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Teufel

Teil 4

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Am nächsten Morgen wachte ich durch ein leichtes Kältegefühl auf. Der Geruch von erloschenen Kerzen vermischte sich mit einem Hauch von Patschuli und einem noch viel lockenderen Duft, den ich vorerst nicht zuordnen konnte. Langsam öffnete ich meine Augen, um mich an die vorherrschende Helligkeit zu gewöhnen. Noch halb blind tastete ich nach meinem Schatz, doch fand ich die andere Hälfte des Bettes leer vor. Verwundert setzte ich mich halb auf und blickte durch das Zimmer. Zuerst bekam ich etwas Angst, dass die letzte Nacht nur ein schöner Traum gewesen war, doch auf dem Boden entdeckte ich Socken und Shirt von meinem gefallenen Engel verstreut. Bloß wo steckte er nur? Gerade als ich die Decke zurückschlagen und aus dem Bett klettern wollte, hörte ich eine mir bekannte Stimme von draußen her laut rumwettern.

„Wenn ihr noch lauter macht, weckt ihr ja die halbe Nachbarschaft!“

„Und wenn du nicht endlich Ruhe gibst, werden wir hier nie fertig.“, antwortete jemand genervt, worauf Rey nur grummelig reagierte und sich leise ins Zimmer schlich.

„Jetzt bist du doch wach geworden.“, meinte mein kleiner Luzifer, zog einen total süßen Flunsch und ließ sich schwer auf das Bett zu meinen Füßen fallen. Ich schaute ihn nur verärgert an, packte ihn an der Schulter, drückte ihn auf die Matratze und setzte mich auf seinen Bauch. Rey sah mich erschrocken an, da ich seine Arme an den Handgelenken festhielt und ihm kaum Möglichkeiten gab, sich zu bewegen.

„Mach das nicht noch einmal!“, funkelte ich ihn böse an.

„Was meinst du?“, fragte mein Engel verwirrt und etwas ängstlich.

Nicht mehr an mich haltend wurden meine Züge wieder weicher. Ich beugte mich zu ihm hinab und streichelte mit meiner Nase zärtlich über seine Wange.

„Lass mich nie wieder alleine morgens aufwachen.“, flüsterte ich und begann, ihn unterhalb des Ohrläppchens bis hinab zum Schlüsselbein zu küssen.

„Nie wieder.“

Mein Schatz schlang seine nun wieder freien Arme um meine Schulter und drückte seine Lippen auf meine Schläfe und Stirn. Ich hörte, wie seine Schuhe auf den Boden plumpsten und merkte, wie er sich ein Stück weiter auf das Bett schob. Er hatte nur seine Hose an, weswegen ich seinen freien Oberkörper ungehindert mit meinen Liebkosungen überdecken konnte. Ich lag flach auf meinen Liebsten, unsere Beine waren zu einem einzigen Knäuel verschlungen und unter Küssen, die immer wilder wurden, wanderten seine Hände von meinen Schultern bis zu meinem Po hinab. Und wieder spürte ich, wie sehr ich diesen Menschen brauchte, wie seine Nähe mich beruhigte, meine Gedanken sich glätteten und ich mich einfach frei fühlte. Ich ließ ein wenig von meinem Schatz ab, nur um ihn tief in die Augen schauen zu können. Das Blau darin funkelte mich liebevoll und doch geheimnisreich an. Ich lächelte ein wenig und streichelte über seine Wange.

„Warum bist du mir erst jetzt begegnet?“, fragte ich ihn. Rey sah mich mit einem Mal seltsam traurig an und strich ein paar Strähnen aus meinem Gesicht.

„Vielleicht habe ich schon die ganze Zeit über dich gewacht.“, antwortete er mir leise. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass in diesen Worten etwas Wahrheit steckte.

„Wieso bist du mich dann nicht eher holen gekommen?“, fragte ich weiter, nahm seine Hand in meine und küsste seine Finger.

„Weil ich dich beschützen wollte.“, meinte er sanft und wich meinem Blick aus. Meinte er das jetzt wirklich ernst? War dieses Gespräch doch nicht so fiktiv und harmlos, wie es begonnen hatte? Mein Herz begann schneller zu schlagen. Was war hier los?

„Beschützen? Vor was?“

Zärtlich stupste ich mit meiner Nase an seine als Aufforderung, dass er mich anschauen sollte. Gequält sah Rey wieder zu mir auf und schien nicht zum ersten Mal in meinen Augen etwas zu suchen. Gerade als er es anscheinend gefunden hatte und Luft holte, um sich mir mitzuteilen, sprang mit einem lauten Knall die Tür auf.

„Guten Morgäääään!“, rief eine uns wohlbekannte Stimme und stürzte in unser Zimmer.

„Ich hoffe ich störe nicht.“, sagte sie scheinheilig und grinste frech zu uns rüber. Mein Schatz bedeckte mit der Decke mein Hinterteil, kroch unter mir hervor und setzte sich auf die Bettkante.

„Nein überhaupt nicht.“, meinte mein Liebster ironisch und funkelte Cat angriffslustig an. „Was beschert uns denn deinen ehrenvollen Besuch?“

Ich wickelte die Decke vollkommen um Hüfte und Beine, setzte mich ebenfalls auf und kuschelte mich an den Rücken meines gefallenen Engels. Dieser küsste meinen Arm, den ich um seine Schulter geschlungen hatte und hielt ihn fest, ohne auch nur eine Sekunde Cat aus den Augen zu lassen.

„Oh. Der Herr ist ja mal wieder gut gelaunt. Hier sind frische Shirts. Handtücher und Zahnbürste findet ihr im Bad. Chris und Flo sind in fünfzehn Minuten mit frischen Brötchen da. Ihr solltet dann lieber fertig zum Frühstück oben sein. Also sputet euch! Und Tomas, hör endlich auf, mich genauso biestig wie Rey anzustarren. Einer von dieser Sorte reicht mir!“, forderte die Freundin uns streng auf und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. Doch sie drehte sich nochmal ruckartig um, kniff die Augen zusammen und durchbohrte Rey mit einem prüfenden Blick, den er nach wenigen Sekunden mit fest aufeinandergepressten Zähnen löste, sodass sich wieder der Muskel an seinem Kiefer unablässig bewegte. Er sah trotzig, durcheinander und ängstlich zugleich aus. Cat atmete nur geräuschvoll aus und blickte tadelnd zu ihm hinüber. Dann schloss sie endlich die Tür. Noch ehe ich weiter drüber nachdenken konnte, was gerade geschehen war, kuschelte sich mein Schatz in meine Umarmung und schmiegte seinen Kopf an meinen Hals und Wange. Ich zog ihn so nah wie möglich an mich heran, um ihn nicht so schnell wieder herzugeben.

„Du und Cat seid mir manchmal echt ein Rätsel.“

„Mir geht’s meistens nicht besser als dir.“, erwiderte mein Schatz. „Bitte, hab nur noch etwas Geduld. Ich erklär dir bald alles, aber bitte versuch mir bis dahin zu vertrauen.“ Rey hatte sich regelrecht an mich geklammert und ich spürte, wie ehrlich und wichtig ihm das alles war.

„Nein.“, sagte ich deswegen fest entschlossen. Mein gefallener Engel zuckte etwas zusammen, löste sich von mir, um mich direkt anzuschauen. Flehentlich blickte er mir verzweifelt in die Augen.

„Ich versuche es nicht nur. Ich vertraue dir.“ Liebevoll beugte ich mich zu ihm und küsste seine Stirn. Er hob zitternd seine Arme, aber anstatt mich zu umarmen stieß er mich hart nach hinten, sodass ich wieder flach auf den Rücken lag. Rey presste mich auf die Matratze und schaute mich wütend an.

„Ich hasse es, wenn du so was machst!“, blaffte er mich an und dann sah ich die Tränen, die in seinen Augen glitzerten. Ihm war das Ganze wirklich wichtig gewesen, genauso ernst wie mir mit dem, was ich sagte. Ein einzelner, salziger Tropfen löste sich von ihm und fiel auf meinen Mund hinab. Ich leckte ihn mir von den Lippen und zog dann Reys Kopf zu mir hinab, um ihn zu küssen.

„Tut mir leid.“, flüsterte ich.

„Sollte es dir auch.“, zickte schwach mein gefallener Engel, worüber ich nur lächelte.

„Ich kann warten Rey. Aber warte du nicht zu lange. Sonst frisst es dich noch komplett auf.“

„Okay.“ Daraufhin umarmten wir uns eine kleine Ewigkeit. Wir hielten uns einfach nur fest und genossen die Wärme des anderen. Irgendwann löste sich mein kleiner Luzifer von mir.

„Komm, ich zeig dir die Dusche. Wir sollten langsam fertig werden, ehe Cat anfängt zu nerven.“ Widerwillig lösten wir uns voneinander und Rey führte mich zum Bad. Es war klein und fensterlos, aber alles war sauber. Ein schmaler Schrank stand direkt neben der Duschkabine, aus dem mein Schatz ein Handtuch und eine Zahnbürste – sogar frisch verpackt – holte.

„Hier. Die Bürste gehört zur Werbung des Clubs, kannst sie also nachher mitnehmen. Ich hol dir deine Sachen, während du dich duschst. Ich war vorhin schon. Das Handtuch kannst du dann in den Korb hier werfen. Das nimmt die Reinigung mit.“

Mit einem letzten zärtlichen Kuss verschwand mein gefallener Engel aus dem Bad und ich in die Kabine. Shampoo und Seife fand ich neben der Mischbatterie, wo ich mich gleich bediente. Zähneputzen erledigte ich auch mit unter dem fließenden Wasser. Da war es wenigstens nicht so kalt. Wenige Minuten später hatte ich mich abgetrocknet und zog mir die Sachen über, die Rey mir reichte. Das Shirt saß genau wie bei meinem Schatz recht locker und der Name des Clubs prangte groß auf der Rückseite. Aber besser das, als das verräucherte Zeug von gestern. Gemeinsam betraten wir dann Cats Wohnung eine Etage höher.

„Ah, da seid ihr ja endlich. Geht schon mal in die Küche und gießt Wasser in die Tassen. Der Kocher ist glaub ich gerade fertig.“, begrüßte uns die Freundin und verschwand in ein anderes Zimmer mit dem Handy am Ohr.

Rey ging voraus und ich trabte hinter ihm her in eine Art Wohnküche. Links war eine kleine Einbauküche mit Tresen, fünf Schritte weiter stand rechts ein großer Tisch mit sechs Stühlen drum herum, der momentan reich bedeckt war. Drei Meter weiter war gleich ein kleines Sofa mit Sessel und Couchtisch, dahinter ein TV. Obwohl alles ziemlich im Raum verteilt stand, wirkte es doch irgendwie gemütlich. Wir beide liefen zur Theke, wo die besagten Tassen standen. Zwei waren mit Cappupulver, zwei mit Tee und eine mit so einem Krümelzeugs gefüllt. Rey goss wie aufgetragen überall Wasser ein, kramte dann einen Löffel hervor und rührte damit in der einen Tasse um. Nach ein paar Mal pusten und zögerlichem probieren schlürfte er vorsichtig den Cappuccino. Er sah so was von niedlich aus, wie er sich danach den Schaum von den Lippen leckte. Allerdings vergaß er dabei eine kleine Stelle.

„Du hast da noch etwas.“, meinte ich grinsend und deutete auf seinen Mund.

„Hier?“, fragte er mich und versuchte mit seiner Zunge vergebens den Schaum wegzulecken.

„Nein, hier.“, sagte ich deshalb, zog meinen gefallenen Engel zu mir und küsste den Cappuschaum weg. Mein Schatz fing an genüsslich zu schnurren, stellte langsam die Tasse ab und schlang seine Arme um meine Hüfte. Sekunden später waren wir in ein wildes Zungenspiel vertieft, bei dem wir alles um uns herum vergaßen. Leider war davon nicht jeder so begeistert wie wir.

„Interessant.“

Dieses eine laute, eiskalte Wörtchen holte uns mit einem harten Ruck zurück in die Wirklichkeit. Rey stieß mich erschrocken von sich und beide schauten wir mit großen Augen auf den Neuankömmling. Da stand er. In unauffällige schwarze Sachen gekleidet, blasses Gesicht, die langen schwarzen Haare locker nach hinten gebunden, mit Augen, die so tief grün waren, dass man dachte, sie würden einen jeden Augenblick verschlingen.

„Flo, ich hab dich gar nicht kommen hören.“, stotterte mein Schatz.

„Wie auch. Du warst schließlich abgelenkt.“, meinte der Typ, verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen und sah mich eindringlich an. Rey biss sich auf die Lippe und schaute verärgert nach unten. Gerade als ich darauf trotzig was erwidern wollte, wurde der Typ von hinten angerempelt und der andere von gestern betrat die Küche.

„Als ob du selbst einen Elefanten hören würdest, wenn wir miteinander beschäftigt sind.“, schnaubte dieser belustigt und drückte uns eine Tüte mit Brötchen in die Hand.

„Das ist was anderes.“, nuschelte das Grünauge verlegen und wandte sich dem gedeckten Tisch zu, damit wir seine leicht rosa angelaufenen Wangen nicht sehen konnten. Der andere ignorierte das Gemurmel und umarmte kurz meinen Schatz.

„Schön dich zu sehen Rey.“ Dann richtete er sich an mich. „Hallo Tomas. Ich bin übrigens Chris. Wir hatten ja gestern nicht wirklich Zeit uns vorzustellen. Ach und das dort drüben ist Flo.“

„Hallo.“, grinste ich zurück. Chris war mir auf Anhieb sympathisch. Seine weltoffenen Augen und sein fröhliches Gemüt hob sofort die Stimmung im ganzen Raum.

„Ah, Tee.“, sagte er gleich, als er die dampfenden Tassen entdeckte, und beschlagnahmte eine für sich. Nach einem vorsichtigen Schluck nahm er sich eine weitere und lief zu dem Tisch rüber.

Mein gefallener Engel schnappte sich die beiden Capputassen und ich die übrig gebliebenen und beide gesellten wir uns zu den anderen. Wenig später kam auch Cat mit den Brötchen hinzu und alle setzten wir uns und begannen zu frühstücken. Rey und ich saßen auf der einen Seite nebeneinander, Chris und Flo uns gegenüber, während Cat am Kopfende thronte.

„Hast aber noch ganz schön lang telefoniert.“, begann Flo ein Gespräch mit Cat.

„Hör bloß auf.“, stöhnte sie. „Ehe ich Mom versichert hatte, dass wirklich alles okay ist und sie mir das auch noch glaubte… Wenn's nach ihr ginge, hätte ich einen heiligen Schwur ablegen sollen.“

„Sie macht sich nur Sorgen.“, versuchte Chris sie zu beruhigen, worauf Cat aber nur mit einem Augenrollen reagierte.

„Man kann’s auch übertreiben.“

Langsam wurde ich hellhörig.

„Moment, wartet mal kurz. Hab ich das jetzt richtig verstanden und ihr beide seid Geschwister?“, fragte ich verwundert Cat und Flo. Letzterer reagierte überhaupt nicht. Meine Freundin lächelte mich aber gutmütig an.

„Flo ist mein zwei Jahre jüngerer Bruder.“

„Das sieht man euch gar nicht an.“, meinte ich verblüfft.

„Glaub mir, das sind sie.“, sagten auf einmal Chris und Rey gleichzeitig, worauf alle anfingen breit zu grinsen.

„Dann seid also ihr beide ein Paar?“, bohrte ich weiter.

Erwähnte ich eigentlich schon, dass ich die Neugierde in Person bin? Diesmal sah sogar Flo von seinem Teller auf und schaute mich mit schief gelegtem Kopf seltsam an. Chris hatte es irgendwie die Sprache verschlagen, denn er starrte mit geröteten Wangen nur auf seinen Teller. Langsam drehte sich Flo um und betrachtete seinen Sitznachbarn, strich ihm eine Strähne des hellbraunen Haares hinters Ohr und küsste ihn dann auf die Schläfe.

„Ja, das sind wir.“, flüsterte er fast. Chris lief komplett rot an und ich bekam das dringende Bedürfnis, die Hand meines Schatzes in meine zu nehmen. Es war seltsam, wie viel Gefühl dieser Eisklotz mit dieser winzigen Gestik, mit diesen wenigen Worten seinem Freund entgegenbrachte, wie viel Liebe darin mitschwang. Man hätte sie fast physisch greifen können.

„Mann, seid ihr alle kitschig heute.“, witzelte Cat und holte uns ins hier und jetzt zurück.

„Das muss auch mal sein.“, grinste ich und es begann ein lockeres Gespräch zwischen uns fünf. Zwar hielt sich Flo größtenteils raus, aber reagierte nicht mehr ganz so mürrisch.

Als wir fertig waren, begannen wir den Tisch abzuräumen. Mein gefallener Engel hatte sich den Brotkorb geschnappt, ich ein paar andere Kleinigkeiten. Eine Hand hatte ich frei, damit ich Rey immer etwas ärgern konnte. Leider hatten wir beide es soweit übertrieben, dass wir beim rumalbern Cat anrempelten, und sie das Besteck auf den Boden fallen ließ.

„Ihr seid echt unmöglich.“, lachte Cat und kroch unter den Tisch.

Chris hatte sich auch nach unten gebeugt, weil wohl alles in der Nähe seines Fußes gelandet war. Kichernd stand ich neben Rey zu dessen Füßen Chris rum kreuchte und beobachtete das Geschehen.

„Tut bitte zuerst die Butter in den Kühli, sonst wird die so komisch gelb.“, forderte die Freundin uns auf und mein Schatz beugte sich nach vorne, um sich das besagte zu nehmen.

In dem Moment als sich Rey bewegte, sah ich etwas Helles inmitten der Brötchen aufblitzen, das sich zwischen den großen Maschen des Korbes vorschlängelte und dann rasend schnell zu Boden fiel. Wie in Zeitlupe sah ich Chris, wie er seinen Kopf wand und nach oben blickte, um mit Rey zu reden. Wie die Spitze des Messers zielsicher auf das Gesicht von Chris zuhielt. Reflexartig schnellte mein Arm hervor und brachte die Klinge kurz über den Augen des Freundes zum Stillstand.

Mit einem Schlag war es totenstill im Raum. Erst als Flo seinen Schatz auf die Beine zog, stolperte Rey erschrocken zwei Schritte zurück und prallte gegen Cat, die unter dem Tisch vor gekrochen war. Das Grünauge musterte kurz seinen Liebsten und drückte ihm dann kopfschüttelnd einen Kuss auf die Stirn. Dann schwenkte er wütend seinen Kopf zu mir herum und blickte mich böse an. Mit wenigen Schritten war er bei mir, riss mir das Messer aus der Hand, warf es achtlos beiseite und musterte dann meine Handfläche. Zwei dünne Striemen waren zu sehen, da ich wohl das Messer zu fest angepackt hatte. Er zerrte mich zur Theke auf einen der Barhocker.

„Setz dich!“, befahl er und ich dachte nicht mal im Geringsten daran, ihm zu widersprechen.

Cat brachte einen Verbandskasten an, aus dem sich Flo reichlich bediente und meine Wunde verarztete. Ich suchte derweil meinen Schatz, den ich vor Chris stehend fand. Total betröppelt blickte er zu Boden und versuchte sich mehrmals zu entschuldigen. Chris nahm den Kleinen nur fest in seine Arme.

„Beruhige dich erstmal. Du kannst doch überhaupt nichts dafür. Das Brötchenmesser hatte ich Blödmann selbst dort reingelegt, also bin ich auch selbst dran schuld.“

„Niemand ist daran Schuld.“, mischte Cat sich ein. „Manche Dinge passieren einfach. Die Kunst besteht darin, diese Dinge zu meistern.“

„Oder sich von ihnen nicht erstechen zu lassen.“, sagte Flo bissig und zog die Binde um meiner Hand ruckartig fest, damit ich leibhaftig spürte, was er meinte.

Chris ging zu seinem Schatz, der ihn mahnend ansah, dann aber doch, erleichtert, dass nichts passiert war, in seine Arme zog. Mein kleiner Luzifer war derweil hinter mich getreten, schlang seine Arme um meine Schulter und kuschelte seine Wange an meine rechte. Cat hatte das Verbandszeug wieder weggeräumt und kam gerade hinzu. Zwar grinste sie zufrieden, dass alles okay war, aber doch dachte ich, etwas Trauer in ihren Augen glitzern zu sehen. Sie stand vielleicht zwei Schritte von mir entfernt, weswegen ich die Freundin spontan zu mir zog und auch von hinten umarmte. Erschrocken schaute sie mich über ihre Schulter hinweg an, ließ aber alles soweit geschehen.

„Gruppenkuscheln.“, meinte ich nur schlicht und grinste.

Cat atmete geräuschvoll aus und schüttelte leicht ihren Kopf. Dann lehnte sie sich noch etwas mehr in meine Umarmung und umfasste mit beiden Händen meine Arme. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so da standen, nur dass der Raum mit einem mal gefüllt war von einer Ruhe und Frieden, was ich in solch geballter Ladung noch nie erlebt hatte. Mein Kopf war vollkommen frei von jeglichen Gedanken, keine Schmerzen irritierten mich. Ich hatte mich niemals so wohl gefühlt wie in diesem Moment. Mein Schatz hatte einen Arm soweit vorgelegt, dass seine Hand auf Cats Schulter lag und beide spielten gegenseitig an ihren Fingern. Gerade als sich bei mir die Frage aufdrängte, wo den der Freund von Cat war, löste diese sich ein Stück von mir.

„Du bist wirklich einmalig Tomas.“, sagte sie und sah mich mit strahlenden Augen an.

„Sag ich doch.“, setzte mein Schatz noch hinzu und als Cat mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange hauchte, lief ich komplett rot an.

Kaum hatte sie dies getan, war sie auch schon Richtung Tisch verschwunden und räumte den Rest weg. Ich stand noch ein paar Sekunden verdattert da, bis auch ich mich zu den anderen gesellte, die Cat beim abräumen halfen. Bald darauf verabschiedeten sich Flo und Chris, wobei mir das Grünauge noch einen abschätzenden, aber diesmal nicht feindseligen Blick schenkte und ich mir wieder so vorkam, als hätte ich mich vor meinem zukünftigen Schwiegervater behaupten müssen. Eine Viertelstunde später gingen auch Rey und ich. Cat wollte noch ein wenig ihre Ruhe haben und ich aus diesen Klamotten raus.

Trotz der frühlingshaften Kälte beeilten wir uns nicht groß, ins Heim zu kommen, spazierten gemütlich den Weg entlang, hielten Händchen und warfen uns ständig verliebte Blicke zu. Im Zimmer angekommen zogen wir uns bequemere und vor allem wärmere Sachen an und gesellten uns ein wenig zu unseren Schützlingen, die im Innenhof Fußball spielten. Es dauerte nicht lange, bis wir mit reingezogen und in verschiedene Mannschaften gesteckt wurden.

Mein Schatz spielte absolut göttlich im Gegensatz zu mir. Ich hasse Fußball. Zwar konnte ich meinen gefallenen Engel hier und da kurz ablenken, aber ansonsten hatte ich nicht den Hauch einer Chance. Die Mittagszeit kam und verging, genauso wie das Abendbrot. Den Großteil der Zeit verbrachten wir bei unseren Kids, mal abgesehen von ein paar Stunden, wo wir auf unser Zimmer verschwanden und feststellten, dass die Dusche mehr als nur genügend Platz für zwei Leute bot. Es war einfach ein richtig genialer Tag, denn ich hatte mich noch nie besser gefühlt.

Es war Nachmittag des nächsten Tages, Sonntag. Der Himmel war wolkenbehangen, aber noch hatte es nicht geregnet. Ich lag neben meinem Schatz in seinem Bett. Wir hörten Musik, unterhielten uns über alles Mögliche und genossen die Wärme und Nähe des anderen. Vielleicht sollte ich mit erwähnen, dass wir wieder recht gesittet auf der Matratze lagen, nur noch Oberkörper frei. Ich weiß nicht mehr, über was wir gerade genau sprachen, als uns ein Klopfen an der Tür unterbrach. Rey bequemte sich auf und öffnete diese. Frau Müller stand davor und wollte nur fix was mit der Deko an der Bühne absprechen. Mein Schatz zog sich Shirt und Pullover über, hauchte mir ein Kuss auf die Stirn und meinte, dass es zirka ne halbe Stunde dauern könnte.

„Gut. Ich geh in der Zeit ein bisschen joggen. Ich muss mich mal wieder anderweitig bewegen.“

Mein gefallener Engel schenkte mir ein verführerisches Lächeln und sagte, ich solle mich nur nicht vorher zu sehr verausgaben. Daraufhin legte ich meine Hand in seinen Nacken, zog ihn zu mir hinab und presste meine Lippen auf seine. Beide hatten wir unsere Probleme, sich von dem anderen zu lösen. Erst als Frau Müller sich dezent räusperte, ließen wir widerwillig voneinander ab. Schmunzelnd verließ die Deutschlehrerin mit meinem Schatz das Zimmer und ich war allein. Vielleicht fünf Minuten lag ich auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und genoss den Duft des Kissens, das so sehr nach Rey roch. Dann quälte auch ich mich auf, zog meine Sportkleidung über und verschwand ins Freie.

Es ging ein leichter Wind, was mich aber nicht weiter störte. Die Musik meines mp3-Players dröhnte in meinen Ohren und der Weg flog nur so unter meinen Schritten dahin. Es fing an zu dämmern und einzelne Regentropfen bedeckten die Erde, als ich nach gut vierzig Minuten die Stufen des Heimes erklomm. Ich war zwar fix und alle, aber genau das tat richtig gut. Beschwingt lief ich den Gang entlang Richtung Turnhalle. Doch als ich gerade dort ankam und um die Ecke biegen wollte, auf die Treppe zu, blieb ich wie vom Blitz getroffen stehen. Ich brauchte ein paar Sekunden um überhaupt zu begreifen, was ich dort genau sah. Mein Schatz stand mit dem Rücken zu mir gewandt vor Marco und drängte diesen an die Wand.

„Ich weiß, dass du mich begehrst.“, sagte Rey verführerisch und presste seinen Körper an den des größeren. Mein Betreuer packte meinen gefallenen Engel an den Schultern und versuchte, ihn wegzuschieben.

„Du bist mit Tomas zusammen und er mag dich wirklich sehr.“ Fast sanft redete er auf ihn ein.

„Lass ihn einfach da raus.“, schnurrte Rey, umfasste mit beiden Händen Marcos Gesicht und küsste ihn leidenschaftlich. Zu deutlich konnte ich erkennen, dass Reys Bein schwer gegen den Schritt von Marco drückte. Ich hörte noch, wie mein Betreuer aufstöhnte, dass er das gefälligst lassen soll, da hatte ich mich schon umgedreht und war hinausgerannt.

Mittlerweile war es dunkel geworden und goss wie aus Eimern. Den Weg konnte ich kaum noch erkennen. Ob es an der Witterung lag oder an den Tränen, die mir in Sturzbächen aus den Augen liefen – keine Ahnung. Wieso? Wieso verdammt noch mal?! War ich ihm nicht gut genug? War ich doch nur der Ersatzfick? Aber es war doch alles so intensiv gewesen. Seine Gefühle, die wir eine Sturmflut auf mich eindrangen, seine warmen Berührungen, die heißen Küsse – alles Lüge? Alles nur Show? Um Marco eifersüchtig zu machen? Wieso wollte ich das nicht glauben? Wieso tat er sowas? Wieso? Wieso? Wieso? Wieso?

Ich weiß nicht wie lange ich noch ziellos weiter gerannt wäre, hätte mich die leicht aus dem Boden ragende Wurzel nicht zu Fall gebracht. Hart landete ich auf der schlammigen Erde. Zu meinem Glück knallte mein Kopf gegen andere Wurzeln, was mich für kurze Zeit Sterne sehen ließ. Keine Kraft mehr um aufzustehen, drehte ich mich mühsam auf den Rücken, schloss die Augen und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass der Boden sich unter mir auftat und mich für immer verschlang. Es tat einfach so weh.

Aber warum eigentlich? Ich kannte ihn doch gerade mal weniger als eine Woche. Und wirklich wissen wer er war, tat ich auch nicht. Vielleicht kannte ich sein Lieblingsessen und wusste auf was für Bücher, Musik und DVDs er stand, aber sonst? Wie lautete sein Nachname? Wann hatte er Geburtstag? Wo wohnte er? Ich wusste absolut gar nichts über ihn! War einfach nur blind meinem Herzen gefolgt. Und nun lag es in winzigen kleinen Splitter zerbrochen da.

Keine Ahnung wann und wie, aber plötzlich stand ich vor dem Hintereingang der Turnhalle. Drinnen brannte noch Licht und ich hörte einige Kids fröhlich rumkreischen. Ich hatte nicht den Mut ins Zimmer hoch zu gehen, fühlte mich noch nicht mal fähig, Rey zur Rede zu stellen. Der Schmerz lag einfach zu tief. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, rutschte ich zu Boden und starrte trübsinnig in die Gegend. Weder spürte ich den Regen meine Sachen durchweichen, noch wie das kalte Nass das Blut an meiner Stirn wegwusch. Nur nebenher bekam ich mit, wie jemand die Hintertür öffnete „Scheiß Wetter“ grummelte und sich eine Zigarette ansteckte. Nach ein paar Minuten wurde der Glimmstängel weggeschnipst und landete zischend nur knapp neben mir. Die Tür schloss sich schon fast wieder, als sie noch mal ganz aufgerissen wurde und jemand aus der Halle trat.

„Tomas? Scheiße was machst du denn da?“, fragte mich mein Betreuer entsetzt. Als ich nur mit den Schultern zuckte und nicht weiter reagierte, zog Marco mich nach oben, legte seinen starken Arm um meine Hüfte und stolperte so mit mir die Treppe hinauf bis vor mein Zimmer.

„Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“, fragte ich schwach und blickte ängstlich zwischen der Tür und meinem Betreuer hin und her. Dieser musterte mich skeptisch, stimmte dann aber doch zu unter der Bedingung, dass ich ihm erzählte, was los war.

Als erstes steckte Marco mich ins Bad, drückte mir noch frische Shorts, nen Shirt und ein Badetuch in die Hand und schickte mich unter die Dusche. Meine aufgerissene Stirn, Hände und Knie brannten höllisch, was mich wieder kurz taumeln ließ. Ich reckte mein Gesicht Richtung Duschkopf und hoffte, dass das heiße Wasser meine Tränen und den Schmerz in mir wegspülte, aber weder das eine, noch das andere wollte vergehen. Erst als der Wasserdampf in der Kabine so dicht war, dass ich kaum atmen konnte, stieg ich mit wackligen Beinen aus der Dusche, trocknete mich langsam ab, zog mir Marcos Sachen über und schlich fast zu ihm ins Wohnzimmer. Dieser machte gerade die Außentür zu und stellte Wassereimer und Besen zur Seite. Deutlich erkannte ich meine schlammigen Fußabdrücke auf seinem hellen Parkettboden.

„Tut mir leid, dass ich dir soviel Arbeit mache.“, sagte ich leise und schlang meine Arme um meinen Körper, als wäre mir kalt.

„Kein Thema. Komm, setz dich erstmal.“, antwortete Marco, dirigierte mich auf sein Sofa und legte mir sogar eine Decke um meine Schultern. Dankend vergrub ich mich sofort in diese, zog meine Beine zur Brust, legte meine Arme darum und mein Kinn auf die Knie. Ich fühlte mich schutzlos und schwach wie ein Neugeborenes. Ich hörte, dass mein Betreuer meine Spuren aufwischte und merkte, wie er sich dann neben mich setzte.

„Hier, gegen deine Kopfschmerzen.“, meinte er sanft und reichte mir ein Glas Wasser mit einer Tablette.

„Zeig mir mal deine Stirn.“, forderte Marco mich auf, als ich das leere Glas auf dem Couchtisch abstellte. „Du machst Sachen.“

Kopfschüttelnd begutachtete er meine kleine Wunde, holte Desinfektionsmittel sowie Pflaster und verarztete mich. Als er fertig war und alles wieder weggeräumt hatte, schaute er mich auffordernd an. Doch ich bekam meinen Mund einfach nicht auf. Ich wollte das ganze Szenario nicht noch mal durchleben. Am liebsten würde ich alles vergessen. Marco musterte mich besorgt, legte dann seinen Arm um mich und zog mich zu ihm heran.

„Hey, nicht weinen. Egal was los ist, es lässt sich bestimmt ganz simpel erklären und lösen. Ich helfe dir. Das geht aber nur, wenn du mir sagst was dich bedrückt.“, sanft redete mein Betreuer auf mich ein. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie die Tränen meine Wangen hinabtropften. Erst als er es erwähnte und ich reflexartig meine Hände übers Gesicht fahren ließ merkte ich, dass sie feucht waren.

„Es geht um Rey, oder?“, hakte Marco nach, als ich noch immer keine Anstalten machte, zu antworten. Den Namen meines Schatzes zu hören verursachte einen fahlen Geschmack in meinem Mund und mir wurde schlagartig schlecht. Ich schluckte ein paar Mal schwer, bis ich mich getraute leise zu sprechen.

„Ich habe euch gesehen. Dich und Rey vor der Turnhalle. Heute am späten Nachmittag.“ Mein Betreuer hörte augenblicklich auf, mich weiter auf der Schulter zu streicheln und atmete tief ein.

„Hör mal Tomas, das war bestimmt nicht so wie es ausgeschaut hat.“, begann er, doch ich unterbrach ihn.

„Es war eindeutig, also erzähl mir keine Märchen.“

„Tut mir leid, dass du das mitbekommen hast.“ Nervös fuhr sich Marco durch die Haare. „Das ganze war nur meine Schuld.“

Verwirrt schaute ich auf und blickte mein Gegenüber direkt an. Dieser löste sich ein Stück von mir und sah hilflos zu Boden.

„Ich kam gerade mit meinen Jungs von dem Ausflug zurück und verstaute die Ausrüstung wieder im Abstellraum in der Turnhalle. Rey war mit Sophia dort um was zwecks der Bühne zu besprechen. Meine Kids waren so knülle, dass ich ihnen erlaubte, schon auf ihre Zimmer gehen zu können während ich ihr Zeug wegräumte. Als auch Sophia gegangen war, gesellte sich Rey zu mir und bot seine Hilfe an. Er wirkte so locker und ungezwungen auf mich, weswegen ich dankend annahm. Ich dachte, er wäre dank dir über alles hinweg. Hätte ich gewusst was er vorhatte, ehrlich, ich hätte mich anders verhalten. Zwar hatte ich so meine Mühe, aber außer einem Kuss ist nichts weiter passiert. Scheiße. Das ganze tut mir wirklich übel leid.“

Seufzend wandte ich mich ab.

„Dir muss gar nichts leid tun. Er hat sich dir aufgedrängt, nicht umgedreht. Ich hab’s selbst gesehen.“

„Du darfst das alles nicht so für voll nehmen. Er mag dich wirklich sehr. Er wollte mich bestimmt nur ein letztes Mal testen oder so.“

„Du brauchst ihn nicht auch noch in Schutz zu nehmen. Seine Absichten waren eindeutig.“

Ich zog Decke und Beine enger an meinen Körper und starrte vor mich hin. Mir war seltsam schummrig zumute, fühlte mich total ausgelaugt und entkräftet. Ich wollte nicht länger darüber nachdenken, wollte die Bilder aus meinen Kopf verdrängen, den Schmerz loswerden, der unablässig meine Brust abschnürte und mich kaum atmen ließ. Marco legte seine Arme um mich, zog mich zu ihm hin und hielt mich einfach nur fest. Da ich eh keine Kraft hatte mich zu wehren, ließ ich es einfach geschehen. Wenig später war ich dankbar für den Trost und Wärme, die er mir spendete. Ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart, schon beim ersten Mal, als ich ihm begegnete, war es so.

War die Wahl, mich für Rey zu entscheiden überhaupt richtig gewesen? Hätte ich nicht doch lieber bei Marco bleiben sollen? Er rannte wenigstens nicht unablässig seinem Ex hinterher. Aber Rey hatte so etwas Magisches an sich, was ungreifbares, war eine Herausforderung. Bei Marco war alles so offensichtlich. Vielleicht wäre jedoch genau das besser.

‚Ob er mich überhaupt noch will, nachdem ich mich so schwach gezeigt habe? Nachdem ich bei der erstbesten Gelegenheit seinen Ex um den Hals gefallen war?‘ Meine Gedanken schwirrten träge durch meinen Kopf. Ich war wie benebelt, als hätte ich nen Kasten Bier alleine alle gemacht.

‚Muss wohl an dem Sturz und Tabletten liegen.‘, dachte ich benommen und genoss die warmen Finger meines Betreuers, die meinen Hals und Nacken kraulten. Langsam schaute ich wieder auf und blickte tief in seine rehbraunen Augen, die mich liebevoll anglitzerten. Mein Betreuer fuhr sanft durch meine Haare, streichelte über meine Wange und Stirn. Ich schloss für einen kurzen Augenblick meine Augen und schwelgte genießerisch in der Zuneigung, die mir gerade entgegengebracht wurde. Dann spürte ich seine Lippen auf meinen. Wieder ließ ich den Dingen ihren Lauf, ohne etwas dagegen zu tun. Erst Sekunden später drückte ich ihn leicht von mir weg.

„Entschuldige. Ich hätte dich nicht küssen dürfen. Aber es war so verführerisch.“

„Vielleicht hätte ich damit nicht zu dir kommen sollen. Das war dumm von mir.“

„Sag das nicht. Du kannst immer zu mir kommen, egal weswegen. Das weißt du. Nur hatte für einen Augenblick ein anderes Körperteil die Kontrolle übernommen und du scheinst auch nicht so abgeneigt zu sein. Trotzdem. Verzeih mir.“

Ich konnte ihm einfach nicht böse sein, schließlich ging es mir wirklich nicht viel anders. Sein warmer Atem auf meiner Haut, seine zarten Finger, die über meine nackten Arme strichen, machten mich ganz wuschig. Vielleicht hätte ich mich auch nicht nur so leicht bekleidet auf sein Sofa setzen sollen. Oft genug hat er mir ja klar gemacht, was er für mich empfand. Ganz unschuldig war ich an der Situation nicht, da ich seinen fordernden Kuss nach kurzem Zögern begierig erwidert hatte. Mein Hirn hatte einfach aufgehört zu funktionieren, stattdessen wurde meine unter Körperhälfte umso aktiver. Mein ganzer Körper schrie regelrecht nach Marco.

Doch irgendwas hatte mich im letzten Moment aufgehalten. Vielleicht war es Treue, die wenigstens ich gegenüber Rey mir bewahren wollte, obwohl ja er dran schuld war, dass ich nun hier saß und meinen Schmerz mit der Zuneigung eines anderen ertränken wollte. Vielleicht waren es auch Marcos Küsse, die so ganz anders waren, als die von meinem Schatz. Wenn Rey mich mit seinen Lippen liebkoste, brannte jedes Mal meine Haut heiß auf, als würde er mich brandmarken. Er war wie Feuer, das mich sanft umschlang, mir Wärme und Geborgenheit schenkte, mir die Luft zum atmen nahm und im nächsten Moment mich jedoch gnadenlos mit Haut und Haaren auffraß, bis nichts mehr von mir übrig blieb.

Marcos Berührungen glichen eher kaltem Feuer, bei dessen purem Anblick man eine Gänsehaut bekam, weil man genau wusste, dass man verloren war, sobald man ihm zu nahe kam, aber dennoch nicht widerstehen konnte, es zu berühren, zu kosten, es zu genießen und sich in dessen Flammen zur verlieren. Mit der Gewissheit, dass man auf ewig verbannt war, wenn man es kostete, verschlang man dieses blaue Feuer mit Wonne, wie einst der Apfel in Eden.

Tief in meinem Inneren fühlte ich, dass es nicht gut war, was ich gerade tat. Auch wenn ich wusste, dass Rey mich nicht so liebte wie ich ihn, musste ich ihm mindestens die Chance geben sich zu erklären. Ich wollte endlich wissen, ob er etwas für mich empfand oder ich nur billiger Ersatz war.

„Ist schon okay. Ich glaub ich schlaf jetzt lieber. In meinem Kopf ist alles durcheinander.“

„Soll ich dir noch eine Kopfschmerztablette holen?“

„Nein, geht schon. Ich will einfach nur noch schlafen.“, meinte ich matt und schaute bittend zu meinem Betreuer auf. Dieser nickte verständnisvoll, stand von der Couch auf, klappte diese um und holte das Bettzeug.

„Wenn irgendwas sein sollte, ich bin nebenan. Getränke sind im Kühlschrank. Ich lass meine Tür angelehnt. Gute Nacht.“ Kurz blieb Marco am Fußende stehen und musterte mich, bis ich zustimmend nickte. Dann ging er auf das Schlafzimmer zu.

„Ehm… Marco?“ Verwundert drehte er sich zu mir um.

„Ja?“

„Danke.“

Mein Betreuer lächelte mich liebevoll an, dann verschwand er im anliegenden Raum. Vielleicht war es wirklich gemein von mir, mich gerade bei ihm auszuheulen, aber zu wem sollte ich denn sonst gehen? Cat war abends nicht da und würde eh bestimmt für Rey sprechen als neutral zu bleiben. Außerdem hatte Marco darauf bestanden, dass ich mit ihm redete. Manchmal hatte er zwar hier und da ein paar Hintergedanken, jedoch hatte ich das Gefühl, dass er bisher der einzige war, der offen und ehrlich zu mir war.

Kaum war ich alleine und alles dunkel um mich herum, schlief ich fast sofort ein. Das alles machte mich einfach fix und fertig. Dementsprechend wild waren auch meine Träume. Wieder und wieder sah ich beide fest umschlungen, wie sie sich miteinander vergnügten, wie Rey Marco immer und immer wieder verführte und mich dabei hämisch auslachte. Als mich am nächsten Morgen mein Betreuer weckte, war mir so, als hätte ich gerade erst die Augen zum schlafen geschlossen. Ich fühlte mich mega beschissen – und das war schon geschmeichelt. Marco fragte erst gar nicht wie es mir ging, so sehr sah man es mir anscheinend an. Er lächelte nur lieb, drückte mir einen Gutenmorgenkuss auf die Stirn und streichelte flüchtig über meine Wange.

„Wir müssen uns beeilen, sonst bekommen wir kein Frühstück mehr.“, meinte er und setzte sich in Bauchhöhe auf das Sofa.

„Hab eh keinen Hunger.“, antwortete ich gepresst und versuchte die Bilder der Nacht zu verdrängen.

„Wieso hab ich geahnt, dass du das sagst? Komm schon, du musst dich ein wenig ablenken. Setz dich unten einfach zu mir und trink wenigstens einen Cappu.“

Meinem Betreuer konnte ich nicht widersprechen, also quälte ich mich auf, um mit ihm zusammen zur Mensa zu gehen. Ich wusste, dass ich vorher in mein Zimmer musste, da ich noch Klamotten brauchte und bereitete mich innerlich schon auf die Begegnung mit Rey vor. Doch als wir aus Marcos Wohnung traten stand Rey auf dem Flur vor unserem Zimmer und starrte mich ungläubig an. Er hatte den Türgriff in der Hand, den er nun verwundert losließ. Seine Augen waren verquollen und total rot. Schwarze Ringe zeichneten sich darunter ab. Ihm schien die Nacht genauso gut bekommen zu haben wir mir. Als er aber einen Schritt auf uns zu tat bekam ich dermaßen Panik, dass ich mich auf dem Absatz umdrehte und mit dem Spruch ich hätte noch was vergessen in Marcos Wohnung verschwand.

„Rey? Rey warte mal!“ Mein Betreuer rief noch hinter meinem gefallenen Engel her, doch ich hörte schon die Stufen der Treppe knarren, wie er hektisch davon lief.

„Tomas, so geht das nicht. Irgendwann musst du mit ihm reden.“, belehrte mich Marco und setzte sich neben mich aufs Sofa. Ich hatte derweil im Schneidersitz die Decke über meinen Kopf gezogen und wippte apathisch vor und zurück.

„Ich kann nicht – noch nicht.“

Mein Sitznachbar atmete geräuschvoll aus und legte dann seinen Arm um meine Schulter.

„Also gut, pass auf. Bis zum Nachmittag kann ich dir frei geben, aber allerspätestens zum Abendbrot stehst du wieder auf der Matte, alles klar?!“ Ich schob meinen Kopf unter der Decke hervor und schaute meinen Betreuer aus großen Augen an.

„Danke.“, flüsterte ich. Er seufzte nur und strich mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dann stand er auf und zog mich mit sich auf die Beine.

„Am besten du gehst in dein Zimmer und schöpfst ein wenig frische Kraft. Rey wird sich jetzt eh für ne Weile nicht blicken lassen. Aber sobald er wieder da ist, redet ihr gefälligst miteinander! Wenn ich dich schon nicht haben kann, will ich dich wenigstens glücklich sehen.“

Ich war überwältigt und auch ein bisschen überfordert von Marcos Worten. Wieder fragte ich mich, ob ich auf dem richtigen Weg war, doch mein Herz sprach eine eindeutige Sprache. Als wir vor meinem Zimmer standen umarmte ich ihn zum Dank, hauchte einen Kuss auf seine Wange und verschwand in „meine“ vier Wände. Ich warf mich auf mein Bett und wäre am liebsten eingeschlafen, aber meine Gedanken hielten mich davon ab. Mein Körper schrie schon fast schmerzhaft nach Erholung und nur zu gern hätte ich ihm diese gewährt, doch mein Kopf war am zerplatzen – trotz Schmerztabletten.

Außerdem wurde mir bewusst, bevor ich überhaupt mit Rey sprach, sollte ich mir über einiges klar werden. Wollte ich ihn denn wirklich zurück haben, nachdem was ich gesehen hatte? Ja verdammt! So seltsam wie sich das ganze auch anhören mag, doch mein Körper, meine Seele verlangten regelrecht nach ihm. Ich brauchte meinen kleinen Luzifer. Aber zu welchem Preis? Wollte ich denn für immer nur ein Ersatz bleiben? Auf jeden Fall nicht. Für einen sollte er sich klipp und klar entscheiden. Und er musste mir ne verdammt gute Geschichte erzählen, warum er so nen Scheiß verbockte. Es war erschreckend, wie sehr ich von Rey abhängig war – so sehr, dass ich ihm sogar so einen Fehltritt verzeihen würde. Aber vielleicht hatte er einen triftigen Grund für sein Verhalten gehabt?

‚Klar‘, schalt ich mich selbst. ‚Fürs Fremdgehen gibt’s immer nen entschuldbaren Grund – alles klar!‘ Schwach grinste ich über meine eigene Dummheit.

Oh Götter, aber ich begehrte diesen Jungen mehr als alles andere auf dieser beschissenen Welt. Kampflos konnte und wollte ich ihn einfach nicht aufgeben. Ich drehte mich auf die Seite und starrte zu Reys Bett hinüber. Das Bettzeug lag noch genauso da, wie ich es gestern verlassen hatte. Mein Schatz war wohl auch nicht zur Ruhe gekommen. Gut, ich hatte auch niemandem erzählt wo ich war. Keine Ahnung was in seinen hübschen Kopf vorgegangen war, als er mich aus Marcos Wohnung kommen sehen hat. Zuerst musste er sich aber erklären!

‚Hoffentlich geht’s ihm im Moment genauso beschissen wir mir‘, dachte ich boshaft, nur im nächsten Augenblick wieder besorgt seine Matratze zu mustern. ‚Kann er jetzt nicht einfach ins Zimmer kommen, mich in seine Arme nehmen, um Verzeihung bitten und schwören, dass das nie wieder passiert?‘

Ich vermisste dermaßen seine Nähe, seine Wärme, dass ich einfach rüber in sein Bett krabbelte und mich tief in Kissen und Decke einkuschelte. Diese rochen noch verführerisch nach meinem gefallen Engel. Tief atmete ich alles ein, meine Gedanken beruhigten sich fast sofort und ich glitt in einen ruhigen Dämmerschlaf. Kurz nach Mittagszeit weckte mich ein sanftes Rütteln an meiner Schulter.

„Hey du Schlafmütze, aufwachen.“ Cat hatte sich etwas über mich gebeugt und lächelte. Nur langsam öffnete ich ganz meine Augen und setzte mich nach einem genüsslichen Gähnen auf. „Na, macht dir wieder dein Kopf zu schaffen?“, fragte die Freundin mitleidig und setzte sich auf den Boden vor dem Bett.

„Nicht nur der.“, antwortete ich. Cat atmete daraufhin tief ein.

„Also gut, bevor ich wieder sinnlos auf einen von euch losgehe, erklär mir einfach warum ihr beide heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen seid, du krank gemeldet bist, ich Rey nirgends auffinden kann und du in seinem Bett schläfst?!“ Mit ruhiger Stimme stellte Cat ihre Fragen und ich war ihr mehr als nur dankbar, dass sie ehrlich an meiner Version interessiert war.

„Das ist eine lange Geschichte.“, fing ich an.

„Ich habe Zeit.“

„Also gut. Erstmal vorab: Wir haben uns nicht gestritten oder so. Es gab da so einige Ereignisse, Situationen, bei denen wir uns gesehen haben… und wir hatten bisher keine Gelegenheit drüber zu reden.“

„Tomas, quatsch nicht um den heißen Brei herum. Erzähl einfach was passiert ist.“, unterbrach mich die Kleine sanft.

„Okay. Ich hab gesehen, wie Rey Marco geküsst hat.“, platzte ich heraus.

„Waaaaas?!“ Cats Augen wurden groß. „Das ist jetzt kein dummer Scherz von dir, oder?“ Leider konnte ich auf diese Frage nur mit meinem Kopf schütteln und erzählte ihr die komplette Geschichte. Selbst Marcos Annäherungsversuch ließ ich nicht aus.

„Scheiße.“, kommentierte meine Freundin passend. „Er denkt, du hättest mit Marco rumgemacht und du denkst, er will was von Marco. Wieso veranstaltet er so ein Theater? Okay, vergiss die letzte Frage, denn die kann ich mir selbst beantworten. Aber es gibt doch so viele andere Möglichkeiten!“

„Cat, ich versteh kein Wort von dir.“

„Ich kapier das ganze auch nur zum Teil, aber langsam setzen sich alle Puzzelteile zusammen. Pass auf, ich klär nur ein paar Kleinigkeiten und erzähl dir dann alles. Wird langsam Zeit, wie ich finde. Leider ist mein derzeitiges Problem nicht nur Rey und du, sondern auch Josch.“ Alarmiert horchte ich auf. „Er war weder beim Frühstück noch beim Unterricht oder beim Mittagessen. Ich suche seit den Vormittag nach ihm, aber auf dem Grundstück ist er einfach nicht aufzufinden.“

„Habt ihr mal die Dorfleute gefragte, ob die ihn gesehen haben?“

„Nein, ich wollte erstmal sicher gehen, dass er nicht hier ist, bevor ich draußen anfange.“

„Du, ich zieh mir schnell was über und helfe dir beim suchen. Irgendjemand muss ihn doch gesehen haben.“

„Selbst die Kids aus seinem Zimmer sagen, dass Josch mit ihnen zusammen am Vortag abends zu Bett gegangen war. Doch heute Morgen war er nicht mehr da.“

Ich las die Sorge in Cats Augen – mir ging es nicht viel besser. Mir fielen wieder die Striemen auf Joschs Rücken ein und bekam eine dunkle Vorahnung. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, niemandem davon zu erzählen. Fast wollte ich schon Luft holen um es Cat zu sagen, doch ich erinnerte mich daran, dass ich dem Jungen versprochen hatte, meine Klappe zu halten und ich stand zu meinem Wort.

Nach einem kurzen Besuch im Bad zog ich mich schnell an und verließ mit Cat zusammen das Gelände. Die Freundin hatte zwei Fotos von Josch besorgt, wovon sie mir eines in die Hand drückte. Wir machten uns Treffpunkt und Uhrzeit aus wann wir uns wieder sehen wollten und durchkämmten dann das ganze Dorf. Ich quatschte jeden an, der mir über den Weg lief, schaute hinter jedem Gebüsch nach, doch niemand konnte mir weiterhelfen, geschweige denn, dass ich ihn irgendwo sitzend fand. Als ich nicht mehr wusste, wen ich noch fragen oder wo noch suchen sollte, kehrte ich zum Treffpunkt zurück. Eine halbe Stunde später tauchte Cat auf, leider auch ohne Erfolg. Es dämmerte, als wir zum Heim zurückkehrten. Die Sekretärin hatte ebenfalls keine guten Nachrichten für uns, dass er vielleicht wieder da wäre.

„Okay, lass uns kurz was essen. Ich versuche dann noch ein paar Leute zusammenzutrommeln und durchkämme nochmal das komplette Gelände. Vielleicht verkriecht er sich nur irgendwo.“, mutmaßte Cat, als wir auf die Küche zusteuerten.

„Wieso bist du dir so sicher, dass Josch noch hier ist?“

„Er würde seine kleine Schwester nie alleine zurücklassen – niemals! Außerdem hat ihn niemand am Bahnhof oder bei den Bussen gesehen. Dort hab ich nachgefragt.“

Wir wärmten uns fix das Mittagessen in der Mikro auf, aber mit viel Hunger aßen wir beide nicht. Ich machte mir schreckliche Vorwürfe. Nicht nur, dass ich das mit seinem Rücken verheimlicht hatte. In den letzten Tagen hatte ich mehr Augen für Rey gehabt, als für alles andere. Hätte ich mir mehr Zeit für Josch genommen, wäre es bestimmt nicht so weit gekommen.

Apropos Rey. War er denn nicht auch mit Josch befreundet? Vielleicht steckten sie zusammen irgendwo? Wenn ja – ob das wirklich so gut war? Rey konnte manchmal ziemlich jähzornig werden. Plötzlich tauchte vor meinem inneren Auge das Bild von dem zerschundenen Rücken des Jungen auf. Nein! Ärgerlich schüttelte ich meinen Kopf. Ich traute ja meinem kleinen Luzifer viel zu, aber nicht so etwas – niemals.

Cat und ich hatten uns auf halbem Weg nach dem Essen getrennt, um in verschiedenen Bereichen zu suchen. Sie wollte sich im Mädchendistrikt noch einmal genau umschauen, während ich mir die Arbeitszimmer und Unterrichtsräume vornahm. Schließlich gab es dort immer Abstellkammern oder verborgene Nischen, wo man sich prima verstecken konnte. Keine Ahnung wie lange ich schon suchte. Die meisten Kids waren längst im Bett und die Lehrer zuhause. Niemand nahm das Verschwinden des Jungen ernst, da er wohl schon oft ausgebüchst war. ‚Er wird spätestens morgen schon wieder auftauchen‘, bekam ich immer zu hören, wenn ich einen von ihnen um Hilfe bat. Cat regte sich tierisch über diese Ignoranz auf. Sie war mit den Nerven total am Ende.

Wir saßen beide im Hinterzimmer der Küche und überlegten, ob wir auch nichts ausgelassen hatten bei unserer Suche. Lang hielt es die Kleine nicht auf ihren Stuhl aus.

„Du, ich schau nochmal im Keller nach. Zwar ist der abgeschlossen, aber man weiß ja nie.“

„Okay, dann guck ich mich in der Wäschekammer um. Dass die Frauen ihn nicht gesehen haben bedeutet nicht gleich, dass er nicht dort ist.“

„Alles klar.“ Und schon sprang die Freundin auf und lief zur Tür. Kurz davor hielt sie jedoch inne und schenkte mir ein schwaches Lächeln. „Danke für deine Hilfe.“ Ich grinste nur zurück

„Kein Thema, schließlich ist er ein Freund von uns, oder?!“ Cat nickte nur erleichtert und verschwand dann aus dem Raum.

Leider war die Wäschekammer komplett leer – selbst in den Maschinen hatte ich nachgeschaut. Verdammt noch mal wo steckte der Junge bloß? Aber vielleicht wusste Marco mehr? Schließlich war er sein Betreuer und müsste doch seine Schützlinge kennen. Entschlossen machte ich mich auf den Weg Richtung Turnhalle. Dabei kam ich an einem der Unterrichtsräume vorbei, in dem es mit einem mal tierisch laut plauzte. Erschrocken blieb ich vor der Tür stehen. Ganz leise öffnete ich diese und schlich mich ins Zimmer. Doch wen ich dort sah, hatte ich nicht erwartet. Rey saß am Fenster auf einem Tisch, starrte nach draußen und schob mit seinen Füßen die hochgestellten Stühle des gegenüberliegenden Platzes vom Tisch. Etwas lauter schloss ich die Tür um mich bemerkbar zu machen. Mein kleiner Luzifer schaute erschrocken auf und sah mich verwirrt an.

„Hey.“, versuchte ich eine schwache Begrüßung, auf die er noch nicht mal antwortete, sondern seinen Blick nur wieder nach draußen richtete.

Verdammt noch mal. Wieso fühlte ich mich so mies? Hatte ich irgendwas Falsches getan? Er musste sich doch an jemand anderes ranmachen! Ich ging ein Stück auf ihn zu und musterte ihn von der Seite. Rey sah noch schlimmer aus, als am morgen, seine Haut blass, fast fahl und tiefe Furchen durchzogen seine Stirn.

„Was willst du?“, fragte er mich frostig. Am liebsten hätte ich ihn sofort in meine Arme geschlossen, ihm gesagt, dass wir das schon alles irgendwie schaffen – zusammen. Er wirkte so zerbrechlich und schwach.

„Mit dir reden. Ich denke, du hast mir einiges zu erklären.“ Doch Rey schnaubte nur und schaute mich herablassend an.

„Ich dir? Ist ja interessant, gerade von dir so was zu hören.“, blaffte er.

Was soll das? Ich bot ihm die Chance, alles gerade zu rücken, sich bei mir zu entschuldigen und er zickte rum! Langsam wurde ich sauer.

„Keine Ahnung was du dir einbildest gesehen zu haben. Vielleicht kam ich aus Marcos Wohnung, aber ICH habe nicht mit ihm rumgemacht. Weißt du eigentlich, warum ich dort übernachtet habe? Warum ich mich nicht mehr in unser Zimmer getraut habe????“ Mehr und mehr steigerte ich mich in meine eigenen Worte hinein. Aber dass Rey so hochnäsig auf mich hinab blickte und keine Miene verzog, kotzte mich an. Anstatt auf meine Antwort zu warten, stellte er mir eine Gegenfrage.

„Habt ihr euch geküsst?“

„Was?“ Verwirrt sah ich ihn an.

„Das war ne ganz einfach Frage, selbst für dich. Also, habt ihr euch geküsst?“

„Ja, aber…“, antwortete ich wahrheitsgemäß, doch bevor ich mich weiter erklären konnte, stieß Rey mit voller Kraft den anderen Stuhl vom Tisch. Erschrocken zuckte ich zusammen.

„Raus.“, sagte er leise.

„Lass mich doch erstmal weiter erklären!“, bat ich und versuchte, so sanft wie nur möglich zu klingen.

„Hörst du schwer? Verschwindeeeee!“ Wie ein Irrer schrie er mich an, sprang vom Tisch runter, hob die vordere Schulbank leicht an und warf sie dann mit ganzer Kraft um. Auch die umstehenden Möbel blieben nicht verschont. Völlig verängstigt und überfordert wich ich vor seinem Wutausbruch zurück zur Tür.

„Hau endlich ab!!!!“

Ich konnte mich gerade noch so vor einem fliegenden Stuhl ducken, dann riss ich die Tür auf und flüchtete nach draußen. Mit einem lauten Knall warf ich die Tür zu und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Tränen begannen an meinen Wangen hinab zulaufen und ich schluchzte. Was war da drin genau abgelaufen? Ich wollte ihm verzeihen und er verurteilte mich wegen einem Kuss! Er war doch daran schuld, dass ich halb nackt auf Marcos Sofa gelandet war.

Heulend ließ ich mich auf den Boden sinken. Scheiße, ich liebte doch diesen Vollidioten. Wieso machte er sowas mit mir?! Ich wollte nur ihn, aber er? Wollte er nur mich? Dem Anschein nach nicht. Ich war am Ende. Mein Kopf war nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken fassen zu können. Keine Kraft mehr für unbeantwortete Fragen, für sinnlose Mutmaßungen.

Bisher gab es nichts, was ich wirklich von Herzen wollte. Gute Noten? Ich lernte leicht, war eine gute Fügung. Freunde? Einige wenige und diese trotz allem nur oberflächlich. Selbst meinen Sport begann ich nur aus der Notwendigkeit heraus, um mich vor den Übergriffen meiner Mitschüler zu schützen. Aber Rey… er war so unnahbar, hatte etwas Unbeschreibliches an sich, was mich vom ersten Augenblick fesselte, als ich ihm begegnete – so unergründlich und dämonisch sein Wesen. Ich wollte wissen wer er ist, wer er war, was er machte – einfach alles. Mein Körper schrie nach seiner Nähe, mein Herz nach seiner Wärme. Zum ersten Mal in meinem beschissenen Leben begehrte ich etwas, begehrte ich jemanden mehr als alles andere. Und genau dies zerriss mein Inneres und bescherte mir unerträgliche Schmerzen.

Mühsam rappelte ich mich auf und lief Richtung Turnhalle, meine Hand stützend an der Wand entlang streifend. Meine Beine hatten mich ohne dass es mir wirklich bewusst gewesen war bis vor Marcos Wohnung getragen. ‚Wieso nicht.‘, dachte ich schwach und klopfte an die Tür. Wenig später wurde diese geöffnet und ich versuchte ein knappes Lächeln zur Begrüßung, was wohl doch eher einer Fratze glich, so scharf wie mein Betreuer Luft holte, als er mich ansah. Wortlos trat er beiseite. Ich schlurfte auf das Sofa zu und ließ mich schwer fallen.

„Sorry, wenn ich das jetzt so sage, aber du siehst Scheiße aus.“, meinte Marco, nach dem er sich neben mich gesetzt hatte.

„So fühle ich mich auch.“, krächzte ich, wobei mir meine Stimme fast versagte. Blöde Heulerei.

Nach ein paar auffordernden Blicken erzählte ich ihm schließlich, was geschehen war. Wieder stiegen Tränen auf und kullerten unablässig meine Wangen hinab. Müsste ich nicht langsam leer sein? Mein Betreuer legte seine Arme um mich und zog mich zu sich heran. Er hielt mich einfach nur fest und streichelte beruhigend über meinen Rücken, bis ich mich wieder gefangen hatte. Es tat so unsagbar gut, jetzt bei ihm zu sein. Seine Nähe betäubte ein wenig den Schmerz in mir.

Sanft nahm er mein Gesicht in beide Hände, strich mit den Daumen das salzige Nass von meinen Wangen und stoppte eine Träne mit seinen Lippen. Zärtlich küsste er mich auf den Mund und noch ehe ich wusste was geschah, saß er auf mir. Marcos Finger wanderten unter mein Shirt, seine Zunge kämpfte wild mit meiner und ich spürte meine Männlichkeit unter seinen geschickten Griffen anschwellen. Bei den Göttern, das fühlte sich einfach so geil an. Ich war wie Wachs in seinen Händen, vergaß meine ganzen Schmerzen, den Grund warum ich überhaupt her gekommen war, die Trauer, mein gebrochenes Herz wegen…

REY!

Sein Gesicht tauchte plötzlich vor meinem inneren Auge auf – seine tiefblauen Augen strahlten mich wie funkelnde Sterne an und durchbrachen die Trance, in die ich mich selbst versetzt hatte.

„Nein!“ Erschrocken schob ich Marco von mir runter und sprang auf. Mit schnellem Atem, als hätte ich gerade einen Marathonlauf hinter mir, richtete ich meine Sachen und fuhr mir nervös durch meine langen Haare.

„Sorry, aber ich kann das nicht.“, stammelte ich und wich einen Schritt zurück, als auch Marco sich erhob.

„Kein Problem. Ich geh kurz ins Bad mich frisch machen. Auf der Theke hinter dir im kleinen Regal sind Kopfschmerztabletten und Batterien.“, er zeigte mir die Taschenlampe, die auf dem Couchtisch stand, „Kannst die schon mal wechseln bevor wir losgehen und Joschua suchen.“

Ich nickte zaghaft, worauf mein Betreuer Richtung Bad verschwand, nicht ohne mich vorher noch mal prüfend anzusehen. Er sah enttäuscht aus. Aber was erwartete er von mir? Eigentlich war das nicht gerade ein feiner Zug von ihm gewesen, diese Situation so auszunutzen. Okay, ich gebe ja zu, dass ich Marco anziehend fand, aber was ich im Moment mehr brauchte, war ein guter Freund – kein Fick. Ich wollte mich jemandem anvertrauen, mein Leid teilen und nicht gleich mit dem nächst besten ins Bett steigen.

Noch wollte ich Rey außerdem nicht aufgeben – ich konnte es einfach nicht. Dass er vorhin so krass reagierte, als er von dem Kuss zwischen Marco und mir erfuhr bedeutete, dass er eifersüchtig war, was wiederum zur Folge hatte, dass er doch etwas für mich empfand. Oder war er auf mich eifersüchtig, weil Marco mich anbaggerte und mich küsste und nicht ihn? Scheiße!!! Fluchend schüttelte ich meinen Kopf. Wieder überschlugen sich meine Gedanken. Weder wusste ich was ich fühlen, noch was ich glauben sollte.

Erstmal warf ich mir zwei Schmerztabletten rein - und wunderte mich, dass diese überhaupt noch wirkten, so abhängig, wie ich in der letzten Zeit von den Dingern war – und suchte dann in dem kleinen Aluregal nach den Batterien, von denen mein Betreuer gesprochen hatte. Nach kurzem stöbern fand ich das Gesuchte und noch etwas. Verwundert nahm ich es in die Hand und drehte es zwischen meine Finger. Es war eine Tube – fast aufgebraucht – die mir sehr bekannt vorkam.

‚Hatte ich die nicht Josch gegeben, damit er sich selbst eincremen konnte? Der Kleine hatte mir doch mal gesagt, dass er sie richtig gut versteckt hatte. Ich muss Marco fragen, wo er sie gefunden hat. Vielleicht befindet sich Josch ja dort in der Nähe!‘

Aufgeregt lief ich ins Schlafzimmer, da man dort hindurch musste, um ins auf der rechten Seite liegende Bad zu kommen. Vor der geschlossenen Milchglastür blieb ich stehen und wollte gerade Luft holen, um mich bemerkbar zu machen, als mein Blick zum Bett wanderte. Ich stand am Fußende rechts davor, konnte also dank dem schwachen Licht nicht erkennen, was sich hinter dem Bett auf der linken Seite befand. Doch irgendwas war dort. Keine Ahnung wieso, aber einem Impuls folgend ging ich zwei Schritte nach vorn, damit ich diesen Teil des Zimmers einsehen konnte. Dann stockte mir der Atem. Ich schloss meine Augen und betete, dass es nur eine Illusion gewesen war. Leider wurde ich enttäuscht.

Als ich sie wieder öffnete, lag dort immer noch der kleine Junge, den ich mit Cat heute den ganzen Tag gesucht hatte. Arme und Beine waren gefesselt, der Oberkörper komplett frei – voller neuer Wunden. Barfuß lag er auf dem Boden, seine Hose nur noch ein einziger Fetzen, sein Mund geknebelt. Ab da an schaltete mein Hirn komplett aus und meine Instinkte übernahmen die Führung. Ich hörte, wie im Bad die Klospülung ging und drängte mich selbst zur Eile. Josch musste hier weg – sofort! Also schnappte ich mir den Kleinen, der wie in Trance auf der Seite hin und her wippte.

Erschrocken zuckte er zusammen und wollte anfangen zu wimmern, doch ich hielt ihm den Mund zu und legte einen Finger auf meine Lippen. Es dauerte zwei Sekunden, bis mein Freund mich erkannte, worauf seine Augen riesig wurden. Kurzerhand nahm ich mir ihn auf die Arme und stürmte aus dem Zimmer. Ich rannte am Sofa vorbei, hörte noch, wie die Badezimmertür ruckartig aufgerissen wurde, hörte meinen Namen und einen Fluch, hörte schnelle Schritte, die nicht meine eigenen waren und dann, wie etwas aus Glas dicht bei mir zerbrach. Ich spürte, wie mich etwas am Hinterkopf traf, wie ich strauchelte und dann doch der Länge nach zu Boden fiel. Ich schaffte es nicht mal mehr, Josch festzuhalten, dann wurde alles schwarz um mich herum.


Als ich wieder zu mir kam, hatte ich Mühe, die vielen kleinen Sterne vor meinen Augen wegzublinzeln. Marco hatte mir die gläserne Vase, die auf der Kommode rechts neben der Schlafzimmertür gestanden hatte mit voller Wucht an den Kopf geworfen. Überall lagen Scherben auf dem Boden verteilt und nicht nur Wasser tropfte an meinen Haaren hinab auf das Laminat. Mit rebellierendem Magen versuchte ich mich aufzurichten.

Nicht weit vor mir lag Josch und starrte mich aus vor Schrecken geweiteten Augen an. Wieder sah ich seine geschundene Haut und unsagbare Wut stieg in mir auf. Ich musste ihn hier raus holen, koste es was es wolle! Ungeachtet der Glasscherben, die meine Unterarme und Hände aufrissen, stemmte ich mich hoch. Blut ran an meiner Stirn herunter und als ich es wie in Zeitlupe auf dem Boden tropfen sah, war ich blind vor Hass. Zum ersten Mal in meinem ganzen Leben wollte ich jemandem richtig körperlich wehtun.

Doch in der Sekunde, als ich mich einigermaßen aufrecht befand, wurde ich an der Schulter herumgerissen. Zwei Hände schlossen sich schraubstockartig um meinen Hals und schnürten mir die Luft ab. Marco funkelte mich mit einer wutverzerrten Fratze an, seine einst so schönen braunen Augen hatten sich verdunkelt und ein mordlustiges Grinsen verformte seine damals weichen Lippen. Er hatte mich die ganze Zeit belogen, für seine Intrigen benutzt und missbraucht. Er war die ganze Zeit nur so nett zu mir gewesen, weil ich mich mit Josch so gut verstanden hatte und er befürchten musste, verraten zu werden. Er hatte mich nicht in den Arm genommen, um mich wirklich zu trösten, hatte mich nicht geküsst, weil er sich in mich verguckt hatte, sondern aus eiskalter Berechnung um mich zu kontrollieren, um mein Vertrauen zu gewinnen, um mich auszuhorchen. Ich war am Ende.

Kraftlos fielen meine Arme nieder und ich verlor den Halt unter meinen Füßen. Resigniert schloss ich meine Augen und gestand mir ein, dass ich versagt hatte. Ich wollte doch nur, dass Josch nicht mehr missbraucht wurde, dass derjenige, der so etwas Krankes tat bestraft wurde. Und ich wollte meinen gefallenen Engel. Mehr als alles andere sehnte ich mich nach seiner Nähe, seiner Wärme, seinem beruhigenden Herzschlag, den ich hörte, wenn ich auf seiner Brust liegend döste. Reys tiefblaue Augen tauchten wieder auf und ich versank in deren erlösendem Schein.

Doch bevor ich mich vollends ergeben konnte, fiel ich mit einmal hart zu Boden. Die Zange um meinen Hals hatte sich gelöst, weswegen ich gierig die neugewonnene Luft röchelnd einsog. Wieder wurde ich an der Schulter gepackt, nur dieses Mal viel sanfter. Irritiert schaut ich auf und blickte in Reys besorgtes Gesicht.

„Bei den Göttern, Tomas. Alles wieder okay? Hast du andere Verletzungen?“ Mein kleiner Luzifer redete hektisch auf mich ein, gab mir überhaupt keine Chance, zu antworten.

„Es tut mir leid, das ist alles meine Schuld. Wäre ich nur eher da gewesen. Es tut mir so leid.“, stammelte er unentwegt, während ich endlich wieder zur Besinnung kam. Gott, sein Blick war voller Schmerz, Tränen rannen unablässig an seinen Wangen hinab und er wiegte sich vor mir kniend apathisch vor und zurück.

„Rey.“, brachte ich nur gurgelnd aus meiner geschundenen Kehle hervor.

Er sollte sich nicht die Schuld an dem ganzen Desaster aufhalsen. Gut, vielleicht hatte er einige Fehler gemacht, aber das hatte doch mit all dem hier nichts zu tun. Ich wollte ihn beruhigen, ihm sagen, dass wir über alles reden werden, doch ich brachte keinen Laut über meine Lippen. Nur seinen Namen. Er sah mich daraufhin ängstlich an und streckte die Hand nach mir aus.

Wie gern würde ich mich in seine Umarmung stehlen, einfach alles um mich herum vergessen, nur noch ihn spüren, doch ich zuckte zurück. Nicht wegen Rey, aber Marco, der seitlich von uns auf dem Bauch lag, begann sich zu regen. Rey hatte es nicht bemerkt, nahm langsam seine Hand zurück und schaute mich seltsam an. Ich sah, wie sich seine Kiefermuskeln unablässig bewegten, er seinen Blick zu Boden richtete und dort seine Augen fassungslos umherzuckten. Erst als ich ängstlich nach hinten kroch, bemerkte mein gefallener Engel seinen langsam erwachenden Betreuer. Sofort griff er nach dem Stab, der die ganze Zeit neben ihm gelegen hatte, stand auf und zog mich mit sich nach oben.

„Kannst du alleine laufen?“, fragte er mich ernst worauf ich zögerlich nickte. „Gut.“ Rey zog ein größeres Messer hervor, lief zu Josch und durchschnitt dessen Fesseln. „Schaffst du es, ihn hinunterzutragen?“ Ich war mir nicht sicher, aber es blieb nur wenig Zeit.

„Ich muss.“, antwortete ich deshalb.

Rey hob den Kleinen auf und legte ihn in meine Arme. Zwar schwankte ich kurz, aber fing mich nach wenigen Sekunden wieder.

„Lauf auf den Spielplatz raus. Dort warten Leute von mir. Sie wissen was zu tun ist.“, forderte mich mein Freund auf und schob mich hastig nach draußen, nachdem wir Marco laut stöhnen hörten.

„Was ist mit dir?“, protestierte ich schwach.

„Das ist nicht mehr wichtig.“, meinte er nur und lächelte sanft.

Was soll das? Ich wollte ihn hier nicht zurücklassen. Und vor allem nicht dann, wenn er so todeswillig da stand! Ich holte schon Luft um zu widersprechen, doch aus dem Augenwinkel sah ich erschrocken, wie Marco auf uns zustürmte. Rey bemerkte meinen Blick und schlug mit voller Wucht die Tür vor meiner Nase zu. Ein Schloss hörte man einrasten und wie Schlüssel weiter weg zu Boden klirrte. Er hatte sich mit ihm eingeschlossen! Mit IHM!

Wütend trat ich gegen die Tür, warf mich schreiend mit der rechten Schulter dagegen, doch sie gab nicht einen Millimeter nach. Laute Kampfgeräusche drangen nach draußen, was mich wahnsinnig werden ließ. Marco würde ihn umbringen! Josch begann sich in meinen Armen zu bewegen und stöhnte auf. In diesem Moment wusste ich, dass ich nur einen von beiden helfen konnte. Rey hatte sich für uns geopfert und das sollte nicht umsonst geschehen sein. Mein Freund war stark genug, um sich ein paar Minuten selbst verteidigen zu können. Ich würde Josch an einen sicheren Ort bringen und dann sofort zurückkommen.

Schwankend machte ich mich auf den Weg nach unten, während Josch sich zitternd an meinen Hals klammerte. Fast hatte ich die große Außentür erreicht, die in den Innenhof führte, als durch genau diese eine rothaarige Person gelaufen kam. Fassungslos blickte die Sekretärin uns an, dann ging sie langsam auf uns zu.

„Dem Himmel sei Dank, es geht euch gut. Kommt mit, ich bringe euch in Sicherheit.“, forderte sie uns auf und winkte, ihr zu folgen. Immer wieder sah sie sich gehetzt um, als erwartete sie jemanden. Ich stand wie angewurzelt da und wusste nicht, was ich tun sollte. Ihr vertrauen? Hatte sie sich nicht immer so gut mit Marco vertragen? Hatte nicht sie Rey und mich fast mit Blicken getötet? Dani bemerkte meine Unsicherheit, als ich einen Schritt zurücktrat und kam etwas auf mich zu.

„Komm schon, beeil dich!“, bedrängte sie mich, war nur noch gut drei Meter von mir entfernt. Eine laute Stimme und ein metallisches Klicken ließ die Sekretärin jedoch erstarren.

„Wenn du dich auch nur einen Millimeter rühren solltest, puste ich dir deinen hübschen Kopf von deinen arroganten Schultern.“ Die Direktorin stand mit gezückter Waffe auf der Treppe und fixierte kalt ihr Opfer. „Tomas, mach einen Bogen um diese Person und komm zu mir.“, befahl sie mir ohne ihre leuchtgrünen Augen von Dani abzuwenden. Ich stand weiterhin nur da und wusste nicht, wem ich glauben sollte. Bei beiden habe ich mich immer unwohl in ihrer Gegenwart gefühlt, obwohl mir wenigstens die Direktorin offen und ehrlich ins Gesicht gesagt hatte, was sie von mir hielt. Aber war das besser?

„Lauf.“, flüsterte mir auf einmal die Sekretärin zu und deutete mit dem Kopf auf die Turnhalle. Stimmt, da gab es ja einen Hinterausgang.

„Hör nicht auf sie, wer weiß was dich dort erwartet – oder wer. Bitte vertrau mir.“, redete die Direktorin auf mich ein. Josch begann in meinen Armen noch lauter zu wimmern und um mich herum drehte sich alles. Es war zu viel für mich. Können die nicht alle verschwinden und mich in Ruhe lassen?!

Dani bemerkte meinen Schwächeanfall und sah anscheinend ihre Chance. Mit einem geschmeidigen Satz sprang sie nach vorn, aus dem Blickfeld der Direktorin, die erst die Treppe hinab steigen musste. In dieser Zeit zog die Sekretärin ihre Waffe und richtete sie auf Josch und mich.

Nein! Instinktiv drehte ich mich um, meinen Rücken ihr zugewandt um Josch zu schützen. Dann hörte ich auch schon ein seltsames Summen, kurz darauf einen schallgedämpften Schuss. Nur spürte ich keinen Schmerz. Hatte sie mich etwa aus der kurzen Entfernung verfehlt? Wieder hörte ich dieses Summen und folgte mit dem Auge das Geräusch. Eine kleine Gestalt stand nicht unweit vor uns und fing mit der rechten Hand einen schwarzen Bumerang auf, klappte ihn irgendwie zusammen und hängte ihn an ihren Gürtel.

„Das war ja mehr als nur knapp.“, meinte Cat und kam gelassen auf mich zu. Sie war in engen schwarzen Sachen gekleidet, ihre Stiefel hatten eine weiche Sohle, weswegen sie kein einziges Geräusch beim Gehen verursachte. Ihre Haare waren streng nach hinten zusammengebunden und um ihre Augen war ein mattgrüner, breiter Streifen, der von rechts nach links über die komplette Augenpartie des Gesichtes verlief und sich im Haaransatz verlor. Zwar war ich etwas erleichtert, ein vertrautes Gesicht zu sehen, aber in diesen dominanten Aufzug machte sie mir Angst.

Mit ihrem Bumerang hatte sie Dani die Waffe aus den Händen geschlagen, die genau zwischen beiden Frauen gelandet war. Die Sekretärin stierte kurz auf die Pistole, dann abschätzend auf Cat. Die Kleine schien zu ahnen, was ihre Gegnerin vorhatte und machte sich sprungbereit.

„Vergiss es du Hexe.“, zischte Cat, dann rannte Dani auch schon los.

Die Direktorin zerrte mich hinter sich und hielt ihre eigene Waffe schussbereit. Dummerweise rangelten die anderen beiden dermaßen miteinander, dass sie nicht abdrücken konnte, ohne Cat zu gefährden. Die Freundin hatte im letzten Augenblick schlitternd die Pistole weggekickt und gleich ihren Fuß in das Gesicht ihrer Widersacherin versenkt. Schreiend warf sich Dani auf den Rücken und hielt sich mit beiden Händen die blutige Nase. Die war definitiv gebrochen. Noch ein letztes Mal bäumte sich die Sekretärin auf, doch die Kleine verpasste ihr einen heftigen Faustschlag ins Gesicht, wonach die Rothaarige ohnmächtig am Boden liegen blieb.

„Der war für Josch du Schlampe!“ Kaum hatte der Junge seinen Namen gehört, blickte er auf.

„Cat.“ Schwach versuchte er, sich von mir zu befreien, weswegen ich ihn runter ließ. „Cat!“ Jammernd stolperte Josch auf die junge Frau zu, die sich mit ausgebreiteten Armen niedergekniet hatte.

„Joschua.“ Der Kleine fiel regelrecht der Freundin um den Hals und fing an bitterlich zu weinen.

„Schsch… ist ja gut. Ich bin bei dir. Keine Angst. Du bist in Sicherheit.“, beruhigend redete sie auf ihn ein und drückte ihn selbst fest an sich.

„Gut gemacht.“, hörte ich die Direktorin hinter mir mich loben, wobei sie mich sogar sanft anlächelte.

Ich war total irritiert. Die taten ja gerade so, als wäre alles vorbei – ein Happy End. Aber Rey war noch immer dort oben bei Marco – alleine!!! Ich hatte noch nicht mal den Gedanken zu Ende gedacht, als Flo und Chris durch die Tür gelaufen kamen. Chris lief gleich zu Cat, legte einen kleinen Koffer neben sich ab und versorgte Joschs Wunden. Flo wandte sich an die Direktorin.

„Draußen ist alles gesichert. Ein Hilfswagen, zwei gepanzerte Transporter und ein Trupp leicht bewaffneter Söldner sind eingetroffen. Mehr gestand die Königin uns leider nicht zu.“

„Gut. Das wird reichen müssen. Sichert das Gebäude. Ich will weder Verletzte noch Zeugen, also geht leise vor.“, befahl die Direktorin, worauf Flo sich ganz knapp verbeugte und in Bewegung setzen wollte.

Jetzt, als beide Personen nebeneinander standen, bemerkte ich die unbestreitbare Ähnlichkeit, dieselben tiefschwarzen Haare, die gleichen wild, fast bedrohlich, funkelnden dunkelgrünen Augen. Gerade wollte ich mich mehr darüber wundern, als auf einmal Schüsse fielen. Sie kamen aus Richtung der Turnhalle!

REY!!!

Ohne groß zu überlegen rannte ich los. Ich hörte meinen Namen rufen, doch ignorierte ich die Warnungen. Keuchend kam ich vor Marcos Wohnung zum stehen und klopfte wie wild an der Tür. Sie war noch immer abgeschlossen, weswegen ich mich immer und immer wieder dagegen schmiss. Es passierte nicht das Geringste. Ein letztes Mal mobilisierte ich meine restliche Kraft und nahm Anlauf. Allerdings kam mir Flo dazwischen, in dem er mich grob zur Seite schubste.

„Mach Platz, Junge!“, zischte er, zog seine Waffe und schoss ein paar Mal auf die Scharniere. Dann trat er einmal kräftig gegen die Tür, die splitternd nachgab.

Professionell sicherte Flo das Zimmer – ich stürzte nur blindlings hinein. Rey saß auf dem Boden, den Rücken an der Couch gelehnt und starrte auf Marco, der vor ihm auf dem Bauch lag und sich nicht rührte. Mein Freund hielt die Waffe in der rechten Hand, mit der linken drückte er sich in Beckengegend eine Wunde ab, aus der unablässig Blut quoll. Flo hatte sich über meinen ehemaligen Betreuer gebeugt und suchte seinen Puls.

„Er lebt. Ist nur ohne Bewusstsein.“, verkündete er erleichtert und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wollte nicht, dass Rey zum Mörder wurde – nicht wegen mir – selbst wenn dieser Wichser den Tod verdient hatte. Sanft berührte mich jemand am Arm und ich blickte zur Seite.

„Komm, du kannst hier eh nichts mehr ausrichten. Lass Rey sich erstmal wieder fangen. Später werdet ihr noch genügend Zeit haben, um zu reden.“ Gefühlvoll aber doch mit Nachdruck führte mich Cat aus dem Zimmer hinaus bis zum Innenhof. Dort wuselten eine Menge Leute in schwarz mit schweren Waffen herum, denen Cat aber keine Beachtung schenkte. Sie führte mich zu einem kleinen, mattschwarzen Transporter, wo davor ein schmächtiger, aber wach ausschauender Mittvierziger wartete. Beide nickten sich zur Begrüßung kurz zu.

„Ich werde nach Josch sehen. Ich habe veranlasst, dass man dich gut versorgt und deine Kopfwunden untersucht. Vertrau mir bitte, die Ärzte sind hier wirklich sehr gut. Sobald alle da sind und die Pakete verschnürt, fahren wir zur Residenz. Dort erzähle ich dir alles und beantworte jede Frage, die du willst. Mehr kann ich dir im Moment nicht anbieten.“ Abwartend sah die Freundin mich an.

„Okay“, stimmte ich schwach zu.

Was sollte ich auch sonst antworten? Ich war so durcheinander, dass ich kaum mehr mitbekam, was um mich herum geschah. Cat verabschiedete sich und ich wurde notdürftig verarztet. Ich konnte beobachten, wie Dani in Handschellen abgeführt und in eines der gepanzerten Fahrzeuge gesteckt wurde. Also hatte ich es mit einer Art Polizei zu tun? Unüberlegt schluckte ich ohne zu zögern die Tabletten, die mir gegeben wurden, worauf das Pochen in meinem Kopf etwas abstumpfte. Noch ein paar mir unbekannte Personen wurden abgeführt, dann trat Rey ins Freie. Flo schob ihn unermüdlich in meine Richtung, sich daran überhaupt nicht störend, dass er laut murrte und immer wieder weglaufen wollte.

„Ich habe hier noch einen Patienten.“, meinte Flo und gab Rey einen kleinen Stoß, der ihn zum Fahrzeug stolpern ließ.

„Was haben wir denn diesmal mein Junge?“, fragte der Mann und knöpfte sich Rey vor. Flo nickte zufrieden und verschwand.

„Na ja, ist nur ein Streifschuss. Mit Nadel und Faden bekommen wir das schon wieder hin. Hattest du mir nicht beim letzten Mal versprochen, besser auf dich aufzupassen?“, mahnte der Arzt.

„Sorry Doc.“ Mehr brachte Rey nicht raus. Ich war nicht fähig auch nur ein Wort zu sagen. Unentwegt starrte ich auf die brutal aufgerissene Haut meines Freundes, wie er bei der auch noch so kleinsten Berührung zusammenzuckte und gepresst vor Schmerzen aufstöhnte. Das war alles meine Schuld. Ich hätte einfach stärker, schneller, besser sein müssen.

„Hör auf zu weinen du Idiot.“, tadelte Rey mich sanft, wobei ich mir erschrocken mit der Hand über meine Wange fuhr. Sie war wirklich feucht.

„Aber…“, versuchte ich mich zur rechtfertigen, wurde jedoch gleich von ihm unterbrochen.

„Du bist an nichts schuld. Du am allerwenigsten.“

Der Doc war mit meinem gefallenen Engel soweit fertig und verschwand im Transporter, wodurch Rey sich wieder frei bewegen konnte. Langsam kam er auf mich zu, bis nur noch ein Schritt uns voneinander trennte.

„Ich weiß nicht wo ich anfangen soll dir alles zu erklären. Ich weiß nur wenn ich es tue, dass ich dich ein für alle mal verlieren werde. Schuld, dass du in diese ganze Schmierenkomödie reingezogen wurdest, bin ich.“, gequält sah er mich an, hob seine Hand um mich zu berühren. Doch er überlegte es sich im letzten Augenblick anders und ließ sie kraftlos fallen. Ich hielt es jedoch keine Sekunde länger aus, griff nach seinen Fingern und vergrub mein Gesicht in seiner Handfläche.

„Du tust es schon wieder. Du verurteilst mich schon vorher, obwohl du überhaupt nicht weißt was ich tun, wie ich reagieren werde. Das ist nicht fair.“

Mir war egal was passiert war – okay, es war zwar krass gewesen, aber wir hatten es überstanden – ich durfte ihn kennenlernen, durfte mit ihm zusammen sein, ihn berühren, ihn küssen. Mir war egal, warum das alles geschehen war, es war vorbei. Und Rey ging es den Umständen entsprechend gut. Klar wollte ich Antworten auf nicht wenige Fragen, aber – und dessen war ich mir hundertprozentig sicher – ich wollte bei Rey bleiben. Nie wieder würde ich ihn einfach so freigeben.

„Bitte mach es mir nicht noch schwerer, mit allem abzuschließen.“

Verärgert sah ich meinen Freund an.

„Das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen. Mich bekommst du nicht mehr los.“ Trotzig zog ich einen Flunsch, worauf Rey müde lächelte, nah an mich herantrat und mir einen Kuss auf die Stirn drückte.

„Dickkopf.“, flüsterte er. Erleichtert wollte ich meine Arme um meinen kleinen Luzifer schlingen, doch als er das bemerkte, schob er mich sanft aber doch bestimmend von sich weg.

„Bitte warte erst bist du alles weißt und dann entscheide.“

Noch bevor ich darauf etwas sagen konnte, drehte er sich um und lief zu den anderen schwarz gekleideten. Allerdings kam er nicht weiter als drei Schritte, denn genau in diesem Augenblick trat Marco auf den Innenhof, gefolgt von zwei Wächtern, die ihn jeweils rechts und links am Arm festhielten und nebenher liefen. Als mein ehemaliger Betreuer uns entdeckte, verzogen sich seine Lippen zu einem hässlichen Grinsen.

„Das letzte Wort ist noch lange nicht gesprochen, Reyhan. Ich werde hier rauskommen. Meine Leute sorgen schon dafür. Ich werde dich finden – das schwöre ich. Und nachdem ich mit dir fertig bin, greife ich mir deinen kleinen Freund und werde ihn dermaßen durchvögeln, dass er nie wieder einen anderen Schwanz haben will! Er wird wollüstig mit Vergnügen seinen Arsch hinhalten und dabei meinen Namen stöhnen, während du uns zuschauen darfst!“

Weiter kam Marco nicht, denn Rey war auf ihn zugestürmt und drosch wie wild auf ihn ein. Die anderen versuchten meinen Freund von seinem Opfer abzubringen, doch er schüttelte sie wie lästige Fliegen einfach ab. Selbst Chris schaffte es nur mit Mühe, einige Zentimeter Luft zwischen sie zu bringen – und ich wusste genau, wie viel Kraft in Chris steckte. Mich hatte er damals locker wie ein kleines Kind festgehalten.

„Wenn du ihn anrührst oder auch nur einen Millimeter zu Nahe kommst, bring ich dich um! Das schwör ich dir. Ich bring dich um und zwar mit Vergnügen!“, tobte Rey fast besinnungslos. Erst als Flo dazu kam und ihm eine schallende Ohrfeige verpasste, fing sich mein Freund schwer atmend.

„Wir ziehen ab.“, befahl Flo und alle verteilten sich auf die Fahrzeuge. Ich wollte zu Rey rüberlaufen, doch der Doc zog mich in seinen Transporter und verfrachtete mich hinten auf einen Sitz.

Wenige Sekunden später heulten die Motoren auf und die Wagen setzten sich in Bewegung. Leider bekam ich überhaupt nicht mit, wo lang oder hin wir fuhren, da es im hinteren Bereich des Transporters – der eher einem Krankenwagen von der Ausstattung her glich – keine Fenster gab. Das Gefühl für Zeit hatte ich schon längst verloren und auch alles weitere ließ ich nur ohne Proteste über mich ergehen, weil ich einfach keine Kraft mehr hatte, mich zu wehren.

Als das Auto anhielt und ich ausstieg, befand ich mich in einer Tiefgarage. Keines der anderen Autos war dort. Der Doc führte mich zu einem Aufzug, der uns in eine Art Krankenstation brachte. Es wurden ein paar Tests an meinem Kopf gemacht und ein Komplettcheck an meinem Körper. Dann drückte man mir frische Sachen in die Hand und ließ mich in einem Badezimmer alleine. Zwar brannte meine geschundene Haut empört auf, als das warme Wasser sie berührte, aber ich war froh, endlich das Blut von mir abwaschen zu können.

Kurze Zeit später trat ich angezogen und etwas erfrischt aus dem Bad, wo schon jemand auf mich wartete. Dieser führte mich zu dem Aufzug und wir fuhren noch ein ganzes Stück höher. Immer wieder hielt der Aufzug zwischendurch an und neue Leute stiegen hinzu oder aus. Zum Glück wurde mir weniger Aufmerksamkeit zuteil, da ich momentan die gleiche schwarze Uniform trug, wie alle hier. Wir fuhren immer höher und erst als keiner außer uns mehr im Fahrstuhl stand, stiegen wir nach dem ‚Pling‘ aus. Ich war in einem riesigen Großraumbüro gelandet. Zivil gekleidete Leute wuselten umher, Telefone klingelten und überall wurden Gespräche geführt. Man konnte kaum unterscheiden, ob einer gerade telefonierte oder mit demjenigen sprach, der neben ihm stand.

„Hier entlang.“, wurde ich aufgefordert und ich folgte der uniformierten Person vor mir in eine ruhigere Gegend. Ich wurde durch verschiedene Gänge geführt, in denen es nicht ganz so hektisch war. Bis wir vor einer Tür links von mir stehen blieben. Es wurde angeklopft und drinnen gemeldet, dass ich da war.

„Danke. Schick ihn bitte rein.“, hörte ich eine bekannte Stimme.

„Jawohl.“ Die Person trat beiseite und gab mir den Weg frei ins Zimmer.

Zögerlich ging ich einen Schritt hinein und entdeckte die Direktorin auf einem Sessel sitzen, wie sie sich gerade ein Paar schwarze Wildlederstiefel anzog. Neben ihr lag auf einem Haufen ihr Kostüm, welches sie immer im Heim getragen hatte. Fast zuckte ich zusammen, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel.

„Endlich wieder normale Klamotten.“, stöhnte die Frau auf, griff nach hinten in ihr Haar und löste den streng zusammengebunden Dutt. Federnd fiel ihr das schwarze, lange Haar über die Schultern, als sie ihren Kopf leicht schüttelte. Sie trug nun die gleiche Uniform wie ich und hatte um ihre Augen denselben farbigen, breiten Streifen wie Cat, nur dass ihrer tief dunkelgrün war und ihre Augen dadurch noch gefährlicher wirkten.

„Tomas.“ Ich wandte meinen erstaunten Blick ab zur Seite. Cat saß auf einer kleinen Couch und lächelte mich an. Josch lag mit dem Kopf auf ihren Schoß. Er hatte die Beine hoch gelegt und sich in eine Decke gekuschelt. Schläfrig sah der Kleine zu mir auf.

„Setz dich bitte.“, forderte die Direktorin mich auf.

Kurz schaute ich mich um und entdeckte nur einen weiteren Sessel gegenüber der Couch. Da ich aber überhaupt keine Lust hatte allein inmitten des Raumes zu sitzen, ging ich einfach zu meiner Freundin rüber und kauerte mich auf den Boden vor ihr hin. Josch streckte die Hand nach mir aus und ich ergriff sie. Er legte meine Hand neben seinen Kopf auf Cats Schoß und fing an, mit meinem Daumen zu spielen. Zwar runzelte die Direktorin kurz ihre Stirn, entspannte sich aber gleich wieder und lächelte mich freundlich an. Dass sie nun so nett war irritierte mich total.

„Okay, du hast Fragen und sollst die Antworten dazu auch bekommen.“, sagte sie fast gütig.

„Doch vorher will ich eins klarstellen.“, mischte Cat sich ein. „Von Rey war was dich betrifft nie etwas gespielt oder gelogen. Er hat dir immer die Wahrheit gesagt. Manchmal auch fast zu viel. Es ist wirklich nicht seine Schuld!“

„Wenn, dann ist es allein unsere.“, redete die Direktorin weiter.

„Hört auf damit. Mit sinnlosen Schuldzuweisungen sind wir bisher auch nicht weitergekommen.“, meldete sich mit einem Mal Flo zu Wort. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt, wie er mit Chris hinten in der Ecke stand und auf ein großes Bild starrte, von dem ich nur den breiten Rahmen erkennen konnte, da ich zu nah an der Wand saß.

„Da hast du wohl Recht.“, bestätigte die Direktorin und blickte mich eindringlich an. Dann holte sie tief Luft und begann zu erzählen.

„Zuerst möchte ich mich vorstellen. Ich bin Vicktoria Redewig, Prinzessin ersten Grades und damit zweithöchster Kopf der Organisation. Meine Tochter Cathrina Redewig, Prinzessin zweiten Grades…“, sie deutete auf meine Freundin, wurde aber gleich von dieser unterbrochen.

„Lady! Ich bin einfach nur ne Lady! Ich halte nicht viel von der Gradzuteilung aufgrund eines Namens.“ Vicktoria verdrehte genervt ihre Augen und redete weiter, indem sie auf Flo und danach auf Chris zeigte.

„Und dass mein Sohn Florian Redewig, Prinz zweiten Grades mit seinem Freund Christian. Soviel erstmal zu unseren Namen. Um dir die Funktion unserer Organisation kurz zu erläutern vorerst nur soviel: Wir sind mit die größte Verbrecherbekämpfungsorganisation Deutschlands. Wir jagen und fangen Täter, die schon verurteilt sind – also einen fairen Prozess hinter sich haben – aber wie auch immer entkommen sind. Leute, mit denen die Polizei und das Land nicht mehr zurechtkommt. Dann greifen wir ein, spüren die Verbrecher auf und führen sie ihrer gerechten Strafe zu.“

„Dann seid ihr sowas wie Kopfgeldjäger?“, fragte ich. Vicky lächelte matt.

„So ähnlich. Nur das wir über absolut jeder staatlichen Einrichtung sitzen.“

„Wieso hat man noch nie von euch gehört?“

„Alles hier unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe. Die Menschen könnten es nicht verstehen oder besser gesagt ertragen, dass so viele Verbrecher in ihrem Land hausen. Die glauben noch immer, dass es organisiertes Verbrechen nur in Japan bei den Yakuza oder in Gotham City gibt.“

Nur nach und nach fing ich an zu begreifen, in was ich da eigentlich reingeschlittert war.

„Was bedeutet die adlige Anrede die ihr habt?“ Ich spürte, dass dies alles hier ein Teil vom Ganzen war – ein Teil von Rey und ich wollte absolut alles über ihn in Erfahrung bringen. Cat beantwortete mir meine Frage.

„Es wurde aus dem Mittelalter übernommen. Bei uns gibt es keine Feldwebel oder Kriminaloberkommissare, statt dessen Knappen, Ritter, Ladys und so weiter, die wiederum auch in drei Grade unterteilt sind.“

„Was ist Rey? Welchen Titel hat er?“

„Ritter zweiten Grades. Er sollte vor knapp einem Jahr befördert werden und seinen ersten Knappen bekommen. Aber er lehnte ab.“, kurz hielt Vicktoria inne und sah mich intensiv an. „Wegen dir.“

„Wegen mir?“, verwirrt blickte ich zu der Prinzessin auf. Ich kannte Rey doch erst gut eine Woche!

„Kannst du dich noch an den Wettkampf erinnern vor einem Jahr? Dort wo du für deinen Vereinskollegen einspringen musstest, weil er sich heftig erkältet hatte?“, fragte mich Cat. Zögernd nickte ich, da ich bisher nur wenig offizielle Kämpfe hinter mir hatte. Das war damals lustig gewesen, weil eigentlich alle meine Gegner höher graduiert gewesen waren, ich sie aber trotzdem ziemlich schnell besiegt hatte.

„Flo, Rey und ich waren dort mit fünf Grünschnäbeln zu Unterrichtszwecken. Sie sollten die Kämpfer beobachten und sie analysieren. Rey sollte genau auf die Neulinge aufpassen und sie hinterher bewerten, schließlich stand er kurz vor seiner Beförderung und jeder wurde vorher eingehend geprüft, bevor man ihm einen Knappen anvertraut. Allerdings vergaß er seine Aufgabe sobald DU das Feld betreten hattest.

Obwohl er durch den Kopfschutz nicht einmal dein Gesicht richtig sehen konnte, beeindrucktest du ihn durch deine geschmeidigen Bewegungen. Deine Gegner standen nie länger als eine Minute im Ring. Du warst der Star des Tages. Selbst ich konnte meine Augen nicht mehr von dir abwenden, da du besser warst, als mancher Lord den ich kannte. Eine Analyse war dank dir unmöglich, da du jeden besiegtest, den wir hätten analysieren können. Also brach ich den Unterricht ab.

Als wir wieder in der Residenz waren redeten die Neulinge immer noch von dir, wodurch unsere Einplaner auf dich aufmerksam wurden. Es war klar, dass sie dich rekrutieren wollten, aber bevor jemand überhaupt gefragt wurde, ob er denn bei uns arbeiten möchte, wurde dieser mindestens ein viertel Jahr beobachtet. Rey bekam davon Wind, schmiss seine Weiterbildung hin und ergatterte irgendwie deinen Auftrag. Es fiel keinem groß auf, da Beobachter sein Hauptgebiet war.“

„Moment mal.“, unterbrach ich meine Freundin. „Soll das heißen, ihr beschattet mich seit gut einem Jahr???“

„Du missverstehst das. Wir haben weder deine Telefonleitung angezapft, noch dein Zimmer verkabelt. Deine Wohnung und die deiner Freunde waren tabu. Wir wollten nur wissen, wie du dein Leben führst, was du so den ganzen Tag machst, wie du in bestimmten Situationen reagierst. Es war strengstens verboten sich irgendwo einzumischen. Aber genau das tat Rey.“

Mein überreiztes Gehirn versuchte, die ganzen Informationen zu verarbeiten, doch es waren einfach zu viele. Als ich nicht weiter reagierte, erklärte Cat weiter.

„Natürlich kannte er deine Vorliebe, auf Dächer von riesigen Gebäuden zu klettern. Du warst zwar gut im Schlösserknacken, doch vergaßest du meist die Alarmanlagen. Rey wusste, wenn du öfters von der Polizei aufgegriffen werden würdest, sich dein Status bei uns als bedenklich ändern würde. Außerdem dachte er, dass er privat nie mit dir eine Beziehung aufrechterhalten könnte. Dafür verlangte ihm sein Job zu viel Zeit ab. Und da es meist so gehandhabt wird, dass der Beobachter sein Ziel gleich als Schützling anvertraut bekam, war er natürlich sehr bestrebt darum, dich für uns zu gewinnen.

Er war von dir total besessen, weswegen er Alarmanlagen von deinen Lieblingsplätzen ausschaltete oder vorher die Polizei abfing und wegkommandierte mit der Begründung, es sei ein Einsatz. Rey kapselte sich vollkommen ab, machte freiwillig Überstunden. Es war wirklich sehr besorgniserregend.

Dann kamen wir dahinter, was er für dich tat. Sofort wurde er von dir abgezogen und der persönliche Kontakt mit dir verboten, bis du überprüft worden warst und entschieden hattest. Flo übernahm deine Beobachtung, schließlich mussten wir auf Nummer sicher gehen, dass dich Rey nicht doch irgendwie beeinflusste. Mal davon abgesehen, dass über dich nicht Buch geführt wurde. Wir verlassen uns auf das Wort des Beobachters, ob sein Ziel geeignet war oder nicht. Er hat strikte Anweisung, nicht das kleinste über das Leben seines Zieles auszuplaudern.

Rey wurde für eine Woche lang suspendiert und als es schien, dass er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, schickten wir ihn ins Heim mit dem Auftrag, einen Menschenhändler zu finden. Aber anstatt sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren, stieg er mit dem nächstbesten Typen ins Bett, um sich von dir abzulenken. Dummerweise war es gerade der Typ, den er ausfindig machen sollte. Rey war fix und fertig, als er seinen Fehler entdeckte. Er machte sofort mit Marco Schluss und versuchte, Josch aus dem Heim zu schleusen, denn über ihn ist er auf Marco gekommen.

Leider fehlten uns jegliche Beweise, dass Marco Wittig, Stephan Osmann, Peter Müller oder wie auch immer er sich momentan nannte auch derjenige war, den wir suchten. Wir konnten Josch nicht da rausholen, ohne uns zu verraten. Die jahrelange Vorarbeit, um den Täter überhaupt dort aufzuspüren, wäre umsonst gewesen. Rey konnte nicht glauben, dass wir nichts unternahmen. Er zog sich komplett zurück, verwehrte uns jeglichen Kontakt. Wir kamen nicht mehr an ihn ran, weswegen wir einen gewagten Schritt machten.

Der Direktor sagte uns jedmögliche Unterstützung zu, weswegen wir Vicky als Direktorin einschleusten. Leider brachte das gar nichts, außer dass Rey immer mehr vom Grundstück abhaute und Tage später erst wieder kam. In der Zeit hatte dich Flo als unbedenklich eingestuft und ich wurde zur Unterstützung als Studentin in der Küche angestellt. Über Josch kam ich etwas an Rey ran, aber nicht wirklich viel. Zu allem Überfluss musstest du dich dann noch mit Mitschülern prügeln. Du brauchst gar nicht Luft zu holen, wir wissen, warum das passiert ist.“

Vicktoria erklärte weiter.

„Ich wurde nun um eine Entscheidung gebeten. Erstens musste ich mit Begründung entscheiden, ob du wirklich so unbedenklich warst, wie du eingestuft worden warst und zweitens, ob einer meiner Mitarbeiter überhaupt noch handlungsfähig war. Mal davon abgesehen, dass ich nebenher noch ein komplettes Heim leiten sollte. Ich musste dich kennenlernen, mir mein eigenes Bild von dir machen. Und ich musste Rey irgendwie aus seinem Kokon befreien, den er um sich herum gesponnen hatte. Weder wollte ich einen vielversprechenden Neuling verlieren, noch einen fähigen Kollegen.

Ich veranlasste, dass du deine Strafarbeit im Heim absitzen musstest. Dadurch erhoffte ich mir, Rey wieder zurückzugewinnen und dich für uns zu begeistern. Zwei Fliegen mit einer Klappe – verstehst du? Rey drehte halb durch, als er erfuhr, was wir getan hatten. Er wollte auf gar keinen Fall, dass du dich auch nur in die geringste Gefahr begibst. Darum benahm er sich so kalt dir gegenüber, hielt Abstand und schrie rum. Denn wenn du freiwillig alles hinschmeißen würdest und abhaust, wärst du in Sicherheit. ‚Leider‘ hast du dich von keinen seiner Attacken beeindrucken lassen. Im Gegenteil, du schienst dich mehr und mehr für ihn zu interessieren, was Rey total irritierte. Einerseits wollte er dich beschützen, andererseits in deiner Nähe sein. Beides funktionierte aber nicht zusammen.

Er bat mich nicht nur einmal, dich von dort wegzubringen. Vor allem machte er sich Sorgen, da Marco sich mehr und mehr für dich interessierte. Im Gegenzug spürte Marco, dass sich etwas zwischen euch anbahnte. Dein Betreuer war tierisch angepisst, weil Rey ihn nicht mehr anschaute und auch du ihn links stehen lassen hast. Er bedrohte Rey, dass er dich verlassen solle, bevor dir irgendein tragischer Unfall passiert. Deswegen hatten die beiden sich so in der Wolle am Abend in der Mensa, als ich das mit dem Freizeitpark ankündigte. Ich hatte diesen Tag arrangiert, damit ihr euch näher kommen konntet und Rey endlich anfing, sich zu entspannen. Wenn ihr beide euch nur zusammenraufen würdet, könnte selbst Marco nichts mehr ausrichten, dessen war ich mir sicher.

Gut, wir mussten zuerst Marcos Aufpasser – den Busfahrer – beseitigen, aber dann hattet ihr auch freie Bahn. Später hattet ihr zusammengefunden, damit euren Betreuer aber übel sauer gemacht. Ich organisierte erstmal, dass er das Spielfeld für ne Weile verlässt und genehmigte seinen blöden Ausflug, mit dem er mich seit Wochen nervte. Somit hatten wir gute zwei Tage Zeit, uns neu abzusprechen. Im Gespräch mit Rey versprach ich, dass deine Sicherheit höchste Priorität hatte, er sich aber trotzdem vor der Standpauke von Flo nicht drücken konnte.“

„Der übertrieb natürlich wieder maßlos, weswegen ich dazwischen gegangen war. Obwohl ich ganz genau wusste, dass er Rey die ganze Zeit heimlich mit Informationen über dich und dein Befinden versorgte.“, redete Cat weiter.

Florian reagierte überhaupt nicht, starrte nur weiterhin das Bild an.

„Alles lief richtig gut – bis Josch verschwand und ich von dir erfuhr, dass Rey Marco angemacht und geküsst hätte. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Er war von dir besessen, von keinem andern. Mir war klar, dass er das nur getan hatte, um dich zu schützen – die Frage war nur wovor. Dann ging alles ziemlich schnell. Ich informierte meine Vorgesetzten und ein Einsatzteam wurde bereitgestellt. Wir konnten nicht länger warten, auch wenn ich Rey nicht Bescheid sagen konnte, schließlich war er nirgendwo aufzufinden. In der Zeit, wo wir unser Team mobilisierten, begabst du dich in die Höhle des Löwen. Den Rest kennst du selbst. Rey hatte einen triftigen Grund, sich Marco an den Hals zu werfen, denn euer Betreuer hatte einen Käufer für dich gefunden.“

„Wie bitte?“, nur schwer drangen die letzten Worte zu mir durch.

„Marco ist Menschenhändler. Wer genug bezahlt bekommt alles was er will. Mit den passenden Drogen und einer Tracht Prügel kann man jeden zum Sklaven unterwerfen. Der Arbeitsplatz in einem Kinderheim war ideal und nicht unbedacht von ihm gewählt worden.“

„Das bedeutet also, dass sich Rey auf Marco eingelassen hat um von mir abzulenken? Er hat mit ihm geschlafen, weil – wegen mir?“ Die Erkenntnis, dass ich meinen Schatz selbst in die Arme dieses Perversen getrieben hatte, brachte mich um den Verstand.

„Zum Glück ist es nicht ganz so weit gekommen. Marco liebt es, Menschen zu quälen. Er hatte dich bemerkt, als du vom joggen wiederkamst und lieferte eine perfekte Show ab, um dich zu verschrecken. Rey hingegen ließ er abblitzen mit dem Kommentar, dass er schon sehen würde, was er von seinem Verhalten hatte. Rey war komplett fertig.“

„Ich auch.“, leise flüsternd spielte ich mit Joschs kleinen Fingern.

Das war alles so verwirrend, viel zu viel auf einmal. Rey war also sowas wie ein Polizist, hatte seinen Auftrag versaut, indem er sich in mich verliebt hatte, hatte deswegen fast seinen Arbeitsplatz verloren und das alles wegen mir? Diese ganze Scheiße hatte er nur abgezogen wegen mir? Okay, mir gefiel nicht, dass ich so lange beobachtet wurde und dass ich ohne zu fragen in ein Wespennest geworfen worden war. Aber eines war mir nun klar. Wenn mein gefallener Engel soviel riskierte nur für mich, dann bedeutete das wohl wirklich, dass ich ihm etwas bedeutete und zwar schon viel länger, als ich dachte. Mir kamen wieder seine Worte in den Sinn, als wir am morgen im Hinterzimmer des Clubs miteinander kuschelten. Auf meine Frage hin, warum er mir nicht schon eher begegnet war, antwortete er, dass er vielleicht schon die ganze Zeit über mich gewacht hätte. Jetzt begriff ich, dass das damals nicht nur so daher geredet war.

„Ich will zu Rey, sofort!“, forderte ich bestimmend und stand auf.

„Tut mir Leid, aber da wirst du dich genauso wie wir gedulden müssen. Unsere Oberhaupt – die Königin – hat angeordnet, dass er vorschriftshalber zu dem Vorfall befragt werden soll. Da er sich in der letzten Zeit weniger an die Regeln gehalten hatte, war das ihrer Meinung nach nötig.“ Man sah Vicky an, dass sie davon nicht gerade begeistert war.

„Es geht los.“ Flos kalte Stimme durchschnitt den Raum wie ein eisiges Messer. Alle, selbst Josch, standen auf und stellten sich vor dem Bild hin. Erst als ich ein paar Schritte weiter in den Raum wagte, sah ich, dass der breite Rahmen kein Bild umfasste, sondern ein großes Fenster. Ich konnte in das Zimmer nebenan blicken, in dem Rey verloren auf einem Stuhl saß, wie in einem Verhörraum.

„Nicht der.“, stöhnte Cat und kommentierte damit das Eintreten eines jungen Mannes. Er war ziemlich groß und trug einen Anzug wie bei Men in Black. Nur diese bescheuerte Sonnenbrille fehlte noch.

„Hatte deine Schwester nicht versprochen, fair zu bleiben?“, fragte Flo abwertend Vicky. Die Prinzessin antwortete erst gar nicht, sondern verfolgte mit aufeinandergepressten Lippen das Geschehen im anderen Zimmer.

„Du weißt wie Befehlsverweigerung geahndet wird?“, begann der Typ die Unterhaltung.

„Klar.“, antwortete Rey lässig. „Paragraph 378, Punkt 5, Absatz 2. Schließlich habe ich die kompletten Bücher unserer Vorschriften im Kopf!“ Zum Schluss wurde mein Schatz immer lauter und funkelte sein Gegenüber wütend an. Dieser sah nicht weniger hasserfüllt zurück.

„Ich glaube nicht, dass du es dir leisten kannst, unkooperativ zu sein. Dein ganzes Leben steht auf dem Spiel. Wenn alles normal nach Vorschrift geht, verlierst du deinen heißgeliebten Job, dein Motorrad, deine Wohnung, dein Ansehen. Dein Leben liegt jetzt schon in Trümmern vor deinen Füßen.“ Fast lieblich redete der Anzugheini auf meinen gefallenen Engel ein.

Rey schien das alles ziemlich anzunehmen. Er blickte verbittert vor sich hin und seine Kiefermuskeln bewegten sich wieder unablässig, was wie ich wusste ein Zeichen dafür war, dass er kaum noch an sich halten konnte. Würde er wirklich alles verlieren? Wegen mir? Schließlich hatte mein Schatz dies alles nur wegen mir getan. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, bis sie zitterten. Ich wollte nicht, dass er so gequält wurde, nur weil er sich in mich – in MICH – verliebt hatte. Das war ungerecht!

„Sieh es endlich ein. Dir ist nichts mehr geblieben. Auch dein Mentor wird sich von dir abwenden, da du unfähig warst, selbst den kleinsten Anweisungen zu folgen. Vielleicht war es aber er, der nicht imstande war, dir die einfachsten Grundlagen zu erklären.“, säuselte der Typ weiter, hielt jedoch inne, als er einen dumpfen Schlag hörte und schaute böse grinsend in unsere Richtung.

Ich wusste, dass er uns nicht sehen konnte, da das Fenster bestimmt nur von einer Seite einzusehen war. Trotzdem schien der Kerl genau zu wissen, wer ihn beobachtete. Flos Faust war vorgeschnellt und hatte dem Fenster eine kleine Delle verpasst. Zwar war kein Loch entstanden – dafür war das Glas zu dick – aber einzelne kleine Scherben waren herausgesplittert, von denen sich wenige in Florians Finger gebohrt hatten. Erschrocken schaute ich ihn an, wie er eisig kalt den Typen im Zimmer nebenan fixierte, als könnten Blicke töten. Chris hatte derweil dessen Faust vom Fenster zurückgezogen und puhlte kopfschüttelnd die winzigen Splitter heraus.

„Was soll das?! Das ist kein Verhör, was Greg dort durchführt. Er macht Rey gnadenlos runter.“, tobte Cat.

„Er zeigt ihm nur die Folgen seines Verhaltens auf.“, meinte Vicky, sah aber selbst wenig überzeugt von ihren eigenen Worten aus.

„Das ist Bullshit. Und du weißt das. Ich werde den Scheiß jetzt beenden!“ Entschlossen wollte sich meine Freundin umdrehen, um ins anliegende Zimmer zu stürmen, doch ihre Mutter hielt sie davon ab.

„Lass das lieber. Wenn einer von uns jetzt rübergeht, verschlimmern wir Reys Situationen nur noch.“ Wütend schüttelte die Kleine Vicktorias Hand von ihrer Schulter.

„Das wird Greg bereuen.“ Gefährlich funkelte sie den Anzugheini an, verschränkte ihre Arme und sah nun ihrem Bruder beunruhigend ähnlich.

Nachdem der Typ seine Worte einige Sekunden setzen lassen hatte, sprach er weiter und wandte ganz langsam seine Augen wieder meinem Freund zu.

„Egal wie rum wir das jetzt drehen mögen, er wird auch zur Rechenschaft gezogen werden. Definitiv. Und was deinen ‚Freund‘ betrifft...“ Der Kerl sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen bei der Aussprache des Wortes, „Diese Umstände machen eine Übernahme in die Organisation unmöglich. Er wird wieder zu seiner geliebten Familie geschickt. Glückwunsch, dank dir hat er den bestbezahlten und heiß begehrtesten Job in Deutschland verloren.“

Rey sah danach aus, als müsste er jeden Moment kotzen, leichenblass, seine Lippen blutleer. Wieso ließ er sich das auch gefallen? Wollte er mich etwa immer noch beschützen? Aber wovor denn? Der Job war mir scheißegal. Ich wollte nicht, dass sich Rey solche Gedanken um mich machte. Es war zwar nett gemeint und auch schön zu wissen, dass er an mich dachte, aber das hier ging eindeutig zu weit. Er konnte sich doch nicht so fertig machen lassen wegen mir!

Greg hingegen amüsierte sich prächtig, hatte immer dieses beschissene, herablassende Grinsen im Gesicht. Er warf meinem gefallenen Engel noch einiges mehr vor und schien sich daran zu weiden, dass Rey kurz vor dem Zusammenbruch war. Ich hielt es nicht länger aus meinen Schatz so leiden zu sehen. Wütend stampfte ich aus dem Raum ins angrenzende Zimmer. Cat rief mir irgendwas hinterher, doch ich bekam nicht mehr mit, wie Vicky sie abhielt mir zu folgen und nur zufrieden lächelnd auf das Fenster deutete. Greg fuhr erschrocken herum, als ich mit einem lauten Knall die Tür aufstieß und auf den schmalen Gang ihm entgegen kam. Dieser Raum hier war nur so länglich schmal wie das Fenster nebenan, weswegen man vorher durch eine Art Flur musste. Rey konnte mich deswegen noch nicht sehen.

„Was soll die Störung? Ich führe hier gerade ein wichtiges Verhör durch und Fußvolk wie du hat hier noch lange nichts zu su…“

Weiter kam der Typ nicht, denn ich hatte meine Faust längst geschmeidig in sein linkes Auge versenkt. Von der Wucht unerwartet getroffen, fiel Greg nach hinten, mit dem Oberkörper auf den Tisch, wo dahinter Rey von seinem Stuhl aufgesprungen war und mich aus großen Augen anstarrte.

„Aber ich gehöre nicht zu deinem Fußvolk.“, blaffte ich und rieb genüsslich meine schmerzende Hand.

„Ich will mich ja nicht beschweren, aber das war nicht gut.“, meinte mein Schatz und schaute abwechselnd zu mir und Greg.

„Willst du dich etwa weiter von diesem Typen dumm anquatschen lassen?“, verärgert sah ich ihn an. „Die ganze Zeit labert er nur Stuss. Vicky musste Cat und Flo ständig drüben aufhalten, dass sie nicht reinstürmen und den Kerl zu Brei klopfen. Niemand hat sich von dir abgewandt. Alle stehen zu dir, mal davon abgesehen, dass Vicky wegen deinem Job bestimmt was regeln kann. Sie ist nicht umsonst das zweite Oberhaupt der Organisation, oder?!“

Müde lächelte Rey mich an.

„Aber was ist mit dir?“

„Mir? Wenn es hier noch mehr Deppen wie Greg gibt, hab ich echt kein Interesse an dem Job.“

„Ehrlich gesagt meinte ich das nicht.“, sagte mein gefallener Engel leise und blickte zu Boden. Ich ging daraufhin auf ihn zu und nahm ihn einfach in meine Arme.

„Das hatte ich zwar schon mal gesagt, aber wiederhole es für dich gerne. Mich bekommst du nicht mehr so schnell los. Mir ist egal, ob du Kanalarbeiter, Busfahrer, Präsident der Vereinigten Staaten oder Stalker für diese Organisation bist. Du gehörst zu mir. Kapier das endlich.“ Zuerst hatte mein Schatz versucht, sich aus meinen Armen zu lösen, doch je weiter ich sprach, desto mehr hielt er sich an mir fest. Bei den Göttern, es tat so gut, ihn endlich wieder so nahe bei mir zu haben.

„Das wird ein Nachspiel geben.“, zischte auf einmal Greg und hielt sich sein Auge zu.

Wir sahen zu ihm rüber ohne uns aus unserer Umklammerung zu lösen. Ich wollte darauf schon was sagen, doch eine neue Person betrat den Raum, wobei mein gefallener Engel sich in meinen Armen etwas verkrampfte.

„Oh ja, das wird es.“, meinte die Frau.

Sobald der Typ sie bemerkte, verbeugte er sich tief und flüsterte ‚meine Königin‘, worauf sie nur eine Augenbraue hochzog. Das war sie also. Das Oberhaupt der Organisation. Sie war bestimmt nicht älter als dreißig Jahre, hatte hellbraune Augen und Haare, die sie locker nach hinten zusammengebunden hatte. Für eine Führungsperson hatte sie ziemlich legere Klamotten an. Eine schlichte, hellblaue Jeans, Turnschuhe und ein langärmeliges, schwarzes Shirt. Das sollte eine Königin sein???

„Wir reden später darüber. Du darfst gehen.“ Ihre Worte verursachten bei mir eine unangenehme Gänsehaut. Wie konnte man nur so sanft und doch bedrohlich zugleich klingen? Sie sah total harmlos aus, aber etwas Gefährliches umgab diese Frau wie ein feiner Schleier. Irritiert schaute Greg seine Vorgesetzte an, holte Luft um etwas zu sagen, doch allein durch ihren Blick hielt er seinen Mund, verbeugte sich wieder tief und stampfte dann mit hoch erhobenem Kopf aus dem Zimmer. Nachdem er weg war, atmete die Königin geräuschvoll aus und rieb sich ihre Schläfe.

„Warum habe ich es eigentlich immer wieder mit über beide Ohren verliebten Teenies zu tun?! Könnt ihr nicht einmal berufliches von privatem trennen?!“ Hilfesuchend sah sie zu uns rüber.

„Warte mal Katja, ich kann dir das erklären. Es…“, stürmte Vicky in den Raum.

„Bitte, Schwesterherz, verschon mich mit deinen komplizierten Verwicklungsgeschichten. Davon bekomm ich nur Kopfschmerzen. Du wirst zur nächsten Schulung einen Vortrag ausarbeiten über die Wichtigkeit der Informations-weitergabe an den Vorgesetzten. Florian darf sich über die Funktion eines Beobachters und dessen Aufgaben Gedanken machen. Schwerpunkt wird die Verschwiegenheit über das Ziel sein. Und Cathrina. Ihre Strafe steht mit denen von euch zwei Turteltäubchen hier in diesem Befehl.“ Die Königin zückte ein Kuvert und reichte es Rey.

„Mit Verlaub Hoheit, aber Tomas unterliegt nicht eurem Wort. Er ist kein Mitglied der Organisation.“, widersprach mein Schatz vorsichtig.

„Dein Freund hat einen meiner Mitarbeiter niedergeschlagen. Das ist Widerstand gegen die Staatsgewalt. Ich kann das nicht ignorieren.“

Ich wollte mich schon empört einmischen, da ich sah, wie mein gefallener Engel traurig dreinschaute. Gott, ich ertrug diesen Anblick einfach nicht. Doch Vicky übernahm das Wort.

„Sag mal, allerliebstes Schwesterherz.“, einschmeichelnd klimperte die Prinzessin mir ihren Wimpern und rieb ihre Schulter an die ihrer Schwester.

„Was?!“, übertrieben genervt sah die Königin die andere an.

„Kann es sein, dass mir die ‚Strafe‘ der beiden hier gefallen könnte?“ Auf diese Frage hin konnte Katja ihr Grinsen kaum mehr verkneifen.

„Vielleicht.“, antwortete sie dann. Mein Schatz atmete sofort erleichtert auf und ließ seine Stirn gegen meine Schulter fallen. Vicky fiel ihrer Schwester um den Hals und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ich wusste es. Auch in dir steckt – wenn auch sehr tief vergraben – nur ein Mensch.“, lachte sie.

„Ein Kompliment? Von dir? Warte, ich muss mir ne Notiz in meinem Kalender machen.“ Katja versuchte spielerisch, sich von der Prinzessin zu lösen, doch nachdem diese einfach nicht locker ließ, gab sie schließlich stöhnend auf.

„Den Brief bekommt Cathrina. Sie soll alles Weitere in die Wege leiten und nun schiebt endlich ab.“, forderte uns die Königin auf, worauf Rey freudestrahlend meine Hand nahm und mich mit sich Richtung Ausgang zerrte.

„Eins noch Reyhan.“, begann Katja ernst. „Falls du dich noch einmal meinen Befehlen dermaßen widersetzen solltest, werde ich dir persönlich die Konsequenzen auferlegen.“ Sie hatte zwar ruhig gesprochen, doch ihre Worte saßen. Auch Reys Züge wurden ernst, aber auch entschlossen. Er ließ mich los, legte seine rechte Faust kurz unter seine linke Schulter und verbeugte sich.

„Jawohl, meine Königin.“ Diese nickte akzeptierend und deutete dann mit dem Kopf auf die Tür. Mein Schatz ergriff wieder meine Hand und lief los, blieb aber nochmal kurz stehen.

„Danke für die zweite Chance.“ Abwechselnd schaute er zu Vicky und Katja, die ihn beide anlächelten. Dann verließen wir den Raum und gingen in das angrenzende Zimmer, wo wir gleich von Cat überfallen wurden.

„Den Brief, den Brief!“, plapperte sie nur aufgeregt und riss ihn fast meinem gefallenen Engel aus den Fingern.

„War echt heftig, wie du Greg eine verpasst hast. Erstklassig!“, lobte mich jemand von der Seite und wuschelte mir im vorbeigehen durch die Haare. Zuerst dachte ich es sei Chris, doch der stand hinter Cat und sah ihr beim Öffnen des Briefes zu, Josch in seinen Armen friedlich vor sich hindösend. Meine Augen gewannen an Übergröße, als ich erkannte, dass es Flo war, der mir fröhlich zuzwinkerte und sich dann hinter seine Schwester stellte um mitlesen zu können. FLO – FRÖHLICH!

„Und?“, auffordernd zappelte mein Schatz neben mir rum und kaute nervös auf seine Unterlippe.

Je länger die drei den Brief lasen, desto mehr verschwand das Grinsen von ihren Gesichtern. Mit gerunzelter Stirn sahen sie zu uns rüber, schauten sich an und blickten dann wieder zu uns. Scheiße, ich hielt diese Ungewissheit nicht mehr aus. Ich wollte endlich wissen, was nun passieren würde, was mit Rey geschah. Doch in einer Sache war ich mir sicher. Egal was dort drin stand, egal was und wie viel uns auferlegt werden würde. Ich würde Rey nie wieder hergeben, geschweige denn mich von ihm trennen. Wir hatten so vieles überstanden – gemeinsam. Schlimmer als das Vergangene wird es schon nicht sein.

Dachte ich zumindest.


Es waren gut zwei Monate vergangen, als ich das letzte Mal der Königin in der Residenz begegnet war und sie ihre Befehle ausgesprochen hatte. Nun stand ich fast wie damals auf dem Dach eines Hauses, ließ mir den immer wärmer werdenden Wind um die Nase wehen und mich von „Unheilig“ aus meinem mp3-Player zudröhnen. Ich war allein und doch nicht betrübt. Die vergangenen Monate waren hart gewesen und ich wusste schon jetzt, dass mir weitaus härtere bevorstanden. Aber irgendwie freute ich mich darauf. Was passiert war?

Zuerst musste ich meine Strafe absitzen, was soviel bedeutete, dass ich die restlichen zwei Wochen im Heim zwecks der Sozialstunden verbringen durfte. Allerdings war ich diesmal bei Cat untergebracht, da es ihre Strafe war, mich in diesen vierzehn Tagen zu begleiten. Sie nahm es gelassen, genauso wie ich – relativ, denn die nächsten vier Wochen sollte ich meinen Schatz nicht zu Gesicht bekommen.

Er hatte mehrere Dinge auferlegt bekommen. Eine Sache war die, dass er in eben diesen vier Wochen in einen Intensivkurs gesteckt wurde. Er sollte in jener Zeit seine Weiterbildung zum Ritter ersten Grades bewältigen, was er zwar nicht mit Auszeichnung, aber doch recht gut schaffte.

Derweil bekam meine Mutter Besuch von Vicky, die ihr mitteilte, dass ich schon jetzt eine Ausbildungsstelle in ihrer ‚Firma‘ sicher hatte, weswegen ich nun in ein bestimmtes Internat musste, zwecks der guten Vorausbildung, die man dort genoss. Da die anfallenden Kosten eh die ‚Firma‘ tragen würde, sagte meine Mutter nach kurzem hin und her zu, dass ich in die nicht ganz so weit weg liegende, andere Stadt umzog. Zwar ging ich weiterhin auf ein öffentliches Gymnasium, wohnte aber nun im Wohnheim der Organisation, das überwiegend von den Neulingen benutzt wurde.

Wie ihr jetzt schon richtig mitbekommen habt, habe ich den Job angenommen, der mir angeboten worden war. Leider hatte das eine doppelte Belastung für mich zur Folge. Tagsüber durfte ich für meinen Abschluss am Gymnasium büffeln und abends ging es mit der Ausbildung zum Beobachter weiter. Es war nicht immer leicht, das gebe ich zu, aber ich fühlte mich endlich frei, frei die Dinge zu tun, die mir Spaß machten und dafür bekam ich sogar noch Geld. Selbst meine Mom besserte sich etwas, seit ich ausgezogen war, da sie wohl Angst bekam mich zu verlieren und dann ganz allein da stand. Mir ging es verdammt gut. Was wollte ich auch mehr?!

Was aus Rey nach der Weiterbildung geworden war? Kaum dass er nach den vier Wochen plötzlich in meinem kleinen Zimmer im Wohnheim aufgetaucht war, fiel ich auch schon über ihn her. Kommt schon, was erwartet ihr von mir nach 28 Tagen Abstinenz?! Wir durften ja noch nicht mal telefonieren, mal davon abgesehen, dass keiner von uns wirklich Zeit dazu gehabt hätte, was wohl die zweite Strafe von Rey war.

Die Dritte war schon fast absurd. Doch als sie uns verkündet wurde verstand ich, warum Vicky damals gefragt hatte, ob die Strafe uns gefallen würde. Denn mit der Begründung, dass ich viel zu quirlig, aufmüpfig und vorlaut sei, und es für jeden eine Strafe wäre, mich als Knappen annehmen zu müssen, wurde doch tatsächlich Rey mir als Mentor befohlen. BEFOHLEN!!! Dies alles hörte sich schlimmer als in jeder Dailysoap an, aber es entsprach der Wahrheit.

Schmunzelnd dachte ich zurück, wie blöd wir beide aus der Wäsche geschaut hatten und spielte gedankenverloren mit dem ledernen Armband. Genau das gleiche trug auch mein Schatz und Josch. Der Kleine hatte sich wirklich wacker geschlagen. Ihm hatte es sehr geholfen, dass ich die zwei Wochen noch im Heim verbrachte. Man glaubt wirklich kaum, wie viel so ein Kind ertragen konnte, ohne zusammenzubrechen. Josch erholte sich richtig gut, seine Wunden begannen zu heilen. Die Äußeren wie die Inneren. Vor einer Woche war die Aufführung des Theaterstückes gewesen, in dem der Kleine einen Bettler spielte, sich in eine Prinzessin verliebte und zum Schluss zum König gekrönt wurde. Logischerweise waren Rey und ich im Publikum und klatschten am lautesten Applaus. Josch war unser Patenkind geworden. Nie würden wir ihn je wieder allein lassen.

Das leise Knarren einer Tür holte mich aus meiner Gedankenwelt zurück in die Wirklichkeit. Grinsend hörte ich, wie sich meine Ablösung streckte und herzhaft gähnte. Dann schlang genau diese seine Arme von hinten um meinen Bauch und legte seinen Kopf auf meine Schulter.

„Morgen.“, begrüßte mich Rey schläfrig.

„Morgen.“, grüßte ich zurück, obwohl es eigentlich halb elf abends war und stockduster.

„Du solltest aufhören, diese Dinger zu benutzen. Die Musik lenkt dich nur vom Geschehen ab und lässt dich das Nähern eines ungebetenen Gastes überhören.“, tadelte mein Freund mich müde und angelte sich den zweiten Hörer, den ich aus eben genanntem Grund nicht benutzt hatte. Ich nickte leicht und kuschelte mich noch mehr in seine Umarmung.

„Was macht unser Ziel?“, fragte mein gefallener Engel und strich mit seiner Wange genießerisch an meiner.

„Hat sich eben hingelegt.“, antwortete ich und beobachtete weiter das Haus des sechszehnjährigen Mädchens, die unbewusst dem Sohn eines Yakuza schöne Augen gemacht hatte. Reys Hand glitt unter mein Shirt und er biss mir leicht in den Nacken. Ich drehte meinen Kopf so weit es ging zu ihm hin und schaute ihn erwartend an.

„Was soll das denn werden?“, fragte ich lächelnd.

„Was genau meinst du?“ Scheinheilig sah er mich an, nur um im nächsten Moment meinen Hals mit Küssen zu benetzen. Seine Finger wanderten bis zu meinen Brustwarzen hoch und kniffen fordernd zu. Ein warmer Schauder durchfuhr mich und ich stöhnte benommen auf.

„Hey, warte mal. War das nicht nach irgendeinem Absatz in der Vorschrift verboten?“, wehrte ich mich schwach.

„Lass dich nie durch was auch immer von deinem Ziel ablenken. Dritter Absatz, erstes Buch.“, sagte mein gefallener Engel leise, öffnete den Reißverschluss meines langärmeligen Shirts und drängte mich soweit zurück, bis ich mit dem Rücken an eine Wand stieß. Bei den Göttern, allein sein warmer Atem, der meine Haut liebkoste, machte mich total verrückt. Eine heiße Flutwelle an Gefühlen brach über mich hinein und ließ mich taumeln. Benommen klammerte ich mich an meinen Schatz, der mich erschrocken fest in seine Arme schloss.

„Gott, ich liebe dich so sehr.“, presste ich gedämpft nach einigen Sekunden heraus.

Rey entspannte sich wieder, da er nun wusste, was mit mir los war. Sanft nahm er mein Gesicht zwischen seine Hände und zwang mich, ihn anzusehen.

„Ich liebe dich noch viel mehr.“, sagte er schließlich und funkelte mich mit seinen tiefblauen Augen glücklich an. Ich glaubte in diesen ein Feuer brennen zu sehen, das heißer loderte als die Hölle. Ein dämonisches Lächeln breitete sich auf seinen süßen Lippen aus, die er sogleich auf meine presste und mich wieder und wieder brandmarkte. Und was tat ich? Ich ließ mich bereitwillig mit Haut und Haaren verschlingen. Von meinem Teufel.

Ende

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