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Mieda
Weihnachtschallenge 2013
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Informationen
- Story: Mieda
- Autor: Hyen
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Weihnachten, Challenge
Mieda
Sie flog … und das so schnell wie ihre kleinen dünnen Flügel sie zu tragen vermochten. Ab und an wagte sie einen kurzen Blick in den Himmel, der sich mehr und mehr verdunkelte, als würde es Nacht werden ... mitten am Tag. Selbst die Luft roch unheilschwanger und nicht erfrischend vibrierend, wie sonst vor einem sommerlichen Gewitter.
Erste dicke Regentropfen lösten sich aus grauen Wolken und spornten die kleine Fee nur noch mehr an, sich zu beeilen. Schon erkannte sie den alten Baum in der Ferne, der seine kräftigen Äste erhaben in den Himmel reckte. Ihr Heim, und das vieler anderer ihrer Art. Und wenn sie wollte, dass dies so blieb, musste sie sich sputen.
Mit nassen Flügeln konnte schließlich keine Fee mehr fliegen. Also kniff sie die Augen fest zusammen, aktivierte ihre letzten Kraftreserven und stob davon. Im letzten Augenblick schaffte sie es bis unter das schützende Blätterdach, bevor der schwere Platzregen die Welt in dunkles Nass tauchte.
Die junge Fee war so überrascht, tatsächlich ihr Ziel erreicht zu haben, dass sie nicht auf ihre Umgebung achtete und mit voller Wucht gegen jemand Anderes prallte. Bücher und lose Seiten flogen durch die Luft und während sie noch nach einer passenden Entschuldigung suchte, packten sie kräftige Hände sanft an den Schultern.
„Womit habe ich denn so eine stürmische Begrüßung verdient?“, fragte Jemand amüsiert. Erschrocken blickte die junge Fee auf und schaute in das freundlich lächelnde Gesicht ihres Gegenübers.
„Zalieg“, hauchte sie ungläubig und wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken.
„Hallo Mieda. Wohin so eilig?“
„Ich … ich …“
Die kleine Fee brachte einfach kein Wort zustande, bis ein hell leuchtendes Licht sie von den wunderschönen Augen des jungen Feenmannes ablenkte. Mit geballter Kraft traf sie die Erinnerung. Kopflos, wie es so oft ihre Art war, ließ sie den verdutzt dreinblickenden Zalieg einfach stehen und flog zu der leuchtenden Gestalt, welche erhaben daher schwebte. Sie stellte sich ihr mitten in den Weg und kniete sich kurz vor ihren Fußspitzen ab.
„Frau Königin Mutter, ich bringe schlimme Kunde aus der südlichen Ebene …“
Weiter ließ man sie nicht sprechen. Zwei Leibgardisten zogen Mieda an den Armen ein paar Meter zurück und die Adjutantin der Königin musterte sie ärgerlich.
„Was glaubst du wer du bist, unsere Herrin unaufgefordert ansprechen zu dürfen?!“
„Aber …“, begehrte Mieda auf, wurde allerdings durch eine fahrige Handbewegung rüde unterbrochen.
„Nein! Es gibt gewisse Regeln, an die sich ein Jeder zu halten hat und …“
Ein aufgeregtes, lautes Rufen störte die ältere Fee in ihrer Ausführung und ließ sie sich umschauen.
„Adjutant! Adjutant!“
Schlitternd und stolpernd eilte eine andere Fee herbei und fiel kurz vor ihr auf die Knie. Mit Schlamm besudelt troff sie vor Nässe. Ein Wunder das sie es überhaupt bis zum Baum geschafft hatte.
„Bitte, ehrbare Adjutantin der hohen Herrin. Gewährt mir eine Audienz bei der Königin Mutter. Ich bringe schlimme Kunde aus den westlichen Wäldern!“
Mieda horchte auf. Dort begann es also auch schon? Auch die Königin wunderte sich über die nun zweite, aufgeregte Fee mit unschönen Nachrichten.
„Sprich meine Liebe! Was hast du gesehen?“
Die junge Fee verneigte sich tief, bevor sie anfing zu berichten.
„Die Blätter an den Bäumen, Majestät, sie welken!“
Ein Raunen ging durch die Menge, die sich neugierig um sie versammelt hatte.
„Sicher, dass es nicht nur lose Blätter waren, die im Dreck lagen?“, fragte die Adjutantin skeptisch.
Im Land der Feen gab es keinen Jahreswechsel. Es war immer sonnig und grün. Die junge Fee kramte in ihrem Beutel und als sie ihr Mitbringsel allen präsentierte, hörte man erschrockene Ausrufe und ängstliches Luftholen.
„Mein Kind, wie viele Blätter sind betroffen?“, wollte die Königin wissen, worauf die Angesprochene betrübt dreinblickte.
„Nicht nur mehr die Blätter, Frau Königin Mutter. Ganze Bäume, fast die Hälfte des Waldes.“
Nun war selbst die Adjutantin sprachlos und leicht blass geworden.
„Kiri, rufe bitte den Rat zusammen. Wir werden noch heute planen, was dagegen zu tun möglich ist. Und ihr, meine lieben Kinder. Verzagt nicht! Jeder von euch hat seinen Menschen, jeder bei ihm seine Aufgabe! Helft ihnen im Verborgenen ihre Kreativität zu wecken, gebt ihnen den Mut, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Auf das unsere Welt von Neuem erblüht!“
Alle jubelten bei der Rede der Königin und viele hatten einen entschlossenen Gesichtsausdruck. Mieda behielt dennoch Zweifel.
„Wir sollten zu den Menschen gehen und direkt mit ihnen zusammenarbeiten!“, forderte sie so laut sie konnte, aus Angst, ihr würde wie so oft niemand zuhören. Dieses Mal jedoch hatten alle sie vernommen. Blitzartig war es totenstill geworden und ein jeder starrte Mieda mit offenem Mund an. Nur die Königin lächelte, auch wenn es etwas traurig schien.
„Mein liebes Kind. Die Menschen sind dumm geworden, seit Beginn des Zeitalters der Technologie. Sie glauben an gar nichts mehr, außer an sich selbst. Wenn sie uns sehen, halten sie sich entweder für betrunken oder spießen uns auf, als wären wir eine neuentdeckte Art von Schmetterlingen. Nur Wenige besitzen die wundervolle Gabe, etwas zu erschaffen. Musik, Bilder, Geschichten. Diese Wenigen müssen wir behüten.“
„Aber wir sind Feen der Muse! Wenn keiner mehr an uns glaubt, wenn keiner mehr Lieder schreibt, Bilder malt oder Geschichten erzählt, sterben wir! Wenn wir uns den Menschen zeigen und nicht nur heimlich des Nachts ihnen Sachen ins Ohr flüstern, wenn sie schlafen, dann …“
„Schweig!“ Die Adjutantin der Königin war zurückgekehrt, mit weiteren, älteren Feen, die den hohen Rat bildeten. „Du bist Mieda, richtig?!“, forderte die Größere zu wissen, worauf ein eingeschüchtertes Nicken folgte. „Sag, Mieda, jüngste Fee der Gemeinschaft, hat dich ein Mensch bisher gerufen?“
Die kleine Fee lief vor Scham rot an. Die meisten Feen „erhielten“ ihren Menschen schon im Kindesalter. Nur Mieda war bisher die Ausnahme. Traurig schüttelte sie ihren Kopf.
„Dann sprich nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast!“
Mit diesen Worten von Kiri löste sich die Versammlung auf und ein jeder ging seines Weges, ohne die junge Fee weiter zu beachten. Nur Zalieg sah die vereinzelten Tränen.
„Mieda …“ Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Dennoch tat sie ihm unendlich leid.
„Ich werde es allen beweisen!“, flüsterte die Fee.
Zalieg glaubte sich verhört zu haben.
„Was wirst du?“
Entschlossen drehte sie sich zu der einzigen Person, die sie jemals mehr beachtet hatte.
„Ich gehe zu den Menschen, finde den einen ... MEINEN ... und treibe ihn zu Höchstleistungen an, sodass er mit seiner Energie andere ansteckt und diese wieder andere und wieder andere, bis unser Reich vor kreativer Lebensenergie nur so überquillt!“
Schon wollte sie einfach davonfliegen, doch Zalieg hielt sie am Handgelenk fest.
„Das ist streng verboten, das weißt du doch!“, sagte er mahnend und schürte den Trotz der anderen.
„Wenn du glaubst, du könntest mich umstimmen oder gar aufhalten …“
Zalieg lachte ob der sturen Entschlossenheit.
„Nein nein. Eher würde man einem Erdbeben trotzen. Ich wollte dir nur viel Glück wünschen und das hier geben. Vielleicht hilft es ja.“
Verwundert nahm Mieda das dargebotene Buch entgegen. Die schönsten Märchen der Feenwelt. Ihr Lieblingsbuch in einer so wundervollen Ausgabe, wie sie es noch nie in den Händen gehalten hatte. Ergriffen drückte sie das Buch an ihre Brust und schaute Zalieg dankbar an.
In diesem Moment schwor sie sich feierlich, selbst mit Zalieg auszugehen, falls sie all dies heil überstehen würde. Bevor sie sich es noch anders überlegen konnte, lief sie zu ihm hin, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und flog davon, hinaus in die bittere Welt der Menschen, um ihre eigene zu retten.
Ich gähnte wiederholt und fragte mich nicht das erste Mal, was ich hier eigentlich suchte. Mit Mitte Zwanzig, einem abgeschlossenen Beruf und einem Job, der vielleicht nicht das Megageld brachte, aber doch irgendwie Spaß machte, gehörte ich nicht wirklich in die Uni.
Daran war nur meine kleine Schwester schuld. Genau. Es war immer gut, Dinge auf andere zu schieben. Sie musste ja unbedingt einen Kunstkurs belegen, bei dem sie so viel mit sich rumschleppte, dass ich sie ab und an mit dem Auto abholte oder zur Uni brachte.
Und während ich auf dem Gang auf die kleine Nervensäge wartete, lief ER mir über den Weg. Auf den ersten Blick vielleicht unscheinbar, wie er mit der Nase in einem Buch vertieft fast blind, aber doch zielsicher dahergeschlendert kam. Nur als er grinste und sogar leicht auflachte, weil er wohl gerade etwas Witziges las, da war es um mich geschehen.
Na gut, ich gebe es ja zu. Sein kleiner, süßer Hintern, der geschmeidig in der gut sitzenden Hose hin und her schwenkte, tat sein übriges. Schließlich schaffte ich es nicht mich zurückzuhalten und starrte ihm wild sabbernd hinterher, wie er in einem Zimmer verschwand.
Seine sanfte Stimme, die gedämpft zu mir hinüber schwebte und den Schülern einen guten Abend wünschte, geisterte mir noch immer im Ohr herum.
Leider erwies sich meine Schwester als nicht besonders hilfreich. Sie wusste nur, dass er für jedermann Abendkurse in Literatur gab und kein gängiger Professor der Uni war.
Deswegen langweilte ich mich hier gerade zu Tode. Einfallslos wie ich war, hatte ich mich in den erstbesten, auch für Nichtstudenten möglichen, Literaturkurs eingeschrieben, der abends lief, an den Tagen und um die Zeit, wo ich ihm das erste Mal begegnete. Und alles was ich bisher in Erfahrung brachte war, dass er nur Ab und An an der Uni für einen Freund aushalf.
Statt meine super Sondierungs- und Flirtkünste einbringen zu können, ertrug ich tapfer das Gerede über moderne Literatur und neumodische Künstler durch einen älteren Herren, der kurz vor der Rente stand. Ich war gerade dabei, sinnlose Worte auf ein Blatt Papier zu kritzeln, den Kopf gelangweilt auf meine Hand gestützt, als mit einem lauten Knall ein Buch auf meinem Tisch landete. Erschrocken blickte ich auf und schaute in zwei grau-grüne Augen, die mich verärgert anblitzten. Hammer …
Als wäre ich fünfzehn Jahre und frisch in der Pubertät, starrte ich diesen süßen Typen von neulich Abend mit offenem Mund an und konnte lediglich mit ansehen, wie er sich missbilligend wegdrehte und nach vorne zum Rednerpult ging. Schnell schloss ich meinen Mund aus Angst, wirklich real zu sabbern, denn seine Kehrseite war nahezu perfekt. Breites Kreuz zum anlehnen, passende schmale Taille zum festhalten, nur die Arme und Beine wirkten etwas zu lang geraten.
„So meine Freunde“, holte mich die knarzende Stimme des alten Dozenten aus meinen aufkommenden Fantasien. „Wie schon letztens angesprochen, übernimmt ab heute mein Neffe Noel den Unterricht, da ich dienstlich zwei Wochen unterwegs sein werde. Er steckt im letzten Semester seines Studiums und fängt schon jetzt an, seine Professoren mit Besserwissen zu nerven.“
Die Klasse lachte und er lief etwas rot an, als sein Onkel ihn freundschaftlich auf die Schulter klopfte.
„So, dann bleibt mir nur noch, euch gutes Gelingen zu wünschen, frohe Weihnachten und ein gesundes Neues!“
Mit diesen Worten verabschiedete sich der alte Mann und verließ, unter den fröhlichen Erwiderungen der Schüler, den Raum. Als endlich wieder Ruhe eingekehrt war, begann er zu sprechen und zum ersten Mal seit Beginn des Kurses verlagerte sich meine ganze Aufmerksamkeit nach vorn.
Okay, ich hörte nicht wirklich viel von dem, was er sagte, nahm nur seine Lippen wahr, die sich verführerisch bewegten und seine Finger, die fest aber doch liebevoll ein Buch hielten. Könnte ich bitte mit diesem Buch tauschen?
Nach ein paar Minuten wildem Rumfantasieren, quälte ich mich in das Hier und Jetzt und versuchte aufmerksam zuzuhören. Schließlich brauchte ich für nachher ein passendes Gesprächsthema. Wundersamerweise war es sogar recht interessant, was der Kleine dort so von sich gab.
Er erzählte voller Hingabe von einem Buch beziehungsweise von einer Reihe mit sieben Teilen, welche letztes Jahr im Dezember in Deutschland erschienen sind. Es ging um hochgewachsene Elben, widerliche Orks, haarige Zwerge und nimmersatte Hobbits, was für Dinger das auch immer sein sollten.
Ich nahm das Buch in die Hand, welches vorhin lautstark auf meinem Tisch gelandet war. John Ronald Reuel Tolkien. Der Hobbit. Fantasy. Ein Genre was selten irgendwo Anklang fand. Ich fand es faszinierend, wie alles, was auf dem ersten Blick nicht normal schien.
Die letzte Stunde verging wie im Flug und seit Langem hatte ich mal wieder richtig Lust, ein Buch zu lesen. Wie nicht anders bei einem jungen, gutaussehenden Lehrer zu erwarten, umlagerten ihn nach dem Unterricht die Mädels wie kleine Groupies.
Ich wartete geduldig ab, bis auch die letzte Kichererbse verschwunden war, blieb jedoch weiterhin lässig am Tisch gelehnt stehen und tat so, als ob ich im Buch vertieft war. Erst als Noel an mir vorbeiging, klappte ich es kräftig zu, mit meinem zurechtgelegten Spruch auf den Lippen. Doch er erstickte jedes Wort im Keim.
„Erspar dir das“, wehte es kalt mit einem Hauch Langeweile, an mir vorüber.
Aber so leicht gab ich natürlich nicht auf. Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, lief ich ihm einfach hinterher.
„Warum? Schon vergeben oder hetero?“, konterte ich.
„Ich wüsste nicht was dich das angeht.“
„Also keines von beidem“, schlussfolgerte ich und genoss den roten Hauch, der über Noels Wangen huschte. Mein Radar funktionierte also noch einwandfrei. Bevor dieser süße Typ hinter einer Tür verschwinden konnte, warf ich mich mit der Schulter dagegen, dass diese krachend ins Schloss fiel.
„Was muss ich tun, damit du mit mir ausgehst?“, fragte ich mit größtmöglichem Charme, erntete allerdings nur bösfunkelnde grau-grüne Augen.
„Lies Tolkien, komplett!“
Verwundert hob ich eine Braue.
„Ernsthaft?“
„Wenn du mir bis zum nächsten Kurs drei Fragen beantworten kannst, ziehe ich es eventuell in Erwägung.“
„Falsch. Wenn ich es schaffe, gehst du mit mir noch am selben Abend aus. In das Café da unten an der Ecke.“
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, oder wie war das? Ich grinste Noel spitzbübisch an, was ihn etwas zu irritieren schien. Dann riss er sich wieder zusammen und versuchte genervt auszuschauen.
„Gut von mir aus“, erwiderte er schnippisch, worauf ich mich in Bewegung setzte. Ich rückte so weit zu ihm auf, bis er sprichwörtlich mit dem Rücken an der Wand stand. Unsicherheit und Verärgerung wechselten sich bei seinem Gesicht ab, was ich regelrecht genoss.
„Fein. Dann bis dahin“, hauchte ich direkt vor seiner Nase und noch bevor er reagieren konnte, schnappte ich mir den Schuber, den er die ganze Zeit unter seinem Arm mit sich herumschleppte und ging fröhlich pfeifend davon.
Gut gelaunt kam ich in meiner Wohnung an und störte mich noch nicht einmal daran, dass die Jacke meiner Schwester anstatt am Kleiderhaken auf dem Boden rumlag. Wie konnte ein Mädchen nur so unordentlich sein?
Die eben Benannte kann gerade aus der Küche, blieb nach dem obligatorischen „N’Abend“ allerdings stehen und musterte mich mit gerunzelter Stirn. Ihre Finger umklammerten den künstlichen Zitronentee, den wir beide so sehr liebten, und ich sog tief das süße Aroma ein.
„Er war da“, stellte sie sachlich fest, was ich mit einem breiten Grinsen und einem „Jap“ bestätigte.
„Ihr habt miteinander gesprochen.“
Ich hängte meine Jacke auf und ging in die Küche. Es war Anfang Dezember und draußen entsprechend kalt. Dank dem und meiner kleinen Sis, hatte ich tierische Lust auf einen Tee.
„Jup“, sagte ich verspätet.
„Menno Leon, jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!“
Gemütlich schaltete ich den Wasserkocher ein und bereitete eine Tasse vor, bevor ich mich zu der Jüngeren umdrehte.
„Ich hab‘ ‘nen Date mit Bedingung“, verkündete ich stolz. Das Fragezeichen im Gesicht meiner Schwester war nicht zu übersehen.
„Ich muss nur die Bücher dort lesen und drei Fragen richtig beantworten und schon geht er mit mir nach dem nächsten Kurs aus.“
Mann war ich stolz auf meine Leistung, was das überhebliche Grinsen in meinem Gesicht gut verdeutlichte. Meine Schwester besah sich den Schuber genauer und linste kurz auf die Gesamtzahl der Seiten.
„Puh, dann hast du ja was vor dir.“
Ich winkte lässig ab. „Schaff ich locker“, gab ich großspurig von mir, worauf die Jüngere gluckste.
„Ja klar. Da denkt einer Mal wieder nur mit dem Schwanz, anstatt mit dem Kopf.“
Jetzt war ich es, der sie fragend anschaute.
„Leon! Deine Kurse laufen Dienstag und Donnerstagabend, heute ist Dienstag. Sprich du hast zwei Tage zum Lesen von über 1.000 Seiten, mal davon abgesehen, dass du die Hälfte der Zeit auf Arbeit bist.“
Shit. Mir schlief regelrecht das Gesicht ein, worüber sich Sophia sichtlich amüsierte.
„Und schon ist der ganze Glitzer und Glamour verflogen“, spottete sie gehässig und verschwand mit einem zuckersüßen „Viel Spahaß“ in ihr Zimmer.
Hätte ich unseren Eltern nicht versprochen auf sie aufzupassen, weil diese auf dem Land wohnten, aber ihre Sprösslinge lieber in der Stadt studieren wollten, hätte ich sie knallhart rausgeworfen.
Stunden später schreckte ich aus dem dämlichsten Traum hoch, den ich je hatte. Drei Trolle hatten mich an einem Spieß festgebunden und wollten mich gerade wie ein Kaninchen übers Feuer hängen und braten, als Noel in Strumpfhosen und Lederrüstung dazu kam und mit diesen hässlichen Viechern zu diskutieren begann, ob ich nicht lieber mit Kürbis gekocht oder kandiert mit Erdbeeren garniert besser schmecken würde.
Grummelnd schob ich das Buch beiseite, was mich hämisch auszulachen schien. Schlecht war es ja nicht geschrieben, auch wenn sich Herr Tolkien anfänglich sehr viel Zeit ließ, mit der eigentlichen Handlung zu beginnen. Trotzdem hatte ich die eine oder andere Seite noch vor mir.
Einen kleinen Schlachtplan hatte ich mir auch schon zurechtgelegt, was die nächsten zwei Tage betraf. Da ich bisher nie groß auf Arbeit gefehlt hatte, es sein denn ich war nahe an einer Lungenentzündung, wollte ich kurzfristig Urlaub nehmen. Für einen Chef war meiner ganz okay und wenn ich was von Behördengängen erzählte, samt Schwester und Eltern, ginge das bestimmt mal aus der Reihe klar. So kurz vor den Feiertagen wurde es auf Arbeit eh immer ruhiger.
Tja, die gewonnene Zeit plus Tiefkühlpizza und fünffacher Dosis Zuckerzitronentee würde das Baby schon schaukeln … und zwar direkt in meine Arme. Als ich mich schon wilden Fantasien hingeben wollte, hörte ich ein helles „Klong“ direkt an meinem Fenster.
Für einen Vogel oder Schneeball klang es nicht dumpf genug, eher als hätte man ein Glöckchen in Watte gepackt und gegen die Scheibe geworfen. Neugierig ging ich auf das Fenster zu und spähte auf das Brett davor, wo etwas Kleines zu leuchten schien.
Ein Glühwürmchen? Um diese Jahreszeit? Keine Ahnung warum, aber wie automatisch öffnete ich mein Fenster, griff mit beiden Händen nach dem schimmernden Etwas und legte es vorsichtig auf den Schreibtisch ab. Erst als ich das Fenster geschlossen und meine feuchten Hände an meiner dünnen Schlafhose abgewischt hatte, betrachtete ich das kleine Ding.
Anscheinend träumte ich noch immer. Oder warum saß Tinkerbell vor mir? Gut, diese … Fee? ... hatte feuerrote Haare und ein cooleres Outfit, als wäre sie eine kleine Kampfamazone, aber dennoch … Ich schüttelte grinsend den Kopf und dachte wieder an Noels Vorlesung, wie Bücher und erfundene Geschichten unser Wesen beeinflussen konnten.
Schließlich las ich gerade ein Fantasy Roman und nun saß ein Fabelwesen vor mir. Die übrigens ganz blau um die Lippen ausschaute und heftig zitterte. Super, wo waren nur meine Manieren?! Im festen Glauben daran, dass alles nur ein Traum war, holte ich ein Stofftaschentuch hervor – ein altes Überbleibsel aus meinem Grundwehrdienst – und legte es dem kleinen Wesen über Kopf und Schulter.
Dann ging ich in die Küche und setzte frischen Tee auf. Zum Glück liebte meine Schwester allerhand Schnickschnack und so schnappte ich mir den kleinen Fingerhut, der zur Deko auf der Anrichte rumstand, tunkte ihn in meinen Tee und ging zurück ins Zimmer. Die kleine Fee hatte das Tuch fest um ihren dünnen Körper geschlungen und nahm dankbar den Fingerhut entgegen. Nur ganz langsam kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück und sie hörte auf zu zittern.
„Na, hat dich Peter Pan rausgeworfen, oder warum fliegst du leicht bekleidet bei diesem Wetter durch die Gegend?“, fragte ich neugierig, ohne den Spott ganz aus meiner Stimme vertreiben zu können. Verstimmt verzog die Fee ihr Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen.
„Seh ich etwa aus wie Tinkerbell?! Ich bin nicht blond und zwar in keinster Weise!“ Obwohl es noch schwach rüberkam, hörte man das angekratzte Ego deutlich heraus.
„Wieso? Die Kleine ist doch süß“, bohrte ich weiter und hatte wohl genau den richtigen Nerv getroffen.
„Diese ‚Kleine‘ ist die arroganteste, selbstverliebteste und egoistischste Fee, der ich je begegnet bin. Sie hat doch tatsächlich ihrem Menschen alles über uns erzählt, damit er mit der Geschichte berühmt und ihr Gesicht auf jeder blöden Kindertasse abgebildet wird. Das ist nicht süß, das ist peinlich!“
Ich musste mich arg zusammenreißen, um nicht draufloszulachen, so niedlich und deplatziert sah die wütende Mimik der Fee bei ihr aus.
„Wir sind Musen. Wir flüstern unseren Menschen schöne Sachen ins Ohr, damit sie ihrer Kreativität besser Ausdruck verleihen können und nicht, um unseren eigenen Minderwertigkeitskomplex zu kompensieren.“
„Also nichts mit Feenstaub, schönen Gedanken und fliegen und so? Schade.“ Gespielt enttäuscht verzog ich das Gesicht. Dann fiel mir allerdings wieder was ein. „Du bist also eine echte Muse? Sprich, wenn ich eine Idee habe, hilfst du diese wachsen zu lassen?“
Jetzt nickte die Fee begeistert. „Wir werden von Kreativität regelrecht angezogen, damit aus dem winzigen Samenkorn eine wunderschöne Blume entsteht. Egal ob Musik, Kunst oder eben Geschichten.“
Dabei deutete sie auf die vielen Zettel und Blätter, die verstreut auf meinem Tisch lagen, mit wilden Kritzeleien drauf. Ich schnaubte belustigt.
„Das ist keine Kreativität, das sind Hirngespinste.“
„Der Anfang einer jeden guten Geschichte“, beharrte das kleine Wesen weiter, worauf ich lediglich mit dem Kopf schüttelte.
„Ich glaube, du bist im falschen Zimmer gelandet, Tink.“
„Mein Name ist Mieda und mein Licht hat mich direkt zu dir geführt. Du bist mein Mensch!“
„Und das da ist mein Bett. Gute Nacht kleine Fee!“
Langsam wurde mir dieser Traum zu blöd.
„Du hast Recht. Du schaust arg müde aus. Leg dich nur schlafen und ich fange schon mal an zu flüstern“, meinte das Fabelwesen begeistert und flatterte von einem Blatt zum nächsten, um es zu lesen.
Ich winkte ab und kuschelte mich unter meine fast schon wieder kalte Bettdecke. Morgen gab es viel zu tun und ich wollte mich nicht von einem schrägen Traum irritieren lassen.
Am nächsten Tag in der Früh weckten mich die sanften Töne von Lindsey Stirling and Pentatonie mit dem Imagine Dragons Cover von Radioactive. Schlaftrunken tastete ich nach meinem Handy und klickte fast blind auf Snooze, um noch ein wenig dösen zu können.
Und während ich mich langsam wieder in der realen Welt einfand, sprudelten nur so die Ideen, wie ich am besten den Tag anpacken und nutzen könnte. Noch bevor mein Wecker ein zweites Mal klingelte, hievte ich mich hoch und fuhr mir gähnend durch meine kurzen Haare. Ich hatte lange nicht mehr so viel Tatendrang verspürt, dass meine Fingerspitzen kribbelten.
Beschwingt stand ich auf und ließ den Blick, auf der Suche nach meinem Shirt, durchs Zimmer schweifen, als er am Schreibtisch hängenblieb. War das nicht die mit kitschigen Blumen verzierte Seifenschale meiner Schwester aus dem Bad, bis oben hin mit Watte gefüllt?
Irgendetwas schien sich darin zu bewegen, zumindest tat es das alte Bundeswehrtaschentuch, was ordentlich gefaltet darüber lag. Eine düstere Vorahnung beschlich mich, aber irgendwie wollte ich die noch nicht zulassen. Langsam ging ich näher und zog ganz sacht, Stück um Stück, das Tuch beiseite … und erstarrte.
Vor mir lag die kleine Fee aus meinem Traum und schlummerte gemütlich. Also entweder ich träumte noch oder wurde langsam verrückt. Ersteres konnte ich sofort durch eine kräftige Kneifaktion an der Innenseite meines Oberarmes widerlegen. Das Wesen begann zu grummeln, zog die Beine zur Brust und tastete nach der Decke. Als sie merkte, dass diese fehlte, wurde sie komplett munter und richtete sich gähnend auf.
„Guten Morgen, Mensch“, begrüßte sie mich müde, worauf ich kaum antworten konnte. Sie musterte mich einmal von oben bis unten und sah mir dann wieder direkt in die Augen.
„Du solltest dich im Bad etwas frisch machen.“
Mit einem knappen Fingerzeig deutete sie auf meine Körpermitte und ich merkte, wie ich tatsächlich rot anzulaufen begann. Notiz an mich selbst: weibliche Feen sind genauso dreist wie weibliche Menschen. Dennoch beschloss ich dem Rat zu folgen.
Wenn nach einer kalten Dusche dieses Fabelwesen noch immer durch mein Zimmer flog, würde ich mich der Sache stellen. Eine gute Viertelstunde später saß ich halb fassungslos, halb erstaunt auf meinem Drehstuhl und betrachte die Fee neugierig.
„Du bist also eine Musenfee“, versuchte ich aus meinem geglaubten Traum Resümee zu ziehen.
„Nicht eine, DEINE! Und du bist MEIN Mensch.“
„Also hat jeder Mensch seine eigene Fee?“
„Nein. So viele gibt es nicht von uns. Nur wenn jemand genügend Kreativität in sich trägt, entsteht eine Glaskugel und schwebt aus dem See der Gedanken direkt zu der auserwählten Fee. Einmal angenommen, hält diese Verbindung ein Leben lang. In der Glaskugel sehen wir die Wünsche und kreativen Gedanken des Menschen und können ihm so Mut zuflüstern, dass sie das, was sie wollen, auch schaffen umzusetzen. Oder manchmal ordnen wir im Kopf Dinge, die da durcheinander unkontrolliert durch die Gegend schwirren, damit der Mensch sich besser orientieren kann.“
Wow. Das waren ganz schön viele Informationen auf einmal, die ich kaum schaffte aufzunehmen.
„Wenn du diese Glaskugel hast und dich eigentlich nicht vor mir zeigen dürftest, warum schwebst du dann gerade vor meiner Nase rum?“
Die Kleine guckte zerknirscht und setzte sich hin.
„Unsere Welt stirbt. Die Leute vergraben sich zu sehr in ihrer Arbeit oder fangen mit diesem Internet an. Kaum einer malt noch ein schönes Bild oder schreibt Geschichten. Und je mehr die Kreativität aus den Köpfen der Menschen verschwindet, desto mehr verschwindet meine Welt.“
Fassungslos schüttelte ich mit dem Kopf.
„Und warum kommst du damit ausgerechnet zu mir?“ Sah ich etwa aus wie Supermann, oder was?!
„Weil mein Licht mich zu dir geführt hat. Außerdem kann nur mein erwählter Mensch mich sehen.“
Sie sagte das mit so einer Selbstverständlichkeit, als sei es die normalste Sache der Welt. Mir wurde das alles zu viel.
„Hör mal Tink!“
„Mein Name ist Mieda.“
„Dann eben Mieda! Dein Vorhaben in allen Ehren, aber ich bin für sowas komplett ungeeignet. Außerdem habe ich überhaupt keine Zeit. Ich muss dringend auf Arbeit und meinem Chef kurzfristig zwei Urlaubstage aus dem Kreuz leiern, damit ich genügend Zeit habe, diese tausend Seiten zu lesen, um wiederum an das Date zu kommen, mit der schnuckeligsten Person diesseits der Erde. Ich möchte das nicht für ein Hirngespinst in den Sand setzen, von dem ich nicht mal überzeugt bin, dass es echt ist.“
Die Fee seufzte lediglich auf und flog dann langsam ganz dicht an mich heran. Und ohne Vorwarnung zwickte sie mich in einen Nasenflügel.
„Ich bin real wie du siehst, genau wie der Grund meines Hierseins. Aber ich bin kompromissbereit. Wenn ich dir zu diesem Date verhelfe, hilfst du mir dann meine Welt zu retten?“
Verkniffen sah ich auf das Fabelwesen hinab. Meine Nase tat noch immer mörderisch weh, aber der Ausblick auf einen schönen Abend mit Noel war verführerisch. Na gut, dann wurde ich halt langsam verrückt. Doch solange ich mit meinem süßen Studenten ausgehen konnte, war mir das vorerst recht.
Die darauffolgenden Tage waren mit die intensivsten, die ich je erlebte. Hatte ich vorher eine Idee ganz hinten im Kopf, brauchte die ewig, bis sie wirklich greifbar war und nun baute ich einen Gedanken binnen Sekunden aus.
Ich selbst war überrascht, wie einleuchtend meine Ausreden gegenüber meinem Chef klangen, um Urlaub zu bekommen. Als das erledigt war, hockte ich mich zu Hause hin und begann zu lesen. Und selbst da glaubte ich die Kraft der Fee zu spüren.
Schon immer verlor ich mich gerne in Bücher, bis ich keine Buchstaben mehr vor mir sah, sondern die direkte Handlung. Doch jetzt hatte ich das Gefühl mittendrin zu stehen, von Gandalf geleitet, von Frodo überrascht und von den Elben hingerissen zu werden. Nur eins lenkte mich immer und immer wieder ab, was mir ständige Zwickattacken der Fee einbrachte.
Der Gedanke, dass Aragorn was mit Legolas anfangen könnte, anstatt mit diesem Elbenweib anzubandeln. Oder Faramir, der kleine Bruder von Boromir. Hätte der sich nicht nen Liebhaber aus seinen Gefolgsleuten suchen können? Musste es unbedingt diese Tussie sein, die bis dato auf Aragorn scharf war? Gab es überhaupt irgendwo Geschichten, bei denen das Pairing richtig passte, zumindest meiner Meinung nach?
Es war Donnerstagabend und ich total übermüdet. Ohne Mieda wäre ich auf den letzten Seiten eingeschlafen und hätte den Kurs komplett verpasst. So saß ich also hier und musste ständig darauf achten, dass mein Kopf nicht lautstark auf den Tisch prallte.
Noel schaute nur ein einziges Mal prüfend zu mir hinüber, bevor er mich den Rest der beiden Stunden komplett ignorierte. Ich versuchte die restliche Zeit abzusitzen und kritzelte wie so oft Gedanken auf eine Seite, um nicht wegzunicken, so dass ich das Ende des Kurses gar nicht bemerkte.
Erst als mir jemand das Blatt unter dem Stift wegnahm, schaute ich verwundert auf. Mein süßer Student stand angespannt neben mir und las sich konzentriert diesen Unfug durch. Ich war viel zu müde, um zu protestieren.
„Herr der Ringe scheint dich inspiriert zu haben“, meinte er schlicht und gab mir das Blatt zurück. Schulterzuckend packte ich alles in meine Tasche.
„Das ist nichts besonders. Nur eine dumme Angewohnheit von mir, wenn ich Langeweile habe.“
„Oh, ist mein Unterricht also so schlecht?“
Mit hochgezogener Braue schaute Noel auf mich hinab und erst jetzt rieselte zu mir durch, was ich gerade von mir gegeben hatte. Also versuchte ich die Flucht nach vorn und setzte mein charmantestes Lächeln auf.
„Egal was ich jetzt sage, ich werd mich eh nicht mehr retten können, oder? Dann mach ich mich mal lieber gleich zum finalen Schlag bereit. Los, stell deine Fragen.“
Die Lippen des Studenten zuckten verdächtig im Anflug eines Lächelns. Dann warf er mir meine Jacke zu, die neben mir auf dem Tisch lag.
„Nicht nötig. So bescheiden wie du aussieht, hast du die letzten beiden Nächte durchgelesen und dringend einen Kaffee nötig.“
„Danke“, erwiderte ich kläglich und folgte ihm nach draußen.
Der Abend gestaltete sich angenehmer, als ich glaubte. Wir suchten uns ein wenig abseits einen gemütlichen Tisch und entgegen meiner Planung bestellte er zwei riesige Pott Kaffee. Ich wollte schließlich ihn ausführen und nicht andersherum.
Und nicht nur das lief anders als sonst. Anstatt meine übliche Flirtattacke zu starten, redete ich mit ihm über die Götter und die Welt. Noel schien das ganz angenehm zu sein, denn er entspannte sich immer mehr und kam ein Stück aus sich raus.
Irgendwann hatte er zu viel von meinen roten Augen und der Gähnerei und ließ die Rechnung kommen. Ehrlich gesagt war ich dankbar darüber, denn obwohl ich noch gerne mehr Zeit mit Noel verbringen wollte, war ich einfach viel zu müde.
Wir gingen zusammen ein Stück die Straße entlang zu meinem Auto, als es zu schneien begann. Es sah einfach unglaublich aus, wie die Schneeflocken sich vereinzelt in den dunklen Haaren meines Studenten verfingen und glänzten. Noel bemerkte meinen entrückten Blick und schaute abschätzend zu mir hinüber.
„Schaut irgendwie mystisch aus“, beantwortete ich die ungestellte Frage und deutete auf seinen Kopf.
Er grinste nur und schüttelte diesen. An meinem Auto angekommen, holte ich Mütze und Schal heraus und packte mich warm ein.
„Du fährst jetzt noch selbst nach Hause?“
Der Student musterte mich skeptisch, worauf ich leicht lächelte. Entweder hielt er mich für total verantwortungslos oder machte sich tatsächlich Sorgen, wobei mir letztere Variante natürlich deutlich besser gefiel.
„Schon, aber wohl eher mit Bus und Bahn. Wird zwar ein Stück länger dauern, bis in den Süden der Stadt zu kommen, doch verkehrssicherer ist es heute allemal.“
Mein Gegenüber horchte kurz auf und grinste dann seinerseits.
„Dann fahr ich dich.“
Er schnappte sich einfach meine Autoschlüssel und stieg ein. Ich setzte mich verdutzt auf den Beifahrersitz und beobachtete den Anderen, wie er Sitz und Spiegel einstellte. Also mein Auto war nicht unbedingt das neueste Modell, weswegen es mir nichts ausmachte, wenn jemand anderes am Steuer saß. Doch der plötzliche Enthusiasmus von Noel war trotzdem seltsam.
Die Fahrt verlief ruhig und ohne weitere Probleme. Nach 22 Uhr in der Woche wurde der Verkehr selbst in einer größeren Stadt recht ruhig und somit kamen wir gut durch. Es war so angenehm, Noel an meiner Seite zu wissen, seine kurzen Blicke auf mir zu spüren und dieses vielversprechende, sanfte Lächeln auf seinen Lippen zu sehen, so dass ich gar nicht bemerkte, wie ich einschlief.
Erst das sachte Rütteln an meiner Schulter und die süße Stimme, die meinen Namen rief, weckten mich wieder auf. Schlaftrunken schaute ich mich um. Wie verdammt noch mal hatte er es geschafft, direkt vor meiner Haustür einen Parkplatz zu finden? Normalerweise durfte ich mindestens zwei Blocks weit laufen. Gemeinsam stiegen wir aus und als Noel mir die Schlüssel gab und sich dabei leicht unsere Finger berührten, ging ein Kribbeln durch meinen Magen, bei dem ich schon fast vergessen hatte, wie es ich anfühlte.
„Tschau.“
Lediglich mit diesem simplen Wort wollte sich mein Student von mir verabschieden und absolut alles schrie in mir ihn aufzuhalten. Noch bevor ich überhaupt drüber nachdenken konnte, machte ich einen Schritt nach vorn und packte ihn am Handgelenk. Noel blieb abrupt stehen und schaute mich überrascht an, während ich nur mit offenem Mund dastand und kein Ton rausbrachte. Was war nur mit mir los? Sonst bin ich doch immer der taffe Typ mit dem coolen Spruch auf den Lippen.
„Ehm …“, begann ich zu stottern. „Danke fürs nach Hause fahren und den schönen Abend. Hab ihn mit dir sehr genossen.“
Wow, das kam schnittiger rüber, als ich dachte. Hatten meine Flirtkünste also noch nicht ganz nachgelassen. Der Student verengte kurz die Augen und schien etwas abzuschätzen. Dann schlich sich ein fieses Grinsen auf seine wunderschönen Lippen.
Stück um Stück kam er auf mich zu, als würde er seine Beute umringen, und passend dazu erstarrte ich zur Salzsäule. Ich konnte nicht anders als regungslos auf seinen Mund zu starren, der knapp an meinem vorbeiglitt, bis zu meinem Ohr.
„Ich auch“, hauchte er und sah mich dann nochmal direkt an. „Schönen Abend.“
Noel grinste ein letztes Mal frech und ging dann davon. Lange blickte ich ihm hinterher, bis er hinter einer Hausecke verschwand. Erst dann konnte ich mich wieder bewegen, als sei ein Bann endlich gebrochen. Fuck, der Typ war heißer als erlaubt.
Mit einem dümmlichen Lächeln im Gesicht flog ich regelrecht die Treppen bis zu meiner Wohnung hinauf, direkt in mein Zimmer. Mieda schlief friedlich in ihrer Seifenschale und genau das gleiche hatte ich jetzt auch vor.
Der nächste Morgen begann nach meinem Geschmack viel zu früh. Dennoch spürte ich eine Energie in mir brodeln, die unbedingt freigesetzt werden wollte. Beschwingt ging ich also ins Bad, erledigte dort alles Nötige und goss dann in der Küche frischen, heißen Tee auf. Wieder im Zimmer, reichte ich meiner Fee den Fingerhut, den sie freudig entgegennahm.
„Wie wollen wir beginnen? Mit einer holden Maid, die von einem Monster entführt wird und darauf wartet, von einem mutigen Ritter gerettet zu werden? Oder lieber mit einem mächtigen Magier, der sich in eine normale Frau verliebt. Und da die Übereinkunft von solch Klassenunterschieden strengstens verboten ist, müssen sie fliehen, verfolgt von blutrünstigen Assassinen und dunklen Mächten.“
Mieda flatterte aufgeregt mit ihren Flügeln und strotzte gerade so vor Enthusiasmus.
„Sag mal Tink, hast du nur eine Zeile davon genau gelesen?“, fragte ich und deutete auf die Blätter, welche wild verstreut auf meinem Tisch lagen. Die Fee verzog missbilligend den Mund zwecks der Anrede, flog zu einer Seite und deutete auf eine Zeile.
„Natürlich. Und du besitzt eine miserable Rechtschreibung, von der Grammatik mal ganz abgesehen. Hier! Zum Beispiel dieser Satz: ‚Er küsste ihn‘ Das müsste ‚Er küsste sie‘ heißen.“ Belehrend schaute mich das kleine Wesen an, worauf ich nur zuckersüß antworten konnte.
„Nein muss es nicht. Ich meine es genau so, wie es da steht.“
Die riesig gewordenen Augen und der weit offenstehende Mund waren echt zu komisch. Mieda versuchte sich wieder zu fassen, obwohl es ihr nicht recht gelingen wollte.
„Gut … okay … Aber …“ Sie seufzte. „Wer liest schon solche Geschichten? Geschichten müssen weitergegeben werden, damit immer mehr Leute diese lesen. Und umso mehr Menschen dies tun, umso mehr Fantasie wird angeregt und umso schneller kann mein Reich gerettet werden!“
Frustriert setzte sich die Fee auf ihre Seifenschale und schlürfte enttäuscht ihren Tee.
„Danke Mieda fürs Mut machen. Da hat man doch gleich mehr Elan an die Sache ranzugehen.“ Ich hatte schon genug Reaktionen auf mein Outing erlebt, dass es mir kaum mehr was ausmachte. Doch die Priese Sarkasmus konnte ich mir einfach nicht verkneifen. „Wir packen das schon, versprochen. Sobald ich von Arbeit wieder da bin, gehen wir das Ganze an, okay?“
Aufmunternd tippte ich die Kleine an, die mich überrascht anschaute.
„Arbeit? Aber ich dachte, wir beginnen jetzt sofort?!“
„Sorry, ich habe nur zwei Tage frei bekommen. Heute ist allerdings Freitag, da geht der Tag nur bis 13:00 Uhr. Danach steh ich euch zur Verfügung, holde Maid.“ Ich verbeugte mich knapp, worauf Mieda versöhnlicher lächelte.
„Na gut. Aber ich komme lieber mit. Nicht dass dich wieder irgendwer ablenkt.“
Gesagt getan. Eine gute halbe Stunde später stand ich an meinem Arbeitsplatz und erledigte alles was über die zwei Tage Abwesenheit so liegen geblieben war. Wieder ging mir alles leicht von der Hand. Meine gute Laune blieb nicht unbemerkt und bald witzelten meine Kollegen, wie denn die Neue oder der Neue ausschaute. Nicht vor Allen hatte ich mich geoutet, denn einigen Nasen auf Arbeit ging mein Privatleben absolut nichts an.
Ich wusste auch nicht genau, ob es an dem Abend mit Noel lag, oder dass ich meine Muse in der Kapuze meines Shirts mit mir rumschleppte, aber der Tag verlief butterweich. Erst als ich nach 13:00 Uhr auf dem Firmenparkplatz zu meinem Auto ging, kam ich kurz ins Stocken.
Während ich in meiner Jackentaschen nach dem Schlüssel kramte, fiel mir ein kleines Stück Papier in die Hände. Verdutzt starrte ich auf Zahlen und Buchstaben, die in einer geschwungenen Handschrift eine Telefonnummer und einen Namen abbildeten. Noel.
Mich durchflutete ein dermaßen warmes Gefühl, welches mich die vorherrschende Kälte komplett vergessen ließ. Noch beim Aufschließen holte ich mein Handy vor, setzte mich hinters Steuer und begann, wild zu tippen. Leider kam ich nicht dazu, auf 'Senden' zu drücken, da mir eine kleine Fee kräftig ins Ohr kniff.
„AU!!! Sag mal was soll denn das?!“ Wütend funkelte ich sie an … und blickte in verzweifelte Augen.
„Bitte! Wenn du ihm jetzt schreibst, wird er antworten und du darauf auch und wieder er und so weiter. Du wirst deine Geschichte komplett vergessen oder zumindest so sehr abgelenkt sein, dass wir nicht mehr rechtzeitig fertig werden. Meine Welt stirbt, Leon! Bitte hilf mir, sie zu retten. Nur eine Geschichte, mehr verlange ich gar nicht.“
Ich seufzte schwer. Mein ganzes Sein verlangte nach Noel, nach seinem Lachen, seinen Blicken. Allerdings hatte Mieda Recht. Wenn ich jetzt den Kontakt begann, würde ich immer mehr wollen und schlussendlich mich mit ihm treffen. Ich musste zuerst mein Versprechen einlösen, ob mir das nun gerade in den Kram passte oder nicht.
Das Wochenende war wirklich heftig. Bisher hatte ich mich noch nie auf eine richtige Story konzentriert, weswegen es mir anfangs schwerfiel, passende Formulierungen zu finden. Aber je mehr ich mich reinkniete, desto flüssiger lief es. Irgendwann befand ich mich regelrecht in einem Rauschzustand. Mir flogen die Wörter einfach so zu, als würden die Protagonisten meiner Story ein Eigenleben führen und ich als Beobachter alles lediglich dokumentieren.
Diese Phasen wurden nur durch Nahrungsaufnahme, Toilettengänge und meiner kleinen Schwester unterbrochen. Unsere Eltern wollten zum ersten Mal seit Jahren über Weihnachten ins Warme fliegen und uns nur kurz auf Wiedersehen sagen. Also lächelte ich brav in die Webcam meiner Schwester und winkte unseren Eltern, mit dem Versprechen, fein brav zu sein.
Es war Montag am frühen Abend, als ich auf meinem Bett saß und den Korrekturstift beiseite legte. Ich rieb meine schmerzende Hand und blickte auf unser fertiges Werk hinab. Bedächtig fuhr ich mit den Fingern über die Wörter und grinste stolz. Mieda hatte es wirklich drauf.
Die junge Muse lag erschöpft in ihrer Seifenschale und war völlig eingeschlafen, obwohl sie sich eigentlich nur kurz ausruhen wollte. Mein Rechner war noch an und das Textverarbeitungsprogramm offen. Unten prangerte in großen Buchstaben ENDE. Sie hatte es wirklich geschafft, alles in den Computer zu tippen, was für so ein kleines Wesen echt nicht einfach war.
Dennoch kamen mir immer mehr Zweifel an dem gesamten Vorhaben. Ich hatte es heute kaum fertig gebracht, mich auf die Arbeit zu konzentrieren, da ein Gedanke immer heftiger an mir nagte. Was ist, wenn das alles nicht reichte? Schließlich hatte Mieda in einem bedeutenden Punkt vollkommen Recht. Wer zum Teufel liest schwule Fantasy-Storys?
Man bräuchte eine Gruppe, sowas wie ein Literaturclub, nur halt für diese spezielle Richtung. Hatte ich nicht irgendwas in der Art am schwarzen Brett der Uni gelesen, als ich auf meine Schwester warten musste? Die spontansten Ideen sind eh immer die besten, also schnappte ich mir meine Sachen und schlich mich aus dem Zimmer.
Mieda brauchte dringend Ruhe und vielleicht konnte ich ja mit was auftrumpfen, wenn ich wiederkäme. Natürlich war die Vorstellung sehr verlockend, Noel an der Uni zu treffen, auch wenn es um diese Uhrzeit recht unwahrscheinlich erschien.
Das schwarze Brett hing in der ersten Etage an der Wand, im gleichen Flur, in dem meine Schwester ihren Kurs besuchte und mein Student seinen Unterricht gab. Zuerst horchte ich noch auf jeden Schritt, lauschte auf jede Stimme, in der Hoffnung ihm zu begegnen.
Doch dann vertiefte ich mich in die kleinen und großen Blätter, mal bunt, mal akkurat, mal schnell so dahin geschmiert. Und endlich fand ich es. Das Treffen eines schwulen Jungendclubs über Weihnachten, für alle, die über die Feiertage nicht allein bleiben wollten.
Triumphierend riss ich das Blatt von der Wand und drehte mich schwungvoll um, um zum Auto zu gehen, als ich Noel fast in die Arme lief. Er musste wohl schon eine Weile dort gestanden haben, denn im Gegensatz zu mir schien er nicht überrascht.
„Hey. Was machst du denn um diese Uhrzeit noch hier?“, fragte ich erfreut und strahlte ihn fröhlich an. Er allerdings schaute nur finster zurück.
„Dasselbe könnte ich dich fragen. Obwohl … ich glaube ich habe die Antwort schon gefunden.“
Mit einem abwertenden Schnauben riss er mir das Blatt aus der Hand und machte es wieder am Aushang fest, bevor er mich links liegenlassend kalt an mir vorbeiging. Mein vom Wochenende ausgezehrtes Gehirn brauchte ein paar Umdrehungen, bis es endlich einrastete. Schnell lief ich ihm hinterher.
„Es gibt einen bestimmten Grund, warum ich auf dieses Treffen gehen muss und bestimmt nicht der, mir eine neue Fickgelegenheit zu suchen!“
„Das ist mir egal. Genau wie du mir egal bist!“
Der Student blieb weder stehen, noch schaute er mich an. Okay, diese Reaktion konnte ich schon irgendwie verstehen, aber auf mir sitzen lassen wollte ich sie deshalb noch lange nicht. Ich packte ihn kurzer Hand am Arm, warf ihn mit dem Rücken an die Wand und presste meine Hände gegen seine Schultern, damit er wenigstens auf Anhieb nicht so einfach wegkam.
„Sorry, aber das glaube ich dir nicht! Mir tut es wirklich leid, dass ich mich die letzten Tage nicht gemeldet habe, aber dafür gibt es einen Grund und der ist der Gleiche, warum ich auf das Treffen muss. Gib mir dreißig Minuten und ich zeige dir was los war. Bitte!“
Er sah so wütend aus, dass ich kaum daran glaubte, er würde jemals nachgeben. Doch mir musste wohl die Verzweiflung im Gesicht gestanden haben, denn der Student atmete hörbar aus und gab sich somit geschlagen.
„Eine halbe Stunde! Und wenn es nicht plausibel genug ist, dann lässt du mich gefälligst in Ruhe und fliegst auch aus dem Kurs raus, klar?!“
Erleichterung durchflutete mich und ließ mich von einem Ohr bis zum nächsten grinsen.
„Danke.“
So leicht wie ich das Wort von mir gab, so leicht hauchte ich ihm einen Kuss auf die Wange, bevor ich ihn wieder freigab. Überschwänglich schnappte ich mir seine Hand und zog ihn einfach hinter mir her.
„Keine Ahnung ob dir das gefällt, aber vielleicht kannst du ja was als Mann vom Fach dazu sagen und …“
Rüde, aber doch mit einem kleinen Lächeln, wurde ich in meinem Redeschwall unterbrochen.
„Warte!“
Hatte er mich dazu schon mehrmals aufgefordert? Sah zumindest so aus.
„Zuerst muss ich die Bücher wegbringen und dann brauche ich meine Jacke.“
„Oh okay.“
Ich lächelte entschuldigend, worauf Noel seinen hübschen Kopf schüttelte. Jetzt musste er mich für total bescheuert halten. Vorerst war das egal, denn keine fünf Minuten später saßen wir in meinem Auto und fuhren zu mir nach Hause.
Ich erklärte ihm noch schnell, dass meine Schwester bei mir wohnte, er sich also nicht über die weibliche Anwesenheit wundern sollte, als ich schon die Wohnungstür aufschloss und die eben Erwähnte mir auf dem Flur entgegenstürmte. Ihre Hand hielt ich nur knapp auf, bevor sie schallend in meinem Gesicht landen konnte.
„Sag mal wie mies bist du denn in letzter Zeit drauf?!“, fauchte die Jüngere mich an.
„Ehm, das Gleiche wollte ich dich gerade fragen.“
Sie entwand mir ihre Hand und stemmte diese in die Hüfte.
„Wie kannst du Mieda nur im Stich lassen für nen billigen Fick?!“
Ich runzelte die Stirn.
„Erstens: Noel ist nicht billig, sondern hart erkämpft. Zweitens: Von intensiveren Intimitäten sind wir noch Meilen entfernt, obwohl es dich überhaupt nichts angeht! Und Drittens: Du kannst sie sehen?“
„Und hören. Als ich nach Hause kam, hörte ich ein Schluchzen aus deinem Zimmer und fand sie bitterlich weinend vor. Wie kannst du nur … ?!“
Weiter ließ ich sie nicht wettern, schob mich an meiner Schwester vorbei, direkt in ihr Zimmer. Wie erwartet saß meine Muse traurig auf einem bunten Kissen, die Beine an die Brust gezogen und Arme, die diese umschlungen. Sie sah so verloren aus, dass sich mein Magen verkrampfte.
„Mieda?“ Langsam ging ich auf die Kleine zu.
„Was willst du noch?“ Trotzig reckte sich ihr Kinn, schaffte es aber dennoch nicht, mich anzuschauen.
„Ich will dir von meiner Idee erzählen.“ So sanft wie nur möglich erklärte ich ihr mein Vorhaben und weswegen ich ohne sie fortgegangen war.
„Und du meinst das klappt?“
Skeptisch sah das Fabelwesen zu mir auf.
„Keine Ahnung. Wir sollten es auf jeden Fall versuchen. Umso mehr Zuhörer und Leser ich in kurzer Zeit zusammenbekomme, umso besser für dich und deine Welt, oder?“
Ergriffen lächelte sie mich an und nickte zaghaft.
„Danke … und Entschuldigung. Ich hatte solche Angst, dass du mich wegen ihm verlässt, dass ich ein wenig durchgedreht bin.“
Schmunzelnd wollte ich darauf etwas erwidern, als Noel im Zimmer auftauchte.
„Ist das eine Fee???“
Fünfzehn Minuten später saßen mein Student und ich in meinem Zimmer bei einer guten Tasse heißen Tee. Mieda wollte bei meiner Schwester bleiben und Enya hören, um zu entspannen.
„Und das hast du an einem ganzen Wochenende geschafft?“, fragte Noel ungläubig und kam wohl noch immer nicht über die Story hinweg, die ich ihm aufgetischt hatte.
Zum Glück saß der lebende Beweis nebenan, obwohl es mich sehr wunderte, warum die Fee von zwei weiteren Personen außer mir gesehen werden konnte. Auf Arbeit hatte sie schließlich keiner bemerkt. Die altehrwürdigen Feen sollten dringend ihre Schriften überarbeiten. Bedächtig strich der Student über die ausgedruckten Blätter.
„Magst du die Geschichte lesen?“ Prüfend blickte ich zu meinem Gegenüber, der mich überrascht anschaute.
„Ist das dein Ernst?“
Hm, begeistert sah das nicht aus und klang auch nicht danach. Also begann ich rumzustottern.
„Ich mein, ich bin kein Profiautor und sowieso total talentfrei. Vergiss es einf…“ Zu mehr kam ich nicht, da sich seine Hände auf meinen Mund pressten.
„Gerne. Sehr gerne sogar!“
Er lächelte mich breit an und ich grinste entrückt. Irgendwie war das ein kleiner, magischer Moment. Man konnte das Knistern um uns herum regelrecht spüren. Entgegen all meinen Erwartungen, beugte sich Noel zu mir hinüber, nahm langsam seine Hände beiseite und presste sanft seine Lippen auf die meinen.
Wow. Das war einfach Zucker und so unschuldig, so dass ich mich am Anfang gar nicht traute mich zu bewegen. Dann nahm mein unterdrücktes Verlangen überhand. Sacht öffnete ich den Mund, begann einen süßen Tanz der Zungen, während ich ihm zärtlich durchs Haar fuhr und über Wangen und Hals streichelte.
Nach und nach lockte ich meinen Studenten zu mehr, zu intensiveren und wilderen Küssen, bis ich ihn schlussendlich packte und breitbeinig auf meinen Schoß setzte. Es fühlte sich so gut an, sein festes Hinterteil an mein immer fester werdendem besten Stück zu spüren.
„Le… Leo… Leon!“
Zwischen etlichen Küssen und sehnsüchtigen Berührungen, schaffte es Noel, sich ein Stück von mir zu lösen, indem er meinen Kopf mit beiden Händen eisern festhielt.
„Langsam.“
Mit dem nächsten Atemzug kam ich wieder zur Besinnung und lief tatsächlich etwas rot an.
„Sorry“, murmelte ich verlegen, während meine Finger es nicht lassen konnten, weiterhin sanft über seinen Rücken und Beine zu gleiten. Noel schmunzelte, ließ seine Arme auf meine Schulter fallen und verschränkte die Hände hinter meinem Nacken.
„So ausgehungert, hm?“, neckte er.
„Wenn man so etwas aufregend Hübsches in seiner Nähe hat, wer könnte sich da schon komplett zurückhalten?“, konterte ich schmeichelnd, worauf der Student kichernd den Kopf schüttelte.
„Ich werde langsam nach Hause gehen. Morgen hab ich gleich früh Unterricht und ich will noch etwas lesen.“ Mit einem letzten Kuss stand er auf und schnappte sich mein Werk. Nur widerwillig entließ ich ihn aus meinen Armen und richtete meine Sachen.
„Es ist spät. Ich fahr dich besser“, meinte ich nach einem prüfenden Blick auf die Uhr.
„Lass mal Leon. Du schaust fast so fertig aus wie bei unserem ersten Date. Meine Bushaltestelle ist gleich hier um die Ecke und ich fahr keine fünfzehn Minuten.“
Ah, also deswegen war er so begierig darauf gewesen, mich letztens Heim zu bringen. So musste er nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erst quer durch die Stadt. Seufzend beobachtete ich ihn, wie er Schuhe und Jacke anzog und die Wohnungstür öffnete.
„Hör auf zu schmollen, Tiger und ruh dich aus, damit du mir morgen Abend fitter bist.“
Nach diesen Worten und den wild blitzenden Augen schaffte ich es kaum einzuschlafen. Wieso sagte dieser Typ auch sowas, worauf meine übersprudelnde Fantasie sofort ansprang? Das war volle Absicht von ihm gewesen und ich nahm mir felsenfest vor, mich beim nächsten Treffen an ihm zu rächen.
Die nächsten Tage flogen nur so dahin. Fast jede freie Minute verbrachte ich mit Noel und wenn wir nicht gerade wild rumknutschten und uns liebkosten, arbeiteten wir brav an meiner Story. Mann, ich wusste gar nicht, wie viel Grammatik- und Rechtschreibfehler in einem Absatz passten. Außerdem mussten noch einige Zusammenhänge besser erklärt oder anders formuliert werden, damit auch ein unbeteiligter Erstleser die Tragweite mancher Geschehnisse verstand.
Und nur weil wir eigenständig so hart an der Geschichte arbeiteten, ließ uns Mieda überwiegend freie Hand, mal von kurzen Kontrollbesuchen abgesehen. Zurzeit tobte sich die Fee bei meiner kleinen Schwester aus, die ein tolles Bild nach dem anderen zeichnete.
Trotz unseres Engagements und allen Fortschritten, schaute das kleine Fabelwesen von Tag zu Tag schlechter aus. Es war der 23. Dezember, als Mieda es nicht einmal mehr schaffte, aus ihrer Seifenschale aufzustehen. Besorgt schauten wir Drei auf unsere Freundin hinab.
„Komm schon Tink. Heute fahren wir zum Jugendtreff einen Ort weiter und morgen hat Noel mir eine ganze Stunde organisiert, in der ich unsere Geschichte präsentieren kann. Bitte halte bis dahin durch!“
Sanft streichelte ich ihr übers Gesicht, worauf sie meinen Finger festhielt und mich milde anlächelte.
„Leon, Sophia, Noel. Ich muss euch etwas gestehen.“ Sie holte tief Luft, als bräuchte sie alle Kraft für den nächsten Atemzug. „Man hat mich nicht hergeschickt, um mein Reich zu retten und ihr seid auch nicht meine Menschen.“
Dann erzählte sie uns alles, was vor ihrer Flucht geschehen war. Die Entdeckung der welken Bäume, den Zusammenstoß mit Zalieg, das Aufeinandertreffen der Königin, ihrer Adjutantin, den Vorwürfen und der Enttäuschung.
„Ich bin ein Nichts, nur eine dumme, kleine Fee, die von niemandem erwählt worden ist und sich komplett übernommen hat.“
Nur mit größter Mühe hielt sie die aufkommenden Tränen zurück. Noel fand als erstes seine Sprache wieder.
„Das stimmt nicht, Mieda. Du bist eine schlaue und mutige Fee, die allen Respekt verdient hat. Entgegen aller Gefahr bist du aus deiner Heimat weg und hast dir in unserer Welt jemand selbst erwählt, immer deinem Herzen folgend. Und schau was du zusammen mit ihm zustande gebracht hast. Außerdem musst du einfach etwas Besonderes sein. Du erzähltest, nur ein Mensch, nur ein einziger auserwählter Mensch kann dein Flüstern hören und davon profitieren. Und hier stehen ganze Drei vor dir. Also wenn das nichts Außergewöhnliches ist, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.“
Wow, besser hätte ich es auch nicht formulieren können. Mieda hauchte ein schwaches Danke, bevor wir uns rasch verabschiedeten. Meine Sis würde auf die Fee aufpassen, während Noel und ich uns auf den Weg zum Treffen machten. Umso eher ich das Werk unter die Leute brachte, umso besser für Mieda.
Wenn der Grund unserer Anwesenheit hier bei dem Jungendtreff nicht so ernst wäre, hätte ich alles wirklich genossen. Die Leute waren cool, das selbst gekochte Essen lecker und das Abendprogramm unterhaltsam. Vor allem wenn jemand mal wieder diesen blöden Mistelzweig umgehängt hat, damit man aus Versehen drunterstand und sich alle gegenseitig abknutschten.
Bei Noel hatte das jemand auch versucht. Nur ließ mein Schatz ihn elegant abblitzen, bevor ich noch in Versuchung kam, meinen Besitz zu verteidigen. Meinerseits ließ ich einen Interessenten von mir eiskalt stehen, der böse Blick meines Studenten tat sein Übriges.
Und dann kam endlich Heilig Abend und meine größte Stunde. Ich saß in einem bequemen Sessel, während das Licht gedimmt wurde und sich die anderen Teilnehmer auf großen Kissen am Boden zu meinen Füßen niederließen. Alle schauten mich mit großen Augen erwartungsvoll an.
Und ich … ich bekam nicht einen einzigen Ton raus. Erst als sich Noel neben mich auf die breite Lehne des Sessels setzte, seinen Arm um meine Schulter schlang und mir einen Kuss auf die Wange drückte, fand ich wieder zu mir und begann zu lesen.
Ab und an hörte ich auf, erzählte frei zu einigen Szenen etwas und las ein paar Kapitel später weiter, um die Spannung zu heben, wenn sie dann selbst lesen würden. Zum Ende hin waren alle so ruhig, dass ich glaubte, ein Großteil wäre eingeschlafen. Doch dann begann einer zu klatschen und als hätte das den Bann gelöst, stimmte der Rest mit ein.
Die Glückshormone, die mich überschwemmten, waren unglaublich. Mein Schatz verteilte feucht fröhlich meine ausgedruckten Exemplare und verwies ständig auf eine Website, wo man auch im Internet alles nachlesen konnte, während mich Leute umringten, die mehr Details und Hintergrundwissen aus mir herauspressen wollten.
Es war spät am Abend, als Noel und ich endlich wieder ein paar Minuten für uns hatten. Von hinten kuschelte ich mich an meinen Schatz, als er in der Küche stehend uns ein Glas Wein einschenkte.
„Sag mal, von was für einer Website hast du vorhin eigentlich die ganze Zeit gesprochen?“
Mit einem verschmitzten Lächeln, reichte mir der Student das Glas und führte mich an der Hand haltend zu einem PC. Unruhig wartete ich, bis das Ding hochfuhr und die Internetleitung nach etlichem Piepsen und Knirschen endlich stand.
Dann gab Noel eine Webadresse ein und eine dunkle Seite mit Sternenhintergrund erschien. Nach einem herzlichen Willkommen wurde man eingeladen, sich vorerst eine Geschichte durchlesen zu können. Meine Geschichte! Wow. Ich war komplett baff.
„Fröhliche Weihnachten, mein Schatz.“
Was konnte ich darauf tun, als ihn ordentlich als Dank zu küssen. Nachdem ich mich endlich wieder von ihm lösen konnte, blieb dennoch eine Frage offen.
„Warum Nick’s Stories?“
„Jeder gute Autor braucht ein Pseudonym. Außerdem klang Leon’s Stories irgendwie doof.“
Grinsend schüttelte ich meinen Kopf. Na da hatte ich mir ja ein ganz schön freches Stück angelacht. Am nächsten Tag fuhren wir sofort nach Hause, auch wenn uns die Teilnehmer des Jugendtreffs fast beknieten zu bleiben. Aber ich wollte wissen, wie es Mieda ging und ob sich der ganze Aufwand auch gelohnt hatte.
Als wir daheim die Tür öffneten, kam mir meine Schwester schon auf dem Flur entgegen. Sie hatte dicke Augenringe und schaute total fertig aus. Schnell rannte ich zu der Seifenschale und musste mit ansehen, wie die kleine Fee zu leuchten begann und mit einem letzten, schwachen Flügelschlag sich in hunderte, glitzernde Sterne auflöste. Sie war weg. Alles für umsonst, alles sinnlos …
Kraftlos fiel ich auf die Knie. Mein Kopf war wie leergefegt und selbst das haltlose Schluchzen meiner Schwester bekam ich nur halb, wie durch Watte gedämpft, mit. Keine Ahnung wie spät es geworden war, aber irgendwann erwachte ich aus meinem Trübsinn.
Ich saß im Wohnzimmer auf der Couch, Sophias Kopf auf meinem Schoß, sie friedlich schlafend. Beide hatte man uns fürsorglich zugedeckt, was mich instinktiv nach Noel suchen ließ. Er kauerte dösend auf dem Sessel neben mir und sah so dermaßen süß aus, dass ich ihn am liebsten küssen wollte. Wie hatte ich nur so einen wundervollen Menschen verdient?
Augenblicklich dachte ich an Mieda zurück und sofort wurde mein Herz schwer. Ob Zalieg genauso trauerte wie wir? Wussten die Feen überhaupt, dass Eine der Ihren von ihnen gegangen war? Oder teilten die Anderen gerade Miedas Schicksal, weil sie, die Menschen, es einfach nicht geschafft hatten, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Gequält schloss ich die Augen. Oh bitte, bei allen existierenden Göttern, lasst sie leben! Lasst die Feen leben! ALLE!!!
Ich presste dermaßen fest die Lider aufeinander, dass ich weiße Sterne aufblitzen sah. Allerdings gingen diese nicht weg, selbst als ich meine Augen öffnete. Mit offenem Mund starrte ich auf die Platte des Couchtisches und glaubte zu träumen.
Hastig weckte ich die anderen Beiden, in der Hoffnung nicht allein verrückt werden zu müssen. Funkelnde Sterne tanzten um einen unsichtbaren Punkt, so lange und immer schneller, bis alle in der Mitte aufeinandertrafen und mit einem grellen Lichtblitz sich eine kleine Person manifestierte.
„Mieda?“, kam es von uns Dreien gleichzeitig. Sie nickte und lächelte uns voller Zuneigung an.
„Wir dachten du seist …“, weiter kam meine Schwester nicht, ohne zu schniefen.
„Wäre ich auch fast. Nun weiß ich, warum wir nicht in der Menschenwelt leben. Auf Dauer vertragen wir die elektrische Umgebung einfach nicht. Zalieg hatte sich große Sorgen gemacht, da ich nach so langer Zeit nicht zurückkehrte, obwohl sich unser Wald langsam regenerierte.
Deswegen ging er zur Königin, die mich mit Magie sofort zurückholte. Gerade noch rechtzeitig. Ich brauchte ein paar Stunden, um mich zu erholen, aber als ich endlich wieder die Kraft hatte, um aufzustehen und zum Rand des Baumes zu gehen, verschlug es mir die Sprache. Meine Welt erblüht prachtvoller denn je. Als hätte man in tausenden Menschen neue Fantasie erweckt. Was habt ihr nur getan?“
Grinsend zuckte Noel mit den Schultern.
„Wir haben die neuen Medien für uns genutzt und einen Internetauftritt online gestellt. So kann jeder weltweit, egal wo er gerade ist, Leons …“
„Unsere!“, unterbrach ich ihn vehement.
„Unsere Geschichten lesen.“
„Auch wenn ich diesem Medium immer noch skeptisch gegenüber stehe, es scheint zu funktionieren.“
„Klar“, meinte ich. „Wenn der Kosovo unabhängig werden kann, die Post als Monopol gestürzt wurde und in Deutschland jetzt alle Daten massengespeichert werden, dann schafft es auch eine schwule Website!“
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.