratisch wirken ließ, wenn er nicht schon von vorneherein so unverschämt gut aussehen würde.
Zögerlich setzte ich mich in Bewegung und so liefen wir eine kleine Weile gemeinsam durch den Park, schweigend, ohne dass es unangenehm war, als würden wir so etwas täglich machen. Seit wann fühlte ich mich in Anwesenheit anderer wohl? Lag es an der Art WIE er mich gemustert hatte? Oder was allein sein Blick bei mir bewirkte? Ganz ruhig. Keine falschen Hoffnungen machen.
Mal wieder komplett in Gedanken versunken, merkte ich überhaupt nicht, wie der Fremde stehengeblieben war und ich einfach dämlich weitertapste. Erst sein genervt klingendes Räuspern holte mich in den Park zurück und ließ mich anhalten. Verschämt drehte ich mich um und schaute ihn von unten her an.
Langsam kam er auf mich zu und blieb erst ganz dicht vor mir stehen. Auch wenn ich mit meinen Einmetervierundsiebzig nicht gerade hochgewachsen war und er mich gut um einen halben Kopf überragte, ließ ich mich von körperlicher Größe normalerweise nicht einschüchtern – es sei denn sie betraf direkt die Männlichkeit.
Doch irgendetwas ließ mein Herz schneller schlagen, als er sich so nahe vor mir aufbaute, dass ich sein dezent aufgetragenes Aftershave riechen konnte. Fuck, ich indes musste stinken wie die Hölle. Gerade als ich entmutigt die Augen niederschlagen wollte, durchströmte mich wieder seine Stimme, lockend wie zuckersüßer Honig und doch so fordernd, dass man dem Gesagten einfach nachkommen musste.
„Sieh mich an!“
Sein Atem streifte wie Streicheleinheiten über meine Wangen und hinterließ ein unangenehmes Prickeln. Natürlich mussten meine rot anlaufenden Bäckchen zeigen, wie entzückt sie davon waren. Elende Verräter. Erst im zweiten Anlauf schaffte ich es, die Lider zu heben und mich nicht von dem lockenden Kaffeeduft irritieren zu lassen, den er nebenher ausströmte.
„Ich mag es nicht, ignoriert zu werden, wenn ich jemandem meine kostbare Zeit schenke.“
Man, konnte der Typ nicht aufhören, mich so intensiv anzustarren, als würde er bis auf den tiefsten Grund meiner verkorksten Seele blicken? Ich schluckte trocken und leckte mir nervös über die rissigen Lippen. Dass er dem Weg meiner Zunge aufmerksam folgte, machte die konfuse Situation für mich nicht gerade besser.
„Tschuldigung, Herr …“, krächzte ich und schaute fragend zu ihm auf. Vielleicht war er nicht viel älter als ich, besaß aber gerade die eindeutig höhere Position, weswegen ich einen gewissen Respekt für angebracht hielt.
Ein kurzes Zucken seiner Mundwinkel verriet mir, dass er zufrieden mit mir zu sein schien. Dann wandte er sich wieder ab und ging ganz normal weiter, als wäre nichts geschehen. Ich brauchte einen Herzschlag, um zu kapieren, was gerade überhaupt geschehen war, beeilte mich aber dann, wieder zu ihm aufzuschließen.
Abermals vergingen etliche Minuten, in denen wir lediglich durch den Park flanierten. Doch dieses Mal galt meine gesamte Aufmerksamkeit ihm. Ich wollte es mir kein zweites Mal mit ihm verscherzen, sah es wohl doch so aus, als könnten wir uns außerhalb der Versicherungen und Anwälte einigen. Er schien das Ganze außerordentlich zu genießen und schmunzelte ab und an, wenn er bemerkte, wie ich ihn nicht gerade unauffällig von der Seite her angaffte.
„Quin, richtig?“, fragte er so plötzlich, als ich schon glaubte, er würde nie mehr das Wort an mich richten. Ich nickte überrumpelt, worauf er leicht die Nase rümpfte. „Antworte. Und zwar laut und deutlich!“ Sicherlich klang die Aufforderung nicht wie ein Befehl, besaß aber dennoch genügend Nachdruck, dass ich es umgehend umsetzte.
„Quin Davids, wobei der Nachnahme eher deutsch ausgesprochen wird, mit Betonung auf dem I.“ Super. Einmal geschafft den Mund aufzumachen und gleich wieder Dünnes von mir gegeben.
Viele machten, genau wie er, den Fehler und gaben meinem Namen die englische Version. Aber trotzdem stand es mir nicht zu, anderen vorzuschreiben, wie sie etwas auszusprechen hatten oder nicht. Das Land China sprach auch jeder aus, wie er wollte, obwohl genau im Duden hinterlegt war, dass es dort kein K gab, sondern ein CH. Und trotzdem wusste jeder, was man meinte, egal wie man es aussprach.
Mist, meine Gedanken schweiften schon wieder ab, dabei wollte ich doch wirklich besser aufpassen. Zum Glück schien mein Gegenüber nichts weiter gesagt zu haben und akzeptierte meine ausschweifende Antwort großzügig.
„Gut, Quin Davids.“ Dieses Mal mit überkorrekter Betonung. „Wir hätten da, glaube ich, noch eine Sache zu klären“, kam der Fremde endlich zum Punkt unseres eigentlichen Treffens.
Mutiger geworden, fiel ich ihm fast ins Wort, kaum dass er ausgesprochen hatte: „Richtig. Ehrlich, es tut mir wahnsinnig leid, was da passiert ist. Ich war irgendwie im Stress und mit den Gedanken nicht ganz bei mir, was mir dummerweise recht oft passiert. Die Uni, die Nebenjobs und ne Storyidee hatte ich, glaub ich, auch noch im Kopf. Also das soll keine Ausrede werden. Natürlich komme ich für den Schaden auf … hab aber absolut kein Geld … Doch ich kann arbeiten! Kellnern geht und Getränke mixen bekomme ich auch erstklassig hin. Ich mach auch irgendwo sauber … Nur handwerklich bin ich nicht so wirklich … begabt …“
Je mehr ich redete, desto ausdrucksloser wurde sein Gesicht, bis er mich zum Schluss nur noch mit gerunzelter Stirn starr anschaute, während ich im letzten Satz immer leiser wurde und zum Schluss komplett verstummte.
Tja, das war ich, live und in Farbe. Okay, meist eigentlich in schwarz/weiß, aber mein seltsamer Klamottengeschmack tat hier gerade nichts zur Sache. Fakt war, dass ich entweder so gesprächig war wie eine Runde Backfisch oder knallhart drauf losplapperte, wie dieser stotternde Typ aus den neunziger Jahren. Wie hieß der gleich nochmal? Scatman John? Egal.
Erneut flammten meine Wangen heiß auf und dieses Mal zog es sich bis zu meinem Hals hinunter. Wo, verdammt nochmal, waren die schwarzen Löcher, wenn man sie mal brauchte?! Nun war es mein Gegenüber, der tief einatmete, bevor er sacht lächelte und eingehend meine glühende Haut musterte. Ja ja, sieh dir nur genau an, wie ich mich gerade zum Trottel machte – nicht das ich dafür jemals Hilfe benötigte. Während meiner Litanei waren wir stehengeblieben, doch erst jetzt wandte der Fremde sich mir komplett zu.
„Ich erlasse dir deine Schulden.“
Bitte was? Nein, ich hatte mich definitiv verhört. Allerdings war ich so schlau, vorerst meinen Mund zu halten, bis er die bedeutungsschwere Pause unterbrach. „Gegen zwei Bedingungen.“
Na klar, so ne Sache hatte immer einen Haken.
„Ja?“, fragte ich vorsichtig nach. Wieder ein Zucken seiner Mundwinkel, als ob er entweder meine Aufmerksamkeit oder meine Unsicherheit genoss. Womöglich auch beides.
„Der Wagen, den du verbeult hast, muss bis morgen in die Werkstatt, dreihundertfünfzig Kilometer von hier entfernt. Ich gebe dir die Adresse und du stellst ihn dort auf dem Parkplatz ab. Keine Fragen, kein Kontakt zu Anderen. Und der Kofferraum ist für dich tabu!“
Man kannte doch das Gefühl, wenn man ganz plötzlich tierisch Bock hatte auf nen richtig geiles Tomahawk-Steak, ohne Beilagen, nur pures Fleisch, medium rare, tausend Gramm. Oder auf ein riesiges Eis. Der Magen zieht sich zusammen, Speichel sammelt sich im Mund und man tötete absolut jeden gedanklich, der mit so einer fetten Wundertüte, samt Sahne und Streusel an einem vorbeiläuft, scheiß egal, ob Kind oder Erwachsener. Tja, ich hatte gerade das Gefühl, spontan kotzen zu müssen. Sacht schüttelte ich den Kopf.
„Ich dreh keine krummen Dinger“, brachte ich mühsam hervor.
Jetzt stand deutlich Belustigung im Gesicht des Anderen. „Du hast doch einen Führerschein oder?“ Diese süffisante Stimme wurde mir langsam immer unheimlicher, auf eine erschreckend anziehende Art und Weise. Verhalten nickte ich lediglich. „Dann kann ich nichts Illegales daran erkennen. Du stellst den Wagen ab, steigst in den nächsten Zug und bist vier Stunden später wieder hier. Ganz einfach.“
Klar, ganz einfach. Wenn dem so wäre, warum machte er es dann nicht selbst? Bequemlichkeit? Oder gehörte so etwas zu den niederen Arbeiten und ihm war lediglich das Personal ausgegangen? Ich sollte besser aufhören, mit offenstehendem Mund in seine hypnotisierenden Augen zu schauen. Die machten mich ganz weich im Kopf. Also weicher als so schon.
Nüchtern betrachtet sah die Aufgabe ganz einfach aus, so, wie er es formulierte. Und selbst wenn etwas im Kofferraum lag, was nicht ganz koscher war, konnte ich noch immer beweisen, dass ich damit im Grunde genommen nichts zu tun hatte. Zum einen gab es da den SMS-Verlauf auf meinem Handy und zum anderen standen hier überall Kameras, die ja für die Sicherheit der Bürger dieser Stadt sorgten. Es lebe der gläserne Mensch.
„Also gut“, stimmte ich endlich zu, worauf der Blick des Größeren nicht zufriedener wirkte, sondern um eine Nuance dunkler wurde. „Und die zweite Bedingung?“, beeilte ich mich rasch nachzufragen, bevor ich vor Nervosität wieder kein Wort rausbrachte.
Die Lippen des Fremden verzogen sich zu einem diabolisch wirkenden Lächeln, dass fast gierig wirkte. Sacht beugte er sich zu mir vor und fixierte mich dermaßen intensiv, dass ich arg zwischen dem Drang zu flüchten oder einfach an ihm zu riechen, meine Nase tief in seine Halsbeuge zu vergraben, hin und her schwankte. Wie gefesselt starrte ich auf seinen Mund, als dieser sich zu einer Antwort öffnete.
„Sei mein. Für vierundzwanzig Stunden.“ Er hatte nicht mal laut gesprochen, sondern eher geflüstert. Und doch hallten die Worte wie ein Glockenschlag in mir nach, als würde ich direkt neben einer riesigen Kathedrale stehen.
„Was?“, brachte ich heiser hervor und tat einen Schritt zurück. Ich brauchte dringend frische Luft, um besser atmen zu können. Dieser Typ brachte mich binnen Sekunden komplett um den Verstand. Und dass er jetzt laut anfing zu lachen, machte die Sache nicht gerade besser.
„Ich würde ja ein Königreich für deine Gedanken geben, aber sie stehen dir auch so direkt ins Gesicht geschrieben.“ Super. Wollte er etwa, dass ich mich besser fühlte? Daran müsste er dringend arbeiten.
„Bevor deine Fantasie noch weiter mit dir durchgeht, lass mich meine Forderung ein klein wenig präzisieren: Ich brauche etwas Gesellschaft. Beruflich bin ich viel unterwegs, was mich normalerweise auch nicht weiter stört. Aber auch ich bin nur ein Mensch und benötige ab und an etwas Konversation. Und auch nur das.
Stricher wollen lediglich rasch ihre Arbeit beenden, um an den nächsten Schuss zu kommen und Eskortboys sehen zwar hübsch aus, sind allerdings vom Gemüt her so einfach wie eine Stange Weißbrot. Mich verlangt es nicht nach hochgestochener Konversation, sondern nach normaler, bodenständiger Unterhaltung. Sprich: Mir geht es nicht um Sex oder körperliche Befriedigung. Du darfst die gesamte Zeit über deine Sachen anbehalten, genau wie ich. Es sei denn dir ist im Verlauf des Abends nach etwas anderem zumute.“
Er zwinkerte mir neckisch zu und verdeutlichte so sein offensichtliches Interesse. Bei den Göttern, ich war doch sonst kein Kind von Traurigkeit, wenn es mich mal in die einschlägigen Clubs verschlug. Ich wusste durchaus mit einer Anmache umzugehen oder auf einen gut gehenden Flirt einzusteigen. Es lag bestimmt nur an der Öffentlichkeit und am helllichten Tag, bei dem das Ganze gerade ablief, dass mich das so aus der Bahn warf. Schwer löste ich meinen Blick von ihm und blinzelte ein paar Mal, um das Wirrwarr in meinem Kopf zu ordnen.
„Kein Nacktputzen, Gang-Bang mit Dritten, anketten, niederknien oder anderen 50 Shades-Mist?“, hakte ich sicherheitshalber nach.
„Nicht wenn du nicht selbst ausdrücklich darauf bestehst. Obwohl ich eines von dem Gesagten vehement ausschlagen muss.“ Super, jetzt kams dicke. „Gang-Bang oder Dreier lehne ich absolut ab. Ich will dich für die Zeit komplett für mich allein.“
Fuck. Wieder dieses eklige Gefühl in der Magengegend, dass mir fast schlecht wurde. Warum gab der nur so etwas Wahnwitziges von sich? Der kannte mich doch überhaupt nicht! Oder hielt der mich etwa für die Unschuld vom Lande? Na, da würde er die Überraschung des Jahrhunderts erleben.
Zumindest wenn ich mich darauf einließe. Blieb mir überhaupt eine Wahl? Konnte ich seinen Worten überhaupt trauen, dass er mich nicht anpackte oder Anderen zum Fraß vorwerfen würde? Vielleicht organisierte er just in diesem Moment eine exklusive Luxusparty für reiche alte Knacker und ich gehörte zum Hauptgang. Allein die Vorstellung ließ bittere Galle in mir aufsteigen und mein Gesicht verzog sich angewidert, was nicht unbemerkt blieb.
„Keine Sorge, Quin. So lange du in meiner Obhut bist, wird dir nichts geschehen.“ Dieses Mal klang seine Stimme sanft, fast einlullend, dass ich einfach wie erstarrt stehen blieb, als er ganz vorsichtig seine Hand hob und mir eine Strähne hinters Ohr strich, ohne meine Haut zu berühren oder mir anderweitig zu nahe zu kommen.
„Okay.“ Warte … was?! Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Auch der Fremde war sich wohl nicht ganz sicher, ob ich das wahrhaftig ernst meinte.
„Okay?“, fragte er forschend und fast glaubte ich, Hoffnung in seiner Stimme mitschwingen zu hören.
„Ich nehme die Bedingungen an.“ Ach, tat ich das? Ich war mir selbst gerade fremd. Wie ferngesteuert nickte ich, um meine Aussage zu unterstreichen. Könnten bitte die Aliens aufhören, mich zu manipulieren?
Jetzt war es eindeutig Erleichterung, die sich in seinem Gesicht widerspiegelte. „Sehr schön. Hier sind die Bahntickets. Sie sind weder an eine Person, noch an einen bestimmten Zug gebunden. Das Auto steht hinten auf dem Parkplatz. Papiere sind im Handschuhfach, Schlüssel im Umschlag, genau wie die Adresse, an der du dich einzufinden hast, sobald du zurück bist.“
Völlig überrumpelt nahm ich alles entgegen und schaute ihn perplex an. „Und wann muss ich los?“, fragte ich hastig, als der Andere sich schon abwenden wollte.
„Sofort natürlich.“
Natürlich.
Keine zehn Minuten später stand ich vor dieser riesigen Luxuskarre und hatte Hemmungen, diese auch nur länger anzuschauen. Zögerlich betätigte ich den Knopf der Zentralverriegelung, öffnete die Fahrertür und ließ mich vorsichtig auf den Sitz gleiten, als könnte ich etwas zerbrechen. In was hatte ich mich da nur hineinmanövriert? Andererseits hätte ich nie wieder die Möglichkeit, so einfach Schulden abzugelten.
Gebannt starrte ich ein paar Sekunden auf die Taste, welche den Kofferraum öffnete. Natürlich traute ich dem Typen keine zehn Meter über den Weg. Aber er hatte mir eine Anweisung gegeben und ich die Bedingungen dazu angenommen. Ich stand zu meinem Wort, basta. Ein letztes Mal atmete ich tief durch, bevor ich die Autotür schloss und den Motor anließ.
Die Adresse war rasch im Navigationsgerät eingegeben und das Handy via Bluetooth verbunden. Umgeben von meiner ganz speziellen Lieblingsmusik fühlte ich mich gleich etwas besser. Zum Glück schleppte ich in meiner Tasche ständig eine kleine PowerBank mit rum, somit würde mir unterwegs zumindest nicht der Saft ausgehen. Nichts war schlimmer, als Stille um mich herum.
Die ersten hundert Kilometer rollten nur so an mir vorbei und langsam gewöhnte ich mich an das leistungsstarke Gerät unter meinem Hintern. Wann würde ich je wieder sowas krasses unter meinem Arsch spüren? Hallo?! Ich redete von dem Auto, nicht vom nächsten Besuch im Darkroom!
Zumindest hatte ich genau solche Anlaufschwierigkeiten wie dort. Mit so viel PS in der Stadt unterwegs zu sein, war schon ein kleines Abenteuer. Aber zum Glück hatte das Teil ja Automatik, somit blieb mir wenigstens die Blamage an der Ampel erspart, es absaufen zu lassen.
Auf der Autobahn hingegen musste ich ständig aufpassen, es mit der Geschwindigkeit nicht zu übertreiben. Der Mercedes lief so geschmeidig, dass ich ab und zu erschreckte, wenn ich den Blick auf den Tacho warf. Einmal bretterte ich sogar mit hundertachtzig km/h in eine Baustelle und musste mich zusammenreißen, nicht all zu hart abzubremsen, sondern die Geschwindigkeit kontrolliert zu senken.
So tuckerte ich also brav, im erlaubten Bereich, seit nervigen fünf Kilometern durch die enge, zweispurige Baustelle hinter einem fetten LKW hinterher, den echt ein paar Vollpfosten versuchten, zu überholen. Sahen die denn nicht, wie Kacke eng das hier war? Die lediglich zwei Meter breite linke Spur diente maximal zum versetzten Fahren und nicht zu riskanten Manövern, nur weil man geschlagene Zwei km/h schneller war, als der Vordermann. Ich war regelrecht erleichtert, als der LKW-Fahrer vor mir in die Mitte zog und somit alles dicht machte. Wir fuhren eh alle schon gute Zehn km/h schneller als erlaubt, da kam es auf drei Sekunden Zeitersparnis nun wirklich nicht an.
Befreit atmete ich aus, als die Baustelle mit einem eleganten Schwenk der Fahrbahn endete und ich endlich wieder beschleunigen konnte. Ewig an den kniehohen Betonwänden vorbeizukutschen machte wirklich keinen Spaß. Natürlich rasten die ersten Fahrzeuge dicht an meinem Heck vorbei und waren binnen Sekunden gefühlt auf Zweihundert km/h. Nur ein Auto setzte sich bestimmend direkt vor meine Nase und bremste mich sogar leicht aus.
Was sollte das bitte? Die Autobahn besaß drei Spuren und war komplett freigegeben. Wir hatten hier also alle genügend Platz. Ich war nahe dran, Lichthupe zu geben, da die Wildesten noch die linke Spur blockierten und ich in der Mitte Hundertzwanzig km/h wirklich untertrieben fand, als eine rote Schrift im Heck aufblitzte. ‚Bitte folgen‘. Erst jetzt erkannte ich die kleine blaue Leuchte auf dem Dach, die nun ebenfalls angeknipst wurde.
Polizei? Wirklich? Das durfte doch alles nicht wahr sein! Spontan brach bei meinem gesamten Körper der Schweiß aus und in meinem Kopf spielten sich die wildesten Szenarien ab, die Cobra 11 glatt in den Schatten gestellt hätten. Mit einem mulmigen Gefühl folgte ich dem Auto vor mir zur nächsten Raststätte und hielt mit etwas Abstand neben dem Fahrzeug an.
Und nun? Wie sollte ich mich verhalten? Aussteigen und nett lächeln? Oder wurde das als Angriff gewertet? Ich sah mich schon winselnd vornüber auf der Motorhaube gelehnt, mit in Handschellen fixierten Armen auf dem Rücken. Erstmal Hände aufs Lenkrad. Das kam immer gut. Und dann tief durchatmen. Die würden mir schon sagen, was ich zu tun oder zu lassen hatte. Die in zivil gekleideten Polizisten ließen sich etwas Zeit, bevor sie schwungvoll ausstiegen und mit einem aufmerksamen Blick in meine Richtung auf mich zukamen.
„Mein Name ist Polizeioberkommissar Bauer, meine Kollegin Fräulein Redewig. Sie wissen, warum wir Sie angehalten haben?“
Vielleicht weil ich ein mir unbekanntes Auto durch halb Deutschland karre, das wahrscheinlich irgendetwas Illegales im Kofferraum versteckt hielt? Drogen? Waffen? Vielleicht eine Leiche? An meinem Fahrstil konnte es kaum liegen, da ich mich brav an die Geschwindigkeitsregelungen gehalten hatte. Klar bin ich nicht Strich Achtzig in der Baustelle gefahren, aber der Rest doch auch nicht. Und ich scheiß auf den dämlichen Spruch mit dem Fenster und hinterherspringen.
Ging es eventuell um eine Abstandmessung? In der letzten Zeit ritten die da ja arg darauf rum. Während ich noch fieberhaft überlegte, war die Frau gemächlich um das Auto herumgelaufen. Direkt vor dem Kofferraum blieb sie stehen und schien irgendetwas genau zu mustern. Vielleicht waren es auch Undercover-Agenten, die den Fremden aus dem Park schon länger beobachteten und ihn nun dingfest machen wollten, mit Hilfe des Inhaltes aus dem rückwertigen Teil des Autos.
Zu der Polizistin würde es zumindest eiskalt passen, so streng wie die die ganze Zeit schaute. Selbst ihren Partner schien sie nicht wirklich zu mögen, denn wenn Blicke töten könnten, hatte sie den Größeren längst gekillt, als er sie ‚Fräulein‘ nannte. Aber vielleicht mochten die Beiden sich auch total und das war ihr ganz eigenes Vorspiel. Konnten nicht einmal meine Gedanken bei der Sache bleiben?
„Nervös?“ Kam es plötzlich von der rechten Seite, durch dessen Fenster die Frau mich intensiv musterte. Meine Güte, musste die mich so erschrecken? Ich hatte überhaupt nicht gemerkt, dass ich die Scheiben auf beiden Seiten runtergelassen hatte, kurz bevor ich den Motor ausschaltete und auf die Beamten wartete.
„Ein wenig“, gab ich zu und versuchte mich an einem entschuldigenden Lächeln. Kurz sah sie mich aus zusammengekniffenen Augen an, ließ dann aber von mir ab und umrundete gemächlich die Motorhaube.
Irgendetwas raunte sie ihrem Partner zu, wobei sie mich nicht aus den Augen ließ. Der zog lediglich die Brauen zusammen und forderte dann Führerschein und Fahrzeugpapiere. Ersteres hatte ich recht schnell zur Hand, nur bei den Papieren zögerte ich wieder.
Laut dem Fremden waren diese im Handschuhfach. Doch was würde ich noch darin finden? Ich war auch ein selten dämlicher Idiot! Warum hatte ich mich nicht vor der Abfahrt davon überzeugt, dass alles vorhanden war und mich nicht noch anderen Überraschungen ansprangen? Was passierte, wenn ich das Fach öffnete? Kam mir eine Packung Gras entgegen? Oder gleich eine Handwaffe?
„Herr Davids?“, kam es fragend von draußen, worauf ich mehrfach blinzelte und mir dann einen Ruck gab. Mit zittrigen Fingern öffnete ich die schmale Klappe und langte vorsichtig hinein. Ein tiefes Seufzen entfuhr mir, als ich lediglich die Betriebsanleitung entdeckte und eine kleine schwarze Mappe, in der sich die Papiere befanden. Erleichtert reichte ich jene aus dem Fenster und wartete geduldig deren Inspektion ab. Die Stirn des Beamten legte sich noch mehr in Falten.
„Das ist nicht Ihr Auto.“
Wow, echt wahnsinnig gut beobachtet. Als ob so eine protzige Kiste zu mir passen würde. Selbst die Frau schien die Bemerkung dämlich zu finden, so entnervt, wie sie ihren Partner anschaute.
„Nein. Ich wurde gebeten, es zur Reparatur zu bringen. Bin mit nem Einkaufswagen dagegen gedonnert“, erklärte ich rasch und merkte, wie meine Wangen leicht kribbelten. Noch immer war mir das Ganze mega peinlich.
„Und deswegen fährt der Kleine zu Kovalski“, setzte die Polizistin nach, worauf der Andere erst sie und dann mich groß anschaute.
„Ernsthaft?!“, fragte er so ungläubig und voller Ablehnung, dass bei mir alle Alarmglocken läuteten. Vorsichtig schielte ich auf die Unterlagen, die auf meinen Beifahrersitz gut lesbar rumlagen. Der genannte Name prangte in großen Buchstaben auf einem Zettel, direkt über der Adresse. Okay, lesen konnte die Gute. Aber warum war der Typ darüber jetzt so schockiert?
Die Polizistin stellte sich gemächlich schräg hinter mich. So hatte sie einen freien Blick direkt ins Auto und ich musste mich halb verrenken, um sie höflicher Weise anzuschauen, als sie mit mir redete. Dass nun ihr Partner begann, um den Mercedes herum zu schleichen und viel zu lange beim Heck verharrte, machte alles nicht gerade angenehmer.
„Sind Sie sicher, dass Sie gerade dorthin wollen?“, hakte sie ernst nach und schaute mich intensiv an.
Im Gegensatz zu dem durchdringenden Blick des Fremden, hinterließ diese Musterung kein süßes Kribbeln in der Magengegend oder ein unruhiges Gespanntsein, was nun folgen könnte. Es war eher die Sorte von Totstarren, wenn man vom Schuldirektor als Kind ins Büro gerufen wurde und man alles gestanden hätte, auch wenn man überhaupt nichts gemacht hatte. Zögerlich hob ich die Schultern und deutete ein nervöses Lächeln an.
„Vertragswerkstatt“, gab ich einsilbig von mir und fuhr erschrocken zur anderen Seite herum, als ich es laut Pfeifen hörte.
„Man, die Kratzer sehen echt übel aus. Das wird richtig teuer.“ Ach ne. Eine richtige Intelligenzbestie der Typ, was?
„Vor allem wenn er zu Kovalski geht“, führte die Polizistin weiter aus und schaute mich nun versöhnlicher an. „Der ist ein richtiger Halsabschneider. Also lassen Sie sich bloß nicht über den Tisch ziehen.“ Sie reichte mir meine Papiere und gab ihrem Partner zu verstehen, dass sie hier fertig waren. „Und beim nächsten Mal gehen Sie eher vom Gas, bevor Sie wie ein Irrer in eine Baustelle rasen. Alles klar?!“
Ah, also deswegen. Ich nickte brav und hob die Hand zum Abschied, als beide auf ihren Dienstwagen zugingen. Trotzdem war ihr Gespräch bis zu mir noch deutlich zu hören.
„Wie jetzt? Keine knallharte Leibesvisitation oder Auto zerpflücken oder unendliche Verhörgespräche?“
Die junge Polizistin schaute ihren Partner an, als wäre er nicht ganz dicht – schon zum zweiten Mal heute. Und ich konnte ihr es echt nicht verübeln. „Warum? Das ist doch nur ein Jungspund, der versucht ein Missgeschick geradezubiegen, am besten noch bevor es sein Dad mitkriegt.“
„Na angeblich wurdest du doch zu uns strafversetzt, weil du bei einer wilden Verfolgungsjagd ein Auto zu Schrott gefahren hast. Voll die harte Braut, die sogar Bösewichte laufen lässt.“
„Du schaust zu viel Sons of Anarchie. Und jetzt steig ein. Wir müssen noch mindestens fünfzehn Leute kontrollieren.“
„Hey, das sind meine Autoschlüssel. Wie hast du …?“
„Quatsch nicht, Kleiner. Sonst lass ich dich hier stehen.“
Der Andere beeilte sich rasch ins Auto zu kommen, bevor seine Partnerin mit quietschenden Reifen und Bleifuß vom Parkplatz raste. Und mich schimpfte man Freak …
Ich starrte ihnen noch eine kleine Weile hinterher, bevor endlich die Anspannung von mir abfiel. Mit wackligen Knien kletterte ich aus dem Auto und suchte die nächste Toilette auf. Außerdem brauchte ich dringend ne Flasche Wasser und eine große Tüte Gummitiere. Klar war es an solchen Raststätten unverschämt teuer, doch ich hatte ein paar Endorphine bitter nötig. Und was produzierte schon mehr Glückshormone, als eine Packung saure Würmchen?
Die restliche Fahrt gestaltete sich dermaßen unspektakulär, dass ich schon ständig in den Rückspiegel schaute, in der wilden Hoffnung, ich würde verfolgt werden. Am besten von den zwei Verrückten, die mich rausgezogen hatten. Tief im Inneren wusste ich, dass ich lediglich eine Quote war, die es von den beiden zu erfüllen galt. Aber meine bescheuerte Fantasie sparte damit nicht, mir verkorkste Sachen vorzugaukeln, was sich nur schwer verdrängen ließ.
Lag vielleicht auch daran, dass sich der Himmel mehr und mehr zuzog und es gegen vier Uhr nachmittags fast schon duster wurde. Natürlich fing es genau dann an zu regnen, als ich die Ortsgrenze der unbekannten Stadt überquerte. Feiner Nieselregen, damit alle Scheinwerfer richtig schön blendeten und ich keine Schilder lesen konnte. Auf das Navi war auch kein Verlass. Ständig versperrten mir dämliche Baustellen den Weg und das ‚Bitte wenden Sie … jetzt!‘ konnte ich echt nicht mehr hören. Fortuna war eine hässlich lächelnde Bitch!
Eine geschlagene Stunde irrte ich durch die Stadt, bis ich durch ein verlassen wirkendes Industriegebiet fuhr, an dessen Ende die Werkstatt liegen sollte. Mit wachsamen Augen tuckerte ich in Schrittgeschwindigkeit über die Straße und suchte angestrengt nach einem großen Schild oder was auch immer, um diese Karre endlich loszuwerden. Fast wäre ich dabei gegen eine riesige schwarze Mülltonne gefahren. Wer, zum Henker, stellte die auch mitten auf der Straße ab?!
Und dann, endlich, entdeckte ich das graue Gebäude, auf dem in schwarzer Schrift „Kovalski“ stand. Joar … also von auffallender Werbung hatten die echte Ahnung. Mein süßer Sarkasmus verkrümelte sich allerdings in die hinterste Ecke, als ich mir das Gelände näher anschaute.
Links ein quadratischer Plattenbau mit schmutzigen Fenstergläsern. Geradezu, über eine großzügige Freifläche hinweg, billig verputzte Garagen, deren Wellblechdach mit Moos und Dreck überhäuft waren. Und rechts, zu guter Letzt und ganz klassisch, verschieden große Berge mit Autoteilen und Reifen, teils von zerfetzten Planen bedeckt. So begannen doch eigentlich nur schlechte Horrorfilme.
Da alles mit einem meterhohen Zaun umschlossen war, wusste ich nicht so recht, wo genau ich das Auto parken sollte, entschied mich dann direkt gegenüber des Plattenbaus zu halten, in dem ich das Büro vermutete. Ich packte Handy, PowerBank und Bahnfahrkarte in meine Tasche und stieg dann endlich aus, nachdem ich einen letzten, prüfenden Blick durch den vorderen Teil des Autos hab schweifen lassen. Die Delle im Fahrzeug reichte mir aus. Da wollte ich nicht noch teuer ausschauende Sitze mit Gummitierabdruck hinterlassen.
Mit einem gedämpften ‚Klack‘ verriegelten die Türen und als die ‚Follow-me-home‘-Beleuchtung ausging, stand ich komplett verloren im diffusen Zwielicht. Okay, nur die Ruhe. Zwar schien um diese Uhrzeit hier niemand mehr zu arbeiten, aber die meisten Werkstätten hatten immer für solche Notfälle irgendwelche Briefkästen, in denen man die Schlüssel einfach reinwerfen konnte. Suchend lief ich an dem Zaun auf und ab und fand schlussendlich den Kasten … an der Front des Plattenbaus … innerhalb des Zaunes.
Ernsthaft jetzt? Waren die so menschenscheu, dass sie alle von sich fernhielten? Oder hassten sie lediglich den Postboten? Zu viele Mahnungen bekommen, was? Was ist, wenn das ganze Gelände der Mafia gehörte? Der Name klang eh arg osteuropäisch, also wäre das Ganze gar nicht so weit hergeholt. Yeah, es lebten die Vorurteile.
Abermals lief ich den gesamten Zaun auf und ab. Zwei Mal. Und doch befand sich die einzige Möglichkeit, diesen vermaledeiten Schlüssel loszuwerden, innerhalb des abgesperrten Geländes. Fucking Fortuna. Grummelnd stellte ich meine Tasche neben dem Mercedes ab und stopfte den Schlüssel tief in meine Hose.
Auch wenn ich nicht regelmäßig zum Training ging, war ich alles andere als unsportlich. Wenn ich mich nicht allzu dämlich anstellte, dürfte dieser grobmaschige Zaun kein größeres Hindernis darstellen. Also nochmal verschmitzt nach links und rechts geschaut, ob mich nicht doch jemand beobachtete und dann in die Hände gespuckt.
Keine Sekunde später hing ich an der wackeligen Abgrenzung und machte Spiderman voll die Konkurrenz. Auf der anderen Seite angekommen, sprang ich geschmeidig auf das Gelände und kam sogar elegant auf meinen Füßen auf. Wow, vielleicht klappte heute mal wenigstens etwas, ohne irgendwelche dämlichen Zwischenfälle.
Hätte ich meine Gedanken bloß für mich behalten. Kaum, dass ich den Schlüssel erleichtert in den Briefkasten geworfen hatte, hörte ich plötzlich ein Knurren von der Seite. Nein. Bitte nicht. Ihr Götter, stopft mich nicht in einen bescheuerten Ami-Teeny-Film, in dem ich schreiend vor einem mordlustigen Köter davonrennen musste und der mir in den Hintern biss, sobald ich am Zaum klebte.
Wie gewohnt wurden meine Gebete nicht erhört. In Zeitlupe drehte ich meinen Kopf beiseite und blickte direkt in die hochgezogenen Lefzen eines deutschen Boxers. Das Klischee von der kampfbereiten Hunderasse haute selbst mich fast um, wusste ich doch, dass gerade diese Tiere die Liebsten und Treuesten überhaupt waren. Allerdings befand ich mich gerade auf seinem Territorium und das als Eindringling. Diese Tatsache galt es, nicht zu unterschätzen. So behutsam wie nur möglich bewegte ich mich langsam rückwärts, senkte den Blick gen Boden und redete sacht auf das Tier ein.
„Hallo mein Hübscher. Na, passt du hier brav auf, dass auch nichts geklaut wird.“ Ein lautes Bellen zwischen dem ganzen Geknurre ließ mich zusammenfahren und kurz aufschauen, bevor ich wieder starr meine Füße fixierte.
„Meine Hübsche, natürlich. Hätte mir auch gleich auffallen müssen, bei dem toll glänzenden Fell“, plapperte ich nervös weiter, während ich dem Zaun immer näherkam. Erwähnte ich nicht schon zu Beginn, dass ich mit Frauen nur selten klarkam? Das traf übrigens auch bei Tieren zu.
Je weiter ich mich bewegte, desto lauter wurde das Knurren und desto öfter mischte sich lautes Gebell darunter. Als dann noch Licht in den Fenstern des Plattenbaus aufleuchteten, ging mir der Arsch komplett auf Grundeis. Ich nutzte die Unaufmerksamkeit des Hundes, der ebenso auf die Helligkeit reagiert hatte, aus, drehte mich um und hechtete die letzten Schritte auf den Zaun zu.
Mit einem Sprung rettete ich mich in Sicherheit, während der Köter jetzt direkt unter mir wie bescheuert kläffte und versuchte, nach meinen Füßen zu schnappen. Hektisch legte ich noch einen Zahn zu und kletterte auf die andere Seite in Freiheit, als eine Tür quietschend aufging und sich unter das Gebell noch laute Rufe mischten. Von wegen stehenbleiben und warten. Ich war doch nicht lebensmüde! Drüben angekommen, schnappte ich mir meine Tasche und rannte was das Zeug hielt.
Eine halbe Stunde später saß ich im Zug, der mich ohne Zwischenlandung direkt nach Hause bringen würde. Ein alter Herr hatte mich auf der verregneten Straße am Rande der Stadt eingesammelt und mich liebenswerter Weise zum Bahnhof gebracht. Ich sah wohl seinem Enkel sehr ähnlich und er hätte es einfach nicht verantworten können, mich allein zurückzulassen.
Anfangs kam es mir noch seltsam vor, dass er ständig von ihm erzählte, als ginge er davon aus, wir würden uns kennen. Als er zum Schluss auf den kleinen Regenbogenpinn an meiner Tasche deutete, war mir allerdings so einiges klar. Logisch. Angeblich rund 7,4% in Deutschland waren LGBTs und wir kannten uns absolut ALLE untereinander mit Namen und Spitznamen. Alte Leute waren schon genial.
Das Vibrieren meines Handys holte mich aus den Erinnerungen und sofort breitete sich ein fettes Grinsen auf meinem Gesicht aus, als ich mir die Nachricht durchlas:
„Wer mit seinem Bizeps prahlt, ist echt ober arm.“
Innerlich haute ich mich fast weg vor Lachen. Jaaa, ich stand total auf Flachwitze und das wusste auch Feline, eine der Oberbekloppten meiner Lieblingswebsite. Sie gehörte zu den wenigen, normalen Hetenweibern, mit denen ich irgendwie richtig gut klarkam. Oder sie war einfach nur so durchgeknallt, dass wir uns schon wieder auf derselben Ebene bewegten.
„Wie nennt man einen tanzenden Kiffer? Grashüpfer.“ Und absenden. Hach, ich mochte unsere Dialoge.
„Spinner! Wolltest du mir nicht noch was schicken?“
Mist, zwischen Bettaufbau und Schreibflash hatte ich ihr grob meine Storyidee erzählt und musste ihr natürlich versprechen, sie als erstes lesen zu lassen.
„Sorry, verpennt. Hatte doch das Date mit dem Autotypen“, schrieb ich knapp zurück und wie nicht anders zu erwarten, folgte die Aufforderung, absolut ALLES zu erzählen und wehe, ich ließe auch nur das kleinste Detail aus.
Vorsichtig schaute ich mich um. Aber zum Samstagabend saßen in dem Zug kaum Leute und wenn, dann nur weit auseinander. Also startete ich eine Audioaufnahme und schilderte grob, was bisher vorgefallen war. Entsetzte Smileys waren die Antwort und eine knappe Frage:
„Und jetzt?“
„Versprochen ist versprochen“, tippte ich lediglich zurück.
„Entweder bist du grenzenlos mutig oder einfach nur sau dämlich! Vielleicht von beidem eine gehörige Portion.“
„Möglich.“ Ha! Ich war der Herr der ausschweifenden Konversation.
„Na gut, dann bin ich dein Engel.“
Bitte was?!
„Ich kann mir ja vieles bei dir vorstellen, aber bestimmt nicht diese Assoziation.“
„Sehr charmant der Herr!“
Sag ich doch schon die ganze Zeit! Es folgte eine kleine Aufklärungslitanei via Audionachricht, dass man sich bei ersten, expliziteren Treffen gerne einen Schutzengel zulegte, gerade was die BDSM-Szene betraf. Man sagte also einem Vertrauten Bescheid, wo man sich mit wem befand und wenn man sich nicht bei seinem Engel innerhalb der abgemachten Zeit meldete, jagte dieser die Polizei hinterher.
Klang eigentlich gar nicht so dämlich. Zumindest war es allemal besser, mit Rückendeckung zu einem Wildfremden nach Hause zu gehen, als da komplett blauäugig hinzutapsen. Ich stimmte also ihrem Vorschlag zu, schickte ihr die Adresse und machte verschiedene Uhrzeiten aus. Vor Ort würde ich noch ein Foto vom Klingelschild machen, damit sie auch einen Namen hatte – genau wie ich. Denn außer seiner Handynummer wusste ich absolut gar nichts von diesem Typen.
Feline spann sich fleißig die wildesten Ideen zusammen und legte mir mehrmals ans Herz, noch ein paar Kondome einzukaufen. Von wegen Engel. Das war ein Teufelsweib, nicht mehr und auch nicht weniger. Außerdem hatte ich standardmäßig immer welche in meiner Tasche. Nicht dass ich diese öfter spontan benötigte.
Mit einem „Viel Glück, Babe.“ Beendete sie unser virtuelles Gespräch und ließ mich mit meinen wirren Gedanken zurück. Kurz vor halb zehn stand ich endlich wieder im heimatlichen Bahnhof und suchte konzentriert auf der Karte auf meinem Handy den Weg zur angegebenen Adresse, als ich mitten im Schritt stockte.
Das durfte jetzt wirklich nicht wahr sein! Es nieselte nichtmehr, sondern schüttete wie aus Eimern! Und dieses blöde Haus lag natürlich am Rande der Stadt im schnieksten Viertel der Möchtegernneureichen. Warum wunderte mich das noch?
Nach den wenigen Metern zur Straßenbahn war ich schon fast durchnässt. Und als ich die Linien drei Mal wechseln musste, war ich es komplett. Es folgte ein letzter Spaziergang, bei dem ich nur hoffte, dass meine Tasche dem Dauerregen standhielt und meine elektronischen Geräte gerade nicht absoffen.
Trotzdem blieb ich mit offenem Mund vor der kleinen Villa stehen und überprüfte mehrfach, ob ich mich an der richtigen Adresse befand. Als ich einen Schatten am Fenster bemerkte, schoss ich rasch ein Foto vom Briefkasten, schickte es Feline und durchquerte dann den breit angelegten Vorgarten. Zu klingeln war nicht mehr nötig, da der Fremde längst die Tür geöffnete hatte und lässig am Rahmen lehnte. Erst als ich näher ins Licht trat, bemerkte er meinen desolaten Zustand und machte sofort Platz, damit ich aus dem Regen kam.
„Warte hier!“, befahl er schroff, was mich fast zur Salzsäule erstarren ließ. Im Park war er mir viel einschmeichelnder vorgekommen. Erkannte er langsam, was er sich da ins Haus geholt hatte und ließ mich eventuell gleich wieder gehen? Wollte ich das überhaupt? Oder freute ich mich nicht insgeheim über ein paar Stunden Zweisamkeit mit diesem attraktiven Mann?
Komplett in zwiespältigen Gedanken versunken, merkte ich überhaupt nicht, wie der junge Mann ging und lautlos wieder auftauchte. Erst als mir ein Handtuch über den Kopf gelegt und ich damit sanft abgetupft wurde, schaute ich verwirrt auf. Mich trafen zwei unergründliche Augen, deren Ausdruck zwischen Besorgnis und Unmut schwankten. Fast schon zärtlich trocknete er mein Gesicht und Hals ab und strich dabei ein paar Mal über meine Haut. Ob absichtlich oder nicht, wusste ich nicht zu unterscheiden. Fakt war, dass ich seine Zuwendung unheimlich genoss.
„Warum hast du dir kein Taxi genommen?“, rügte er voller Unverständnis, was mich ein klein wenig in die Realität zurückholte. Genervt entwand ich ihm das Handtuch und rückte etwas von ihm ab.
„Weil ich nur ein Student bin und mir so etwas nicht leisten kann!“, motzte ich ungewollt heftig zurück und funkelte ihn wütend an.
„Aber ich kann. Und ich hätte!“ War ja klar, dass er sich von einem bösen Blick nicht abschrecken ließ. Aber ich war auch nicht der Typ dazu, leicht nachzugeben.
„Nicht jeder ist ein halbreicher Jungunternehmer“, grummelte ich und hasste es, wie neidisch sich das anhörte.
Jetzt lachte mein Gegenüber amüsiert auf. „Wie? Nur halbreich?“ Zog der mich gerade auf? Warum konnte ich diesem charmanten Lächeln einfach nicht lange böse sein? „Du hättest mich anrufen können. Ich hätte das mit dem Taxi dann schon geklärt.“
„Und du hast gesagt, dass du keinen Callboy hierhaben willst.“
„Und du musst wohl immer das letzte Wort haben, was?“
Wow, der kleine Schlagabtausch kam einem guten Flirt schon recht nahe. Egal wie aufregend ich das alles gerade fand, die Kälte meiner Sachen fraß sich wie kleine Ameisen durch meine Haut und ließ mich leicht zittern. Als mein Gegenüber das registrierte, schien er sofort wieder angepisst.
„Zieh dich aus!“
„Was?“ Da hatte ich mich doch glatt verhört.
„Sofort!“
Anscheinend nicht.
„Du bist nass bis auf die Knochen. Wie kann man sich selbst nur so wenig Aufmerksamkeit schenken?! Der Haushaltsraum ist dort. Schmeiß dein Zeug in die Maschine, Kurzprogramm mit Trockner. Den kannst du derweil anziehen.“
Knapp deutete er auf die Tür rechts von mir und dann auf den Bademantel, den er wann auch immer auf die Kommode neben sich gelegt hatte. Ohne eine Antwort meinerseits abzuwarten, drehte er sich um und verschwand in den großzügigen Raum, der sich dem Flur anschloss.
Ein paar Sekunden starrte ich ihm einfach nur hinterher und wusste nicht recht, was ich von allem hier halten sollte. War ihm meine Gesundheit so dermaßen wichtig, dass ihn die paar nassen Klamotten schon aufregten? Oder versaute ich ihm lediglich die Einrichtung? Bedröppelt stellte ich fest, dass sich unter mir eine deutliche Pfütze gebildet hatte und stetig größer wurde. Fuck, ich elender Tölpel.
Kurz spähte ich in die Richtung, in die mein Gastgeber verschwunden war. Man hörte lediglich Teller und Besteck klappern, als gäbe er sich deutlich Mühe, Krach zu machen. Nun gut, dann sollte ich lieber mal Gas geben, bevor er mich hier noch halb nackt vorfand. Nicht, dass ich den Eindruck hatte, dass IHN das stören würde.
Rasch zog ich mir den Hoodie samt Shirt über den Kopf und trocknete mich grob ab. Dann folgte meine Hose, deren Taschen ich komplett leer machte, damit ich nicht auch noch seine Waschmaschine ruinierte. Danach angelte ich mir den Bademantel und wickelte mich gut darin ein, bevor ich schlussendlich Shorts und Socken auszog.
Schnell verstaute ich das Handy in der Tasche des Bademantels und wandte mich dem Wirtschaftsraum zu. Keine Minute später summte dieses Hightech-Gerät von Waschmaschine leise vor sich hin. Die Pfütze auf dem Flur war schnell beseitigt und meine Tasche auf das Handtuch gestellt. Zwar gab es hier nur helle Fließen, wollte aber trotzdem nicht nochmal unangenehm auffallen.
Auch wenn dieser Typ ab und an etwas herrisch rüberkam, war irgendetwas an ihm, das ich unbedingt näher erforschen wollte. Vorsichtig tapste ich in das riesige Wohnzimmer und kam aus dem Staunen überhaupt nicht mehr raus. Der Raum war in zwei Teile gegliedert. Links die Wohnstube mit riesiger Couch, Flachbildfernseher, Bücherregale und so weiter und rechts der Essbereich mit einem langen Glastisch, um den acht Stühle locker Platz fanden.
Dahinter eröffnete sich eine große offene Küche im amerikanischen Stil, die lediglich durch eine Art Tresen vom Rest des Raumes getrennt war. Genau dort hantierte gerade mein Gastgeber und schob etwas in den Ofen, der auf Brusthöhe angebracht worden war. Er kochte? Für uns? Sofort knurrte mein Magen laut auf, worauf sich der Fremde zu mir umdrehte.
„Na, geht es dir langsam besser?“ Schmunzelnd kam er auf mich zu, weswegen ich die Hände tiefer in die Taschen des kuscheligen Bademantels vergrub. So konnte er zumindest nicht unerwartet aufgehen.
„Ich denke schon“, nickte ich verhalten und setzte mit einem Blick auf meine bloßen Zehen hinzu: „Die Fußbodenheizung gibt ihr bestes.“
Das Lächeln meines Gastgebers erstarrte. Stattdessen kniff er seine schmalen Lippen zusammen und hob ganz sacht mein Kinn. Zärtlich strich sein Daumen unterhalb meines Mundes entlang, fuhr dessen Konturen nach und schnalzte dann missbilligend mit der Zunge.
„Hör auf mir nach dem Mund zu reden. Deine Lippen sind noch immer blau.“ Rasch wandte er sich ab und drehte mir den Rücken zu. „Die Treppe hoch, erste Tür links. Du hast zehn Minuten.“
Wie vor dem Kopf gestoßen stand ich da und wusste überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. Erst machte er mich mit seiner Nähe und Fürsorge total an, nur um mich gleich darauf wieder wegzustoßen. Stand der Typ etwa auf morbide Spielchen? Schön anheizen und dann eiskalt stehenlassen? Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten und starrte halbe Löcher in seinen Rücken. Er wollte niemanden, der blind nach seiner Nase tanzte? Bitte, das konnte der Arsch haben.
„Du sagtest, du hast keinen Bock auf leeres Gequatsche. Tja und ich habe keine Lust auf arrogantes Gehabe. Entweder du gewöhnst dir schleunigst ein paar gesellschaftsfähige Umgangsformen an oder ich verschwinde und du kannst dir ein französisches Frühstück bestellen.“
Verblüfft drehte mein Gastgeber sich wieder zu mir um und schaute mich groß an. „Croissants?“, fragte er verwirrt nach.
„Weißbrot“, antwortete ich lediglich als Anspielung auf unser Gespräch im Park. „Du hast zehn Minuten.“ Damit ließ ich ihn einfach stehen und verschwand in den von ihm angegebenen Raum.
Sollte das etwa das Bad für Gäste sein? Zwei Waschbecken, kleine Schränkchen, ein WC mit viel Platz drumherum und eine ebenerdige, halbrunde Dusche mit winzigen Fliesen. Kein Wunder warum der Typ keine Manieren besaß. Der schien Zeit seines Lebens den Zucker direkt in den Hintern geblasen bekommen zu haben.
Vielleicht sollte man ihm endlich welche beibringen. Leider war ich dafür der komplett falsche Mann. Ich verschwand viel zu oft in meine ganz eigene kleine Welt, aus der ich manchmal kaum herausfand. Wie sollte ich jemandem etwas zeigen, von dem ich selbst kaum Ahnung hatte?
Vorerst sprang ich unter die Dusche und genoss das heiße Wasser auf meiner Haut. Hier und da kribbelte sie und bekam langsam wieder Farbe. Schnell seifte ich mich gründlich ein und brauste mich dann ordentlich ab. Zum Glück hatte ich mich erst gestern frisch rasiert, denn nichts war schlimmer, als überflüssige Haare an den falschen Stellen.
Ein riesiges Badehandtuch lag griffbereit auf einem Hocker neben der Dusche und keine acht Minuten später öffnete ich wieder die Badtür. Fast wäre ich über die Jogginghose gestolpert, die Mister Neureich wohl dort hingelegt hatte. Sie roch angenehm nach frischem Weichspüler und schien sogar meine Größe zu haben. Mein Gastgeber hatte sich wohl meine Worte zu Herzen genommen.
Der Stoff fühlte sich sehr angenehm auf meiner Haut an und endlich kam ich mir nicht mehr so entblößt vor. Trotzdem wickelte ich mich wieder in den Bademantel ein. Ihm schien es wichtig zu sein, dass mir warm genug war und außerdem wollte ich nicht wie ein Gigolo rumlaufen.
Schnell tippte ich Feline, dass bei mir alles gut war und lief dann die Treppen hinunter. Ich fand meinen Gastgeber an der großen Couch vor, wo er gerade zwei Gläser abstellte, direkt neben einer gläsernen Kanne, aus der es frisch nach Minze duftete. Zucker und viertel Stücke Zitrone, die man nur noch auspressen musste, lagen ebenfalls bereit.
Wow, der legte sich ja echt ins Zeug. Als ich zu ihm trat, kam er um den Tisch herum und musterte mich eingehend. Überrascht hielt ich inne, als er mir den Handrücken sacht an die Wange und Stirn hielt. Erst dann begann er wieder zu lächeln und schien irgendwie erleichtert.
„Du fühlst dich viel wärmer an. Das ist gut.“
Seine Hand glitt an meinem Gesicht hinab, bis zum Kinn. Erst dort löste er den Hautkontakt zu mir und hinterließ eine brennende Spur der Aufregung. Meine Güte, wie konnte man nur so gegensätzlich sein?
„Entschuldige bitte meinen harschen Ton von vorhin. Wenn ich mir um etwas oder jemanden Sorgen mache, gehen oft die Pferde mit mir durch.“
„Aber du kennst mich doch kaum.“
„Was ich sehr schade finde und dringend ändern möchte. Magst du dich setzen?“
Wow, den Dialog musste ich erstmal verarbeiten. Natürlich hatte ich schon Freunde und habe mich in Sachen Beziehung hier und da schon ausgetobt. Doch niemals flippte jemals jemand aus, weil ich mir eventuell einen Schnupfen einfangen könnte.
Ich nahm es ihnen nicht mal übel. Ein jeder war halt mit sich selbst beschäftigt. Uni, Lehre, Schule, Arbeit, Familie. Was blieb da zum Schluss schon übrig? Und ehrlich gesagt war ich lange Zeit nicht viel besser. Das man bei den ersten Ausflügen in den netten Clubs nicht gerade den Mann fürs Leben fand, lernte ich gleich als erstes. Und wenn man im Urlaub oder bei gewissen Events jemanden kennenlernte, scheiterte es brutal im Alltag.
Ich mochte die Uni und auch wenn ich nicht der Oberstreber war, hängte ich mich ins Studium ordentlich rein. Dazu kamen die Jobs, um mein Zimmer in der WG zu finanzieren und dann noch mein verrücktes Hobby. Wenn mich ein Schreibflash mal so richtig packte, saß ich Stunden vor dem Tablet oder meinem Notizbuch und tauchte komplett ab. Wer hatte da schon Lust, daneben zu hocken und darauf zu warten, dass ich wieder in die Realität fand? Na ja, bisher hatte es auch keiner versucht, geschweige denn sich dafür interessiert.
„Quin?“
Ich blinzelte verwirrt und sah mein Gegenüber fragend an. Er deutete auf das Polster und ich verstand endlich. Beide setzten wir uns mit nur wenig Abstand gegenüber und während er lässig ein Bein unterschlug und sich gemütlich anlehnte, schaute ich ihn abwartend an. Er durchbohrte mich wieder mit seinem Blick, als wolle er in mir lesen.
„Ich weiß, dass dir das alles etwas seltsam vorkommen muss. Aber ich habe mich sehr auf diesen Abend gefreut. Auf deine Gesellschaft. Versuche wenigstens die wenigen Stunden mit deinen Gedanken bei mir zu bleiben. Bitte.“
Das letzte Wort kam besonders sanft über seine Lippen, was mir einen sachten Schauer über den Rücken jagte. Warum nur war ihm meine Aufmerksamkeit so wichtig? Allerdings traf er komplett ins Schwarze. Genau deswegen hatte ich bisher nie eine längergehende Beziehung. Ich driftete viel zu schnell im Kopf ab, wägte jede Möglichkeit ab, durchlebte jedes Szenario, bis ich adäquat reagieren konnte. Keine Ahnung warum, aber zum ersten Mal hatte ich das unheimliche Bedürfnis, dies jemandem näher erklären zu wollen.
„Ehrlich gesagt liegt das nicht an dir“, begann ich nach einem tiefen Atemzug. „Oder vielleicht gerade an dir … oder … ehm …“ Mist, wieder schneller geplappert, als nachgedacht. Mein Gegenüber runzelte nun leicht mit der Stirn, ließ mir aber weiterhin Zeit, mich zu sammeln. Ich seufzte hilflos. „Ich besitze einfach zu viel Fantasie und denke über alles zu sehr nach, was mich oft der Realität entrückt. Das ist nicht böse gemeint oder ignorant, weil ich nicht sofort antworte. Das … das bin nun mal ich.“
Eine kleine Weile sah er mich einfach nur an, als würde er noch auf etwas warten. Dann nickte er. „Gut. Dann werde ich dir ab jetzt so viel Zeit zum Nachdenken und Antworten geben, wie du brauchst. Dafür gestattest du mir ab und an die Frage, was in deinem hübschen Kopf gerade so vorgeht. Abgemacht?“
Wie? Keine komischen Blicke oder abwertende Bemerkungen, ob ich noch ganz dicht sei? Wieder dieses dämliche Gefühl in meiner Magengegend, als würde mir gleich schlecht werden. Dieses Mal forderte er keine Antwort oder fragte nach, ob ich ihn auch verstanden hatte. Er wartete wirklich geduldig ab.
„Okay, abgemacht.“ Was sollte ich da auch anderes drauf erwidern?
Mein Gastgeber freute sich wohl richtig über diese Antwort und lächelte mich breit an. Abermals durchfuhr mich ein seltsamer Schauer und wenn ich eines in der kurzen Zeit über den Fremden gelernt hatte, dann war es, dass er ein aufmerksamer Beobachter war.
„Dir ist immer noch kalt“, meinte er besorgt und starrte zerknirscht auf die Kanne. „Und der Tee zu heiß, um ihn zu trinken.“ Suchend schaute er sich um, bis er wohl etwas adäquates gefunden hatte. Rasch stand er auf, hantierte kurz in einer Ecke und kam dann mit Gläsern, gefüllt mit zwei Fingerbreit einer goldfarbenen Flüssigkeit, zurück. Vorsichtig reichte er mir eines davon, bevor er es sich mir gegenüber wieder gemütlich machte.
„Vielleicht wärmt dich das ja ein wenig, bis der Tee etwas abgekühlt ist.“ Er prostete mir auffordernd zu und setzte das Glas an die Lippen.
Ich brauchte nicht groß an dem Gebräu zu riechen, um zu wissen, was es war. Allerdings hatte ich absolut keine Ahnung, wie genau man Whiskey zelebrierte. Ich seufzte ergeben und trank dann alles mit einem Zug leer. War ja eh nicht viel, also was soll der Geiz.
Fuck, das Zeug brannte wie die Hölle. Als hätte man jegliche Feuchtigkeit aus meinem Mund gesogen, zog sich bei mir alles zusammen und hinterließ einen widerlich pelzigen Geschmack auf meiner Zunge. Mein Gastgeber war sofort an meiner Seite, nahm mir rasch das Glas ab und strich besorgt über meinen Rücken, während ich noch mit Luftholen und Husten beschäftigt war.
„Was machst du nur für Sachen? Das war ein uralter Tropfen, viel zu edel, um ihn einfach unbedarft runterzukippen.“
„Entschuldige. Ich bin nur leichte Sachen gewohnt“, würgte ich keuchend hervor und nahm dankend das Wasser entgegen, was er wo auch immer hergezaubert hatte.
„Was mal wieder für dich spricht. Beim nächsten Mal fragst du einfach nach oder lehnst ab. Es gibt so viel mehr Dinge, die besser schmecken, als Alkohol.“
Fragend sah ich zu meinem Gastgeber, der viel zu dicht neben mir saß und intensiv meine Lippen musterte. Er hatte heute schon genug Andeutungen gemacht, um mir sicher zu sein, dass er einem ‚tiefgehenderen‘ Kontakt mit mir nicht abgeneigt wäre, hatte sich allerdings bisher einwandfrei unter Kontrolle. Doch wie lange noch? Oder besser: Wollte ich das?
Der Fremde war bestimmt kein klassischer Sonnyboy, den man auf den Buchcovern der queeren Literatur sehen würde. Es war übrigens erschreckend, wie viele weibliche Wesen schwule Werke veröffentlichten. Als ob die wüssten, wie es bei uns wirklich abging. Echt verrückt. Genau wie der Typ mir gegenüber.
Probehalber fuhr ich mit meiner Zunge über meine untere Lippe, sog sie etwas in meinen Mund und biss dann leicht darauf rum. Mein Gastgeber erstarrte regelrecht, schluckte trocken und presste so hart die Zähne aufeinander, dass ich seinen Kiefermuskeln bei der Arbeit zusehen konnte. War das sonst nicht eigentlich mein Part?
Als hätte den Fremden innerlich irgendetwas gepackt, schüttelte er plötzlich seinen Kopf und stand auf. „Ich seh mal kurz nach dem Essen. Probier den Tee. Der müsste langsam durch sein.“
Der Typ lächelte mich dermaßen lieb an, dass ich ganz weiche Knie bekam und ich richtig froh war, schon zu sitzen. Bei den Göttern, was passierte hier gerade nur? Eigentlich war ich hergekommen, um meine Schulden abzugleichen, nicht, um … ja um was? Rasch verdrängte ich den Gedanken und stand auf. Das war alles viel zu verwirrend, als dass ich ruhig sitzen bleiben könnte.
Neugierig späte ich in die Küche und beobachtete meinen Gastgeber, wie er etwas vorsichtig aus dem Ofen nahm. Sofort breitete sich ein köstlicher Duft im gesamten Raum aus, bei dem sich mein Magen verkrampft zusammenzog. Plötzlich verschwammen die Möbel vor meinen Augen und ich schwankte.
„Sachte, Quin.“ Der Fremde war mir gleich zur Seite gesprungen und lotste mich nun zu einem Stuhl an dem gläsernen Esstisch. „Das mit dem Whiskey war wirklich eine dämliche Idee. Entschuldige bitte.“ Er schien sich echt Sorgen zu machen. Mal wieder.
Ich schüttelte nur abwehrend mit dem Kopf und sah um Verzeihung bittend zu ihm auf. „Daran lag es nicht“, kam es kleinlaut von mir, worauf ich nur einen verständnislosen Blick von ihm erntete. Mein lautes Magenknurren beantwortete allerdings jegliche Frage.
Die Augen meines Gastgebers verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er lauernd fragte: „Was hast du bisher heute gegessen?“
Ich schrumpfte regelrecht auf meinem Sitz zusammen. „Ne Tüte saure Würmer …“ Lange hatte ich mich nicht mehr so kleinlaut angehört.
„Herr Gott, Quin!“, brauste der Andere sofort auf, was mich veranlasste, alles runterspielen zu wollen.
„Ich hatte dir doch erzählt, dass ich oft in Gedanken bin und der heutige Tag war halt recht aufregend.“
„Dann passiert dir das öfters?“, fragte er sogleich nach. Mist, das waren wohl die falschen Worte gewesen. Also sagte ich lieber nichts mehr und starrte reumütig auf den Teller vor mir. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Fremde ungläubig den Kopf schüttelte. „Quin, ernsthaft. Du hast nur eine Gesundheit, nur diesen einen, zugegebenermaßen ansehnlichen Körper. Du solltest ihn wie einen Gott behandeln. Klar?!“
Zum Ende hin hatte er sich teils auf die Stuhllehne, teils auf den Tisch abgestützt und schaute mich von oben her intensiv an, während seine Stimme zum Schluss immer weicher wurde. Nur zögerlich sah ich zu ihm auf und nickte ergeben.
„Als Strafe gibt es die doppelte Portion und wehe du isst nicht auf!“ Dieser verrückte Typ schnappte sich meinen Teller und ging in die Küche zurück.
Derweil versuchte ich mit diesem dämlichen Gefühl in meinem Magen fertig zu werden. Er hatte absolut Recht. Ich brauchte dringend etwas zu Essen, sonst drehte ich womöglich noch durch. Dass mir seine fürsorgliche Art unheimlich gut gefiel und mir allein davon schon warm wurde, verdrängte ich in die hinterste Kammer meines Bewusstseins.
Lieber konzentrierte ich mich auf den Tisch, der liebevoll und irgendwie mit Stil gedeckt war. Helle Platzdeckchen, auf denen ein großer Teller stand, umsäumt von glänzendem Besteck, gekrönt von einem Weinglas, neben dem allerdings nur eine schmale Karaffe mit Wasser stand, in der einzelne Zitronenscheiben schwammen. Als endlich das Essen vor mir stand, fiel mir fast die Kinnlade runter. Lasagne? Keine Bratenscheiben, garniert mit grünem Spargel, samt einem Klecks Meerrettich? Mit so etwas Simplen hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Natürlich wurden meine großen Augen bemerkt.
„Du bist doch kein Vegetarier, oder?“ Schwach schüttelte ich den Kopf. „Laktoseintoleranz?“ Wieder ein Kopfschütteln. Dann wartete er, länger als normal jemand einem für eine Antwort Zeit geben würde.
„Ich …“, setzte ich an.
„Ja?“
„Ich steh total auf Lasagne“, brachte ich endlich heraus und vernahm ein erleichtertes Aufatmen.
„Du verstehst es, etwas spannend zu machen.“
Man, jetzt strahlten wir uns schon beide an wie bekloppte Teenys, die zum ersten Mal Händchen hielten. Wie sich wohl seine auf meiner anfühlte? Oder woanders?
„Quin?“
Erschrocken schaute ich auf, aus Angst, ich könnte den Mist laut gesagt haben. Doch mein Gastgeber saß mir seelenruhig gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches und schaute mich auffordernd an.
„Iss. Bitte.“
Ich lächelte erleichtert und dann gab es für mich kein Halten mehr. Anfangs verbrannte ich mir sogar die Zunge, weil ich viel zu gierig alles in mich hineinschlang. Nach einer weiteren Portion jedoch wurde ich langsam ruhiger und genoss einfach diese leckere Köstlichkeit. Die gesamte Zeit über beobachtete mich mein Gastgeber stillschweigend, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen.
Und wieder fragte ich mich, warum er das hier alles tat. Die Gründe weshalb er sich niemanden (mehr) kaufte, waren einleuchtend, auch wenn ich die Vorstellung irgendwie nicht ertrug, wer hier schon alles gesessen haben mochte. Ahnung schien er ja von solchen Jungs zu haben, wenn er genau wusste, wie diese drauf waren. Plötzlich hatte ich überhaupt keinen Hunger mehr, weswegen ich die Gabel beiseitelegte und nachdenklich auf meiner Lippe rumkaute.
Eigentlich sollte es mir komplett egal sein, mit wem er den lieben langen Tag rumhurte, Jungfrauen waren wir schließlich beide nicht mehr. Und er konnte es sich schließlich leisten, wobei wir wieder bei meiner Frage wären: Warum war ich hier? Bestimmt nicht wegen meiner reinen Seele, sondern vielmehr der ungefilterten Worte, die ich von mir gab. Ich war viel zu verpeilt, um zu überlegen, was er denn gerade hören mochte. Lieber platzte ich sofort mit allem heraus – wenn ich denn überhaupt mal meinen Mund aufbekam.
„Quin?“ Nur langsam drang seine Stimme zu mir durch und genauso langsam sah ich ihn an. „Erzähl mir, was dich beschäftigt.“
Die Bitte war sanft, genau wie sein Lächeln, was mich seltsam unruhig werden ließ. Es war ungewohnt jemandem zu erzählen, was in einem vorging, der es auch hören wollte. Unsicher schaute ich auf meinen Teller hinab und spielte gedankenverloren mit der Gabel.
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht recht, was ich hier soll. Es gibt bestimmt auch schwule Typen, die besser betucht sind, als ich.“
„Das sind alles Snobs.“ Okay, die Erklärung kam schnell.
„Und du kennst jeden?“ Jetzt klopfte ich mir selbst ein wenig auf die Schulter, denn bei der Antwort würde er mir gleich zwei Dinge verraten. Leicht legte der Fremde seinen hübschen Kopf schief und versuchte sein entspanntes Lächeln aufrecht zu erhalten. Aber die Fassade bröckelte. Irgendetwas in dieser Richtung schien ihm absolut nicht zu gefallen.
„Genug“, kam die dementsprechend knappe Antwort, was in meinem Magen ein deutliches Grummeln auslöste. Irgendwie enttäuscht atmete ich aus und sank in meinem Stuhl zusammen. Selbst das belustigte Zungenschnalzen holte mich nicht aus der düsteren Stimmung, in die ich gerade verfallen wollte. Gemächlich stand der Fremde auf und umrundete den Tisch, bis er direkt vor mir stehen blieb.
„Du bist wirklich niedlich, Quin.“ Bitte? Sah ich aus wie ein Hundewelpe oder was? Und nein, ich würde jetzt nicht anfangen, mit dem Schwänzchen zu wedeln, nur weil der Typ sanft mein Kinn anhob, damit ich ihn ansehen musste und ich fast in seinem liebevollen Blick ertrank.
„Ja, ich hatte schon einige Partner. Aber niemand, der mich bisher länger faszinierte. Oder in mir das Verlangen hervorrief, absolut alles über ihn wissen zu wollen. Und schon gar nicht jemanden, den ich hier her einlud.“
Vor Überraschung wurden meine Augen riesig. „Du meinst, ich bin der Erste … hier in diesem Haus?“
Sein Daumen streifte zärtlich über meine Wange, wanderte zu meinen Lippen und verharrte dort kurz, bis er scheinbar doch nicht mehr widerstand und ganz sacht einmal deren Konturen nachzog. Er hinterließ eine heißprickelnde Spur, der ich nur zu gern mit meiner Zunge gefolgt wäre.
„Der Erste“, bestätigte er leise, worauf mein Magen wieder rebellierte. „Komm.“ Die Aufforderung war so lockend, genau wie der leichte Zug seiner Hand an meinem Kinn. Kaum auf den Beinen, strichen seine Finger an meinem Arm hinab, bis zu den meinen, die er warm umschloss. Es waren nur wenige Schritte, bis zur Couch, doch ich genoss jeden einzelne.
„Gieß du uns Tee ein. Ich räum derweil auf.“
Als er mich losließ, war mir fast wieder kalt. Spontan sehnte sich mein Körper nach seiner warmen Umarmung und liebkosenden Worten. Und das alles wegen einem guten Essen und ein paar heißglühenden Blicken? Götter war ich leicht zu beeinflussen. Mein Körper war ein elender Verräter.
Während es hinter mir geschäftig klapperte, beeilte ich mich, dem Gesagten nachzukommen. Keine fünf Minuten später gesellte er sich wieder zu mir, setzte sich allerdings nicht auf die Couch, sondern schob den breiten Sessel zurück und machte es sich auf dem weichen Teppich bequem, mir direkt gegenüber zu meinen Füßen.
„Erzähl mir etwas von dir, Quin“, bat er dann, als er sich zurechtgerückt hatte und an seinem Tee nippte. Ich sah lediglich hilflos auf ihn hinab und klammerte mich an meiner Tasse fest. Hoffentlich war das Glas stabil genug, meiner Nervosität standzuhalten.
„Da gibt es nicht viel. Mein Leben ist so ziemlich eintönig“, wiegelte ich ab, doch der Fremde ließ nicht locker.
„Dann lass mich teilhaben. Wie abgemacht.“
Oh man. Ich bräuchte keine zehn Minuten und er würde gähnend einschlafen, genau wie ich immer bei diesen Reportagen auf History Channel. Einmal Prager Fenstersturz oder Martin Luther und seine Thesen und schwupps war ich im Land der Träume. Genau wie dieser leckere Typ gleich.
Warte … was?! Lecker? Wann hatte ich denn das entschieden? Klar, irgendetwas hatte er schon an sich, was mich nicht mehr losließ. Aber ob ich mehr daraus machen wollte, stand noch komplett offen. Für ihn war das hier doch eine einmalige Sache, höchstens ein Experiment, weil dieser Neureiche mal jemanden aus dem einfachen Volk austesten wollte.
Oder etwa nicht? Bloß nicht zu viel hineininterpretieren. Vielleicht entpuppte sich das ja auch als ein interessanter One-Night-Stand, obwohl schon der letzte einen faden Beigeschmack bei mir hinterlassen hatte. Für sowas war ich einfach nicht gemacht. Und doch war ich mir nicht ganz sicher, ob ich bei diesem Exemplar hier nicht eine Ausnahme machen wollte. Zuerst galt es allerdings, meine Seite der Abmachung einzuhalten. Ich erzählte grob von meinen Eltern, an was meine Mutter gestorben und wie schwer das für meinen Vater war.
„Heftig. Und wie reagierte dein Dad auf dein Coming-out?“ Oh, doch noch munter. Und verdammt aufmerksam. Obwohl … der alte Mann, der mich zum Bahnhof brachte, hatte ja auch meinen Regenbogenpinn an der Tasche entdeckt. Ich schmunzelte, als ich an den Abend zurückdachte.
„Als ich ihm offenbarte, was genau mich die letzte Zeit so rumtrieb – ich war ganz schön unausstehlich gewesen – war er erstmal geschockt. Er stand einfach nur da und starrte mich an. Dann meinte mein Paps, er müsse das erstmal verdauen und drüber nachdenken. Ich fühlte mich komplett vor den Kopf gestoßen und verschwand in meinem Zimmer, wo ich in Selbstmitleid versank und mir die Seele aus dem Leib heulte.
Natürlich malte ich mir die wildesten Szenarien aus, von Verleumdung bis Rauswurf und üble Beschimpfungen. Als mein Paps mitten in der Nacht an meinem Zimmer vorbeilief und mein Gejammer hörte, kam er sofort rein, nahm mich kräftig in den Arm und fragte erst dann, was überhaupt los war. Vor lauter Geheule bekam ich nicht einen Ton raus, also vermutete mein Paps das für ihn Naheliegendste. Er schimpfte sofort drauf los ich solle ihm sagen, welcher Bengel mir das Herz gebrochen hatte und dass er ihn an den Eiern aufhängen würde, bis er nach seiner Mama rief.
Du kannst dir vorstellen, wie perplex ich war. Das Nachdenkliche habe ich, glaub ich, von ihm. Er brauchte lediglich Zeit, um sich zu informieren, surfte im Internet nach Verhütungsmitteln, häufig auftretenden Krankheiten, schwulen Jugendclubs und Aufklärungsveranstaltungen. Wusstest du, dass es literaturmäßig eine komplett schwule Szene gibt und hunderte von Büchern mit Homos als Hauptcharaktere? Fantasy, SyFy, historisches … Und der Brüller ist, dass überwiegend Frauen diese lesen und schreiben. Keine Ahnung, ob die keine anderen Hobbys haben, aber trotzdem – ist doch verrückt. Mein Paps wusste, dass ich ein nerdischer Fantasy-Fan bin und kam gleich mit ner ganzen Liste an, was ich als Erstes lesen solle. Und er bestand darauf, mit mir zu so ‘nem Seminar zu gehen. ‚Mein Sohn ist schwul und ich bin stolz drauf‘. War oberpeinlich.“
Mein Gegenüber lachte amüsiert auf und schüttelte den Kopf. „Ernsthaft? Und was geht da so ab? Alle sitzen im Kreis und stellen sich nacheinander vor, wie bei einem Alkoholikertreffen?“
Ich trank meinen Tee aus und stellte die Tasse ab. Unglaublich wie angenehm es war, mich mit jemandem über etwas ganz Alltägliches zu unterhalten. Besonders bei einem aktiven Zuhörer wie ihm, der kein ‚Ah ja, ganz nett, komm lass uns knutschen‘ dazwischen warf. Obwohl ich bei ihm nicht abgeneigt wäre. Sollte ich vielleicht den Anfang machen? Etwas offensiver werden? Schnell verbannte ich die Bilder von ineinander verschlungenen Zungen und gab mir Mühe, die Frage zu beantworten.
„Ist eher so ein lockerer Treff mit einem kleinen Vortrag über Aids und ein paar Anlaufstellen. Es wurde ein Selbstverteidigungskurs angepriesen und rege diskutiert, wie man sein Kind gegen Homophobie schützen kann.“
Genervt schnalzte mein Gastgeber mit der Zunge und schnaubte. „Hass gegen jedwede Andersartigkeit ist keine Phobie, begründet auf eine tiefgehende Angst, die einen nicht mehr loslässt. Homophobie ist für mich der falsche Ausdruck. Arschloch passt da viel besser.“
Wow, ein richtiger kleiner Philosoph. Ich zog die Beine auf die Couch und spielte dämlich grinsend an dem Gürtel des Bademantels.
„Wäre schön, wenn das mehr so sehen würden. Auf jeden Fall posaunte mein Paps die ganze Zeit herum, wie stolz er doch auf mich sei und dass sich jeder glücklich schätzen könne, wenn er mich abbekäme.“
„Na wo er Recht hatte …“, meinte der Fremde und schenkte mir ein dermaßen aufreizendes Lächeln, dass mir ganz schwummrig im Kopf wurde.
Lange schauten wir uns so an, während sein Blick immer wieder zwischen meinen Augen, Hals und Lippen hin und her wanderte. Jede Sekunde wartete ich darauf, dass er sich einen Ruck gab, dass er die letzten Meter endlich überwand und mir zeigte, inwieweit er genau an mir interessiert war. Oder bildete ich mir dieses seltsame Knistern, das in der Luft hing, doch nur ein? Machte er deswegen keine Anstalten, mir näher zu kommen? Hielt er mich nur höflichkeitshalber aus, weil er mich nun einmal an der Backe hatte und es zu spät war, für den Abend jemand anderes zu buchen? Obwohl – mein Gastgeber sah nicht nach jemandem aus, der sich notgedrungen unter Zwang mit einem abgab.
Gerade als es so schien, er würde sich doch noch einen Schubs geben und ich schon begierig meinen Mund aufmachte, vibrierte mein Handy in der Tasche, worauf ich unwillkürlich zusammenzuckte. Der Fremde verharrte sofort in seiner Bewegung, glaubte wohl erst, dass meine Reaktion ihm galt. Doch als ich ihn mit einem kleinlauten ‚Entschuldigung‘ beruhigen wollte und das Handy herausholte, verdüsterte sich seine Miene dermaßen, dass ich sofort ein schlechtes Gewissen bekam.
Klar hatte das Telefon ihm gerade die Tour versaut und die Stimmung etwas gedrückt. Aber es war nichts geschehen, was sich nicht wieder richten ließe. Mal davon abgesehen musste ich Feline antworten. Wer weiß wen sie uns sonst auf den Hals hetzte. Schnell hackte ich ins Handy, dass alles okay sei und ich mich später wieder meldete und wollte das Teil gleich wieder in die Tasche stopfen, als der Fremde blitzschnell nach vorne griff und meinen Arm festhielt.
„Schalt es aus!“, verlangte er bestimmend und sah mich dabei strenger an, als ein Uniprofessor, dem man zu spät eine Ausarbeitung brachte. Ich schaute ihn lediglich groß an und wusste nicht recht, warum er gleich so überreagierte.
„Das geht nicht. Ich muss meinem Engel beweisen, dass ich noch lebe, sonst rastet sie völlig aus“, versuchte ich mich zu erklären, fand aber wohl die komplett falschen Worte. Sein Gesicht versteinerte sich regelrecht und sein Griff um mein Handgelenk wurde immer fester.
„Wem?“, hauchte er und fast glaubte ich, Enttäuschung mit einer Prise Angst in seiner Stimme mitschwingen zu hören.
„Meiner Freundin“, probierte ich erneut, setzte aber gleich „Einer guten Freundin“ nach, als ihm jegliche Gesichtszüge entgleiten wollten. „Ich kenne sie lediglich übers Internet, von einer Website für Hobbyautoren. Wir haben mal an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet und sind seither befreundet, mehr nicht.“
Danach erklärte ich ihm noch die Sache mit dem Schutzengel und den abgemachten Zeiten und erst dann schien sich mein Gastgeber wieder zu entspannen. Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte befreit seinen Kopf, wurde jedoch rasch wieder nachdenklich.
„Ich sollte deiner Freundin danken, dass sie sich um deine Sicherheit sorgt. Aber ab jetzt bin ich dafür verantwortlich. Bitte schalte dein Handy auf lautlos.“ Zweifelnd sah ich ihn an. Seine Worte waren ziemlich heroisch, was mir zwar schmeichelte, aber mich auch zum Nachdenken brachte. Gab es denn einen Grund, auf mich aufpassen zu müssen?
„Hör mal Quin. Ich möchte die Zeit mit dir aktiv verbringen und nicht nur neben dir sitzen, während du auf das Teil starrst“, nötigte ich ihm mit meinem Zögern eine Erklärung ab. Er stand auf und kletterte zu mir auf die riesige Couch. In einer Armlänge Abstand deutete er auf die breite Rückenlehne.
„Leg es einfach hier hin. So kommst du mit einem Griff ran, während ich von dort unten weit entfernt bin. Und da über dem Sessel ist eine Uhr. Ich erinnere dich ab und an, drauf zu schauen, damit du deine Zeiten nicht vergisst. Deal?“
Er mochte es wirklich nicht, auch nur eine Sekunde ignoriert zu werden. War ihm seine Zeit so wichtig? Oder einfach nur die Momente, die er mit anderen verbrachte? Wer konnte es ihm schon verübeln? Gerade ich, der sich sonst immer so arg über die Ignoranz anderer aufregte, sollte dies am ehesten verstehen.
„Deal“, willigte ich ein, schaltete das Handy auf lautlos und legte es weit von mir weg auf die Lehne. Schmunzelnd bettete er seine Hand auf meiner und schob das Telefon wieder ein Stück zu mir zurück, sodass ich es wirklich problemlos erreichen konnte.
„Weißt du Quin, in meinem Leben geht es so ziemlich turbulent zu. Die Zeit rast nur so dahin und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich davongerissen werde, nur zuschaue, wie alles an mir vorbeifliegt. Als ich dich jedoch das erste Mal sah, blieb endlich mal die Zeit stehen. Die Erde hörte auf zu rotieren, genau wie ich. Ich wollte dich, von Anfang an. Dich näher kennenlernen, wissen wer du bist, deine Hobbys, dein Lieblingsessen, einfach alles.“ Sein Blick war wieder so intensiv, sein Körper so nah, dass seine Wärme bis zu mir strahlte, seine Augen alles verschlingend. Ich konnte einfach nicht anders und begann zögerlich mit seinen Fingern zu spielen.
„Und deswegen zwingst du mich hier her? Samt dem ganzen Aufriss?“ Scheiße, meine Stimme klang ganz rau und ich musste wirklich aufpassen, ihm nicht allzu sehr auf den Mund zu starren und dabei meine Lippen zu belecken.
„Du hättest nicht erscheinen müssen“, meinte mein Gastgeber lediglich und verschränkte seine Finger mit meinen, wobei er sich langsam immer weiter zu mir vorbeugte.
„Dann hätte ich so einiges verpasst“, erwiderte ich und kam ihm etwas entgegen.
„So? Was denn zum Beispiel?“ Seine Worte klangen dermaßen süffisant und selbstsicher, dass ich ihn einfach necken MUSSTE.
„Eine sehr leckere Lasagne“, zog ich ihn auf, worauf seine Augen belustigt aufblitzten.
„Lasagne, ah ha“, gluckste Mister Neureich und verharrte so dich vor mir, dass ich jedweden farbigen Punkt seiner strahlenden Iriden ausmachen konnte.
„Alles Weitere gilt es noch intensiv auszutesten.“ Mehr bekam ich nicht raus.
Sein warmer Atem auf meinen erhitzten Wangen, sein dezentes Aftershave, was mir in die Nase stieg, vermischt mit seinem ganz eigenen männlichen Duft, brachte all meine Vorsicht zum Schweigen. Ich wollte ihn und zwar jetzt! Während mein Gastgeber noch geduldig wartete, schaffte ich es nicht mehr, mich länger zurückzuhalten. Mit einem letzten Seufzer überwand ich die geringe Distanz und presste gierig meine Lippen auf die seinen.
Götter, es war wie eine Explosion, die meinen Magen durchschoss und tausend kleine Käfer freisetzte, die freudig an der Innenwand herumkrabbelten. Mutig leckte ich über seinen Mund, forderte sacht, ihn zu öffnen, dem er nach zwei quälenden Herzschlägen endlich nachkam. Wieder explodierte etwas in mir, als sich unsere Zungen berührten, dieses Mal nur etwas weiter oben, dass es mir fast den Atem nahm.
Er schmeckte so unglaublich gut nach Zitrone, Minze und überbackenem Käse. Ich hätte nie gedacht, dass mich diese Mischung mal so anmachen würde. Mit einem Herzklopfen, das ich so intensiv noch nie gespürt hatte, fuhren meine Finger langsam seinem Arm empor, über seine Schulter, bis in seinen Nacken, wo ich den Druck leicht erhörte und den Kuss so intensivierte. Der Fremde stöhnte verhalten, vergrub seine Finger der rechten Hand noch tiefer in meine, während er die Linke auf meine Schulter presste … und mich sanft aber nachdrücklich von sich wegschob.
„Quin. Warte. Geduld.“ Unter mehreren Küssen versuchte er sich Gehör zu verschaffen, doch ich überhörte es geflissentlich, setzte ihm eher nach, weil ich unter keinen Umständen mit dem Zungenspiel aufhören wollte. Erst als er mir eine Hand auf den Mund presste und „Aus!“ befahl, zog ich mich zurück. Ein klein wenig enttäuscht wischte ich seine Finger von meinen Lippen, die von den ausgetauschten Zärtlichkeiten noch so wunderbar kribbelten.
„Seh ich aus wie Fifi?“, murrte ich und ließ meine Arme schmollend in meinen Schoß fallen. Sein Blick flog nur einen Hauch lang genau dort hin, bevor er mich wieder direkt anschaute.
„Das gilt es noch zu beweisen.“ Oh ja! Gerne! Am liebsten sofort! „Aber nicht heute.“ Warum? Er war total scharf und dafür brauchte ich nicht in seinen Schritt zu schauen. Jede einzelne Körperzelle schrie danach, verdammt! Also warum, zum Henker nochmal, machte er nicht weiter?!
„Jetzt zieh nicht so eine Schnute, mein süßer Träumer. Wir haben alle Zeit der Welt. Lass mich dich einfach noch etwas kennenlernen, okay?“ Götter, musste der so süß aussehen, wenn er um etwas bat?
„Beruht sowas eigentlich nicht immer auf Gegenseitigkeit? Ich weiß von dir noch absolut gar nichts“, konterte ich schwach, spürte allerdings schon jetzt, dass ich nachgeben würde. Ein Typ, der in dem Alter in dieser Situation aufhören konnte … er MUSSTE einfach bekloppt sein. Und würde deswegen erschreckend gut zu mir passen.
„Wenn man nicht gerade seine Schulden abarbeiten müsste, vielleicht schon“, antwortete er überlegen, lenkte aber gleich ein, als ich mich an einem gespielten bösen Blick versuchte.
„Morgen. Dann erzähle ich dir alles über mich und beantworte dir jegliche Fragen. Und wenn du danach noch immer meine Nähe erträgst …“ Den Rest des Satzes ließ er offen, damit meine überschäumende Fantasie etwas zu tun hatte.
Sofort blitzten Bilder in mir auf, mit wild umschlungenen Leibern, feuchten Zungen und von Schweiß glänzender Haut. Wenn er nur mit Worten allein solche Szenarien in mir hervorrief, warum sollte ich dann seine Nähe nicht ertragen können? War er nymphomanisch? Oder vielleicht viel subtiler: Ein Gangsterboss, Drogendealer, Auftragskiller? Das würde zumindest das Haus und den Wagen erklären, denn wer hatte in dem Alter schon so viel Kohle? Energisch schob ich diese wirren Gedanken beiseite. Er wollte mir morgen alles erzählen, was immer das auch bedeuten möge. Die Nacht gehörte erstmal uns und ich wollte sie definitiv genießen. Und zwar mit ihm!
„Okay“, seufzte ich und konnte es trotzdem nicht lassen, ihm zärtlich über die Wange zu streicheln.
„Danke.“ Mein Gastgeber küsste meinen Handballen und setzte sich dann zu meinen Füßen vor die Couch, ohne meinen Arm loszulassen. Er dirigierte meine Finger so seinen Hals entlang, bis ich verstand.
„Also. Habe ich das vorhin richtig verstanden? Du schreibst Geschichten?“
Gemächlich begann ich ihn zu kraulen, fuhr mit den Fingerspitzen über seinen Hals und Kinn. Da ich ständig an dem Kragen seines Hemdes hängenblieb, zog er es kurzerhand aus. Jetzt war ich froh, dass er halbwegs aus meiner Reichweite saß. Denn allein der Anblick, der sich mir von oben herab auf seinen nackten Oberkörper bot, ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Zwei Mal musste ich schlucken, bevor ich adäquat antworten konnte.
Und so erzählte ich ihm, wie ich vom Leser zum Schreiberling mutierte, wie die Community mir nicht nur bei den Geschichten half, sondern mir mit Rat und Tat beiseite stand bei allem, was das reale Leben betraf. Mein Gastgeber wurde nie müde mich mit neuen Fragen zu löchern, hakte nach, hinterfragte, als wäre das das aufregendste Hörspiel, was er je zu Ohren bekommen hatte.
Als er mich dann noch bat, eine meiner Geschichten zu erzählen, war ich komplett hin und weg. Hier und da schmiegte sich der Fremde in meine Hand, küsste sie oder knabberte sich an meinem Handgelenk fest, dass ich komplett aus meinem Erzählrhythmus fiel. Sein triumphierendes Lächeln spürte ich deutlich, auch ohne es zu sehen. Und doch bat er mich, immer weiter zu erzählen, wiederholte sogar die letzten Sätze, wo ich stocken musste. Hätte ich nur ansatzweise geahnt, auf was so eine Delle in nem Luxusschlitten hinauslaufen konnte, hätte ich, glaub ich, schon viel eher ein paar Autos gerammt.
Keine Ahnung, wie oder wann genau es passierte, aber irgendwann dämmerte ich einfach weg. Es war noch dunkel, als ich wieder munter wurde. Mein Gastgeber streichelte träge meinen Handrücken und kroch ab und an von innen den Ärmel des Bademantels hoch, um an etwas mehr Haut zum Liebkosen zu kommen.
„Entschuldige. Ich bin wohl kurz etwas weggedöst“, erklärte ich mich verschlafen und rieb mir gähnend mit der freien Hand über die Augen.
„Schon okay. Es war ein langer Tag.“
„Aber aufregend und schön“, erwiderte ich und setzte meine Krauleinheiten fort.
Der Mann zu meinen Füßen drehte sich leicht und schaute mich von unten herauf an, schien irgendetwas in meinen Augen zu suchen. Vielleicht nach den passenden Worten, denn seine Iriden flackerten unruhig und ein Hauch Melancholie hatte sich über sie gelegt. Dann fasste er sich ein Herz.
„Quin, ich weiß ich hatte dich gebeten zu warten, bis ich dir alles von mir erzählt habe, aber …“ Er brach ab, wusste scheinbar nicht weiter. Seine Unruhe übertrug sich sofort auf mich und plötzlich war ich wieder hellwach. Sanft streichelte ich über seine Wange.
„Hör mal, du musst mir überhaupt nichts erzählen. Nicht wenn es dich so quält. Öffne dich mir, wenn du bereit dazu bist. Und nur dann, okay?“
Dieser Typ schaffte es tatsächlich, erleichtert und gequält zugleich auszuschauen. Dann stemmte er sich einfach nach oben und küsste mich. Heiß, verlangend und so wild, dass mir schier die Luft wegblieb. Rittlings setzte er sich auf meinen Schoß, schob den Bademantel von meinen Schultern und begann gierig, an meinem Hals zu saugen.
Völlig überrascht wusste ich zuerst überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. Doch als seine Finger frech über meine Nippel streiften, löste sich die Starre. Unter etlichen feuchten Küssen legte ich sacht meine Hände auf seine Hüfte, aus Angst, er könnte sich mit der kleinsten Berührung im Nichts auflösen. Nur langsam wanderten meine Finger höher, zeichneten die Kuhle seiner Wirbelsäule nach und verkrallten sich dann in seinen Schulterblättern. Scharf sog er die Luft ein und biss in meine Unterlippe.
„Kleiner Teufel“, kommentierte er, verstumme jedoch sofort wieder, als meine Nägel weiter nach unten wanderten und heißglühende rote Linien auf seinem Rücken hinterließen.
„Verdammt“, stöhnte er dunkel und genoss unter halb geschlossenen Lidern die süße Tortur, bis ich beim Steiß ankam. Frech schob ich meine Finger unter seine Stoffhose, umschloss seine Backen und packte kräftig zu. Ganz von allein rutschte er dadurch nur noch dichter an mich heran, bis sich unsere pochenden Lenden berührten und ein wahres Inferno in meinem Unterleib auslöste.
„Du bist unglaublich“, hauchte mein Gastgeber heiser und maß mich mit einem von Geilheit und Ungeduld verhangenem Blick, dass mir ganz kirre im Kopf wurde. Ich erwähnte ja schon längst, dass ich alles war, nur keine Unschuld vom Lande. Also nahm ich wieder seine Lippen für mich ein, saugte, leckte und knabberte daran, bis sie sich rot und leicht geschwollen von seiner blassen Haut abhoben. Ja, genau so gefiel mir das.
Nur ein penetrantes Klingeln im komplett ausgeblendeten Hintergrund, schien mir mein Verlangen nicht zu gönnen. Mein Gegenüber wurde immer unruhiger und schälte sich schlussendlich unter etlichen, zuerst erfolglosen, Versuchen von meinem Schoß.
„Ist bestimmt nur der Postbote. Der ist so ziemlich hartnäckig. Ich wimmle ihn schnell ab. Bin gleich wieder bei dir!“, entschuldigte er sich unter mehreren Küssen und sprintete regelrecht zur Tür.
Nur langsam drangen seine Worte durch mein lustverhangenes Hirn. Postbote? Mitten in der Nacht? Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag und der rasche Blick zur Uhr bestätigte all meine Befürchtungen. Es war sieben Uhr morgens! Hastig langte ich nach meinem Handy und entsperrte das Display. Zwanzig Nachrichten, zehn Anrufe in Abwesenheit. ‚Oh Götter, bitte nicht!‘
„Halt, warte. Mach nicht die Tür auf!“
Rufend wollte ich mich über das Sofa schwingen, ihn abhalten, allein die Tür zu öffnen, um dem kommenden Missverständnis entgegenzuwirken. Doch ich verfing mich in diesem dämlichen Bademantel, strauchelte und fiel stuntreif über die Lehne. Hart knallte ich auf den Boden, direkt auf meine Schulter und prellte mir die Stirn.
Für Sekunden sah ich nur noch Sterne und als sich endlich wieder mein Blick klärte, erkannte ich vermummte Gestalten, die meinen Gastgeber brutal auf den Boden pressten. Feline hatte als Engel ganze Arbeit geleistet und die halbe Kavallerie angerufen. Diese zerrten seine Arme hart auf den Rücken und fixierten sie dort, während sich jemand neben mich kniete und auf mich einredete. Allerdings verstand ich kein Wort. Alles um mich herum war seltsam dumpf und verschwommen.
Bruchstückhaft drang die Stimme meines Gastgebers zu mir vor, wie er mir zurief, ich möge ihm vergeben und bat, sich erklären zu dürfen. Wie er die Leute um uns herum anschrie, sie sollen sich endlich um mich kümmern, ihm sagen, ob ich okay war, ihn zu mir lassen. Doch anstatt ihm auch nur eine Bitte zu erfüllen, rissen sie ihn hoch auf die Füße und führten ihn ab.
Als hätte jemand einen Schleier um mich herum weggenommen, konnte ich endlich wieder richtig sehen und auch die Taubheit aus meinem Mund verschwand. Stolpernd richtete ich mich auf, wollte ihm nach, doch die maskierten Männer schliffen mich um die Couch herum und zwangen mich, Platz zu nehmen. Egal was ich sagte, egal wie oft ich die Sanitäterin beiseiteschob, beteuerte, wie gut es mir ging und bekräftigte, dass alles nur auf einem riesigen Missverständnis basierte, machte niemand Anstalten, mir überhaupt zuzuhören.
Erst eine gute Stunde später saß ich in einem kleinen, stickigen Büro auf einer Polizeiwache einem dicklichen Beamten gegenüber, der gerade meine Aussage ausgedruckt hatte und zweifelnd auf die Zeilen schaute. Trotzig sah ich ihn an, wie er über seine kleine Lesebrille hinweg zu mir blickte.
„Sind Sie sicher, dass Sie Ihre Aussage so stehen lassen wollen?“, näselte er mit einer für das Alter ungewohnt hohen Stimme und erinnerte mich damit stark an Zoomania und dem Polizeibeamten am Empfang. Nur das der hier vor mir keine Donuts fraß.
Ich vergrub meine Hände tiefer in den Hoodie und funkelte ihn wütend an. Außer mir meine Klamotten wiederzugeben, hatte die Polizei bisher nichts für mich getan. Weder sagte man mir, was sie mit meinem Gastgeber gemacht hatten, noch warum alles so lange dauerte. Das Missverständnis hatte ich aus der Welt geschafft, also was sollte dieser Mist hier?
„Ja!“, presste ich genervt hervor, worauf der Beamte missbilligend den Mund verzog.
„Sie wissen, dass es eine Straftat ist, wenn man einen Verbrecher deckt.“
Was sollte das denn jetzt? „Ich weiß, dass es eine ungewöhnliche Anmache war“, gab ich trotzig zurück und lümmelte mich noch tiefer in den Sitz. Gerade als der Typ ansetzen wollte, noch mehr Dünnes von sich zu geben, platzte eine junge Frau rein, hielt aber inne, als sie mich erkannte.
„Oh, Sorry Alfred. Ich wusste nicht, dass du noch Kundschaft hast. Aber Reinhardt verabschiedet sich gerade von allen und ihr zwei kennt euch ja schon ne Ewigkeit.“ Sie wippte auf den Füßen vor und zurück und verzog ihren Mund zu verschiedenen Schnuten, was normalerweise nur Kinder taten, kurz bevor man sie beim Blödsinnmachen ertappte. „Soll ich den Kleinen abfertigen? Protokoll muss er ja nur noch unterschreiben. Ich bin auch besonders nett.“
Die Polizistin zwinkerte ihm verschwörerisch zu, worauf der Breitere wissend grinste. „Aber übertreib es nicht, ja?“
Was sollte das denn jetzt? Spielten die ‚Guter Cop, Böser Cop‘? Und wer sollte dieses dürre Weib darstellen? Die fiel doch schon über die nächste Türschwelle, wenn man einmal heftiger nieste, auch wenn sie mir gestern bei der Verkehrskontrolle schon unheimlich gewesen war. Schwerfällig stemmte sich der Ältere hoch und stampfte dann aus dem Zimmer, nicht ohne mich ein letztes Mal mitleidig anzuschauen.
Die Polizistin setzte sich gemütlich hin und langte nach dem Bericht, den sie sich haargenau durchzulesen schien, bis man von weitem eine Tür klappern und freudige Rufe hörte. Erst als diese sich lautstark schloss und wieder Stille herrschte, warf sie das Papier achtlos auf den Tisch und fixiert mich forschend.
„Ist manchmal verrückt, wie schnell man sich wiedersieht, was Hamilton.“
„Ja total, Miss Hopps“, konterte ich und nahm mir vor, weniger Disney-Filme anzuschauen. Die junge Frau begann, etwas zu grinsen und warf mir dann einen Stift zu.
„Als Bunny hat mich schon lange keiner mehr bezeichnet. Einmal bitte hier, hier und hier unterschreiben.“
„Vielleicht aber als alten Hasen?“, provozierte ich und wusste wirklich nicht, was für ein skurriles Spiel die gerade mit mir spielte.
„Übertreib mal nicht, Kleiner. Los mach schon. Sonst ist der ganze Kuchen weg, wie ich Alf kenne“, trieb die Polizistin mich zur Eile. Trotzdem blieb ich misstrauisch.
„Und dann kann ich gehen? Einfach so?“
Mein Gegenüber zuckte lediglich mit den Schultern. „Klar. SIE schon.“
Jetzt horchte ich auf. „Aber ER ist doch entlastet. Er hat mich nicht entführt oder festgehalten oder gefoltert“, bekräftigte ich zum x-ten Mal an diesem Morgen.
„Das nicht“, stimmte die Polizistin mir zu. „Aber ER hat ein Haus widerrechtlich betreten und versuchte, den Unfallschaden an dem Auto seines Arbeitgebers zu vertuschen. Dem muss schon nachgegangen werden.“
„Was?“ Voller Unglauben starrte ich die junge Frau an. Sacht wiegte sie ihren Kopf hin und her, als würde sie überlegen.
„Hier steht, Sie studieren an der hiesigen Uni. Ist Ihnen da mal ein Timofej Kovalski über den Weg gelaufen?“
Angestrengt dachte ich nach, musste dann aber doch verneinen.
„Seltsam“, meinte sie dann. „Denn Sie haben die letzte Nacht mit ihm verbracht.“
Dieses Mal war es an mir, jegliche Gesichtszüge zu verlieren, denn der Name auf dem Klingelschild passte so gar nicht zu dem eben genannten. Dieser Wichser hatte mich von Grund auf belogen. Aber warum? Für eine schnelle Nummer? Dafür hatte er sich aber verdammt viel Zeit genommen. Dachte der wirklich, Kohle würde mich beeindrucken? Oder noch besser: ich wäre käuflich? Aber war ich das nicht auch gewesen? Scheiße, ich dämlicher, naiver Idiot! Hatte mich blenden lassen, ein Problem schnell los zu sein, anstatt vermehrt zu hinterfragen.
„Ehrlich gesagt finde ich das so ziemlich romantisch“, drängte sich die Polizistin zwischen meinen düsteren Gedanken.
„Den ganzen Tag verarscht worden zu sein, finden Sie romantisch?“, hakte ich ungläubig nach und verfluchte meine brüchige Stimme, hörte man aus ihr doch meine gesamte Enttäuschung heraus. Sie dagegen winkte ab und bekam bei ihren nächsten Worten einen träumerischen Ausdruck.
„Etwas hinters Licht führen, würde ich maximal sagen. Vielleicht hat er Sie die ganze Zeit aus der Ferne angehimmelt und wusste nie, wie er sie ansprechen sollte. Oder Sie haben mal total dämlich reagiert, als er‘s doch versuchte. Vielleicht empfand er die Autodelle als mega Glück, den Angebeteten endlich daten zu können und wollte etwas Außergewöhnliches?“
Ich starrte dieses Weib an, als hätte sie zu viel gekifft und müsse sich jeden Augenblick direkt vor mir übergeben. Vielleicht zogen sich die Leute hier auch zu viel aus der Asservatenkammer rein.
„Jetzt kommen Sie mal runter“, rollte die Polizistin mit den Augen und stand auf. „Als ob Sie noch nie Blödsinn angestellt haben, nur um nen süßen Typen zu beeindrucken, damit dieser Sie endlich wahrnimmt.“
Mehrfach tippte sie auf die zu unterschreibenden Stellen und räumte dann alles fein säuberlich in eine Mappe. „So, dann bring ich Sie mal raus. War nicht einfach, den Hausbesitzer zu überzeugen, von einer Anklage wegen Hausfriedensbruch abzusehen. Aber es war ja nichts kaputt oder gestohlen. Da kommen nur ein paar Sozialstunden auf ihn zu, mehr nicht. Zumindest, wenn er endlich den Mund aufmachen würde.“
Gemeinsam waren wir aufgestanden, hatten das Zimmer verlassen und liefen durch die verwinkelten Flure des Altbaus. „Moment mal.“ Verwundert blieb ich stehen und schaute die Polizistin stirnrunzelnd an. „Ihr haltet ihn noch immer fest, weil er nicht reden will? Woher wollen Sie dann das ganze Zeug mit dem Anhimmeln wissen?“ Götter, also langsam dröhnte mir echt der Schädel.
„Guter Instinkt würde ich sagen“, brüstete sich die Kleinere. „Und etwas Recherche. Eure Kurse laufen fast zur gleichen Zeit in demselben Gebäude der Uni, gleiche Pausenzeiten … ein Wunder, dass Sie sich in der Kantine bisher nicht über den Weg gelaufen sind. Na ja, und Sie haben einmal einen Vortrag gehalten, den man auf der Website der Uni runterladen kann. Ein Blick auf die Mitwirkenden genügt da wirklich. Und Sie sind Mitglied der queeren Uni-Gemeinschaft, genau wie Herr Kovalski.“
Summend öffnete sich die schwere Tür zum Eingangsbereich, doch ich blieb unschlüssig davor stehen. „Und warum redet er nun nicht?“ Bis eben wollte ich ihn noch hassen, doch jetzt empfand ich lediglich Mitleid.
„Weil er wissen will, wie es Ihnen geht. Er bekam nur noch mit, dass Sie hart gefallen waren und ein Sanitäter Sie untersuchte. Dann brachte man ihn weg. Timo zergeht gerade vor Sorgen, Scham und Angst. Angst, dass es Ihnen nicht gut gehen könnte, weil er es mal wieder verbockt hat. Angst, Sie verloren zu haben, ohne Sie vorher für sich zu gewinnen. Leider dürfen wir ohne Ihre Zustimmung keinerlei Informationen über Ihren Gesundheitsstatus weitergeben.“
Seufzend fuhr ich mir durch die Haare und dachte fieberhaft nach. „Sagen Sie ihm wie es um mich steht, okay? Und richten Sie ihm von mir aus, dass er endlich diesen Mist hier geradebiegen soll“, beschloss ich schlussendlich. Die Worte dieser seltsamen, kleinen Person hatten mich zum Nachdenken gebracht. Es war nicht fair, sich nur eine Seite der Medaille anzuschauen, schließlich gab es immer zwei.
„Und wie lange wird das noch dauern, bis er heute gehen darf?“, hakte ich vorsichtig nach und trat durch die Tür.
Die Polizistin lächelte wissend, als sie auf die verschiedenen Automaten im Raum deutete. „Also der Kaffee dort ist mal so richtig eklig und wenn man nicht den halben Tag auf der Toilette verbringen will, sollte man da lieber die Finger von lassen. Aber dort drüben gibt es Energydrinks und die Snacks sind auch nicht übel. Hier, damit kommen Sie so lange aus. Tütelüüü.“
Die Polizistin drückte mir seltsame Scheiben in die Hand, welche ein Loch in der Mitte hatten und verschwand dann winkend durch die Tür. Chips für Freifutter und Getränke … Versorgt war ich zumindest. Jetzt fehlte nur noch ein Möchtegernneureicher, der mir so einiges zu erklären hatte.
Seit geraumer Zeit klammerte ich mich nun an einer Getränkedose fest und starrte trübsinnig vor mich hin. Die Plastikstühle hier waren mega unbequem und von einer Heizung hatten die wohl auch noch nichts gehört. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, stahl sich ein kalter Wind mit hinein, der mir vom Nacken ausgehend unangenehm den Rücken hinunterkroch und mich frösteln ließ.
Mehrmals fragte ich mich, was genau ich hier eigentlich noch tat, nur um mir gleich wieder in den Sinn zu rufen, dass jeder eine zweite Chance verdient hatte. Aber ich hasste Lügen und protziges Verhalten. Was würde ihn davon abhalten, nochmal so eine Nummer durchzuziehen, nur mit dem Vorsatz, etwas für mich tun zu wollen?
Kopfschüttelnd stand ich auf und warf die halbleere Dose in den dafür vorgesehenen Eimer. Das hatte doch alles überhaupt keinen Sinn. Ich fühlte mich verraten und ausgebrannt und wollte einfach nur noch nach Hause. Müde verließ ich das Gebäude und blieb kurz vor den wenigen Stufen stehen.
Das Wetter spiegelte so deutlich meinen Gemütszustand wieder, dass es mir total schwerfiel, nicht melancholisch zu werden. Mich unglaublich verletzlich fühlend, zog ich die Schultern hoch und vergrub wieder die Hände im Hoodie. Gerade als ich alles hinter mir lassen wollte, sprang die Tür, vor der ich stand, auf und jemand rannte mit solcher Wucht in mich rein, dass ich heute zum zweiten Mal fast vornübergefallen wäre. Kraftvolle Arme umschlangen meinen Oberkörper und zogen mich zurück auf das Podest. Und im nächsten Moment nahm ich diesen unverwechselbaren Duft wahr, dass mein Magen sofort wieder rebellierte. Langsam drehte ich mich um und blickte in die funkelnden Iriden, die mich wie seine Arme gefangen hielten.
„Du bist noch da“, hauchte er erleichtert und seine Augen sprühten vor Glück, Verzweiflung und Angst. Das war einfach zu viel.
„Purer Zufall“, presste ich verkrampft hervor, befreite mich aus der Umklammerung, drehte mich um und machte Anstalten zu gehen. Der Andere jedoch gab nicht so leicht auf. Mit einem großen Satz sprang er die Stufen herab und baute sich direkt vor mir auf.
„Die Polizistin meinte, sie hätte dich vor gut einer Stunde entlassen.“
„Was interessiert’s dich?“, motzte ich zurück. Verstand der Typ nicht, dass ich meine Ruhe haben wollte? Dass ich dringend Zeit brauchte, um meine wirren Gedanken zu ordnen?
„Mich interessiert alles, was dich betrifft!“, gab er energisch von sich, was mich nur noch wütender machte.
„Ach? Und deswegen tischst du mir so eine scheiß Story auf von wegen Neureich und zwingst mich in diese riesige Villa, damit ich mal alles so nebenher ausplaudere? Dachtest du wirklich, mich interessiert so’n bisschen Prunk und der ganze materielle Mist?“
Verzweifelt sah mich Timofej an. „Keine Ahnung. Ich wollte nur einmal deine ungeteilte Aufmerksamkeit… dich näher kennenlernen.“
„Bitte? Das geht wohl nicht, in dem man mich einfach anspricht oder sich in der Kantine neben mich setzt?!“ Je länger wir das Gespräch führten, desto angepisster war ich. Alles von ihm klang nach billiger Ausrede. Und das schmerzte so unglaublich, dass ich mich wieder etwas selbst hasste. Ich ließ diesen Typen näher an mich ran, obwohl ich absolut gar nichts über ihn wusste. Hatte mich von seiner Fürsorglichkeit und geheucheltem Interesse einlullen lassen, dass ich mich in seiner Nähe so wohl fühlte, wie seit langem nicht mehr. Ich war so ein erbärmliches Weichei.
Nun war es an Timofej, genervt zu reagieren. „Das habe ich alles versucht. Mehrfach! In der Kantine warst du so in deinem Buch vertieft und hast geschrieben, dass du überhaupt nicht reagiertest. Erst als du fast dein Glas umgeworfen hast und ich es gerade so aufhalten konnte, schautest du kurz auf. Aber nur so lange, um mich genügend anzumotzen, weil ein paar Tropfen auf deinem Meisterwerk gelandet waren. Du bist dampfend abgerauscht, dabei war das nicht mal meine Schuld.“
Blitzartig tauchte das von ihm beschriebene Bild vor mir auf. Mitten in der finalen Schlacht von Feline und meinem Gemeinschaftsprojekt vertieft, hatte ich alles um mich herum vergessen und war so wütend auf den Trottel gewesen, der ein für mich gefühltes halbes Wasserglas über den frisch geschriebenen Text geschüttet hatte. Teile der Schrift lösten sich sofort auf und ich bekam Panik, ein Teil nochmal schreiben zu müssen.
„Und bei deinem Videovortrag war ich der Kameramann und der Idiot, der die Bilder mit reingeschnitten hat. Kam von dir je ein Dankeschön? Du hast noch nicht mal auf die Mail geantwortet, in der ich dich bat, den Rohschnitt abzusegnen.“
Stimmt. Mein Prof hatte mich zu diesem dämlichen Projekt genötigt, weil mir noch ein paar Punkte fehlten. Da lief gerade eine Challenge der Autorenwebsite, bei der ich mich wieder vollkommen reingesteigert hatte. Für etwas anderes war da in meinem Kopf einfach kein Platz gewesen.
„Genau wie letzten Monat, als der Vollpfosten vom Maschinenbaukurs dir dein E-Book-Reader geklaut hat, um dich anzugraben. Er hatte es dir einfach aus der Hand gerissen und eingesteckt. Wollte es dir erst wieder zurückgeben, wenn du mit ihm in den Club ausgehst. Ich hab‘s ihm abgenommen und dir zurückgebracht. Als ich es dir heimlich in die Tasche stecken wollte, mit nem Zettel samt meiner Nummer und Name drauf, hast du mich an der Schulter beiseite geschubst und mich angepflaumt, dass ich die Finger von deinen Sachen lassen soll. Den Zettel warfst du mir zerknüllt an den Kopf mit dem ‚dezenten‘ Hinweis, dass der Maschinenbautyp sich nen Dildo in den Arsch schieben soll.“
Oh, stimmt. Da war ich in einem x-ten Reread von Neros ‚Blauem Licht‘ vertieft und es war so schon schlimm genug, dass diese Nase sein Werk ewig nicht fertigstellte. Dann noch zwischendrin unterbrochen zu werden, zerrte übel an meinen Nerven.
Mit jedem seiner Worte verpuffte ein Stück mehr meiner Wut und schlussendlich war ich der Oberarsch dieser Geschichte, wie mir gerade bitter klar wurde. „Aber … wenn ich die gesamte Zeit so arschig zu dir war, warum hast du es immer wieder probiert? Ich glaube, ich hätte mich längst selbst in die Wüste geschickt.“
Voller Unverständnis sah ich zu ihm hinab, sah in sein etwas zu kantiges Gesicht, was ich so anziehend fand. Und das war mir die ganze Zeit nicht aufgefallen? Wie ignorant lief ich eigentlich durch die Welt?
Ein sachtes Schmunzeln breitete sich auf seinen süßen Lippen aus. „Das sagte ich eigentlich schon. Weißt du noch? Die Sache mit dem Stillstand der Welt?“
„Das ist verrückt“, murmelte ich und schüttelte den Kopf.
„Nein“, erwiderte er. „Ich bin verrückt. Und zwar nach dir. Ich weiß, dass ich da eine voll dämliche Nummer abgezogen habe. Nur hoffe ich irgendwie, dass du mir verzeihen kannst.“
„Du bist wirklich verrückt.“ Mit diesen Worten trat ich an ihm vorbei und fuhr mir einmal über das gesamte Gesicht. Klar, Lügen sind kacke. Aber ignorantes Verhalten auch. Und ich war in dieser Hinsicht wohl zum Profi mutiert.
Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie Timofej in sich zusammensackte und wohl drauf und dran war, endgültig aufzugeben. Wollte ich das? Heiligte der Grund wirklich alle Mittel? Sollte ich es genauso romantisch finden, wie die junge Polizistin, die sich ungewöhnlich viel Mühe gegeben hatte, dieses Szenario zu rechtfertigen? Konnte ich wirklich über meinen eigenen Schatten springen und ihm eine zweite Chance einräumen? Obwohl ich mich eigentlich selbst gerade ziemlich Scheiße fand, wie ich vorher mit ihm umgesprungen war? Gab das ganze Kuddelmuddel nicht die genialste Story ab, die ich je selbst erlebt hatte?
„Hey, Timo. Wann genau hatten wir unseren Deal abgeschlossen?“, fragte ich, ohne mich umzudrehen. Der Andere brauchte eine kleine Weile, um zu antworten. Ob er überlegte oder sich anfangs nicht sicher war, dass ich überhaupt etwas gesagt hatte, wusste ich nicht.
„Wenn man die Überführung des Autos außen vor lässt, dann war es gegen einundzwanziguhrdreiundfünfzig, als du vor der Tür standest.“ Wow, der Gute hatte ja sehr genau auf die Uhr geschaut. Gemächlich warf ich ein Blick auf mein Handy.
„Gut. Dann gehöre ich ja noch ganze elf Stunden und siebzehn Minuten dir.“
Eine Delle in einem Mercedes: 8.697,53 €.
Eine Lasagne mit Frischteigplatten und leckerem Hack vom Metzger: 8,62 €.
Zwei Fingerbreit bester Single Malt Scotch Whisky: 7,50 €.
Timofejs Strahlen nach meinen Worten: unbezahlbar.
Liebevoll strich mein Besitzer über den glänzenden Kotflügel von David und zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, ich könnte das ebenso tun. Seit wir ihn auf diesem großen Hof gefunden hatten, ließ mein Besitzer nichts unversucht, um meinem Liebsten wieder herzurichten. David hatte seine Besitzerin beschützt und nicht nur sie, sondern auch das Baby in ihrem Bauch. Mein Besitzer war darauf so stolz, dass er seine gesamte Freizeit investierte, um David heile zu machen.
Und was soll ich sagen? Heute glänzte er in neuem Schein. Seine Besitzerin war ganz außer sich vor Freude, als meiner ihr das präsentierte und bald läuten die Hochzeitsglocken … nicht nur für unsere Eigentümer. Zuerst war sich David sehr unsicher, nahm er doch ständig an, ich würde ihn nicht mehr lieben, nur weil sein Hinterteil eine andere Farbe hatte und einige Beulen einfach nicht mehr glatt gehen wollten. Trotzdem war ER noch immer ER und niemand könnte mich je von etwas anderem überzeugen.
ENDE
„Hey, hier wird nicht gefaulenzt.“ Lachend riss mir Timofej mein Schreibheft aus der Hand und flog über die letzten Zeilen. „Seit wann bist du so kitschig veranlagt?“
„Seit wann bist du so ein Sklaventreiber?“ Mit einem Hechtsprung versuchte ich ihm das Buch zu entreißen, landete allerdings nur im aufgehäuften Laub.
„Hey, die Blätter hatte ich gerade erst zusammengefegt“, maulte mein Schatz und schaute mich tadelnd an.
„Dann solltest du mir lieber mein Buch zurückgeben.“ Ich langte nach ein paar Blättern und warf sie ihm entgegen. Natürlich ließ er sich das nicht einfach so gefallen. Eine kleine Laubschlacht entstand, bis wir einen lauten Pfiff hörten, sodass wir wild atmend von uns abließen.
„Ey ihr Freaks. Ihr sollt den Garten auf Vordermann bringen und nicht rumspringen, wie ein paar frisch verliebte Teenys.“ Die junge Polizistin lag gemütlich in einem Liegestuhl in der Herbstsonne, die Beine hochgelegt, einen Drink in der Hand und schaute zu uns rüber, während sie ihre Sonnenbrille hochhielt.
„Und sollten Sie uns nicht beaufsichtigen, während wir, in Abwesenheit des Hausherren, unsere Sozialstunden hier ableisten?“, warf mein Freund zu ihr hinüber.
„Seh ich aus, als wäre ich ne Pornoproduzentin? Los, an die Arbeit!“
„Jawohl Ma’am“, antworteten wir unisono und langten grinsend nach den Gartengeräten.
Ja, Timofej und ich waren jetzt offiziell zusammen. Noch am selben Tag erzählte er mir von seinem Onkel, der eine Hausmeisterfirma unterhielt, bei der er neben dem Studium jobbte. So war zumindest klar, wie er an dem Schlüssel zu der Villa kam. Allerdings war die Arbeit so stressig, dass er gerne bei den Hausarbeiten hinterherhinkte. Deswegen brauchte er auch jemanden, der den Mercedes, den er eigentlich nur reinigen sollte, zur Werkstatt brachte. Sein Prof hätte ihm sonst den Arsch aufgerissen, wenn er nochmal eine Arbeit zu spät abgegeben hätte. Im Kofferraum lagen übrigens nur die Winterreifen samt dem Arbeitsauftrag für seinen Onkel. Hätte ich den gelesen, wäre Timo von Anfang an aufgeschmissen gewesen.
Die Nummer mit dem Haus war eine spontane, wenn auch selten dämliche Idee, denn genau dort sollte Timofej eigentlich für Ordnung sorgen und den Garten winterfest machen, solange der Besitzer unterwegs war. Aber was soll ich sagen? Es hatte funktioniert. Denn seither bekam ich diesen Idioten nicht mehr aus dem Kopf oder von meiner Seite oder noch weniger von mir runter. Und DAS fühlte sich verdammt gut an.
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