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Erdkinder
Teil 3 - Abschied
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Informationen
- Story: Erdkinder
- Autor: Hyen
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery
„Ich nehme ihn“, sagte Lymias in die Stille hinein.
Die Leute hatten aufgehört zu singen und zu tratschen und schauten nun dem Spektakel zu, welches ihnen dargeboten wurde. Nur das vereinzelte Knistern des Feuers war zu hören. Der Junge sah ihn verwundert mit großen Augen an. Der Zorn war aus seinem Gesicht gewichen, nur die blutende Lippe zeugte noch von seinem Wutausbruch.
„Ich meine, wenn er denn will. Wie ich schon sagte, habe ich noch einen langen Weg vor mir. Ein Knappe käme mir gerade recht“, redete der junge Mann weiter und blickte abwechselnd zu Thog und Kay.
„Was?“ hauchte Gerald ungläubig, „Treibt es nicht zu weit, Heiler! Ihr habt euch schon viel zu sehr eingemischt! Der Bengel gehört mir.“
„Falsch Gerald. Du hast den Jungen gerade frei gesprochen. Nun liegt es in Kays Händen, welchen Weg er einschlagen möchte“, meinte der Dorfälteste bestimmend und schaute den Burschen an. „Wie entscheidest du dich?“
Verstört wanderte der Blick des Jungen zwischen Thog, dem Schönling und seinem Pflegevater hin und her. Er hatte Angst vor diesem Geschöpf aus dem Wald. Irgendetwas behagte ihm ganz und gar nicht an ihm.
„Mein Platz ist bei meiner Familie und in meiner Heimat“, flüsterte Kay fast und schaute dabei auf den Boden, seine Hände wieder zu Fäusten geballt.
„Ha, ich wusste es! Der Junge gehört mir und keiner wird ihn je von hier fort bringen“, rief Gerald und verfiel in ein hysterisches Gelächter.
„Und die ist bestimmt nicht hier. Deswegen werde ich mich dem Heiler anschließen“, sagte Kay so laut, dass es auch jeder hören konnte und ließ somit das Lachen seines Pflegevaters verstummen.
Der Hass, den er auf den Tyrannen hatte, überwog von Sekunde zu Sekunde mehr. Der Junge wollte nie wieder zurück, nie wieder. Schadenfroh sah er mit an, wie das Gesicht von Gerald bleich wurde und dieser ihn ungläubig anstarrte.
„Das wagst du nicht“, zischte sein Pflegevater und ging drohend auf ihn zu.
„Es ist beschlossene Sache. Der Junge hat sich entschieden. Kay, geh ins Haus und sag Vana, dass du heute hier nächtigen wirst und dann mach, dass du in ein Bett kommst. Morgen beginnt der Tag früh“, sagte Thog in einem herrscherischen Ton, packte den Burschen an der rechten Schulter und schob ihn seiner Frau entgegen.
Zögerlich gehorchte Kay und warf noch einen flüchtigen Blick auf den Schönling. Dieser beachtete ihn aber nicht weiter, fixierte nur eiskalt Gerald. Vana stand in der Tür des Hauses und lächelte dem Jungen aufmunternd zu. Sie führte Kay in ein kleines Zimmer neben der Küche, wo ein großer Eimer, gefüllt mit Wasser, auf einem Hocker stand.
„Wasch dich gründlich, mein Kleiner. Ich besorge dir erstmal etwas Anständiges zum Anziehen“, sagte die Frau des Dorfsprechers in einem sanften Ton und verschwand wieder aus dem Raum.
Leicht zitternd ging Kay auf den Wascheimer zu, zog sich aus und wusch sich den Dreck des Tages vom Leib. Er zitterte nicht, weil der Boden unter seinen nackten Füßen kühl war, sondern weil ihm das gerade Geschehene sehr zusetzte. Er konnte es einfach nicht fassen, dass der Schönling ihn wirklich mitnehmen wollte. Was hatte der Fremde nur vor? Der Junge glaubte nicht, dass der Heiler nur einen Knappen brauchte, oder dass er ihn aus purer Laune einfach so mit sich nahm.
Er hatte den Blick gesehen, den der Schönling ihm zugeworfen hatte. Diese Augen waren von Verwunderung und Angst erfüllt, was sich Kay nicht erklären konnte. Wieso sollte der Fremde mit dem Schwert Angst vor so einem unbedeutenden, harmlosen Bengel haben wie ihm? Dies alles behagte Kay ganz und gar nicht.
„Ich glaube, du bist jetzt sauber genug. Hier sind ein paar Sachen für dich. Es sind zwar Alte, die meinem Bruder zu klein geworden sind, aber meine Mutter meinte, sie wären auf jeden Fall besser als deine Anderen“, sagte Feris und kam auf ihn zu.
Erschrocken blickte der Junge auf und sah Feris, der ihn nachdenklich betrachtete. Er fühlte, wie sein Gesicht warm zu prickeln begann und war froh, dass in dem Raum nur wenige Kerzen brannten. So konnte er sicher sein, dass Feris seinen rot angelaufenen Kopf nicht bemerkte. Ihm war es peinlich, dass der jüngste Sohn des Dorfältesten ihn so völlig nackt betrachten konnte. Kay war es bisher immer gewöhnt gewesen, sich allein zu waschen. Da er keine Freunde hatte, war er auch nie wie die Anderen zusammen mit den Kindern des Dorfes am Fluss baden gegangen. Bisher war er immer allein. Verlegen nahm Kay die Sachen von Feris entgegen, drehte ihm den Rücken zu und zog sich rasch an. Als er sich die Hose übergestreift hatte und gerade an dem dünnen Hemd herum nestelte, spürte er eine leichte, warme Berührung auf seinem Rücken.
„Woher hast du nur all diese Narben?“ fragte Feris zögernd. Er fuhr sachte über die blassen Linien, welche sich über den gesamten Rücken des Jungen zogen.
Kay erstarrte inmitten seiner Bewegung. Noch nie hatte ihn jemand so berührt, sanft und ohne Schmerzen zu verursachen. Schnell zog er sein Hemd über den Kopf, drehte sich um und blickte zu dem jüngsten Sohn des Dorfsprechers. Er wusste, dass Feris genau vertraut war mit Geralds Methoden, seinen Pflegesohn zu Vernunft zu bringen – das ganze Dorf wusste darüber Bescheid. Trotzdem ging niemals jemand dazwischen, wenn Gerald über ihn herfiel. Keiner, außer Thog. Seine Kinder waren auch die Einzigen, die ihn soweit in Ruhe ließen und nicht ständig schikanierten, wenn sie ihm über den Weg liefen. Traurig sah Feris ihm in die Augen.
„Komm, Mutter wartet bestimmt schon. Sie hat etwas Fleischsuppe für dich warm gemacht. Sie meinte, dass du noch etwas auf den Rippen vertragen könntest“, sagte dieser leise und ging der Tür entgegen.
Stumm folgte Kay ihm und ließ sich in die Küche führen. Dort stand auf dem Tisch eine Schüssel, aus der es dampfte; ein Stück Brot lag daneben. Zögerlich blieb der Junge in der Tür stehen und schaute sich vorsichtig im Zimmer um. Die Frau des Dorfältesten saß auf einem Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches und schien in ihre Strickarbeit vertieft zu sein. Langsam sah sie auf, als ihr Sohn sagte, dass sie fertig seien.
„Ah, da seid ihr ja. Komm nur näher mein Kleiner. Die Schüssel hier ist für dich. Lang nur kräftig zu. Du bist viel zu dünn für dein Alter. Danach geht es dann aber ab ins Bett. Das war genug Aufregung für einen Abend“, meinte Vana ruhig und blickte Kay aufmunternd an.
Langsam ging der Junge auf den Tisch zu, setzte sich auf den Hocker und fing zögerlich an, zu essen. Zufrieden nickte die Frau des Dorfsprechers und fing an, sich mit ihrem Sohn über das Fest zu unterhalten. Kay war dankbar, dass sie ihn nicht die ganze Zeit beobachteten. Die neu gewonnene Aufmerksamkeit, die ihm seit kurzem zuteil wurde, war ihm unheimlich.
Als er aufgegessen hatte, sprang Feris fast augenblicklich von seinem Hocker auf und fragte ihn, ob er noch Hunger hätte. Verwundert schüttelte der Bursche nur mit seinem Kopf.
„Gut. Dann zeig ich dir, wo du heute schlafen wirst. Komm“, sagte Thogs Jüngster, lief kurz zu seiner Mutter, drückte ihr einen Kuss auf die Wange, wünschte eine gute Nacht und ging dann nach oben in eines der vorderen Zimmer.
Verstört trabte Kay hinter ihm her. Der Raum war nicht besonders groß. Ein hoher Schrank stand links neben der Tür an der Wand und ein Doppelbett war daneben aufgebaut. Auf der rechten Seite, drei Schritte vom Fuße des Bettes entfernt, stand ein Waschschrank.
„Wir werden hier zusammen schlafen. Meine kleine Schwester ist noch krank und belegt deswegen mein Zimmer. Mein Vater will nicht, dass sie schon wieder bei Trischa nächtigt. Er hat noch ein wenig Bedenken, dass sie sich anstecken könnte. Hier, du kannst ein Nachthemd von mir anziehen“, sagte Feris und reichte es Kay.
Dieser nahm verwundert das ungebleichte Stück Stoff und sah ungläubig mit an, wie sich Feris rasch auszog und in das seine schlüpfte.
„Beeil dich. Mutter kommt bestimmt gleich nachschauen, ob wir uns schon schlafen gelegt haben. Sie mag es nicht, wenn lange herum getrödelt wird“, meinte der Jüngste von Thog, krabbelte ins Bett und wickelte sich mit einem herzhaften Gähnen in die dünne Decke ein.
Kaum hatte Feris die Worte ausgesprochen, knarrten die ersten Stufen der Treppe. Geschwind schälte sich nun auch Kay aus seinen Sachen, zog das Nachthemd an und kroch neben den anderen Jungen ins Bett. Dieser löschte schnell die Kerze und beide lauschten wie die Schritte näher kamen, kurz vor ihrer Tür inne hielten und dann in Richtung des Schlafzimmers der Eltern verhallten.
Kay lag auf den Rücken und hatte die Decke bis zu seinem Kinn hoch gezogen. Leise lauschte er den sanften Atemzügen des Jungen neben sich. Er konnte es nicht glauben, dass er nun hier lag, in einem weichen Bett mit einem vollen Magen. Und morgen? Was würde morgen geschehen?
„Du solltest langsam schlafen und nicht weiter darüber nachdenken, was passiert ist oder noch passieren wird. Die Vergangenheit kannst du nicht mehr ändern und das, was in Zukunft geschehen wird, läuft dir nicht weg. Sagt zumindest mein Vater immer“, meinte Feris und drehte sich auf die Seite zu Kay.
„Wieso macht er das?“ fragte dieser nur und starrte weiter die Decke an.
„Wen meinst du? Den Heiler? Ich weiß es nicht, vielleicht weil er einen Getreuen braucht. Das hat er zumindest gesagt“, redete Feris weiter, nachdem er nur ein leichtes Nicken seines Gegenübers wahrgenommen hatte.
„Denk nicht weiter drüber nach. Er ist nett und großzügig. Ich glaube nicht, dass der Heiler etwas Böses im Schilde führt. Und jetzt schlaf. Es ist wirklich schon spät“, flüsterte der jüngste Sohn des Dorfsprechers schläfrig und rückte noch ein wenig näher an Kay heran.
Der Junge schloss seine Augen und drehte sich mit dem Rücken zu Feris. Er war viel zu verwirrt, um schlafen zu können. Zuerst der riesige Streit mit seinem Pflegevater, dann seine Beobachtung, wie die Gestalt aus dem Wald ritt, wie er sie berührte als sie schlief, das kleine Mädchen mit den Hähnchenkeulen, das große Lagerfeuer und sein Sturz genau vor die Füße des Schönlings aus dem Wald. Der Blick, den der Heiler ihm zugeworfen hatte, als er ihn das erste Mal ansah.
‚Wieso war in diesen Augen nur so viel Furcht gewesen?’, dachte Kay. ‚In diesen wunderschönen, dunkelleuchtgrünen Augen…’
Langsam nickte der Junge nun doch ein, aber es war kein erholsamer Schlaf. Er fing an, wirre Sachen zu träumen. Der Bursche träumte, dass ihn der Schönling in den Wald, sehr tief in das düstere Dickicht führte. Immer wieder fragte Kay den Heiler, was sie denn hier wollten, aber dieser antwortete nicht. Der Junge konnte kaum mit dem Fremden mithalten, so schnell lief dieser voraus. Niedrig hängende Äste zerrten an seinen Sachen und zerschnitten ihm die Haut, trotzdem lief er weiter diesem schönen Geschöpf hinterher, bis sich eine Lichtung inmitten der Dunkelheit auftat. Verwirrt blieb Kay am Rande stehen und schattete seine Augen mit der linken Hand ab, da die plötzlich auftretende Helligkeit fast schon schmerzte. Langsam gewöhnte er sich an das Licht und sah, wie der Schönling inmitten der Lichtung, den Rücken zu ihm gewandt, zu warten schien. Irritiert ging der Junge zögerlich auf den Heiler zu, bis er nur noch einen Schritt von ihm entfernt war.
„Was ist dies für ein Ort und warum sind wir hier?“ fragte Kay nervös.
Galant drehte sich der Heiler mit einem Mal zu den Jungen um. Dabei wirbelten seine langen schwarzen Haare wild um seine Schulter und das Gesicht. Für einen kurzen Augenblick dachte Kay fast, dass diese silbern glänzten. Er achtete aber nicht weiter darauf, da der Schönling gemächlich seinen Arm hob und ihm mit seiner rechten Hand sanft über die Wange streichelte. Über die Haut des Jungen legte sich eine leicht kribbelnde Gänsehaut, als die Hand des Heilers seinen Nacken zu kraulen begann und dieser noch näher an ihn heran trat. Kay versuchte sich zu bewegen, seine Arme zu heben, aber er war wie gelähmt. Er konnte nicht einmal mehr blinzeln. Der Fremde lächelte nur über seine Versuche und kam mit seinem Gesichte nahe zu dem des Jungen, bis ihre Nasenspitzen sich fast berührten.
Wieder blickte Kay in die funkelnden Augen des Schönlings. Er versank fast in diesem herrlich dunkel leuchtenden Grün, oder war es Silber? Plötzlich bekam er Angst. Er wollte hier weg, weg von dieser Lichtung und weg von diesem Wesen, aber er konnte sich einfach nicht rühren.
„Du kannst mir nicht entkommen…!“ sagte der Schönling bittersüß und grub dabei seine zu Klauen gewordene Hand tief in die linke Schulter des Jungen.
Kay merkte, wie seine Haut brutal aufgerissen wurde und warm pulsierendes Blut seinen Rücken hinab floss. Der Heiler lachte laut auf und zog seine Klaue aus dem Fleisch des Jungen. Dabei schnitt er die Schulter des Burschen bis oberhalb seiner Brust auf. Zitternd glitt Kay zu Boden. Noch immer konnte er sich nicht kontrolliert bewegen, geschweige denn etwas sagen. Er wollte so sehr seinen Schmerz hinaus schreien, aber selbst seine Zunge versagte ihm den Dienst. Der Schönling hatte sich neben ihn ins Gras auf die linke Seite gelegt, stütze sich dabei mit seinem Arm ab und streichelte sanft über die Stirn des Jungen.
„Keine Angst mein Kleiner, du wirst nicht mehr lange leiden müssen“, flüsterte der Fremde fast lieblich, hob dabei seinen rechten Arm und formte wieder seine Hand zu einer scharfen, Schrecken erregenden Klaue.
Kay blickte verstört zu dem Heiler, dann zu dessen Klaue. Er wollte nur noch hier weg, weit weg von diesem Dämon. Ängstlich sah er mit an, wie die Klaue seinem Gesicht immer näher kam, Millimeter um Millimeter. Etwas zerbrach in Kay, als würde dünnes Glas in tausend Teile zersplittern. Dann fing der Junge aus Leibeskräften an zu schreien.
Mit einem Ruck setzte er sich in seinem Bett auf. Klopfenden Herzens saß er da und starrte in die Leere.
‚Es war nur ein Traum… nur ein Traum…’, versuchte Kay sich selbst zu beruhigen, allerdings erfolglos.
Ein Rascheln neben ihm schreckte den Jungen auf, sodass er zur Seite hetzte und dabei polternd auf dem harten Holzboden landete. Verwirrt rappelte sich Kay wieder auf und blickte über den Rand des Bettes, aus welchem er gerade gefallen war.
„Was machst du denn für einen Krach? Komm ins Bett und schlaf weiter“, grummelte Feris verschlafen, drehte sich auf die Seite und schlief augenblicklich wieder ein.
Noch immer zitternd stand Kay auf und ging zum Fenster. ‚Was für ein Traum’, dachte er bei sich. Es waren noch gut zwei Stunden bis Sonnenaufgang und da er ohnehin keinen Schlaf mehr finden würde, schnappte sich Kay seine anderen Sachen und ging nach unten in den Waschraum. Sein Nachthemd war klitschnass und der kalte Schweiß klebte immer noch an seiner Haut.
Es war zwar etwas finster, aber die Augen des Jungen hatten sich schnell an die Dunkelheit gewöhnt, so dass er fast ohne Probleme den Waschzuber fand. Mit schmerzenden Gliedern zog sich Kay sein Nachthemd über den Kopf und warf es achtlos beiseite. Seine linke Schulter pochte bei jeder Bewegung und als er sich etwas Wasser ins Gesicht spritze, brannte seine Schulter höllisch auf, wo das Nass sie berührte. Verwirrt blickte der Bursche an sich hinab und erstarrte vor Entsetzen.
Seine linke Schulter war bis oberhalb seiner Brust mit drei langen, wulstig roten Schnitten übersät. Sie schienen zwar nicht sehr tief zu sein, dennoch pulsierten sie schmerzhaft auf seiner Haut, als wenn gleichmäßig brennendes Öl hindurch fließen würde.
Kays Knie wurden weich und er taumelte zu Boden. ‚Es war nicht nur ein Traum. Ich bin wirklich dort gewesen. Aber wie… wie kann das sein?’ Der Junge zog seine Beine an die Brust und wiegte sich sachte mit dem Oberkörper hin und her. Er konnte sich das einfach nicht erklären. Gut eine halbe Stunde saß Kay so da und starrte in die Dunkelheit, bis er sich wieder einigermaßen besann und zitternd aufstand. Langsam wusch er sich, zog sich seine Kleider über und ging aus dem Haus in die fast mondlose Nacht.
Er brauchte frische Luft um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. ‚Soll ich wirklich mit dem Fremden mitgehen? Und was ist, wenn dieser Traum eine Warnung gewesen war? Hab ich denn noch eine Möglichkeit, mich jetzt noch anders zu entscheiden? Thog kann mich nicht für immer bei sich behalten und zu Gerald gehe ich nie wieder.’
In Gedanken versunken lief der Junge über den Marktplatz zum Gasthaus. An der Seite des Hauses blieb er kurz stehen und sah in den Himmel hinauf. Dabei legte er seine linke Hand auf die Wand und spürte, wie der, von der Hitze des Tages aufgeladene, noch warme Putz unter seiner Berührung leicht bröselte.
‚Es muss Magie gewesen sein!’, dachte er mit einem Mal und beobachtete die funkelnden Sterne. ‚So oder so, ich kann mich ihm nicht mehr entziehen. Wenn er wirklich ein Magier ist, ist es egal wo ich bin. Er würde mich überall finden. Er würde mir wieder in meinen Träumen auflauern und das beenden, was er dieses Mal nicht geschafft hat. Aber wieso, wieso hat er es nicht vollendet?’
Mehr und mehr Fragen drängten sich Kay auf, auf die er keine Antwort fand. Er blickte zu Boden und lief weiter. Als er fast an dem Gasthaus vorbei war, bemerkte der Junge eine rasche Bewegung und sah, wie sich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste und auf ihn zukam.
„Och, ich hab dich doch jetzt nicht etwa erschreckt, oder, Sohn?“ säuselte diese und kam weiterhin näher, bis Kay erkannte, wer vor ihm stand.
„Was willst du?“ fragte der Junge seinen Pflegevater barsch. Er hatte weitaus andere Probleme, als sich jetzt auch noch mit diesem Tyrannen auseinandersetzen zu müssen.
„Allein für diesen frechen Ton sollte ich dich übers Knie legen“, schnaubte Gerald und blieb knapp drei Meter vor dem Burschen stehen. „Was hast du um diese Zeit hier überhaupt verloren, hä? Hat dich dein neuer Liebhaber nach der ersten Nacht schon wieder rausgeworfen?“ fragte er süffisant.
Wütend blicke Kay seinen Pflegevater an und ballte seine Hände zu Fäusten. Er hatte weder Lust noch Nerven, sich mit Gerald herum zu streiten. Schnaubend wandte sich der Junge von ihm ab und ging wieder zurück, in Richtung des Hauses von Thog. Er wollte zwar nicht wieder hinein, noch nicht, aber er mochte auch nicht weiter bei dem Tyrannen oder auch nur in dessen Nähe verweilen.
Doch als er Gerald den Rücken zuwandte, packte dieser ihn an der linken Schulter und schmiss ihn an die Wand. Der Schmerz breitete sich, gleich einer Explosion, rasend schnell in Kays ganzem Körper aus. Bunte Sterne tanzten vor seinen Augen und für einen kurzen Augenblick verlor er fast die Besinnung. Dennoch versuchte er bei Bewusstsein zu bleiben. Vielleicht war es besser, wenn er nicht mitbekam, was sein Pflegevater jetzt alles mit ihm anstellen würde, aber seine Angst trieb ihn dazu, die Sterne weg zu blinzeln.
Gerald hatte währenddessen den rechten Arm gegen Kays Kehle gepresst, sodass der Junge kaum mehr Luft bekam. Röchelnd blickte Kay den Tyrannen ängstlich an. Er versuchte sich zu wehren, versuchte, den Arm mit beiden Händen von seinem Hals abzubringen, aber er war einfach zu schwach. Seine Schulter brannte wie die tiefste Hölle und nahm ihm jeden klaren Gedanken.
„Na? Ich schätze, das tut nur halb so weh, wie jener Augenblick, als der Heiler in dich eingedrungen ist. Du magst Schmerzen, ist doch so, hä?!“ sagte Gerald in einem irre gewordenen, drohenden Ton. „Komm schon, ich weiß, dass das dir Spaß macht, du Bastard einer Hure. Du liebst es, wenn dir jemand Qualen bereitet, nicht?!“
Kay verdrehte die Augen. Seine Lunge schmerzte, da er kaum noch Luft bekam. Er begann zu wimmern. ‚Was geschieht hier? Ist es wieder einer dieser Träume oder diesmal dunkle Realität? Was habe ich getan, dass die Götter mich so bestrafen?’ dachte der Junge. Tränen brannten in seinen Augen. ‚Vielleicht ist es besser, wenn es nun endlich geschieht. Mir scheint es nicht vergönnt zu sein, in Frieden auf Erden zu leben. Vielleicht finde ich in der Dunkelheit des Nichts mehr Ruhe’, dachte Kay düster. Er versuchte noch einmal tief ein zu atmen, was mehr als nur schmerzhaft war und ließ dann seine Hände von Geralds Armen.
„Ha, ich wusste es. Dir gefällt was ich mache.“ Verrückt kichernd nahm der Mann seinen Arm von Kays Kehle und hielt ihn nur mit der linken Hand auf dessen Brust an die Wand gedrückt.
Der Junge hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Gierig sog er die neu gewonnene Luft in seine schmerzenden Lungen und begann, stoßweise zu husten. Fast glaubte er schon, dass der Tyrann nun von ihm ablassen würde. Langsam hob er seinen Kopf und blickte in die Augen seines Pflegevaters, die irre hin und her zuckten. ‚Nein, dies war noch lange nicht ausgestanden’, dachte er bitter.
„Weißt du, Sohn, ich kann natürlich nicht zulassen, dass du mit wildfremden Leuten verreist. So was macht man einfach nicht, verstanden? Dieser eingebildete Heiler nimmt dich doch nur auf, weil er dann einen billigen Sklaven hat für einsame Nächte. Aber keine Angst, mein Kleiner. Ich werde nicht zulassen, dass dir jemals wieder einer zu Nahe kommt. Ich werde dafür sorgen, dass dir nie mehr auch nur ein Leid geschieht. Du gehörst hier her, zu mir. Für immer“, sagte Gerald fast flüsternd.
Kay verstand nicht, was sein Pflegevater damit meinte. Er wollte es auch nicht verstehen. Er hasste ihn und wünschte sich nur, dass er ihn ein und für alle Mal in Ruhe ließe. Der Druck auf seiner Brust ließ etwas nach. Der Junge nahm an, dass jetzt noch ein paar Tritte und Beschimpfungen folgen würden und dann das Szenario vorbei wäre. Erschrocken sah er aber nun etwas im schwachen Mondlicht blitzen. Gerald hatte mit einem mal ein altes, angerostetes Messer in der Hand und blickte verrückt grinsend auf Kay hinab.
„Ich werde dich bestrafen und erlösen zugleich!“ sagte dieser in einem bedrohlichen Flüsterton.
Der Junge sammelte seine restlich verbliebene Kraft und stemmte sich gegen seinen Tyrannen. Wild zappelnd versuchte der Bursche zu fliehen, doch sein Pflegevater verstärkte mit nur geringem Aufwand wieder den Druck auf seiner Brust und stach dann mit voller Kraft zu. Die Klinge bohrte sich tief in Kays Bauch. Benommen schaute er in das Gesicht von Gerald und glaubte dort für einen kurzen Moment etwas Silbernes in dessen Augen schimmern zu sehen. Langsam füllte sich sein Mund mit nach Kupfer schmeckendem, warmen Blut, welches ihm nun über die Lippen lief und dann lautlos zu Boden tropfte.
„Warum…?“ fragte Kay röchelnd und spritzte etwas Blut in das Gesicht des Tyrannen.
Dieser leckte es sich mit Genuss von seinen Lippen, trat ganz dicht an den Jungen heran und meinte dann, mit leiser, böser, aber seltsam sanfter Stimme: „Weil du ein Bastard bist.“
Gerald drehte das Messer in Kays Bauch einmal herum, zog es wieder heraus und stach noch zweimal zu. Dann ließ er endlich von dem Jungen ab. Der Bursche sank zu Boden und kippte auf die linke Seite. Vergnügt sah Gerald mit an, wie die Augen des Jungen immer leerer wurden und genoss es von Sekunde zu Sekunde mehr.
***
Aufgewühlt lag Lymias in seinem Bett und wälzte sich hin und her. Er konnte einfach nicht einschlafen. Immer wieder ging ihm die letzte Nacht durch den Kopf. Die letzte Nacht und dieser Junge.
Bestimmend hatte Thog gesagt, dass die Entscheidung, bei wem Kay nun leben möchte, ganz allein bei ihm liege. Verstört hatte der Junge zu dem Dorfältesten, zu seinem Pflegevater und auch zu ihm geschaut.
Lymias wälzte sich auf die rechte Seite. Er hatte Angst in diesem Blick gesehen. ‚Spürte der Junge etwa, dass ich mehr mit ihm vorhabe?’ überlegte der Heiler. ‚Diese Kraft, die der Bursche besitzt, muss geschult werden, sonst könnte es in ferner Zukunft in einer Katastrophe enden. Oder wusste er vielleicht schon von seiner Macht und spürte die meine? Hatte er deswegen Angst? Angst, dass ich ihn vernichten könnte? Oder Angst vor dem, was ich bin? Nein, das ist unmöglich. Woher sollte dieser einfache Junge wissen, wer oder was ich bin?!’
Der junge Mann drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. ‚Was für ein Leben er wohl bisher geführt hat? Es kann nicht besonders fröhlich gewesen sein, wenn er fast ohne nachzudenken einen Wildfremden seinem Pflegevater vorzieht. Aber ich kann ihn auch verstehen. Der Mann ist widerlich’, dachte Lymias und schüttelte sich ein wenig.
Als Kay von Thog ins Haus geschickt wurde, ahnte der Heiler, dass die Sache mit Gerald noch lange nicht ausgestanden war. Eiskalt fixierte der junge Mann diesen Tyrannen und wartete auf irgendeine Reaktion von ihm. Diese ließ nicht lange auf sich warten. Der Heiler blickte kurz dem Jungen hinterher und sah, wie er im Haus verschwand.
Gleich darauf ging Gerald auf Lymias los. Mit einer fließenden Bewegung wich er dem Angreifer aus und rammte, den Schwung aus der Drehung nutzend, mit voller Kraft sein Knie in den Bauch des Tyrannen. Mit einem würgenden Laut ging Gerald zu Boden und leerte seinen Magen vor den Anderen aus.
„Das reicht!“ grollte Thog, „Dies sollte ein Fest der Freude und Dankbarkeit werden, nicht eines der Gewalt. Ich glaube Gerald, der Wein hat dir ein wenig die Sinne vernebelt. Geh nach Hause und schlaf dich erstmal richtig aus. Wir haben morgen noch genug Zeit zum Diskutieren. Ewald, Otto, helft ihm auf und begleitet ihn zu seinem Hof.“
Zwei Männer mittleren Alters kamen herbei, stellten sich neben Gerald und wollten ihn an den Armen packen. Doch der Tyrann schlug um sich und richtete sich schwankend auf.
„Das wird dir noch Leid tun, Heiler!“ sagte der Mann zornig und spie bei dem letzen Wort aus. Dann drehte er sich um und lief seinem Hof entgegen, gefolgt von den beiden Anderen.
Lymias stand mit gerunzelter Stirn angespannt da und blickte Gerald hinterher. Alles um ihn herum war verstummt, keiner bewegte sich oder wagte etwas zu sagen. Nur das Knistern des Holzes im Lagerfeuer durchbrach diese unheimliche Stille und die Schatten des Lichtes tanzten um die Leute aus dem Dorf, wie um sie zu verhöhnen.
„Musik, los Leute, spielt mir Musik! Der Abend ist viel zu schön, als dass wir in trübsinnigen Gedanken schwelgen. Horst! Wo ist der Wein und das Bier? Und hattest du uns nicht einen halben Eber versprochen?“ sprach Thog zu den Dorfbewohnern und befreite sie von dem Bann der Schweigsamkeit.
„Ein Eber? Das sieht mir eher aus wie ein kleines Ferkel! Horst, du hattest wohl bei der Jagd deine Sehhilfe vergessen, was?!“ scherzte ein älterer, vollbärtiger Mann mit tiefer Stimme.
Daraufhin begannen alle zu lachen und entspannten sich wieder. Fröhliche Musik und wilde Lieder wurden angestimmt. Wein- und Bierkrüge gingen durch die Reihen und die Stimmung der Leute wurde immer ausgelassener. Lymias hatte sich mit Thog wieder auf ihren Baumstamm zurückgezogen, beide aßen von dem dargebotenen Fleisch und frischgebackenen Brot. Selbst beim Wein langte der Heiler diesmal kräftig zu.
„Sag mal, was hast du eigentlich mit dem Jungen vor?“ fragte der Dorfsprecher, als sie mit Essen fertig waren und eine Weile das Treiben der Leute beobachtet hatten.
„Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Kay… er…, er besitzt eine Gabe“, stotterte der junge Mann ein wenig und wusste nicht recht, wie er es seinem Freund erklären sollte.
„Eine Gabe? Du meinst Magie?“
„Dessen bin ich mir halt nicht sicher. Eigentlich spüre ich jedes Lebewesen auf einige Meter Entfernung. Wenn ich mich anstrenge und konzentriere, dann kann ich auch die Gesinnung des Wesens erkennen. Aber bei Kay spürte ich nichts, gar nichts.“
„Hm, das scheint dich ja sehr zu beunruhigen, Heiler“, sagte der Dorfälteste und beäugte Lymias nachdenklich von der Seite.
Der junge Mann war überrascht wie gut Thog ihn einschätzen konnte, in so kurzer Zeit, wie die beiden sich bisher kannten. Es war fast so, als ob der Sprecher des Dorfes ein jahrelanger, guter alter Freund von ihm war. Dem Heiler wurde es schwummrig, da der Wein langsam seine gewünschte Wirkung entfaltete.
„Ich bin ein Erdkind“, flüsterte Lymias, „Es gibt nur sehr wenige Wesen, die genügend Kraft besitzen, um sich meines Blickes entziehen zu können. Weißt du, wer Kays richtige Eltern sind, und woher er ursprünglich stammt?“
„Leider nicht. Seine Pflegemutter hatte ihn gefunden, als sie gerade beim Wäsche waschen war, unten am Fluss bei einer kleinen Gruppe von Holundersträuchern und vereinzelten Bäumen. Du bist aus dieser Richtung gekommen, oder? Du müsstest an dieser Stelle vorbei geritten sein. Auf jeden Fall hat seine Pflegemutter, Hilda, einen Wäschehaufen im Wasser treiben sehen. Zuerst dachte sie, dass sie unachtsam gewesen sei und eines ihre Wäschestücke verloren hätte. So lief sie ins Wasser und brachte diesen Haufen ans Ufer. Doch anstatt schmutziger Wäsche vorzufinden, hielt sie nun einen kleinen Jungen, fast noch ein Baby, in den Armen. Der Winzling schien nicht mehr zu atmen. Hildas Großmutter war eine Art Heilerin gewesen, deswegen wusste die junge Frau damals, was zu tun war. Sie versuchte dem Jungen wieder Atem einzuhauchen, mit Erfolg. Seit diesem Tag ist Kay bei uns. Leider ist Hilda vor einigen Jahren an den Folgen eines starken Fiebers gestorben. Na ja und Gerald ist dem Jungen nicht gerade zugetan. Ich weiß auch nicht, warum der Mann ihn mit aller Macht zwingen will, hier zu bleiben. Es wird langsam Zeit, wie ich meine, dass Kay sich selbst findet. Hier wird ihm dies allerdings nie gelingen“, schloss Thog seine Erzählung.
Versonnen nippte Lymias wieder an seinem Weinbecher. Er konnte sich sehr wohl an die Stelle am Fluss erinnern, welche der Sprecher des Dorfes meinte. Es war die einzige Stelle am Gewässer gewesen, die richtig Schatten spendete. Er dachte wieder an sein Haarband, welches noch immer verschwunden war. ‚Hatte der Jüngling es mir etwa gestohlen? War er an diesem heißen Tag dort gewesen und hatte mich im Gras liegen sehen? Aber ich hätte doch Spuren bemerken müssen. Keiner kann so gut seine Fußabdrücke vor mir verbergen. Vielleicht gehört dies auch mit zu seiner Gabe? Vielleicht habe ich auch nur viel zu viel Fantasie?!’ dachte der junge Mann und schüttelte schmunzelnd seinen Kopf.
„Du hast aber noch immer nicht meine Frage wirklich beantwortet, mein Freund. Was wirst du als nächstes tun? Du und der Junge?“ versuchte Thog noch einmal nachzuhaken.
„Ich kenne einen alten Meister der Kunst. Er wohnt oberhalb der Berge in einer kleinen, abgelegenen Hütte. Das Beste wird wohl sein, dass ich Kay zu ihm bringe. Er hat mehr Erfahrung und wird wissen, was zu tun ist“, dachte der Heiler laut nach und leerte mit einem Zug den Rest seines Weines.
„Gut, dann weiß ich, was ich dem Jungen für Kleidung einpacken werde“, sagte Thog und erhob sich.
Lymias tat es ihm gleich und schwankte. Diese Mengen an Wein war er nicht gewöhnt und so fing seine Umgebung an, sich unruhig zu drehen. Mit einem Satz war der Dorfälteste an seiner Seite, legte freundschaftlich wieder sein Arm um des Heilers Schulter und ging mit ihm zusammen auf das Gasthaus zu. Wie noch vor wenigen Stunden der junge Mann Thog wegen seines Beines gestützt hatte, so stützte Thog nun Lymias.
„Du scheinst lange Feste nicht gewöhnt zu sein, junger Freund. Leg dich schlafen. Der morgige Tag wird anstrengend genug werden. Ich kümmere mich jetzt erstmal um den Rest deiner Verpflegung und Ausrüstung. Da du nun den Jungen bei dir hast, wirst du einiges mehr brauchen“, lachte der Sprecher des Dorfes leise und verabschiedete sich an der Tür von dem Heiler.
Dieser stolperte langsam die Treppe nach oben in sein kleines Zimmer, zog schläfrig seine Kleider an Ort und Stelle aus und fiel der Länge nach in sein Bett. Erst Stunden später wachte er durch einen seltsamen Traum wieder auf.
Ein Junge mit kurzem silbernem Haar kam langsam auf ihn zu. Beide waren von einem mystischen Nebel umgeben, durch den nur gedämpft etwas Licht schimmerte. Der Junge war nun so weit an Lymias heran getreten, dass er dessen Atem auf der eigenen Haut zu spüren glaubte. Beide waren unbekleidet, der Nebel war aber so dicht, dass nur ein Antlitz des Gegenübers zu erahnen war. Der Silberschopf hob seine Hand und berührte fast schüchtern Lymias’ Brust. Ein warmer Schauer durchfloss ihn. Er wollte den Jungen ebenso über die Haut streicheln, doch er war zu keiner Bewegung fähig. Starr blickte Lymias in die strahlenden Augen des Jungen, die ihn verschmitzt anlächelten. Der Silberschopf kam darauf hin noch näher an ihn heran, sodass sich ihre Körper berührten. Die linke Hand des Jungen wanderte hinunter und blieb auf den Po des jungen Mannes liegen. Die Rechte drückte sanft auf seinen Rücken und zog ihn dichter an den Silberschopf. Lymias Herz fing wild an zu pochen. Das einzige, was er jetzt noch wollte, war sich vollends mit diesem Geschöpf zu vereinen. Als hätte der Junge seine Gedanken gelesen, kam die Lippen des Silberschopfes den seinen entgegen, glitten aber daran vorbei und blieben an seinen rechten Ohrläppchen kleben. Zärtlich streichelte der Junge über den Po von Lymias und liebkoste mit den Fingerspitzen seinen Rücken.
Der Heiler schloss die Augen und genoss die sanften Berührungen. Nur tauchte plötzlich vor seinem inneren Auge Kays Gesicht auf, seine hellbraunen, fast schulterlangen Haare, die sein schmales Gesicht umrahmten, die blaugrünen Augen, welche ihn etwas ängstlich anblickten, die vollen Lippen…
„Kay…“, stöhnte Lymias mit geschlossenen Augen und ließ die Bewegungen des Silberschopfes erstarren.
Das Geschöpf schob den jungen Mann etwas von sich, um ihm wieder ins Gesicht blicken zu können. Mit gerunzelter Stirn stand der Junge eine Weile so da und musterte ihn. Der Heiler öffnete seine Augen und sah den nachdenklichen Blick des Silberschopfes. Er hob seine Hände und streichelte dem Jungen sanft über die Schulter, bis zu den Armen. Erschrocken und erstaunt zugleich ging das Geschöpf einen Schritt nach hinten.
„Bald wirst du frei sein, Liebster“, erklang die glockenhelle Stimme des Jungen, dessen Gesicht nun einen entschlossenen Ausdruck angenommen hatte, dann war er verschwunden.
Im selben Moment wachte Lymias auf. Mit klopfendem Herzen lag er in seinem zerwühlten Bett und dachte an die Worte des Silberschopfes. ‚Wer ist er? War das eine Prophezeiung oder eine Vision gewesen? Oder einfach nur ein Versprechen? Aber worüber?’ dachte der Heiler und fing an, sich in seinem Bett hin und her zu wälzen. Kurz darauf nahmen aber ganz andere Gedanken ihn in Beschlag. Immer wieder ging ihm die letzte Nacht durch den Kopf. Die letzte Nacht und Kay.
Lymias drehte sich auf die linke Seite, kuschelte sich in seine dünne Decke und versuchte dieses ständige Grübeln abzuschalten um noch ein wenig zu schlafen. Leider war das leichter gesagt als getan, denn die leicht pochenden Kopfschmerzen, die wohl die Folge des Weines am Vorabend waren, erschwerten sein Vorhaben ungemein.
Fluchend richtete sich der Heiler mit einem Ruck auf, um sich dann stöhnend seinen Kopf zu halten. ‚Egal wie sehr meine Gedanken irgendwann wieder in Trübsinnigkeit verfallen werden, ich werde bestimmt nie wieder versuchen, diese mit Wein zu betäuben’, dachte der junge Mann grimmig, schwang sachte seine Beine über den Rand des Bettes und blieb so eine Weile lang sitzen. Dann stand er langsam auf, schlurfte zum Waschschrank und spritze sich das kalte Wasser ins Gesicht.
Das kühle Nass war eine Wohltat für seinen Kopf. So zog er sich vollkommen aus, um sich gründlich waschen zu können. Danach trocknete er sich ab und zog seine Reisekleidung an. Langsam schweifte sein Blick durch das Zimmer, suchte seine Habseligkeiten zusammen, um sie in seiner Satteltasche verschwinden zu lassen. Es hatte keinen Sinn mehr, sich weiter im Bett herum zu wälzen, da es eh nicht mehr lange bis Sonnenaufgang war.
Zuletzt band er sich sein Schwert wie gewohnt um, warf sich die Satteltasche über die Schulter und ging zur Tür. Ein letztes Mal blickte er in das Zimmer zurück, seufzte dann und schlich die Treppe hinunter, durch die Schankstube, in die sternenklare Nacht hinaus.
Das Feuer auf den Marktplatz war vollkommen runter gebrannt, nur einzelne Holzstücke glommen noch vor sich hin, kein Mensch war mehr weit und breit zu sehen. Lymias sog tief die frische Luft in sich ein. Der Morgen war angenehm mild und man merkte jetzt schon fast, wie warm es den Tag über werden würde. Der Heiler hielt kurz inne. ‚Roch es hier etwa nach Blut?’ überlegte der junge Mann und wollte sich gerade etwas konzentrieren, um den Ursprung dieses Geruches ausmachen zu können, als er am Haus des Dorfältesten eine Bewegung ausmachte.
Der Heiler sah gerade noch, wie eine Gestalt zum Hintereingang des Hauses, welcher in die Küche führte, schlich. Sachte zog der junge Mann sein Schwert und lief leise dieser Gestalt hinterher. An der hinteren Tür angelangt, hörte Lymias gedämpfte Geräusche aus der Küche des Dorfsprechers, als er lauschte. Die Tür, an welcher der junge Mann nun stand, ging zwar nach innen auf, aber sie knarrte so laut, dass jeder es bemerken würde, wenn sich jemand hineinschleichen wollte. Dem Heiler blieb nichts anderes übrig, als eine Blitzattacke.
Er atmete tief durch um zur völligen Ruhe zu kommen, dann horchte er wieder nach drinnen. Er hörte, wie in einigen Schränken gewühlt wurde und spürte, dass diese Person mehr als nur leicht genervt war. Lymias wartete, bis die Gestalt genau hinter dem Eingang stand, dann stieß er die Tür auf, war mit einem Satz bei dieser Person und hielt ihm sein Schwert an den Hals.
„Hm, vielleicht wäre es ja besser, wenn du mich tötest, denn diese Schmerzen in meinem Bein werden mich früher oder später eh umbringen!“ brummte Thog und wartete, bis der Druck auf seiner Kehle nachließ.
Dann nahm er sich einen Hocker und ließ sich schwer darauf niederfallen. Verstört blickte der Heiler seinen Freund an und steckte dann eiligst sein Schwert wieder in die Scheide.
„Es tut mir leid. Ich habe nur von draußen eine Bewegung ausgemacht. Ich wusste nicht, dass du es bist“, sagte Lymias leise und setzte sich zu dem Sprecher des Dorfes.
„Lass es gut sein, Heiler. Aber sag mal, was treibt dich eigentlich zu dieser frühen Stunde auf die Beine?“ fragte Thog und schenkte sich Wein in einem Becher ein. „Möchtest du auch einen Schluck?“
Der junge Mann schüttelte energisch seinen Kopf, nur um wieder an das dumpfe Pochen darin erinnert zu werden. Stöhnend massierte er mit der rechten Hand seine Schläfe und blickte in das nun amüsierte Gesicht seines Freundes.
„Unser Wein ist recht gut, nicht wahr? Er scheint dir ja ganz schön zugesetzt zu haben“, stichelte der Dorfälteste, worauf der Heiler ihn nur gequält angrinste.
„Wann hast du das letzte Mal die Verbände an deinem Bein gewechselt? Hast du auch die Stoffe vorher in das Wasser mit dem Kraut getunkt?“ fragte nun der junge Mann Thog und deutete auf dessen Bein.
„Das habe ich gerade getan. Deswegen war ich auch draußen. Ich habe das Wasser hinter dem Haus ausgekippt. Und bevor du hier rein gestolpert bist und mich umbringen wolltest, habe ich die Schüssel wieder weggeräumt. Ich wollte Vana nicht so viel Arbeit auflasten. Sie hat sich Tag und Nacht um die Erkrankten gekümmert und kaum eine Pause eingelegt. Sie braucht langsam etwas Ruhe, finde ich“, sagte der Dorfälteste und schaute in das verlegene Gesicht des Heilers.
Dem war es sichtlich peinlich, dass er seinen Freund angegriffen hatte. Wieder aber beeindruckte ihn die Wärme und Fürsorglichkeit, die Thog seiner Frau und auch allen anderen schenkte. Er war wirklich der geborene Sprecher des Dorfes. Einmal mehr wünschte sich der junge Mann, länger hier verweilen zu könnte. Er wollte mehr über diesen brummigen Bären erfahren, der ihm gegenüber saß. Seltsamerweise fühlte sich Lymias von ihm angezogen. Nicht so, wie der Knecht des Wirtes auf ihn gewirkt hatte. Diese Anziehung war anders, eher väterlicher Natur. Es war das Wesen von Thog, was der Heiler erforschen wollte. Vielleicht war es auch nur das Verlangen des jungen Mannes nach einem Vater.
„Über was grübelst du nach, Junge?“ fragte der Dorfälteste sanft.
Lymias zuckte zusammen. ‚Junge…, er hatte Junge gesagt.’ Ein warmes Kribbeln durchzog seinen Bauch bis es zu schmerzen begann. ‚Wieso muss ich auch weiterreisen? Wieso kann ich mich nicht einfach fallen lassen und an einem Ort länger als nur ein paar Tage bleiben?’ dachte der Heiler gequält nach. ‚Weil dann die Soldaten des Königs hier einfallen und das Dorf dem Erdboden gleich machen würden’, meldete sich eine düstere Stimme in Lymias’ Kopf. ‚Früher oder später wird es so geschehen.’
Der junge Mann wurde wütend und traurig zugleich. Wieder zuckte er leicht zusammen, als er eine Hand auf seiner rechten Schulter spürte. Betrübt hob er seinen Kopf und schaute in das besorgte Gesicht seines Freundes. Er wusste nicht mehr, wie lange sie so da saßen, aber mit einem Mal fasste der Heiler einen Entschluss und fing an zu reden.
Er redete über den Prinzen, wie sehr er ihn geliebte. Über Dilarus und wie er versucht hatte, ihn zu bekämpfen. Über den fremden Jungen, der ihn in letzter Sekunde gerettet hatte. Über die Prinzessin, wie sie geweint hatte, als er flüchten musste. Es strömte mit einem Mal alles wieder auf ihn ein, all die Gefühle und Emotionen, die er versuchte hatte, zu verdrängen. Das ganze Geschehene, das er für immer vergessen wollte. Ruhig hörte Thog zu, bis der junge Mann mit seiner Erzählung geendet hatte. Dann stand er auf und nahm den Heiler in seine Arme. Zitternd krallte sich Lymias an den Sprecher des Dorfes. Noch nie war er so aufgewühlt gewesen. Er wusste nicht, was er fühlen sollte. Zu viele Empfindungen stürzten auf ihn ein, so dass er kaum in der Lage war, sie zu unterscheiden. Trotzdem rollte nicht eine Träne aus seinen Augen.
Langsam löste sich der junge Mann wieder aus der Umklammerung und setzte sich auf seinen Hocker. Thog drehte sich um und kramte wieder in einigen der Schränke herum, bis er ein Stück Brot, etwas Fleisch und Käse hervor holte. Er platzierte alles auf den Tisch, holte noch schnell zwei Holzteller und Messer hervor und nahm dann auch wieder auf dem Hocker Platz.
Dankbar lächelte der Heiler den Dorfältesten an, welcher väterlich zurück grinste. Beide frühstückten in Ruhe und unterhielten sich weiter über Belanglosigkeiten. Lymias fühlte sich freier denn je. Er merkte, dass sich auch Thog nun mehr öffnete als vorher. Stück für Stück ließen beide Männer ihre äußere Blockade fallen und gaben die Sicht auf ihr Innerstes dem Gegenüber frei.
„Ich denke, wir sollten Kay langsam wecken. Es ist zwar noch knapp eine Stunde Zeit bis Sonnenaufgang, aber je weniger Leute eure Abreise sehen, desto besser“, meinte der Dorfälteste und sprach damit indirekt auf Gerald an, was Lymias sofort verstand.
„In welchen Zimmer schläft er? In der Zeit wo ich den Jungen holen gehe, kannst du schon mal die Sachen zum Stall schaffen“, sagte der Heiler und stand langsam auf.
Er wusste, dass Thog das Treppensteigen mit seinem verletzten Bein am meisten schmerzte. Deswegen übernahm er diese Aufgabe lieber selbst und gab ihm etwas anderes zu erledigen, ohne dem Dorfältesten gegenüber bemutternd zu klingen. Dieser nickte nur dankbar und meinte, dass sich der Junge mit Feris zusammen in einem Zimmer, gleich nach der Treppe auf der rechten Seite, schlafen gelegt hatte.
Leise schlich der Heiler nach oben und versuchte so lautlos wie möglich die erste Tür auf der rechten Seite zu öffnen, schließlich wollte er niemanden unnötig wecken. Geschwind huschte er durch den Raum auf das Bett zu. Er sah, wie Feris friedlich in seiner Decke eingekuschelt schlief, nur war Kay nirgends zu sehen. Mit gerunzelter Stirn trat er neben das Bett. Auf der rechten Seite waren das Kopfkissen und die Decke zerwühlt und ein leichter Abdruck auf der Matratze zeigte, dass hier vor kurzem noch jemand gelegen haben musste.
Nervös kniete Lymias sich nieder und legte seine Hand auf diese Seite des Bettes. Sie war noch etwas warm und feucht von Schweiß. Das Kissen und die Decke waren ebenfalls durchnässt. ‚Der Junge muss einen üblen Alptraum gehabt haben’, dachte er, stand auf, schlich wieder aus dem Zimmer und ging eiligst zu Thog hinunter. Dieser wollte gerade zwei eingerollte Decken, die er unter seinen Armen trug, nach draußen bringen, als er den Heiler sah. Sofort hielt er inne und blickte fragend zu dem jungen Mann.
„Er ist weg“, meinte dieser nur knapp.
„Wie ‚Er ist weg’?“
„Er ist nicht in seinem Zimmer. Irgendwas hat ihn aufgeschreckt.“
„Gerald? Nein unmöglich. Der würde es nicht wagen, bei mir einzubrechen. Außerdem war ich fast die ganze Nacht und den Morgen wach. Ich hätte es gemerkt, wenn er Kay einen Besuch abgestattet hätte. Wir sollten ihn trotzdem besser suchen gehen. Vielleicht ist er auch nur nervös geworden und geht etwas frische Luft schnappen. Für ihn fängt heute ein neues Leben an. Dass er da nicht ruhig schlafen kann, kann ich gut verstehen“, versuchte der Sprecher des Dorfes den jungen Mann zu beruhigen und ging mit ihm zusammen nach draußen.
Kaum hatte der Heiler die Türschwelle übertreten, als ihm wieder dieser kupferne Geruch in die Nase stieg.
„Wo genau hat Horst die Ferkel geschlachtet, die er gestern aufgetischt hat?“ fragte Lymias beunruhigt und ging auf die Mitte des Marktplatzes zu, seiner Nase folgend.
„Links hinter seinem Gasthaus bei den Stallungen. Wieso fragst du?“ Die Unruhe, die den jungen Mann mehr und mehr einnahm, übertrug sich langsam auch auf Thog.
Mit klopfendem Herzen ging der Heiler auf das Gasthaus zu und folgte dem Geruch zur rechten Seite. Je näher er dem Haus kam umso schneller wurden seine Schritte und umso mehr nahm seine Ahnung Gestalt an. Er betete nur zu den Göttern, dass diese sich nicht bewahrheiten würde.
Als der junge Mann an der rechten Seite des Hauses angelangte, blieb er wie angewurzelt stehen. Thog stürmte an ihm vorbei und kniete sich zu dem Jungen hinunter, welcher über und über mit Blut besudelt war. Der Sprecher des Dorfes drehte Kay auf den Rücken und suchte nach seinen Puls. Hoffnung hatte er keine, da er den aufgeschlitzten Bauch des Jungen sah, aus welchem schon Stücke seines Inneren herauslugten.
„Bei den Göttern, er lebt!“ hauchte der Dorfälteste ungläubig und blickte zu Lymias auf. „Er lebt tatsächlich noch. Die Götter erlauben sich entweder ein böses Spiel mit ihm oder halten schützend ihre Hände über den Jungen. Kein normaler Heiler kann ihn je wieder zusammenflicken. Aber du, Lymias, bist kein normaler Heiler. Du kannst ihm helfen, nein, mehr noch. Du könntest ihn retten!“
Erwartungsvoll sah Thog den jungen Mann an, der noch immer auf Kay hinab starrte. ‚Gerald. Er hat dies zu verantworten!’ dachte er grimmig und spürte noch ganz deutlich die Essenz dieses widerlichen Menschen. Zwar mischte sich unter diese noch etwas anderes, aber Lymias war viel zu wütend um dies bewusst wahrzunehmen.
„Selbst wenn ich es könnte, ich darf ihn nicht heilen“, sagte der Heiler traurig und sah zu Boden, seine Hände fest zu Fäusten geballt.
„Wie du darfst ihn nicht heilen? Wer hält dich davon ab? Außer uns ist hier keiner! Lymias, er hat sehr viel Blut verloren. Es ist ein Wunder, dass der Junge überhaupt noch am Leben ist. Du kannst ihn hier doch jetzt nicht verbluten lassen und einfach zusehen!“ bebte Thog ärgerlich.
„Ich bin ein Erdkind und an die Gesetze der Götter gebunden. Ich kann nur jemanden mit Magie heilen, wenn dieser mit Magie verletzt wurde. Ich kann, darf und will nicht die Gesetze der Natur durcheinander bringen. Wenn die Göttin des Todes ihn zu sich ruft, darf ich mich nicht dazwischen stellen. Es tut mir leid“, sagte der Heiler bitter und wollte sich schon abwenden, doch der Dorfälteste begann ihn anzuschreien.
„Wenn die Göttin des Todes den Jungen haben wollte, hätte sie sich ihn doch schon längst geholt! Sie ist nicht grausam und lässt die zu sich Gerufenen so lange leiden! Lymias, sieh mich an und sag mir ins Gesicht, dass du Kay sterben lassen willst! Sieh mich an und sag es! Na los!“
Gequält hob der junge Mann seinen Kopf und versuchte, in das bärtige Gesicht von Thog zu blicken, aber er schaffte es einfach nicht. Er konnte nicht wissen, wie schwer es Lymias fiel, einfach nur dazustehen und nichts zu tun. Ein kurzes silbernes Blitzen zog jedoch die Aufmerksamkeit des Heilers auf sich. Langsam ging er auf Kay zu und kniete sich zu ihm hinunter. Er befreite den Jungen von dem blutdurchnässten Hemd und fuhr mit den Fingerspitzen über die drei wulstigen Narben, die auf der linken Seite von Kays Schulter bis zu seiner Brust führten. Ein warmes Kribbeln durchfloss Lymias’ Hand, als er die Narben berührte.
„Magie…“, flüsterte der Heiler fast unhörbar.
„Du meinst, diese Narben wurden ihm nicht von Gerald zugefügt?“ fragte Thog ihn unsicher.
„Nein, bestimmt nicht. Die sind nicht älter als ein paar Stunden. Er wurde angegriffen. Vielleicht ist er deswegen aus dem Haus gelaufen. Momentan ist das unwichtig. Die Narben haben sich leicht entzündet. Und da diese ihm mit Magie zugefügt wurden, kann ich sie auch mit Magie heilen. Dass da rein zufällig auch seine Wunden am Bauch mitgeheilt werden, ist leider unumgänglich“, meinte Lymias und grinste dabei zu dem Dorfältesten, der ihn erleichtert und aufgeregt zugleich anblickte.
Der junge Mann fing an sich zu konzentrieren. Warm begann die Magie in seinem Innersten zu fließen. Der Heiler erschuf das Bild des Jungen in seinen Gedanken, lenkte dann seine Kraft vollkommen auf den Bauch von Kay und stellte sich vor, wie dieser sich schloss, jedes Stück seiner Eingeweide seinen angestammten Platz einnahm und wieder normal zu arbeiten begann. Als er in diesem Bereich seine Arbeit getan hatte, lenke Lymias seine Magie auf die Schulter des Jungen und wollte so die Narben verheilen lassen. Doch ein greller, silberner Blitz durchschoss seinen Kopf und ließ ihn nach hinten taumeln.
Verstört öffnete Lymias seine Augen und blickte zu Thog, der noch immer Kay in den Armen hielt.
„Du hast es geschafft mein Freund. Er atmet wieder kräftiger und bewegen kann er sich auch.“, sagte der Dorfälteste freudig und sah dann zu dem jungen Mann. „Lymias, geht es dir nicht gut?“
„Nein, alles in Ordnung. Ich konnte nur die Narben nicht heilen. Irgendeine fremde Magie lehnt sich dagegen auf. Wir sollten ihn ins Haus bringen und waschen“, meinte der Heiler und versuchte aufzustehen.
Schwankend kam er auf die Beine und stolperte einige Schritte nach vorn. Die Kraft der Heilung war eine der schwierigsten und kräfteraubendsten Magien, die es gab. Der silberne Blitz, den er abgekommen hatte, tat sein Weiteres. Der junge Mann stellte sich gerade auf und atmete tief ein. Thog, der den Jungen auf den Armen trug, kam langsam näher und beäugte seinen Freund besorgt.
„Du solltest dich etwas ausruhen, bevor du los reitest. Du siehst sehr blass aus. Komm, lass uns rüber gehen. Das Blut hier werde ich nachher beseitigen, sonst stellen noch die anderen Dorfleute lästige Fragen, woher es kommt“, sagte der Sprecher des Dorfes und ging einige Schritte voraus, drehte sich aber wieder zu dem Heiler um, als dieser ihm nicht folgte.
„Lymias…?“
„Mit mir ist alles O.K. Ich werde die Sache mit dem Blut hier schnell klären und komme dann nach. Ich brauche nur etwas frische Luft“, unterbrach der junge Mann seinen besorgten Freund.
Dieser nickte nur nachdenklich und trug Kay ins Waschzimmer, entkleidete ihn und befreite den Jungen von Schmutz und Blut. Danach kramte er ein paar Kleider seines ältesten Sohnes hervor und zog diese dem Jungen über. Gerade als er Kay in die große Wohnstube trug, kam der Heiler durch die Tür und gesellte sich wieder zu ihm. Er war vollkommen sauber, kein einziger Blutstropfen war mehr auf seinen Sachen zu sehen.
„Wäschst du immer mit Magie deine Sachen?“ witzelte Thog und ließ den Jungen nahe dem Kamin auf einige Kissen nieder.
„Nur wenn es eilig ist. Wie geht es ihm?“ fragte Lymias schwach und brachte sogar ein leises Lachen hervor.
„Er ist noch sehr erschöpft. Aber sonst scheint es ihm ganz gut zu gehen. Allein wird er dennoch heute nicht reiten können“, sagte der Dorfälteste, setzte sich auch auf ein Kissen und streckte sein verletztes Bein aus.
„Damit habe ich schon fast gerechnet. Selbst ich werde mich eine halbe Stunde ausruhen müssen. Wenn du mir ein zweites Pferd geben könntest, würde ich auf dem einen vorerst das Gepäck laden und auf meinem mit dem Jungen reiten. Ich kann für das Pferd auch gut bezahlen“, meinte Lymias ruhig und schaute den Sprecher des Dorfes fragend an.
„Hm und ich dachte, wir kennen uns langsam gut genug“, sagte Thog ernst und erwiderte den Blick seines Freundes. „Denkst du etwa wirklich, ich hätte dich mit nur einem Pferd von hier losgeschickt? Dass du ein zweites Pferd benötigst, war mir klar, seitdem fest stand, dass der Junge mit dir reisen wird. Das Gepäck ist, außer den Decken hier, komplett bei den Pferden. Sie warten bestimmt schon ganz unruhig, wann die Reise denn endlich losgeht. Wir müssen nur deine Sachen auf das Pferd von Kay umschnallen.“
Triumphierend grinste der Dorfälteste den Heiler an. Dieser schüttelte nur mit dem Kopf und ließ sich neben Thog nieder. Er wagte es nicht, auch nur einen Kupferling aus seiner Tasche hervor zu holen. Damit würde er den Sprecher des Dorfes wirklich kränken. Lymias nahm sich ein Kissen, stopfte es sich hinter seinen Kopf und lehnte sich an einen der Pfosten, die das obere Stockwerk trugen. Kurz darauf nickte er ein.
Gut eine halbe Stunde später wurde er durch ein sanftes Rütteln an der rechten Schulter geweckt. Schläfrig sah er in die glitzernden Augen von Thog.
„Es wird Zeit. Die Sonne geht in knapp zehn Minuten auf. Nimm den Jungen und folge mir zu den Stallungen“, flüsterte der Dorfälteste und humpelte voraus.
Die zwei Pferde standen vor dem Stall, angebunden an einen Pfosten und wieherten erwartungsvoll, als die Männer näher kamen. Thog hatte die Sachen von Lymias schon auf das andere Pferd umgepackt, so brauchte der junge Mann nur noch aufzusteigen und seine Reise fortzusetzen. Doch anstatt dies zu tun, stand er verlegen vor seinem väterlichen Freund und fand keine passenden Worte zum Abschied.
„Gib den Jungen erstmal mir, dann kannst du gemütlich aufsteigen. Ich werde ihn dir hoch reichen, so brauchst du Kay bloß noch vor dir zurechtrücken“, meinte Thog und streckte seine Arme nach Kay aus.
Einer Eingebung folgend, legte Lymias den Jungen ab und umarmte den Sprecher des Dorfes kräftig. Dieser erwiderte die Umarmung genauso heftig, nur etwas überrascht und erleichtert - war ihm doch der junge Mann in so kurzer Zeit sehr ans Herz gewachsen. Dann stieg der Heiler endlich auf und zog Kay vor sich auf das Pferd. Der Junge brummte zwar ein wenig, doch blieb weiter bewusstlos.
„Ich wünsche dir viel Glück, mein Junge, und den Segen der Götter. Auf dass deine Reise nicht all zu steinig werde“, sagte der Dorfälteste feierlich und reichte ihm zum Abschied ein letztes Mal seine Hand.
„Und ich wünsche dir ein gesundes neues Kind und weiterhin friedfertige Tage, mein Freund. Danke, für alles. Ich werde dir das nie vergessen“, sprach Lymias, ergriff freudig die Hand und drückte kräftig zu.
„Das will ich auch gehofft haben! Nicht dass ich nach der nächsten Weggabelung schon in Vergessenheit gerate“, lachte Thog, trat zurück und gab dem Pferd einen Klaps, das sich darauf hin langsam in Bewegung setzte.
„Das wird nie passieren, das verspreche ich dir!“ rief der junge Mann und blickte ein letztes Mal zu dem Dorf und seinem Oberhaupt, dann schnalzte er kurz mit der Zunge und sein Pferd begann leicht zu traben.
***
Kay fröstelte. Vereinzelte Regentropfen, die sich in sein Gesicht verirrten, ließen ihn langsam wieder zu sich kommen. Stöhnend fuhr er mit einer Hand über seine Stirn und strich sich seine Haare aus den Augen, dann öffnete er diese.
‚Wo bin ich?’
Langsam richtete er sich bis zur Hälfte auf und blickte sich um. Er lag auf einen sanften, mit dunkelgrünem Gras bewachsenen Hügel. Es schien zwar Tag zu sein, aber der Himmel war mit fast schwarzen, dichten Wolken überzogen, aus denen es vereinzelt tropfte. Ein starker, kalter Wind zerzauste Kays Haare und ließ ihn erneut frösteln.
Der Junge stand auf und schaute sich um. Niemand war weit und breit zu sehen, nur weitere kleinere Hügel, welche mit einem genauso dunklem, grünen Gras bewachsen waren, wie der, auf dem er gerade stand. Ein Blitz durchbrach die seltsame Finsternis und ließ den Burschen zusammenzucken.
Auf einmal spürte Kay ein leichtes Kribbeln in seinem Nacken, als wenn ihn jemand beobachten würde. Mit einem Ruck drehte sich der Junge um und sah in einiger Entfernung den Heiler mitten auf der Wiese stehen. Der Wind spielte mit seinen langen dunklen Haaren und zerrte an seinen Kleidern.
‚Wie kann nur jemand in dieser unbehaglichen Düsternis so schön aussehen?’
Kays Herz fing wild an zu pochen. Langsam ging der Fremde auf den Burschen zu.
‚Wie elegant er sich bewegt. Mir scheint fast so, als ob er das Gras unter seinen Füßen gar nicht berührt, sondern nur darüber hinweg schwebt.’
Der Schönling war nur noch wenige Schritte von dem Jungen entfernt, als erneut ein greller Blitz den bewölkten Himmel durchbrach. Kays Atem stockte. Die Welt schien für Sekunden still zu stehen. Im Licht des Blitzes hatte sich die Gestalt des Heilers verändert. Nun stand nicht mehr der Mann vor dem Jungen, sondern ein Bursche mit kurzem silbernen Haar. Seine Haut schien genauso silbrig zu schimmern wie die eng anliegende Kleidung, die das Geschöpf trug. Doch was Kay am meisten ängstigte, waren die Augen des Jungen, die ihn böse, silbern anfunkelten.
Ein lauter Donner zerbrach die Starre des Jungen und ließ den Wind wieder frei über die Hügel wüten. Immer mehr Regentropfen prasselten in Kays Gesicht und durchnässten seine spärliche Bekleidung. Der Fremde kam immer weiter auf den Jungen zu, nur war es wieder die Gestalt des Heilers und nicht mehr die des Silberschopfes, obwohl die Augen den jungen Burschen genauso Furcht erregend anblinzelten wie bisher.
Kay lief ein paar Schritte rückwärts, wollte sich herum drehen und weg laufen, aber er stolperte über seine eigenen Füße und fiel mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Rücken. Dabei schlug er so heftig mit dem Kopf auf dem Boden auf, dass er fast die Besinnung verlor. Mit schnellen Schritten war der Schönling bei dem Jungen und grinste überheblich, amüsiert auf ihn hinab.
Wieder erhellte ein greller Blitz die Dunkelheit, augenblicklich gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donner. In dem kurzen Moment, wo das helle Licht auf den Heiler fiel, verwandelte sich sein Antlitz erneut in das des Silberschopfes, nur um Sekunden später mit dem Licht wieder zu verschwinden.
Kay versuchte nach hinten zu kriechen, wagte es aber nicht aufzustehen und dem Geschöpf seinen Rücken zuzuwenden.
„Du kannst mir nicht entkommen, das sagte ich dir schon einmal. Diesmal wird mich nichts mehr davon abbringen“, säuselte der Fremde wieder bittersüß.
Dann stürzte er sich auf den Jungen und setzte sich auf seinen Brustkorb. Die Arme von Kay hielt der Silberschopf mit einer Hand über seinem Kopf auf dem Boden fest, mit seinen Beinen kontrollierte er die des Jungen. Verängstigt sah der Bursche zu dem vermutlich Gleichaltrigen auf. Er konnte kaum fassen, dass dieses Geschöpf ihn so leicht überrumpeln konnte, da der Andere von gleicher Statur wie er selbst zu sein schien.
„Hm, wärst du nicht so schmächtig, wäre es fast eine Schande dich zu töten“, meinte der Silberschopf in Gestalt des Heilers nachdenklich und streichelte sanft über Kays Wange.
Trotzig versuchte der Junge seinen Kopf zu schütteln und damit die Hand des Geschöpfes beiseite zu fegen. Verwirrt hielt der silberne Junge inne, dann nahm sein Gesicht einen entschlossenen Ausdruck an.
„Stirb endlich du Bastard!“ sagte der Silberschopf bissig, hob seine rechte Hand und formte diese wieder zu einer Klaue.
Kays Herz begann zu rasen. Er versuchte sich zu befreien, aber der silberne Junge hielt ihn eisern fest. Immer näher kam die schreckliche Klaue seinem Gesicht. Tränen stiegen dem Burschen in die Augen. Dann begann er aus voller Lunge und ganzem Herzen zu schreien.
„Aaaaahhhhhh…!“ Schreiend richtete Kay sich auf.
Verwirrt und mit klopfendem Herzen blickte der Junge sich hektisch um. Er lag auf einem mit Blättern und einer Decke hergerichteten Lager am Rande einer geschützten Lichtung. Ein paar Meter weiter brannte ein schwaches Feuer, über welchem ein kleiner Kessel köchelte und aus dem es verlockend duftete. Der Abend schien gerade angebrochen zu sein.
Auf einmal begannen sich Kays Nackenhaare zu sträuben. Er spürte, dass sich ihm jemand näherte. Das Knacken eines Astes bestätigte seine Vermutung. Mit einem Ruck drehte sich der Junge um und sah in die grünen Augen des Heilers, die zu schmalen, böse wirkenden Schlitzen zusammengekniffen waren. Wind kam auf und verfing sich in den pechschwarzen Haaren des Schönlings und zerrte an seiner dunkelgrünen Robe.
In dem Bruchteil einer Sekunde durchlebte Kay wieder seinen Traum. ‚War es denn wirklich „nur“ ein Traum?’ Er bekam Angst, so schreckliche Angst, dass er das Zittern am ganzen Körper nicht mehr unterdrücken konnte. Er wollte nur noch weg, wollte fliehen von diesem Monster.
„Aaaaaahhhhhh…“, kreischend versuchte der Junge aufzustehen, um weg zu laufen, aber der Heiler war schneller.
Mit einer geschmeidigen Bewegung, die Kay kaum mit den Augen verfolgen konnte, war der junge Mann bei ihm, warf den Burschen zu Boden und setzte sich über ihn. Mit der rechten Hand drückte er beide Arme des Jungen über seinem Kopf auf die Erde, mit der Linken hielt er ihm den Mund zu. Kay versuchte sich mit all seiner Kraft zu wehren, aber wie in seinem Traum war sein Gegner stärker.
„Be… beruhige dich endlich!“ stöhnte sein Angreifer genervt, „Mit deinem Geschrei machst du ja die ganze Ebene auf uns aufmerksam! Ich tu dir nichts, verdammt noch mal.“
Verwirrt hörte Kay auf zu zappeln und starrte mit klopfendem Herzen in das wunderschöne Gesicht des Heilers, welches nur wenige Millimeter von dem seinen entfernt war. Dem Jungen wurde es heiß. Sanft spürte er die weichen Haare des Schönlings, die sein Gesicht kitzelten, spürte die körperliche Wärme, die von diesem Geschöpf ausging.
„Kann ich dich loslassen, ohne dass du wieder anfängst, wie ein Mädchen zu schreien oder um dich zu schlagen?“ fragte der Heiler etwas wütend und starrte weiter in die aufgerissenen Augen des Jünglings.
Dieser nickte kurz, soweit es unter dem festen Griff des Mannes möglich war und richtete sich stöhnend halb auf, als er frei gelassen wurde. Der Heiler ging indes zu dem Feuer, nahm eine Schüssel und schöpfte etwas aus dem Kessel dort hinein. Dann lief er wieder zurück zu dem Jungen und reichte ihm das dampfende Gefäß. Dieser hatte sich an einem Baum gelehnt und blickte ihn mit offenem Mund an.
„Nimm schon, du musst wieder zu Kräften kommen. Außerdem bist du für dein Alter viel zu mager“, meinte der Schönling grummelnd, als Kay keine Anstalten machte, die Schüssel anzunehmen.
Missmutig riss der Junge dem Heiler das Gefäß aus den Händen und begann langsam zu essen. ‚Kochen kann er’, dachte der Bursche und fing an, den Rest zu verschlingen.
„Nicht so hastig, Kleiner. Ich nehme dir bestimmt nichts weg. Aber du hast seit gut zwei Tagen nichts Festes mehr zu dir genommen. Du solltest es deswegen ruhiger angehen, deinem Magen zuliebe“, sagte der Schönling mahnend und blickte den Jungen mit gerunzelter Stirn an.
Auf einmal brach die Erinnerung an die Geschehnisse der letzten Zeit über Kay herein. Der Streit mit Gerald, die Feier auf dem Marktplatz, seine Entscheidung, mit dem Heiler zu reisen, sein Traum, seine Begegnung mit seinem Tyrannen und wie diese ausging. Zitternd setzte er die Schüssel neben sich ab, schob sein Hemd nach oben und strich mit seiner Hand ungläubig über seinen Bauch.
„Thog und ich haben dich noch rechtzeitig gefunden. Einen Augenblick später und wir hätten dir nicht mehr helfen können“, meinte der junge Mann ruhig und beobachtete genau sein Gegenüber.
Dieser strich sich immer wieder über seinen halb entblößten Bauch, was Lymias mehr und mehr verwirrte. ‚Der Junge ist dein Schützling und nicht dein neuer Liebhaber!’ schalt sich der Heiler, schüttelte kurz seinen Kopf und versuchte sich wieder auf die Reaktion des Junges zu konzentrieren.
„Frag erst gar nicht. Ich erklär dir alles später. Jetzt iss erstmal deine Suppe weiter auf. Du brauchst neue Kraft“, antwortete der Schönling auf den fragenden Blick von Kay.
Der Bursche schien zu überlegen, atmete dann tief durch und nahm wieder die Schale in die Hand. Erst jetzt merkte der Junge, wie müde er wirklich war. Sein ganzer Körper schien zu schmerzen, besonders seine linke Schulter. Träge löffelte Kay seine Fleischbrühe in sich hinein und starrte auf den Boden. Er war seinem Pflegevater wirklich entkommen. Endlich, endlich hatte er es geschafft, sich von ihm los zu sagen und wegzugehen – weit weg, wo dieser Tyrann ihn nie wieder finden würde.
„Hey, du sollst nicht träumen, sondern was essen“, schob sich die genervte Stimme des Heilers wieder in seinen Kopf.
Der Junge nickte nur abwesend, lehnte sich ganz an den Baum hinter sich und blickte apathisch in die Luft. Er war zu verwirrt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Zu viele Dinge schwirrten auf einmal in seinem Kopf herum, ohne dass Kay fähig gewesen wäre, einen einzelnen Gedanken zu fassen. Langsam schlossen sich seine Augen. Er merkte noch, wie die Schüssel aus seinen kraftlosen Händen genommen wurde und er sanft zu Boden glitt. Dann übermannte ihn tiefe Dunkelheit, welche sich endlich als erholsamer Schlaf entpuppte.
Lymias beobachtete den Jungen eine Weile aus den Augenwinkeln. ‚Der Kleine scheint ganz schön durcheinander zu sein, so verträumt wie er in die Gegend starrt mit seinen großen grünblauen Augen.’ Der Heiler biss sich auf die Unterlippe und blickte verkniffen auf seine Fleischbrühe hinab.
‚Was ist das nur für ein Gefühl, das dieser Junge in so kurzer Zeit in mir hervor ruft? Chris, mein Prinz, hab ich dich etwa schon jetzt vergessen oder einen Ersatz für dich gefunden? Nein! Ich werde dich nie vergessen, niemals! Einen Anderen wie dich gibt es nicht, Liebster. Kein Mensch auf der Welt kann deinen Platz in meinem Herzen einnehmen. Nein, dieses Fleckchen in meinem Inneren gehört allein dir, für immer. Den Jungen werd ich so schnell als möglich zu Meister Stephan bringen. Dort wird er ein neues Heim finden und eine gute Ausbildung genießen. Dort ist er sicher, viel sicherer als an meiner Seite.’
Langsam hob er wieder seinen Kopf und wandte sich zu Kay, nur um mit anzusehen, wie dieser seine Augen schloss und zur Seite zu kippen drohte. Mit einem Satz war Lymias bei dem Jungen und hielt ihn mit der rechten Hand sanft an der Schulter fest, sorgsam darauf bedacht, Kays Wunde nicht zu berühren. Mit der Linken fing der Heiler in letzter Sekunde die Schale mit der noch warmen Fleischbrühe auf, bevor sich ihr Inhalt über den Schoß des Jungen ergießen konnte. Schnell stellte Lymias die kleine Schüssel beiseite und ließ Kay sachte zu Boden auf sein Nachtlager gleiten. Behutsam deckte er den Jungen zu, nicht ohne vorher noch einmal fürsorglich über seine Stirn zu streicheln.
‚Hm, er hat immer noch leichtes Fieber. Wenn sich das in den nächsten Stunden nicht legt, weiß auch ich nicht mehr weiter.’
Grübelnd suchte Lymias das Geschirr zusammen, wusch es in dem nahe gelegenen, schmalen Bach und packte es wieder zu seinen restlichen Sachen. Dann schlang er sich seinen Mantel um die Schulter und setzte sich nahe des kleinen Feuers, gegenüber von Kay auf den Boden. Im Tal war es zwar immer noch sehr warm, aber in diesem Wäldchen, wo der Heiler mit dem Jungen rastete, wehte abends hier und da doch schon ein kühles Lüftchen. Nachdenklich schloss Lymias die Augen und lauschte auf seine Umgebung. In dieser Ebene, wo weite Wiesengebiete und dichte Waldflächen stetig aufeinander folgten, gab es genug Gesindel, welches sich die langen Schatten der Bäume zu nutze machte. Amüsiert dachte der Heiler an die beiden Diebe, die vergeblich versucht hatten, ihn auszurauben, kurz bevor er den dunklen Wald von Wydahlija verlassen hatte.
‚So ein kleines Geplänkel käme mir jetzt gerade recht. Ich sollte wieder anfangen jeden Morgen meine Übungen zu verrichten, bevor ich noch zu rosten beginne. Nur muss der Junge erstmal wieder auf die Beine kommen, damit er auf sich selbst aufpassen kann, wenn ich ihn mal allein lasse.’
Mit diesen Gedanken schlief Lymias im Sitzen ein. Kurz nach Sonnenaufgang weckte ihn das fröhliche Gezwitscher der Vögel. Langsam setzte sich der Heiler auf und rieb sich verschlafen die Augen. Für einen kurzen Augenblick sah er wieder diese silbernen Augen, die ihn lüstern anblitzten. ‚Wieder dieser Traum. Nun schon zum dritten Mal. Wer ist nur dieser silberne Schönling, der mich Nacht für Nacht heimsucht? Zeig dich mir endlich!’
Verträumt strich sich Lymias seine schwarzen Haare aus dem Gesicht. Doch hielt er mitten in der Bewegung inne und starrte auf das Bündel, welches knapp fünf Meter vor ihm lag. Dies fing plötzlich an, sich zu rühren und gab gedämpfte Laute von sich.
‚Es war also nicht alles nur ein Traum.’
Verwirrt stand Lymias ganz auf, ging langsam zu Kay hinüber und strich mit seiner Hand über dessen Stirn. ‚Mist, das Fieber ist wieder gestiegen, dabei habe ich ihn doch mit allen mir bekannten Kräutern versorgt’, dachte der Heiler ärgerlich, schälte den Jungen aus der Decke und dessen Hemd, um die Wunde an seiner Schulter untersuchen zu können. Betrübt sah Lymias, dass sie sich kaum geschlossen hatte. Im Gegenteil, ihm schien es fast so, als ob sich die drei wulstigen Narben an Kays linker Schulter immer mehr entzündeten.
‚Die Geisteskraft des Magiers, der dem Kleinen diese Wunde zugefügt hat, ist viel stärker, als die seine. Wenn ich den Jungen nicht irgendwie unterstütze, wird er an der Macht des Zaubers zerbrechen.’
Sanft legte der Heiler seine Hand auf Kays Schulter. Erschrocken hielt Lymias inne, als der Junge zu stöhnen begann und sich sein Gesicht vor Schmerz verzehrte. Dann schloss der Heiler die Augen und fing an, sich zu konzentrieren. Warm pulsierte die Magie durch seine Adern und breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Nach und nach übertrug Lymias seine Kraft auf Kay. Er wusste, wenn er wieder versuchte die Narben direkt zu heilen, dass der Abwehrzauber des anderen Magiers ihn daran hindern würde. Somit blieb dem Heiler nur übrig, den Geist des Jungen soweit zu unterstützen, dass dieser den Zauber aus eigener Kraft brechen konnte.
Eine ganze Weile blieb Lymias so sitzen, bis er merkte, dass Kay wieder ruhiger zu atmen begann. Dann legte er einen neuen Verband um dessen Schulter und zog dem Jungen sein Hemd wieder über. Der Heiler war zwar etwas geschwächt, aber er wollte auch so schnell als möglich weiter reisen. Er lud die Decken mit dem Rest auf das zweite Pferd, hob dann Kay auf seinen vierbeinigen Freund und schwang sich hinter ihm in den Sattel.
So vergingen zwei weitere lange Tage, die immer gleich verliefen. Sobald Lymias wieder zu Kräften kam, übertrug er einen Teil seiner Energie auf Kay. Ab und an machte der Heiler kurz Rast, um entweder selbst etwas zu essen oder dem Jungen eine kräftige Brühe einzuflößen. Es passierte nicht selten, dass er dabei kurz einnickte, nur um Sekunden später aufzuschrecken und sich ängstlich um zu schauen. Die Gegend, in der sie sich gerade befanden, war alles andere als friedlich. Lymias wollte das Leben des Jungens nicht unnötig in Gefahr bringen, nur weil er unachtsam war.
Um schneller voran zu kommen, vollzog der Heiler die Übertragung seiner Kraft auf Kay zu Pferd. Er brauchte den Jungen nur etwas näher an sich heran zu rücken und eine Hand unter sein Hemd zu schieben, da er für den Zauber direkten, körperlichen Kontakt brauchte. So geschah es auch, dass am fünften Tag nach ihrem Aufbruch aus dem Dorf, Kay wieder zu sich kam, in den Armen von Lymias.
„Hm, wird ja endlich Zeit. Du hast wirklich lange gebraucht, Kleiner“, sagte der Heiler schwach und lenkte sein Pferd nach links auf einen schmalen Pfad, der mitten in das dichte Unterholz des kleinen Waldes führte.
„Wo… wo bin ich?“
Kurz zuckte Lymias zusammen. ‚Das ist das erste Mal, dass er etwas von sich gibt, seitdem wir aufgebrochen sind. Seine Stimme klingt ganz anders, als beim letzten Mal, als er trotzig seinem Tyrannen gegenüber stand’, sann der Heiler, nur um sich einen Augenblick später selber zu schelten. ‚Natürlich ist es das erste Mal, dass der Junge was sagt, schließlich war er fast die ganze Zeit ohne Bewusstsein und seine Stimme klingt nur anders, weil er noch schwach vom Fieber ist.’
Über sich selbst ärgernd rückte Lymias ein Stück weiter fort von Kay, soweit es im Sattel überhaupt möglich war und schüttelte resigniert seinen Kopf.
„Wir sind über fünf Tagesmärsche zu Pferd von deinem Dorf entfernt. Mein Ziel ist das Gebirge von Cidar. Bis dahin ist es aber noch eine lange Reise. Für heute ist hier erstmal unser Weg zu Ende. Da es dir besser zu gehen scheint und dein Fieber endlich gesunken ist, können wir es uns leisten, schon hier unser Nachtlager aufzuschlagen.“
Mit diesen Worten tauchte vor den beiden Wanderern eine kleine Holzhütte auf, an dessen Seite ein schmaler Unterstand für die Pferde angebracht war. Vor dieser stieg der Heiler ab und blickte zu Kay empor.
„Komm, steig endlich ab. Wenn du fällst, fang ich dich schon auf. Ich werde dir drinnen genau erzählen, was alles vorgefallen ist. Also los jetzt!“ meinte Lymias ungeduldig und sah, wie sich das Gesicht des Jungen zu einer trotzigen Mine verzerrte.
Dann stieg Kay ab. Zwar war er etwas unbeholfen, aber als der Heiler ihm zu Hilfe kommen wollte, als er stolperte, schlug der Junge den stützenden Arm von Lymias beiseite. ‚Na Stolz hat der Kleine ja’, dachte der Heiler und konnte sich gerade noch ein Grinsen verkneifen.
„Geh schon mal rein. Ich werde nur noch die unsere Sachen abladen und die Pferde versorgen, dann komm ich nach“, sagte Lymias auffordernd und schnallte die Decken mit den restlichen Sachen von dem zweiten Vierbeiner.
Wortlos ergriff Kay einen schweren Sack und schleppte ihn in die Hütte. Mit gerunzelter Stirn beobachtete der Heiler das Geschehen und folgte dann dem Jungen hinein.
„Hey, ich sagte doch, du sollst schon mal in die Hütte gehen, nicht dich von einem Sack zerquetschen lassen. Den Rest hol ich herein und du wartest hier, O.K.! Noch bist du nicht ganz bei Kräften. Du solltest dich etwas schonen. Mir reicht es schon, wenn du dich morgen ohne Hilfe im Sattel halten und allein reiten kannst“, meinte Lymias mit mahnender Stimme.
„Das sagst du doch nur, weil du mich nicht mehr in deiner Nähe haben willst.“
Sekunden lang starrte der Heiler Kay an.
„Was… redest du denn da?“ fragte Lymias verwirrt und sprang zu dem Jungen, als dieser zu schwanken begann und auf die Knie fiel.
„Ich sagte doch, du sollst dich nicht überanstrengen. Komm, dort drüben ist ein Bett. Leg dich erstmal hin und red nicht weiter so einen Unsinn.“
„Was… ist… passiert?“ presste Kay schwach hinaus und blickte den Heiler irritiert an.
‚Wie kann man nur solch leuchtende Augen haben, die dermaßen strahlen?’ dachte Lymias verträumt und versank fast in deren Schein.
„Nichts. Es ist nichts geschehen.“ Mit einem Ruck hatte der Heiler den Jungen auf seinen Armen und trug ihn zum Bett hinüber.
„Ruh dich aus. Wir reden später über alles“, sagte Lymias sanft, strich mit seiner Hand über das Gesicht von Kay und sprach einen kleinen Zauber aus, der den Jungen sofort einschlafen ließ.
Dann ging er wieder zu den Pferden hinaus, sattelte diese ab und führte sie zu dem Unterstand neben der Hütte. Danach trug der Heiler die restlichen Sachen hinein und bereitete sich ein Lager auf dem Boden neben Kays Bett. Er selbst war zu erschöpft, um auch nur an etwas anderes als an Schlaf denken zu können. Und doch schwirrten ihm noch eine ganze Zeit lang Kays Wort im Kopf herum. ‚Was hat der Kleine nur damit gemeint?’ Dann schlief auch er endlich ein.
Am nächsten Morgen wachte Kay gut zwei Stunden nach Sonnenaufgang auf. Stöhnend wälzte er sich in seinem Bett herum und zog sich die Decke über den Kopf, um den hellen Schein der Sonne zu entfliehen. ‚Bett…? Decke…? Aber auf dem Heuboden gibt es doch gar kein Bett und Kissen und…’ Erschrocken riss der Junge seine Augen auf und setzte sich halb auf. ‚Wo bin ich?’ Gequält schlang Kay seine Arme um seinen Körper, da dieser bei jeder Bewegung schmerzte. ‚Was ist nur passiert?’ Kraftlos ließ er sich wieder auf das Kopfkissen nieder, drehte sich auf die rechte Seite und zog seine Beine an die Brust, wie ein kleines Kind darauf hoffend, dass der Schmerz in seinem Inneren endlich nachließe.
Dann sah er ihn auf dem Boden liegen. ‚Er ist noch da.’ Versonnen streckte der Junge seine Hand nach dem Heiler aus und strich ihm einige Strähnen seines schwarzen Haars aus dem blassen Gesicht. Als Kay die Haut von Lymias berührte, schossen mit einem Mal die Erinnerungen wieder durch seinen Kopf. Wie er den Schönling zum ersten Mal gesehen hatte, wie er versucht hatte, sich zu vergewissern, ob der Heiler nun der Fremde aus dem Wald war oder nicht, wie er seinem Pflegevater die Stirn geboten hatte, wie er durch einen Alptraum aufgeschreckt aus dem Haus des Dorfsprechers gerannt war, wie ihm sein Tyrann den Bauch aufgeschlitzt hatte.
‚Wie kann das sein? Ich müsste doch längst tot sein oder wenigstens verletzt. Vielleicht war es auch nur ein Traum, so wie die anderen beiden mit diesem Silberschopf?’ Er taste mit seiner Hand hoch zur linken Schulter und erstarrte, als der Schmerz dort explodierte, wo er sie berührte. ‚Was ist Traum, was Wirklichkeit? Verliere ich meinen Verstand?’ Tränen flossen dem Jungen über die Wangen. Er rollte sich noch mehr zusammen, klammerte sich an seiner Decke fest und fing an zu wimmern, bis eine warme Hand über seine Stirn streichelte. Verwirrt sah Kay auf und blickte in sattes, tiefes Grün.
„Hey mein Kleiner, ist ja gut. Ich bin bei dir. Glaub mir, du bist in Sicherheit. Komm, ich nehme dir deinen Schmerz und schenke dir etwas Kraft“, sagte Lymias sanft, setzte sich auf den Rand des Bettes, legte seinen Arm um Kays Schulter und zog den Jungen liebevoll zu sich heran, so dass dessen Kopf auf der Brust des Heilers lag.
Mit der freien Hand kroch Lymias unter das Hemd des Burschens und legte sie auf seinen Bauch, dann ließ er seine Magie fließen. Kay beruhigte sich sofort, umklammerte aber nun die Hüfte des Heilers und dessen Hand, die in der Höhe seines Magens lag.
„Na, geht es dir wieder besser, mein Kleiner?“ fragte Lymias leise, als er mit dem Zauber fertig war und stupste mit seiner Nasenspitze an die Stirn des Jungen.
„Ja, ich glaube schon. Danke“, antwortete Kay verlegen.
„Das ist gut. Dann kann ich dich also beruhigt eine kurze Zeit allein lassen, ohne dass du mir wieder in die Welt der Träume und des Fiebers entschwindest?“ fragte der Heiler weiter und merkte amüsiert, dass der Bursche anfing, sich noch mehr an ihn zu klammern.
„Keine Sorge, ich bin doch gleich wieder da. Ich möchte nur unsere Vorräte etwas aufstocken und uns etwas zu essen holen. Frisches Wasser für dich wäre auch nicht schlecht, da deine Wunde neu verbunden werden muss.“
„Wer war das…?“ kam es schwach von Kay.
„Ich erzähl dir alles, wenn du wieder bei Kräften bist, versprochen, mein Kleiner. Und nun leg dich wieder hin und ruh dich noch etwas aus“, sagte Lymias sanft bestimmend und ließ den Jungen behutsam auf das Kissen sinken.
„Hab keine Angst, ich bin gleich wieder da.“ Mit diesen Worten beugte sich der Heiler zu dem Jungen hinab und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann stand er auf, richtete seine Kleidung, suchte seine Ausrüstung zusammen und ging aus der Hütte auf die Jagd.
Verträumt wickelte sich Kay wieder in seine Decke ein. ‚Er ist wirklich hier… hier bei mir’, dachte der Junge glücklich. Schwach begann er sich wieder zu erinnern, wie er auf dem Pferd des Heilers zu sich gekommen war.
Er nahm den warmen Atem des Fremden auf seiner linken Wange wahr, seine langen Haare, die ihm im Nacken kitzelten und dessen Hand auf seinem Bauch, die ihn zärtlich streichelte. Je länger die Hand auf seiner Haut war, desto wohler fühlte sich Kay, als würde der Heiler ihm Kraft schenken. An seinem Rücken spürte der Junge den fast schon heißen Körper des Fremden, der sacht an ihn gelehnt war.
‚Wenn das wieder nur ein Traum sein sollte, dann ist dieser einer der schönsten’, sann Kay und lehnte sich seufzend zurück, um noch mehr in den Armen des Heilers versinken zu können. Der Fremde öffnete seine Augen und seine langen Wimpern liebkosten leicht die Haut des Jungen. Dann hob der Schönling seinen Kopf und strich dabei mit seiner Wange über die des Jungen.
Kay genoss jede Berührung. Er wusste selbst nicht wieso, da er sich sonst vor jedem körperlichen Kontakt scheute. Nur war es in diesem Moment vollkommen anders. Vergessen war jeglicher Schmerz, an keinen Alptraum dachte er mehr. Das einzige, was in diesem Augenblick zählte, war die Wärme, die dieser ganz und gar fremde Mann ihm spendete. Doch wurde der Bursche mit nur wenigen Worten wieder in die kalte Wirklichkeit zurückgeholt.
„Hm, wird ja endlich Zeit. Du hast wirklich lange gebraucht, Kleiner“, vernahm der Junge die schwache, fast genervte Stimme des Heilers.
Verwirrt öffnete Kay seine Augen ganz und sah, wie sein Hintermann das Pferd nach links auf einen schmalen Waldweg führte.
„Wo… wo bin ich?“
Kurz merkte der Junge, wie der Fremde zusammenzuckte und dann nach wenigen Sekunden begann, von ihm weg zu rücken. Dem Burschen kam es fast so vor, als ob der Schönling vor ihm fliehen wollte. Betrübt sackte Kay in sich zusammen. Der Heiler fing wieder an, kühl über ihren Aufbruch und die Reise zu reden, aber der Junge hörte kaum hin. Nur mit etwas Willenskraft konnte er die Tränen unterdrücken, die in ihm aufstiegen.
‚Was ist nur mit mir los? Seit wann bin ich so weinerlich? Ich hatte geglaubt, solch dumme Gefühle hinter mir gelassen zu haben. Wieso berühren mich seine Worte nur so? Sie sind so distanziert. Aber eigentlich sollte ich das doch gewohnt sein, oder?’
„Komm, steig endlich ab!“ drang die ungeduldig klingende Stimme des Heilers an sein Ohr. Sie hatten vor einer kleinen Holzhütte halt gemacht und der Fremde war fast fluchtartig aus dem Sattel gesprungen.
‚Was denkt sich dieser Kerl eigentlich?’ Trotzig starrte Kay auf den Schönling hinab, dann schwang auch er sich vom Pferd. Nur war der Bursche noch etwas schwach und stolperte über seine eigenen Beine. Als der Fremde jedoch einen Schritt nach vorn tat um ihn zur Hilfe zu kommen, schlug Kay den stützenden Arm starrsinnig beiseite. Fast glaubte der Junge, dass die Mundwinkel des Heilers belustigt gezuckt hätten.
‚Will der sich über mich lustig machen? Und dann noch diese spottenden Worte’, dachte Kay ärgerlich, als der Schönling meinte, er solle schon in die Hütte gehen. ‚Ich bin doch kein Kleinkind mehr!’ Wütend stapfte der Junge um die Pferde herum, schnappte sich den am schwersten aussehenden Sack und schleppte ihn in die Hütte. Dort ließ er ihn laut zu Boden fallen.
‚Ich zittere ja… meine Arme, meine Beine… wieso zittere ich so? Eigentlich bin ich harte Arbeit doch gewöhnt. Oder ist es der Anblick des Schönlings, der meine Glieder zum Zittern bringt?’
„Du solltest dich noch etwas schonen. Mir reicht es schon, wenn du dich morgen ohne Hilfe im Sattel halten und allein reiten kannst“, hörte er ermahnend den Fremden und merkte, wie dieser dabei in die Holzhütte trat, um ihn herum lief und ihm bei den letzten Worten direkt ins Gesicht schaute.
Wieder versank Kay in diesem satten, dunklen Grün der Augen des Heilers. Dem Jungen wurde es schlagartig heiß und er begann noch mehr zu zittern. Noch einmal stiegen ihm Tränen auf, welche er nur mühsam unterdrücken konnte. ‚Er will also allein reiten. Ich bin ihm anscheinend zuwider. Von wegen ich solle wieder zu Kräften kommen, damit ich mich allein im Sattel halten kann.’
„Das sagst du doch nur, weil du mich nicht mehr in deiner Nähe haben willst.“
Erschrocken über sich selbst hielt Kay inne und starrte den Schönling an. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und seine Beine gaben nach.
„Was… ist… passiert?“ presste er schwach hinaus und blickte den Fremden verwirrt an. Dieser musterte ihn eine Weile lang besorgt und sagte, dass nichts geschehen sei. Dann war der Bursche wieder in den Armen des Heilers. Mit einem Ruck hatte er ihn hoch gehoben und zum Bett rüber getragen.
„Ruh dich aus. Wir reden später über alles“, sagte der Schönling sanft und strich liebevoll über das Gesicht des Jungen. Ein warmer Schauer durchfloss Kay, dann schlief er sofort ein.
Grübelnd lag der Bursche nun im Bett. ‚Wieso war er nur so seltsam abweisend zu mir? Oder besser gesagt, wieso ist er jetzt so nett? Wieso hat er mich mitgenommen? Was hat es mit meinen Träumen auf sich? Er ist also ein Magier, das hat er gerade eben bewiesen. Konnte er deswegen die Krankheit in meinem Dorf heilen? Hat er mich etwa geheilt? Ahh… mein Kopf fängt an zu bersten. So viele Fragen, auf die nur er mir Antwort geben kann. Wieso muss ich ständig an ihn denken? Wie wohl seine Lippen schmecken?’ Mit einem Mal wurde es dem Jungen warm.
„Was mache ich hier nur?“ fragte Kay sich selbst und ärgerte sich über seine eigenen Gedanken.
„Also, so wie das aussieht, wälzt du dich im Bett herum. Wieso bist du so unruhig, Kleiner?“ Erschrocken hielt der Bursche mitten in der Bewegung inne und lief im Gesicht leicht rötlich an.
„Hey, ich hab dich doch wohl nicht erschreckt, oder? Ich hatte doch gesagt, dass es nicht lange dauern wird, Kleiner“, sagte der Heiler amüsiert, kramte in einer Tasche rum und setzte sich dann auf das Bett, in dem Kay lag.
„Lass mal sehen, ob du noch Fieber hast.“ Mit diesen Worten strich der Fremde dem Jungen einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und legte seine Hand auf dessen Stirn. „Nur noch ganz schwach, das ist gut. Komm, zieh dein Hemd aus, damit ich deine Wunde neu verbinden kann.“
Kay wurde es schwindlig. Allein die Berührung des Schönlings, als dessen Fingerspitzen über sein Gesicht glitten, rief ein wahres Durcheinander in seinen Kopf hervor.
„Was ist? Wo bist du nur mit deinen Gedanken? Na komm, ich helf dir. Setz dich nur ein wenig im Bett auf, den Rest erledige ich. Ich werd dir schon nicht wehtun, Kleiner“, meinte der Fremde frech grinsend, beugte sich über Kay und half ihm ein Stück hoch.
‚Wie kann er mich nur so unverschämt anlächeln? Auf der einen Seite ist er sanft zu mir, auf der Anderen verspottet er mich. Wieso?’
„Mein Name ist Kay“, sagte der Junge kleinlaut.
„Gut. Ich bin Lymias. Und nun zieh endlich dein Hemd aus. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich habe sehr großen Hunger und je länger du dich zierst, umso länger muss ich auf mein Essen warten, das ich übrigens noch zubereiten muss“, antwortete der Heiler nur auf Kays Protest, nestelte kurz an dessen Hemd und hatte dies nach wenigen Augenblicken über den Kopf des Jungen gezogen.
Als Lymias den alten Verband abnahm, zuckte der Bursche kurz, kniff seine Augen zusammen und begann unter zusammen gebissenen Zähnen zu stöhnen.
„Hey Kleiner, schmerzt es sehr?“ fragte der Heiler besorgt.
„Mein Name ist Kay!“ antwortete der Junge gepresst und brachte sogar ein leichtes Lächeln zustande.
„Also gut, Kay, ich werde ein paar frische Kräuter in deiner Wunde verteilen müssen. Das könnte kurz unangenehm für dich werden. Die Kräuter haben eine heilende, aber auch leicht betäubende Wirkung. Der Schmerz vergeht nach wenigen Sekunden.“
„Hab ich denn eine andere Wahl?“
„Hm, wenn ich so nachdenke, eigentlich nicht“, meinte Lymias grinsend und schaute den Burschen an. Dieser saß immer noch verkrampft, mit geschlossenen Augen, auf dem Bett und krallte seine Finger in die Decke.
„Hey, Kleiner, versuch dich zu entspannen. Der Schmerz ist nur ganz kurz, die Wirkung der Kräuter setzt fast sofort ein. Wenn es aber zu schlimm für dich wird, sag Bescheid.“
„Mein Name ist Kay! Außerdem bin ich kein Mädchen und schrei auch nicht wie eines!“
„Daran kannst du dich noch erinnern?“ fragte der Heiler verwundert und dachte wieder an das erste Mal, als der Bursche aus seinem Fieber erwacht war.
„Ich bin zwar ein wenig angeschlagen, aber nicht dumm. Im übrigen hab ich da nur geschrien, weil du wie aus dem Nichts hinter mir aufgetaucht bist. Schleichst du dich eigentlich immer an alle ran?“ fragte der Junge vorwurfsvoll.
„Nur wenn jemand die halbe Ebene zusammen brüllt“, antwortete Lymias schlicht und fing an, sich den Burschen mit gerunzelter Stirn genauer zu betrachten. „Wieso hast du vorher so geschrien? Ich dachte schon, dass unser Lager angegriffen wird, aber als ich näher schlich, sah ich nur dich nahe dem Feuer sitzen. Hast du schlecht geträumt?“
Bei den Worten des Fremden fing Kay ängstlich an, sich wieder an die Begegnungen mit dem silbernen Jungen zu erinnern. ‚Oder war es doch der Heiler? Wieso wollte er mich vernichten? Und warum hat er es nicht vollendet? Wenn Lymias mich töten wollte, warum pflegt er mich gerade gesund?’ grübelnd saß der Bursche auf dem Bett und verkrampfte sich von Frage zu Frage mehr, ohne das er fähig war, auch nur eine davon laut an den Fremden zu stellen.
„Kleiner?… Kay?!“
Erschrocken schaute der Junge auf. Wieder sahen sich beide in die Augen und versuchten, in denen des anderen zu lesen. Nach einigen Augenblicken wandte sich Lymias ab, holte die Kräuter, frisches Verbandszeug und eine Schüssel mit klarem Wasser herbei. Mit geübten Handgriffen hatte der Heiler die Kräuter auf Kays Wunde verteilt und den neuen Verband um die Schulter des Jungen angelegt. Zwar stöhnte der Bursche einige Male gequält, dennoch bat er den Schönling nicht, aufzuhören. Als der Fremde mit seinem Werk fertig war, beseitigte er die alten Verbände und schickte sich an, das Essen zuzubereiten. Immer wieder sah der Heiler von seiner Arbeit auf und blickte zu Kay hinüber. Dieser hatte sich leicht aufgesetzt und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Irgendetwas schien ihn sehr zu beschäftigen.
Ein wohlriechender Duft riss den Burschen aus seinen Grübeleien. Er sah, wie Lymias aus dem großen Kessel, welcher links von ihm an der Wand über dem Feuer hing, etwas in kleinere Schalen schöpfte und dann zu ihm herüber kam. Vorsichtig reichte der Schönling dem Jungen die Suppe, stellte seine eigene auf den Boden und lief zurück zu den Satteltaschen. Nach kurzem Suchen fand der Heiler das Gewünschte, ging wieder zu dem Burschen und setzte sich im Schneidersitz vor das Bett. Dann reichte er Kay ein Stück Brot und einen Löffel.
„Lass es dir schmecken, Kleiner.“
„Mein Name ist…“
„Kay. Ich weiß.“
Der Fremde grinste den Jungen frech an, worauf dieser nur mit einem Lächeln antworten konnte, dann fielen beide über ihre Mahlzeiten her. Lymias hatte, nachdem sie das Dorf verlassen hatten, genauso wenig gegessen wie der Bursche. Er war immer auf der Hut gewesen und wollte nicht lange an einem Ort verweilen. Auch mochte er Kay nicht unbeaufsichtigt lassen, wenn er jagen ging. Der Heiler wollte es nicht noch einmal riskieren, dass der Junge aufwachte und er nicht in der Nähe war.
Beide hatten schnell ihre Schüsseln zum zweiten Male geleert und schöpften sich ein drittes Mal nach. Dankend nahm Kay die starke Suppe entgegen. Von Minute zu Minute fühlte er sich kräftiger. Immer wieder schaute der Bursche von seiner Schale auf und musterte sein Gegenüber. Mehr und mehr Fragen kamen ihm in den Sinn, bis sich eine in seinem Kopf festsetzte.
„Sehe ich so seltsam aus, oder wieso starrst du mich die ganze Zeit über an?“ fragte der Fremde ruhig und kratzte mit seinem Löffel die Reste aus seiner Schüssel.
Hastig senkte der Junge seinen Kopf und hoffte, dass der Schönling nicht merkte, wie er rot im Gesicht anlief. Seine leere Schale lag auf seinem Schoß und Kay blickte so intensiv in diese hinein, als wäre das abgeschliffene Holz das Interessanteste, was er je gesehen hatte. Dann nahm der Bursche all seinen Mut zusammen, richtete seine Augen auf die des Heilers und fragte mit fast fester Stimme:
„Du bist doch ein Magier, oder? Anders hätte ich nie den Angriff von Gerald überleben können. Du hast mich gerettet, stimmt’s?“
Unbehaglich versuchte Lymias dem Blick des Jungen stand zu halten.
„Du hast Recht. Ich bin ein Magier. Thog und ich fanden dich neben dem Gasthaus liegend. Ich wollte aufbrechen und dich deswegen wecken, aber du warst nicht in deinem Bett. Darum begannen wir, dich zu suchen.“
„Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet. Noch weiß ich zwar nicht, wie und ob ich diese Schuld jemals bei dir begleichen kann, aber ich werde mein Möglichstes geben“, sagte Kay laut und seine Finger krallten sich bei jedem Wort mehr in den Stoff unter ihm.
„Vergiss das Ganze, Kleiner. Niemand steht bei irgendjemandem in der Schuld. Ich war nur rein zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort.“
„Nein!“ unterbrach Lymias den Burschen, als dieser aufbegehren wollte. „Ich will darüber nichts mehr hören“, sagte der Fremde missgelaunt, stand auf, nahm das Geschirr und wollte dies zur Waschschüssel, an der gegenüberliegenden Wand, bringen. Allerdings ließen die nachfolgenden Worte ihn mitten in der Bewegung erstarren.
„Wenn du Magie anwendest, verändert sich dann dein Äußeres?“
Kay betete inbrünstig zu allen Göttern, die er kannte und dachte mit Schrecken an den Silberschopf. Er wusste, dass es solche Magier gab, auch wie man sie nannte, nur wollte er nicht glauben, dass sich sein Schönling in solch ein Monster verwandelte und des Nachts über ihn herfiel.
Lymias antwortete nicht sofort. Jede Sekunde, die er nichts sagte, machte den Jungen ängstlicher. Aber was sollte der Heiler nun auch sagen? ‚Wenn ich ihm offenbare, dass ich ein Erdkind bin, will er bestimmt wieder zurück in sein Dorf. Aber ich muss ihn doch zu Meister Stephan bringen. Ich kenne keinen, der ihn besser in der Kunst unterweisen könnte.’
‚Ist es wirklich nur das, was dich bedrückt, seine Ausbildung? Oder eher die Angst, ihn nicht mehr an deiner Seite zu wissen?’ meldete sich die lästige Stimme in seinem Kopf. ‚Vielleicht ist es besser so. Ich hab ihn schon viel zu nah an mich ran gelassen, wieso weiß ich selbst nicht. Aber seine Nähe tat so gut, war wie Balsam für meine Seele. Seine Haut so warm, wenn ich sie berührte, seine Augen so leuchtend.’ Lymias schloss gequält seine Augen und versuchte gelassen zu klingen.
„Ja, ein wenig. Wieso fragst du?“
Dann ging er weiter zu der Waschschüssel, reinigte dort das Geschirr und verstaute es anschließend wieder in die Satteltaschen. Verwundert trat der Fremde neben Kays Bett, als er sah, dass dieser verkrampft mit hängendem Kopf da saß. Seine hellbraunen Haare fielen ihm sanft über die Wangen und bedeckten den größten Teil seines Gesichtes. Mit einem Mal sah der Heiler die Tränen des Jungen, die unablässig auf die Decke tropften. Der Schönling biss sich verletzt auf die Unterlippe.
„Ist es denn so schlimm für dich, was ich bin?“ fragte Lymias flüsternd und merkte, wie auch seine Augen sich mit dem salzigen Nass füllten.
Er machte sich auf alles gefasst, Hasstiraden, Vorwürfe und Verwünschungen, auf alles, was er schon in jüngster Kindheit über sich ergehen lassen musste, wenn jemand sein Geheimnis entdeckte. Doch der Bursche beugte sich nur blitzschnell vor und angelte sich den Dolch, den der Heiler in seinem Stiefel verborgen hielt. Der Schönling spannte jeden Muskel seines Körpers an, darauf wartend, dass Kay damit auf ihn los gehen würde. Stattdessen aber drehte dieser das Heft des Dolches so um, dass die scharfe Klinge auf die Brust des Jungen gerichtet war. Dann stach Kay mit voller Kraft zu.
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