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Von magischen Kräutern und nervigen Geistern
Weihnachtschallenge 2019
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Informationen
- Story: Von magischen Kräutern und nervigen Geistern
- Autor: Hyen
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Weihnachten, Challenge
Ekelhaft. Alles hier. Kaum krümelten mal zwei Flocken vom Himmel, flippten alle total aus. Hielten Händchen, lächelten sich verträumt an. Als ob die bunte Beleuchtung in den Läden und die Figuren mit ihrem blechernen ‚Ho Ho Ho‘ nicht schon peinlich genug wären.
Schon am nächsten Morgen würden die gleichen Leute, die jetzt ihre Hälse gen Himmel reckten, um mit offenem Mund nach ein paar Flocken zu haschen, angewidert über die braune Matschpampe steigen und sich über die weißgeränderten Flecken auf ihren teuren Schuhen ärgern. Unbeständiges, undankbares Volk. Aber gut. Mir brachte es Geld, gerade zu dieser Jahreszeit.
Wer wollte schon die besinnlichsten Tage im Jahr alleine verbringen? Oder das falsche Geschenk für den Liebsten raussuchen? Liebeszauber, Anti-Stress-Zauber, Wahrheitszauber, das Geschäft boomte und diese einfältigen Menschen schrien regelrecht danach, ihr Geld zum Fenster rauszuwerfen. Solange es in meiner Tasche landete, hatte ich absolut nichts dagegen.
Mit einem zufriedenen Lächeln spürte ich die Schwere des kleinen Säckchens in der Innentasche meiner Jacke. Wertvolle Münzen hatten in meinen Besitz gefunden, nur weil der Herr unbedingt das Richtige für seine Frau, die beiden Mädchen und die Geliebte suchte, ohne dass die vier davon etwas spitzbekamen.
Das Leben könnte so herrlich sein. Wenn man nicht ständig diesen schmusenden Pärchen ausweichen müsste. Hatten die denn kein Zuhause? Keiner wollte denen zusehen, wie sie ihre Bakterien austauschten, indem sie sich gegenseitig ihre Zungen bis in den Rachen schoben.
Angewidert wandte ich mich ab, wich lachenden Bälgern aus und stieg über die ausgestreckten Füße eines Penners, der still am Straßenrand um Geld bettelte. Faules Pack. Ist ja nicht so, als gäbe es keine Arbeit. Ich schuftete zwölf Stunden am Tag, auch am Wochenende. Und mir schenkte niemand einfach so Geld.
Zumindest kam dem alten Mann die Klimaerwärmung zugute, denn die paar Flocken würden garantiert nicht liegenbleiben. Die Stadt war dafür viel zu warm, viel zu aufgedreht, als dass sie sich kühle Besinnlichkeit und Ruhe gönnen würde.
Mit Erleichterung erkannte ich das alte Gemäuer in der Ferne. Fast hatte ich es geschafft. Ich umrundete einen mit dunklen Stiften beschmierten Briefkasten und steuerte die andere Straßenseite an, als mich jemand hart anrempelte und ich zwei Schritte zurücktaumelte.
„Entschuldigung“, quietschte es von der Seite.
Eine kleine Gestalt wuselte um mich herum und wollte sich davonmachen. Doch ich erkannte sie. Rasch streckte ich meine Hand aus und packte ihren Arm. Noch ehe sie protestieren konnte, klaubte ich mir mein Säckchen voller Münzen zurück, den sie gerade von mir gestohlen hatte.
„Moment mal, he!“
Ein einziger kalter Blick meinerseits ließ sie verstummen. Erst jetzt erkannte sie, wen sie eben ausgeraubt hatte und wurde um eine Nuance blasser.
„Tut mir leid, Meister Hexer. Ich war so in meine Arbeit vertieft, ich habe nicht mehr auf die Leute geachtet.“
Entnervt packte ich fester zu, um dieses sinnlose Geplapper zu unterbrechen. Kinder waren ja schon schlimm genug. Aber Dämonensprösslinge waren kaum totzukriegen, hatte man sie erstmal laufen lassen. Die Kleine verzog vor Schmerzen ihr verschmutztes Gesicht, wagte es aber nicht, sich von mir loszumachen. Schlaues Kind.
„Wer ist dein Besitzer?“, fragte ich schroff. So zerlumpt wie der Sprössling ausschaute, gehörte er keinem Rudel an, handelte eher auf Befehl von jemand anderem.
„Bastio. Aber bitte sagt ihm nichts.“ Große runde Augen schauten panisch zu mir auf.
Mich interessierte das wenig. Mit nur einem Fingerschnippen fischte ich aus dem dreckigen Mantel der Kleinen ein anderes Portmonee, das sie auf ihrem Streifzug erbeutet hatte und steckte selbiges in meine eigene Tasche.
„Wartet, nein! Ich muss gleich zurück. Und wenn ich nicht genug abliefere, wird Bastio tierisch sauer.“ Jetzt begannen die Augen auch noch verräterisch zu glitzern. Eins musste man ihr lassen: Die Nummer mit dem bemitleidenswerten Kind hatte sie wirklich gut drauf. Schade für sie, dass ich gegen so etwas immun war.
„Mein Anteil an deiner Wiedergutmachung“, meinte ich knapp und wollte sie loslassen, als mich jemand von hinten antippte. Hatte ich denn heute überhaupt keine Ruhe?
„Entschuldigen Sie junger Mann. Wären Sie vielleicht so freundlich und helfen mir über die Straße?“
Eine alte Dame lächelte mich unsicher an. In der einen Hand eine kleine Geschenktüte von einem renommierten Juwelier, in der anderen einen Gehstock, auf den sie sich schwer stützte. Was war heute nur los, dass selbst Unwissende mich sinnfrei behelligten? Lag bestimmt an diesen elendigen Flocken, die schon auf halbem Wege zur Erde schmolzen.
„Aber natürlich“, meinte ich lächelnd und mit einer sachten Drehung schubste ich den Sprössling in die ausgestreckten Arme der Dame. „Die Kleine hilft Ihnen sehr gerne.“
Die junge Dämonin schüttelte vehement ihren Kopf, aber da war es schon zu spät. Einmal berührt, musste sie den Befehl ausführen, den ihr Besitzer ausgesprochen hatte. Und in ihrem Fall war es wohl der Raub von Wertsachen anderer Bürger. Sollte sich die Alte doch mit ihr rumschlagen.
Beschwingt überquerte ich die Straße, genoss die schwere Mischung von Autoabgasen und verbranntem Holz, die in meinen Lungen brannte. Warum Leute billig angefertigte Öfen aus dem Baumarkt befeuerten, sich davorsetzten und sich über das Knistern freuten, war mir bisher ein Rätsel geblieben. Aber ich mochte den Geruch. Er versprach Arbeit und ein reiches Einkommen.
Endlich stand ich vor meinem Lädchen, nahm die zwei breiten Stufen hinauf zum Eingang. Doch mit der Hand auf der Klinke verharrte ich. Noch immer prangte sein Name auf dem Geschäftsschild, obwohl es bald drei Jahre her war. Der Jahrestag näherte sich, unaufhaltsam. Ein Grund mehr, diese ekelhafte Jahreszeit zu hassen.
Tief atmete ich durch und stieß dann schwungvoll die Tür auf. Ich hatte ein Geschäft zu leiten. Keine Zeit für Sentimentalitäten.
„Willkommen bei R&M. Kleinen Augenblick bitte, ich bin sofort für Sie da“, trällerte die wohlbekannte Stimme neben der Eingangsglocke, die mir ungewollt etwas Schwermut nahm.
Allerdings vom völlig falschen Ort. Sein Platz direkt neben der Tür war leer und die Bücher und der Laptop, über die er sonst immer brütete, verwaist. Stattdessen stand er vor meinem Tisch mit den fertig gebrauten Tränken und Tinkturen und werkelte geschäftig dort herum.
Missmutig verzog ich den Mund und schlug deutlich lauter die Tür zu, als sonst. Erschrocken fuhr Crat herum und wurde eine Nuance blasser, als er mich erkannte.
„Meister Roge, Sie sind wieder zurück.“ Crats Stimme klang gehetzt. Ein untrügliches Zeichen, dass er sich ertappt fühlte. Und ich ahnte schon, weswegen.
Rasch kam er auf mich zu, stellte sich hinter mich und griff nach meinem Mantel, um mir diesen abzunehmen. Kurz genoss ich seine Hände auf meinen Schultern, glaubte, ein lang vergessenes Gefühl in mir aufsteigen zu spüren. Ruhe? Frieden? Bevor es mich richtig packen konnte, schüttelte ich den Mantel von den Schultern und drehte mich zu meinem Angestellten um.
Gewissenhaft stülpte dieser das Kleidungsstück über einen breiten Bügel und hängte dann alles an der Garderobe auf. Dabei versuchte er tunlichst, mir nicht seinen Rücken zuzuwenden. Schade eigentlich, da ich diesen Anblick ab und an wirklich genoss. Wurde Zeit, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen, wenn er mir schon die kleinen Annehmlichkeiten des Tages vorenthielt.
„War irgendetwas in meiner Abwesenheit?“, fragte ich unverfänglich und band mir den Schal von meinem Hals. Noch während Crat antwortete, wickelte ich diesen kurzerhand um seinen und zog ihn langsam zu mir heran.
„Ehm ... also, ich weiß nicht“, stotterte Crat. Seine Augen wurden immer größer. Er versuchte so verkrampft, mir nicht auf den Mund zu starren, sondern meinem Blick standzuhalten, dass es mich glatt amüsierte.
„Du weißt nicht?“, bohrte ich weiter nach. Crat wusste, dass ich Lügen hasste und versuchte sich so, irgendwie herauszuwinden, ohne mich zu verärgern.
Ohne eine Miene zu verziehen, hob ich mein Kinn und kam ihm so noch näher. Wie konnte dieses lange Elend nur so verschüchtert dreinschauen? Er überragte mich um mindestens einen halben Kopf, trotz dass er sich mir gegenüber immer versuchte kleinzumachen. Automatisch folgte Crat dem Zug, den ich am Schal ausübte, bis seine Nasenspitze fast die meine berührte. Kurz vor seinen Lippen bog ich ab, glitt dicht daran vorbei, bis zu seinem Ohr.
„Als was habe ich dich eingestellt, Crat?“ Meine Stimme klang weich, trotz der Schärfe darin. Mein Gegenüber ahnte, auf was ich hinauswollte. Zu oft hatten wir mittlerweile dieses Gespräch geführt. Crat sackte ein Stück in sich zusammen und klang fast ein wenig traurig, als er antwortete.
„Buchhalter“, flüsterte er kaum hörbar.
„Bitte?“ Es war viel zu leise. Er musste es laut und deutlich aussprechen, damit er endlich verstand, wer hier das Geschäft führte.
„Sie haben mich als Buchhalter eingestellt, Meister Hexer.“ Konnte man sich enttäuscht und trotzig zugleich anhören?
„Richtig!“
Ich langte um seine schmale Hüfte und zog den kleinen Kräuterzweig aus Crats Gesäßtasche, machte einen Schritt zurück und hielt ihm meinen Fund unter die Nase.
„Und warum steckt dann Beifuß in deiner Hose?“ Kalt sah ich ihn an, wartete auf eine Entschuldigung, sulziges Gerede, dass ich so oft von den Kunden hörte, die mich nicht bezahlen konnten, aber meine Leistungen in Anspruch nehmen wollten. Doch Crat war anders. Wie so oft.
„Herr Thomas hat sich letztens über Magenschmerzen beschwert und Frau Gregoria über Blähungen. Warum also sollten Ihre Tränke nur das Gewünschte bewirken, wenn sie nebenher noch andere Leiden stillen könnten.“
Unbewegt schaute ich Crat an. Er hörte mehr, was hier im Laden so vor sich ging, als den Kunden lieb war. Und mir. Aber er hatte Recht. Beide würden hier bald auftauchen und ihre Bestellung abholen. Bevor ich mir wieder ihre elend langen Monologe anhörte über ihre körperlichen Leiden, war es vielleicht wirklich besser, dem schon vorher entgegenzuwirken. Natürlich gegen Aufpreis.
„Warum? Weil sie es weder bestellt haben, noch bezahlt.“
Ich ließ den Schal los, wandte mich ab und ging zu dem Kräuterregal. Behutsam stopfte ich den Zweig zurück in das dunkle Glas, sorgsam darauf bedacht, dass die Blüten nicht abbröckelten. Eins musste ich Crat lassen: Er wusste, was die Kunden brauchten und welches Mittel dafür von Nutzen war.
Vielleicht würde er tatsächlich einen eifrigen Lehrling abgeben. Zumindest hatte er sich so vor knapp zwei Jahren hier vorgestellt. Ich jedoch war zu vertieft in meinen Verlust, der sich jährte. Wie jetzt. Halb in Papierkram erstickt, wollte ich ihn damals davonjagen. Doch er ordnete kurzerhand alle Formulare für die Übernahme des Geschäftes, des Teiles, welcher vorher Jakob gehört hatte. Allein seinen Namen zu lesen, ließ mich zu der Zeit in ein tiefes Loch fallen.
Dank Crat war binnen einer Stunde alles erledigt. Er hatte einfach nicht lockergelassen, mir die Papiere aus der Hand genommen und losgelegt. Es war nur logisch gewesen, ihn als Buchhalter zu behalten, zumal er einen verschwindend geringen Lohn verlangte. Als Ausgleich dafür, dass er mir ab und an über die Schulter schauen dürfte. War bis jetzt nie geschehen. Aber Crat hatte sich bisher nie darüber beschwert.
Ein seltsamer Mensch. Mit gerunzelter Stirn schaute ich zu ihm hinüber. Mit geschlossenen Augen roch er an meinem Schal, atmete tief ein, als wolle er mein Aftershave erraten. Sinnloses Unterfangen. War eh viel zu teuer für ihn. Ein Mitbringsel eines Kunden, der über die Wirkung meines Trankes mehr als nur erfreut gewesen war. Genau wie der Schal. Merinowolle. So etwas Weiches hatte Crat wohl noch nie in der Hand, so wie er sein Gesicht darin vergrub.
Gerade als ich ihn darauf hinweisen wollte, doch bitte mein Eigentum nicht weiter zu zerknüllen, erklang die Türglocke und Herr Thomas betrat den Laden. Die nächsten Stunden flogen dahin. Kunden gaben sich die Klinke in die Hand und ich kam kaum hinterher, die übervollen Auftragsbücher weiter zu befüllen. Geschäftig reichte Crat mir einen Stift, wenn ich ihn brauchte, nahm mir nicht mehr benötigte Dinge ab oder brühte mir ungefragt einen Tee auf, wenn es mich fröstelte. Alles in allem war es ein durchaus ertragreicher Tag.
Draußen war es längst dunkel geworden und die farbenfrohe Beleuchtung der Straße flutete meinen Eingangsbereich. Sinnlose Verschwendung von Strom und Geld. Als abermals die Türglocke schellte, hatte ich schon fast keine Lust mehr, aufzuschauen und mir ein falsches Lächeln auf die Lippen zu zwingen. Doch als ich den Besucher erkannte, froren mir jegliche Gesichtszüge ein.
„Benjamin Crat. Immer noch fleißig über den Büchern dieses Geizhalses?“ Der Neuankömmling packte Crat an den Schultern und zog ihn in eine feste Umarmung. Jener erwiderte die Geste zögerlich und deutlich verlegen. Unangenehm schien es ihm trotzdem nicht zu sein.
„Es ist noch nicht 18 Uhr“, meinte Crat und zuckte mit den Schultern.
Der andere löste sich etwas von ihm und hielt ihn auf Armeslänge von sich weg.
„Dann haben doch alle Geschäfte zu. Ihr Liebster wird traurig sein, wenn er zu Heilig Abend nichts unter dem Baum findet.“
Crat hustete erschrocken und seine Wangen färbten sich entzückend rosa. Scheu huschte sein Blick zu mir. Natürlich mochte ich keine Bakterien oder gar eine Erkältung haben, am wenigsten bei meinem Buchhalter. Hoffentlich sorgte er dafür, dass er sich über Nacht auskurierte.
„Das klingt aber gar nicht gut. Kein Wunder, Sie sitzen ja auch direkt an der Tür und bekommen ordentlich Zug, sobald jemand reinkommt. Oder deckt ihr Partner Sie des nachts nicht ordentlich zu?“
Misstrauisch schaute ich zu beiden hinüber. Woher wusste der denn, ob Crat liiert war oder nicht. War er? Egal. Ging mich schließlich nichts an. Kein Grund für ein dumpfes Gefühl im Magen, was sich Stück um Stück verstärkte, je länger der seine Hände über Crats Arme rubbelte.
„Dafür gibt es online-shopping“, gab ich gelangweilt bekannt und stand auf. Wurde Zeit, ihn von Crat wegzulotsen. „Was willst du, Onkel?“
Der dachte überhaupt nicht daran, sich vom Fleck zu bewegen, und legte stattdessen seinen Arm um Crats Schulter. Wenigstens musste er sich nicht so strecken, war ja fast genauso groß.
„Wenn das alle deine Kunden machen würden, wärst du bald arbeitslos, liebster Neffe.“ Sein sanftes Lächeln schürte meinen Unmut. Ich hasste es, wenn man versuchte, mich zu belehren.
„Tränke müssen individuell hergestellt und auf den Kunden speziell abgestimmt werden. Sowas funktioniert nicht im Fernabsatzgeschäft. Und so gerne ich mit dir über all das näher diskutieren würde, habe ich ein Kleinunternehmen zu führen. Also sag endlich, was du hier suchst.“
Die Augen meines Onkels zuckten verräterisch, zogen sich für eine Millisekunde zusammen, bevor sie einen übertrieben weichen Zug annahmen. Und ich ahnte warum.
„Die Feiertage stehen vor der Tür“, begann mein Onkel sanft und ließ von Crat ab. Endlich. Er trat zwei Schritte auf mich zu, Unsicherheit im Blick mit einem Hauch von Hoffnung. „Nächstes Wochenende schmücken wir den Baum. Sylvia hat Likör angesetzt und die Kinder fragen auch nach dir. Sie vermissen ihren Großneffen. WIR vermissen unseren Neffen. Dich.“
Steif setzte ich mich wieder hin und sah über meinen Schreibtisch hinweg zu ihm auf. Ich kannte die kleine Familientradition kurz vor Heiligabend, wo sich der engere Kreis der Familie traf, um sich auf die Feiertage einzustimmen. Die Frauen verzierten die Tanne – eine Kugel, ein Schluck Sekt im Wechsel – während die Männer mit den Kindern spielten und ihnen neue Dummheiten beibrachten.
Darin war ich Profi gewesen, damals, mit Jakob. Ich senkte meinen Blick, zurück auf das Blatt vor mir, auf dem ich die mögliche Zusammensetzung des Trankes für den nächsten Kunden notierte.
„Wie du schon sagtest, die Feiertage stehen vor der Tür. Und ich habe zu tun.“
Ich deutete auf den Papierstapel neben mir, alles Aufträge, die diese Woche noch bearbeitet werden wollten. Dass ich damit zum Großteil schon fertig war, musste ich meinem Onkel ja nicht auf die Nase binden. Der seufzte und trat direkt vor den Schreibtisch.
„Abe, du kannst dich doch nicht die ganze Zeit hinter deiner Arbeit verstecken.“
„Ich verstecke mich nicht. Ich verdiene Geld!“, gab ich schnippisch zurück und musterte kritisch die zerschlissene Jeans meines Onkels. „Würde dir vielleicht auch mal guttun.“
Mir war deutlich bewusst, dass diese Aussage unfair war. Onkel Silas war Schriftsteller und das ziemlich erfolgreich. Mittlerweile reichte eine Veröffentlichung pro Jahr aus, um das kleine Vorstadthäuschen abzubezahlen und mindestens einmal im Jahr in den Urlaub zu fliegen.
Trotzdem tat es gut, irgendetwas Garstiges von mir zu geben. Mit ein wenig Glück würde ich ihn so eher los, ohne auf das leidige Thema zu kommen, dass er jedes Jahr um diese Zeit anschnitt. Alte Wunden damit aufriss, über die noch nicht mal Grind gewachsen war. Aber auch dieses Mal versagte mir mein Onkel den Gefallen.
„Geld ist nicht alles, Abe.“ Er klang traurig. Mich machte das nur wütend.
„Man kann damit aber viel mehr erreichen.“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zu zittern begann.
„Sicherlich. Aber auch niemanden mehr zurückholen.“
Das reichte. Wütend sprang ich auf, sodass der Stuhl hinter mir krachend umstürzte.
„Geld hätte ihn länger am Leben behalten! Und jetzt raus! Ich bin es leid, jedes Jahr aufs Neue mit diesem Thema von dir konfrontiert zu werden. Ich habe keine Lust auf deine idiotische Weihnachtsfeier, keine Lust auf angetrunkene Tanten oder nervige kleine Quälgeister! Es ist ein ganz normaler Arbeitstag, mehr nicht.“
War ich zu Anfang aufbrausend, wurde ich zum Ende hin immer ruhiger. Die Kälte hatte mich wieder im Griff, die mich so gut schützte vor allen emotionalen Ausreißern. Mit einem kurzen Wink meiner Hand stellte sich der Stuhl von selbst hin, auf dem ich anschließend so hoheitsvoll wie möglich Platz nahm. Normal beschränkte sich meine Magie auf das Besprechen von Tränken und Salben. Nur wenn ich besonders aufgewühlt war, brach sie nach draußen, suchte einen Katalysator, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Ich hörte meinen Onkel seufzen, schaute aber nicht erneut zu ihm auf, sondern beugte mich über die Papiere vor mir und tat geschäftig.
„Du musst nicht alleine damit fertig werden. Lass dir helfen.“ Onkel Silas hatte den Kampf gegen meine Sturheit aufgegeben, das war deutlich herauszuhören. Und ich war ihm dankbar darum.
„Ich brauche keine Hilfe“, antwortete ich knapp, ohne von meiner Arbeit abzulassen. „Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe zu tun.“
Ich wies mit meinem Stift auf den Ausgang und ordnete die Blätter hin und her, einfach um noch beschäftigter auszusehen. Stoff raschelte, als sich mein Onkel umdrehte und auf den Ausgang zusteuerte. Auf halbem Weg grüßte er Crat und wünschte ihm besinnliche Feiertage. Kurz vor der Tür hielt er ein letztes Mal inne und wandte sich mir zu.
„Du bist uns jederzeit willkommen, Abe. Jederzeit.“ Onkel Silas wartete drei Sekunden, wohl in der Hoffnung, dass ich mich doch umentscheiden würde. Tat ich nicht. Die Türglocke schellte und ich war endlich wieder allein.
Bis auf Crat. Aber der zählte nicht. Er hatte sich die ganze Zeit brav zurückgehalten, sich unsichtbar gemacht. So wie er es immer tat, wenn ich nicht gut drauf war. Als würde er spüren, dass ich ab und an meine Ruhe brauchte. Leider wurde dies immer häufiger. Dabei wollte ich doch einfach nur arbeiten. Nichts spüren müssen.
Ein angenehmer Duft aus Kräutern liebkoste meine Nase und ließ mich aufblicken. Ungefragt stellte mir Crat eine dampfende Tasse Tee neben den Papierwust und verschwand genauso leise wieder an seinem Platz, wie er zu mir herangetreten war.
Wieder dieses sachte Gefühl von Wärme in meinem Bauch. Rasch trank ich einen Schluck, um es mit dem Heißgetränk erklären zu können. Hmmm, genau richtig.
„Du solltest beim nächsten Mal eine Messerspitze weniger Melisse hineinmischen“, motzte ich trotzdem. Perfektion beim Teekochen eingestehen ging für mich mal so gar nicht.
„Natürlich, Meister Roge.“
Damit war die Kälte in mir ein wenig vertrieben. Was natürlich nur am Tee lag, nicht an der Stimme meines Buchhalters.
Es war Schlag 18 Uhr, als Crat den Laptop zuklappte, die verstreuten Papiere ordnete und aufstand. Verwundert sah ich ihm dabei zu. Sonst wartete er bis exakt fünf Minuten nach sechs ab, da ich mich einmal über diese übertriebene Pünktlichkeit beim Beenden der Arbeit mokiert hatte. Warum heute so pünktlich? Doch noch ein Geschenk für den Liebsten oder die Liebste besorgen? Was an diesem Gedanken störte mich nur so?
„Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Meister Roge. Und arbeiten Sie nicht mehr so lange. Etwas Frieden tut auch Ihnen gut.“ Mit diesen Worten verschwand mein Buchhalter aus der Tür, ohne mir die Gelegenheit dazu zu geben, etwas Bissiges darauf zu erwidern.
Es dauerte gut zwei weitere Stunden, bis auch ich endlich mein Arbeitsmaterial zusammenräumte und die letzten Kräuter zu einem Strauß zusammengebunden ins Fenster hing, damit der volle Mond seine ganz eigene Wirkung entfalten konnte. Arbeit tat gut, lenkte ab von unliebsamen Gedanken. Doch irgendwann machte mein Kopf einfach dicht, ohne, dass ich es schaffte, mich weiter auf etwas zu konzentrieren.
Nachdem alles an seinen angestammten Platz zurückgefunden hatte, ging ich zur Garderobe und schaltete das Licht aus. Die bunte Weihnachtsbeleuchtung von draußen warf skurrile Schatten über Boden und Wand und gab meiner diffusen Stimmung mehr Ausdruck, als mir lieb war.
Über mich selber den Kopf schüttelnd, langte ich nach meinem Schal und band ihn mir um. Ein Hauch von Crat hing daran, sein ganz natürlicher Duft, der unbeeindruckt von Deos und Parfüm im Gewebe hing. Gerade so verkniff ich mir, daran zu riechen, schnappte meinen Mantel und verschwand nach draußen.
Wie erhofft wischte die winterliche Kälte alles Wirre beiseite. Gewissenhaft schloss ich die Türe des Geschäftes ab und schaltete die Alarmanlage ein. Zwar überwog noch immer die Zahl der Unwissenden, die nicht einmal ahnten, welche Magie täglich um sie herum flirrte, deutlich. Aber die, die den Wert der besprochenen Kräuter kannten, ihre Wirkung und die Möglichkeiten, für diejenigen wäre der Laden eine Goldgrube.
Ich zog den Schal fester, knöpfte den Mantel zu und stapfte dann los. Auch wenn es mich fröstelte, genoss ich den schneidenden Wind, der an Intensität zunahm, je weiter ich lief. Er vertrieb die Menschen von den Straßen, ließ sie mit eingezogenem Kopf über den Asphalt huschen. Keine daherschlendernden Pärchen, sie sich ununterbrochen anhimmelten und Hand in Hand laufend die Wege blockierten.
Gute vierzig Minuten später überquerte ich die kleine Einfahrt meines Hauses am Stadtrand. Schön versteckt zwischen hohen Bäumen und einer dicht bewachsenen Hecke. Es war nicht mehr das Neueste, dafür umso gemütlicher, trotz der fünf Zimmer. Und solange der Sachverständige meinte, dass es noch bewohnbar war, würde ich auch nicht ausziehen. Das Haus gehörte mir, was keine überteuerten Mietzahlungen bedeutete.
Vor der Tür brauchte ich dann eine kleine Weile, bis ich mit den kalten Fingern den Schlüssel aus der Jackentasche geangelt hatte und ihn endlich ins Schloss schob. Erleichtert sah ich auf, schaute direkt in das kleine milchige Fenster, welches oben im Holz eingelassen war und stutzte. Rasch sah ich mich um, versuchte, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Ich hätte schwören können, dass sich dort eine Gestalt schemenhaft abgezeichnet hatte.
Schnaubend schüttelte ich den Kopf und trat ins Innere meines Hauses. Sanfte Wärme umhüllte mich und ein angenehmer Duft zog mich in die Küche, als ich Schuhe und Mantel abgelegt hatte. Darja hatte gezaubert. Meine Haushälterin. Die Einzige, die sich nicht von mir hatte vertreiben lassen, nach dem einen unglücklichen Tag. Sie war meist tagsüber für zwei Stunden da, regelte den Haushalt und bereitete Abendessen zu, damit ich überhaupt eine warme Mahlzeit am Tag zu mir nahm, wie sie immer sagte. Wir liefen uns kaum über den Weg, also wenig Möglichkeit für mich, sie zu vergraulen.
Anstatt mich gleich über das Essen herzumachen, stellte ich mir ein Glas Wasser und Orangensaft bereit und zog die am Morgen zurechtgelegten Sportsachen über. Dann breitete ich die Sportmatte in der Mitte aus, wo die Küche fließend zum Wohnzimmer überging und begann mit den üblichen Einheiten. Liegestütze, Situps, Squats, mal klassisch, mal in abgewandelter Form.
Früher hatte ich Jakob belächelt, wenn er damit anfing, meist direkt nach der Arbeit. War selbst nur laufen gegangen, einmal in der Woche, wenn es hochkam. Nun verstand ich ihn. Wenn man den ganzen Tag mit dem Kopf arbeitete, Mengen und Zusammensetzungen abwägen musste, hörte dieser auch abends kaum auf zu arbeiten. Man dachte weiter nach, über alles.
Jakob wollte aber nicht nachdenken. Er wollte leben. Trotz Herzfehler. Mit allen Sinnen. Also powerte er sich zum Abend hin ordentlich aus, damit der Körper genauso fertig war und den Kopf somit abstellte. Genau wie ich jetzt.
Ich wollte nicht über die Worte meines Onkels nachdenken, über Familie und schützende Arme, die mich unbedingt aufzufangen versuchten. Nicht über Crat, der meinen Schal für ein Heiligtum hielt, was er berühren durfte. Und besonders nicht über Jakob, der mich hier einfach allein gelassen hatte.
Wie so oft sammelten sich Tränen in meinen Augen. Und wie so oft trainierte ich umso verbissener, um ihnen nicht die Chance zu geben, überzufließen. Vergebens. Heiß quollen sie hervor, bahnten sich ihren Weg über meine Wange hinab. Vermischten sich mit Schweiß, bevor sie ungesehen auf den Boden tropften.
Erst als mir bei einer Kniebeuge leicht schwindelig wurde, taumelte ich zum Küchentresen und stütze mich schwer daran ab. Jakob. Ich vermisste ihn so sehr, dass es schmerzte. Hektisch stürzte ich das stille Wasser hinunter. Wartete, wie mein Magen darauf reagierte. Erst als dieser nicht weiter protestierte, zog ich das Glas Orangensaft hinterher, genoss den säuerlichen Geschmack auf der Zunge, die Erfrischung, die sich dadurch in mir ausbreitete.
Wie von selbst ging ich etwas in die Knie, dehnte meine Waden und Oberschenkel und schaute dabei auf, zum Kühlschrank hin mit seiner glatten, grauen Oberfläche...in der sich etwas spiegelte.
Zum zweiten Mal an dem Abend drehte ich mich erschrocken um, ließ meinen Blick durch das Wohnzimmer gleiten, nur um nichts zu finden. War vielleicht doch alles zu viel gewesen für einen Tag.
Ich setzte meine Dehnübungen fort, während sich das Abendessen im Ofen langsam erwärmte. Darja hielt nicht viel von Mikrowellen und hatte sie sofort aus der Küche verbannt, kurz nachdem ich sie eingestellt hatte.
Keine fünfzehn Minuten später saß ich gesättigt auf einem der Hocker am Tresen und schaffte es kaum mehr, die Augen offen zu halten. Es war ein langer Tag gewesen und nervenaufreibend dazu. Wurde Zeit, neue Kraft zu tanken. Wozu auch immer.
Ich merkte schon, wie mein Kopf ab und an wegknickte. Trotzdem schaffte ich es nicht, mich vom Fleck zu rühren. Komplett ausgepowert starrte ich auf den Löffel, drehte ihn hin und her, bis ich etwas wahrnahm, was nicht zu meinem Spiegelbild passte.
Verdutzt schaute ich genauer hin, hielt den Löffel direkt vor meiner Nase, um zu erkennen, was mich daran so irritierte.
„Du siehst verdammt fertig aus, Abby.“
Erschrocken warf ich den Löffel weg und sprang auf. Unmöglich. Das...das konnte einfach nicht sein. Aber diese Stimme... Dieses Gesicht, was sich verzerrt in der Wölbung abgebildet hatte... So vertraut.
„Meine Güte, jetzt siehst du ja genauso blass aus wie ich.“
Verkrampft krallte ich mich am Küchenschrank hinter mir fest und hob ganz langsam meinen Kopf. Da stand er. In voller Größe und...naja, nicht ganz so leibhaftig. Die Haut war aschfahl und seine Gestalt leicht durchschimmernd, dass ich die Möbel dahinter erkennen konnte. Seine Umrisse waberten leicht, als würden sie einer Wolke gleich weiterziehen wollen. Und doch blieb er hier. Vor mir, mit einem belustigten Zug um die schön geschwungenen Lippen.
„Na Krümel. Gerade du müsstest doch einen Geist erkennen, wenn er vor dir steht.“
„Jay?“ Konnte das wirklich sein?
„Wie er leib und lebte.“ Die Geistergestalt lachte und machte eine ausladende Geste, um sich ganz und gar zu präsentieren.
Mir dagegen wurde es schwindelig. Hatten mir die Worte meines Onkels so zugesetzt, dass ich schon halluzinierte? Mit wackligen Knien rutschte ich am Küchenschrank hinab und presste die Hände auf meine Augen. Wie ich ihn vermisste!
„Hey, ganz ruhig, Krümel.“
Ich spürte einen kalten Lufthauch an meiner Wange und schreckte auf. Der Geist kniete direkt vor mir und schaute besorgt auf mich hinab. Jakob war schon immer ein Riese gewesen. Es schmerzte so unglaublich, ihn so dicht vor mir zu sehen.
„Ich muss eingeschlafen sein. Direkt hier, am Küchentresen“, nuschelte ich und fuhr mir nervös durch die Haare.
„Na wenn es so für dich leichter ist, Krümel.“ Seine Stimme vibrierte dunkel in mir wider, auch wenn sie leicht traurig klang. Zögerlich ließ er seine Finger durch meine Haare gleiten, ohne dass es etwas bewirkte.
„Sie sind länger geworden“, meinte er schlicht. Ob er sich auch nach einer richtigen Berührung sehnte? „Komm, steh auf und trink noch einen Orangensaft. Dein Körper braucht die Vitamine.“
Schwerfällig kam ich seiner Aufforderung nach, schenkte mir ein und leerte das Glas in einem Zug. Für einen Traum schmeckte der Saft zu säuerlich, fühlten sich die Wassertropfen zu echt an, die von außen herab perlten. Seine Fürsorge hüllte mich in Wärme und schmerzte zugleich.
„Warum erst jetzt? Was...“, ich stockte, traute meiner schwachen Stimme kaum. „Was hat dich davon abgehalten, dich nicht schon früher in meinen Träumen zu zeigen?“
Jakob lächelte mich mild an. „Wir wissen beide, dass dir das nicht gutgetan hätte. Mal davon abgesehen weißt du ganz genau, dass Geister nicht aus eigener Kraft zurück in diese Welt finden.“
Ich schnaubte lediglich, hörte beim zweiten Satz kaum hin. Seine Abwesenheit war das Einzige, was mir nicht guttat. Mit ihm war ein Teil meiner Seele gestorben, herausgerissen wie ein Stück Fleisch aus totem Tier.
„Abby, es gibt einen Grund, warum man mich zu dir gelassen hat.“
Einen Grund? Ich überlegte nur kurz, bis mich ein Gedanke durchzuckte und nicht mehr losließ. Aufgeregtes Kribbeln durchflutete meinen Bauch, ein Gefühl, dass ich lange nicht hatte.
„Du kommst mich holen.“ Bisher hatte ich nie daran gedacht, aber plötzlich schien es mir so klar. Ich wollte bei Jakob sein, egal was es mich kostete. Doch der verzog nur den Mund, als hätte er etwas Bitteres gegessen.
„Unsinn. Du bist Anfang dreißig und kerngesund. Es ist viel wichtiger.“
„Nein.“ Vehement schüttelte ich den Kopf. Es gab keine andere Erklärung. Es war einfach keine andere möglich. „Bitte Jay, nimm mich mit. Ich werde hier noch verrückt. Nichts schmeckt mehr, alles ist fad und grau. Ich hab keinen Antrieb hier, ohne dich!“
Selber traute ich mir so einen Schritt zwar nicht zu. Aber mit Jakob an meiner Seite würde ich alles schaffen, nur um mit ihm wieder vereint zu sein.
„Genau darum geht es, Krümel. Du bist nicht mehr du selbst. Und das ist meine Schuld. Deswegen muss auch ich das wieder geradebiegen.“
„Genau.“ Hektisch nickte ich mit dem Kopf und schaute mich suchend um. Kurzerhand schnappte ich mir ein Küchenmesser und wog es in meiner Hand ab. „Dauert sowas lange? Vielleicht sollte ich lieber in die Badewanne steigen, um Darja die Sauerei zu ersparen.“
„Abenezer!“ Die Stimme meines Freundes grollte wie ein Donner durch die Wohnküche, gefolgt von einem dermaßen heftigen Windstoß, dass es mir das Messer aus der Hand fegte. Verzweifelt schaute ich zu Jakob auf, wollte nicht wahrhaben, was ihn so wütend gemacht hatte.
„Selbstmord ist nie eine Lösung, hörst du!“ Seine Stimme war so schneidend, dass ich reuevoll den Kopf zwischen den Schultern einzog. „Und selbst wenn du es schaffen würdest, in die nächste Sphäre aufzusteigen, ist noch lange nicht gewiss, dass sich unsere Energielinien überschneiden.“ Jetzt kam er auch noch mit nachvollziehbarer Logik. Wie ich das hasste.
Schwer ließ ich mich auf den Barhocker sinken, spürte Tränen meine Wangen hinabgleiten, ohne die Kraft, sie wegwischen zu können.
„Bist du dann nur da, um mich zu quälen? Mich wieder alleine zu lassen?“ Ich klang so erbärmlich schwach.
„Du bist nicht allein. Warst es nie.“ Wieder dieser sanfte Hauch von Kälte an meiner Stirn, dann über meine Wange gleitend. „Du musst dich nur wieder daran erinnern. Mit etwas Hilfe.“
Fragend schaute ich auf, erkannte, dass seine Gestalt anfing, sich zu zersetzen, als würde ein sanfter Wind ihn davontragen wollen.
„Leider bleibt mir nicht mehr viel Zeit, also hör genau zu. In den kommenden Nächten werden dich drei Geister besuchen. Sei aufmerksam. Glaub mir, mit den Ladys ist nicht gut Kirschen essen, wenn man sie verärgert.“ Eindringlich sah Jakob auf mich hinab und setzte dann mehr zu sich selbst nach: „Und sie zu ignorieren schafft man auch nicht, egal wie sehr man sich bemüht.“
„Jay, warte. Geh noch nicht.“ Ein klägliches Wimmern, was über meine Lippen kroch.
„Versprich mir das, Krümel. Hör ihnen zu. Denk über ihre Worte nach. Auch wenn die Mädels komplett durchgeknallt sind. Verrückterweise haben sie meistens Recht.“ Seine Stimme setzte immer wieder aus, als hätte er kaum Empfang. Immer mehr driftete die Wolke davon und nahm seine Gestalt mit, bis kein einziger Fetzen übrig war.
„Jay? Bleib hier. Jakob!!!“
Schreiend fuhr ich aus dem Schlaf und warf die Decke von mir. Ich brauchte mehrere Herzschläge, um zu realisieren, dass ich mich im Schlafzimmer befand, in meinem Bett. Von draußen schimmerten die ersten Sonnenstrahlen durch die kleinen Fenster und ließen kleine Staubpartikel in der Luft tanzen.
Mit zitternden Händen wischte ich mir übers Gesicht, fühlte kalten Schweiß, der unangenehm kleben blieb. Jakob. Zum ersten Mal nach so langer Zeit hatte ich von ihm geträumt. Und das sehr intensiv. Ein Zeichen? Für was? Den Besuch dreier Geister, die mir die Leviten lesen wollten, weil ich es bevorzugte, mein Leben allein zu verbringen? Die sollten sich lieber über echte Probleme kümmern. Humbug.
Mit diesen Gedanken kletterte ich aus dem Bett, direkt unter die Dusche. Das lauwarme Wasser vertrieb die Spuren der Nacht und ließ mich erfrischter zurück. Wie gewöhnlich streifte ich mir den Morgenmantel über und taperte runter in die Küche. Ein fruchtiger Tee würde auch die letzten Wirren in meinem Kopf vertreiben. Schließlich standen heute einige wichtige Besuche von Kunden an, die genauso kaufkräftig wie exzentrisch waren. Für diese waren alle Sinne nötig, um sie zufrieden zu stellen.
Gemächlich setzte ich Wasser im Kocher an und angelte mir eine Tasse samt Tee aus dem Schrank, als mein Blick an einem Messer hängen blieb, welches nicht an seinem üblichen Platz an der Magnetwand hing. Kurz flackerten Bilder der letzten Nacht auf, die ich vehement zurückdrängte. Es war sicher nur runtergefallen, mehr nicht.
Doch als ich mich umdrehte, stand noch immer die Schüssel auf dem Tresen und wenn ich mich nicht irrte, glitzerte vor dem Sofa weiter hinten ein Löffel am Boden. Es klirrte laut, als mir die Tasse aus der kraftlos gewordenen Hand rutschte und auf den Fliesen zerschellte.
Kein Traum? War alles wirklich so geschehen? Natürlich kannte ich Hexer, die Geister beschwören konnten. Aber je länger jemand tot war, desto schwieriger wurde das Ritual. Und Jakob ruhte nun seit gut drei Jahren.
Meine Brust zog sich zusammen, ließ mir kaum Platz zum Atmen. Ich musste ruhig bleiben, systematisch und strukturiert an die Sache rangehen. Gut, Jakob war also hier gewesen, wollte mich warnen vor noch mehr Besuch aus der anderen Sphäre.
Der Großteil der Hexenmeister, die Geister auszutreiben vermochten, waren schon im Weihnachtsurlaub oder schlichtweg unerträglich. Blieb mir also nur, das Ganze durchzustehen. So schwer dürfte es wohl nicht werden, sonst hätte Jakob mir zu Vorsichtsmaßnahmen geraten. Geister an sich konnten einem lebenden Menschen nichts anhaben, ihn maximal in den Wahnsinn treiben. Und so schlimm dürften die drei wohl kaum werden.
Etwas gefestigter räumte ich die Scherben der Tasse weg und spulte mein allmorgendliches Programm ab. Der Alltag funktionierte, wenn ich mich nur an den üblichen Ablauf hielt.
Eine gute Stunde später schloss ich mein Geschäft auf und richtete dann alles für den Tag her. Die Kräuter von letzter Nacht quollen über vor Energie und würden sich perfekt in den vorgesehenen Trank einfügen. Die Päckchen für die bevorstehende Kundschaft standen bereit, selbst die passenden Papiere hatte Crat fein säuberlich dazugelegt.
Wo steckte er überhaupt. Mit gerunzelter Stirn schaute ich auf die Uhr. Diese zeigte zehn Minuten nach acht an. Crat hatte sich bisher noch nie verspätet, geschweige denn war aus irgendeinem Grund ausgefallen. Anfangs lungerte er sogar vor dem Laden herum, bis ich endlich da war und aufschloss.
Die Worte meines Onkels kamen mir in den Sinn, als Crat sich verschluckt hatte. Wenn ich genauer darüber nachdachte, klang der Husten nicht wie ein kurzer Reiz. Durch unnützes Grübeln komplett abgelenkt, schreckte ich regelrecht auf, als die Türglocke erscholl.
Crat hastete mit eingezogenem Kopf in den Laden, der Kälte wegen oder ob er meine Schelte fürchtete, war kaum einzuschätzen. Ich war so erleichtert darüber, dass er endlich da war, dass mich dieser Umstand gleich wieder verärgerte.
„Du kommst zu spät.“ Ich schaffte es nicht mal mehr, kühl und unbeteiligt zu klingen.
„Tut mir leid, Meister Roge. Ich habe verschlafen. Natürlich arbeite ich die Zeit nach.“
„Natürlich!“
Was anderes kam absolut nicht in Frage. Doch warum versetzte es mir einen kleinen Stich, dass Crat rasch die abgegriffene Jacke ablegte und geduckt an seinen Platz hetzte, ohne mir das übliche sonnige Lächeln zu schenken, was mir sonst jeden Morgen zuteil wurde? Stattdessen starrte er auf den Laptop, wartete ungeduldig, bis das ältere Modell endlich hochgefahren war, um mit der Arbeit zu beginnen. Normal wandte er sich mir zu, inklusive seiner gesamten Aufmerksamkeit, sobald mein Blick auf ihm ruhte. Als ob er jedes Mal ahnen würde, wenn ich ihn beobachtete. Wich er mir aus? Versuchte er etwas vor mir zu verbergen, genau wie gestern?
Mich selbst nicht unter Kontrolle habend stand ich auf und ging auf Crat zu. Er sah müde aus und blasser als sonst. Mehrmals rieb er sich in kürzester Zeit über die Augen und verwuschelte nervös seine Haare. Sah das schon immer so verwegen aus? Als ich nur knapp hinter ihm stand, zog ich erschrocken die Hand zurück. Wollte ich meine Finger gerade wirklich durch seinen Schopf gleiten lassen?
Irritiert lief ich an ihm vorbei direkt in die kleine Küche, die an den Verkaufsraum grenzte. Das war Jakobs Schuld. Sein nächtlicher Besuch hatte mich ganz wirr im Kopf gemacht. Trotzdem zerrte das unterdrückte Husten von Crat ungewollt an meinen Nerven. So konnte doch keiner vernünftig arbeiten!
Rasch brühte ich einen Tee auf. Hatte eh noch ältere Kräuter da, die wegmussten, bevor sie ihren Geschmack verloren. Und nur, weil etwas davon übrig war, machte ich Crat einen mit fertig.
Sein Blick, als ich ihm kommentarlos die Tasse auf den Platz stellte, entschädigte fast für die fehlende Begrüßung. Ich hatte vor, mich sofort wieder der Arbeit zu widmen. Die Gedanken um meinen Buchhalter raubten mir kostbare Zeit, die geldlich nicht einzuholen war.
Doch als Crat mich aus großen Augen von unten herauf anschaute, stockte ich mitten in der Bewegung. Das Weiß darin war durchzogen von dicken roten Adern und kleine Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Im nächsten Moment griff ich nach seinem Kinn und zog ihn fast schon grob zu mir heran.
Genau betrachtete ich sein Gesicht, suchte nach bestimmten Symptomen. Doch weder roch er nach einem gewissen Kraut, noch glühte seine Haut, auch wenn diese deutlich an Wärme zunahm, je weiter ich mich zu ihm hinab beugte. Drogen waren definitiv ausgeschlossen. Eine Erkältung? Um diese Jahreszeit nicht unüblich. Warum blieb er dann nicht zu Hause und kurierte sich ordentlich aus? Crat war gesetzlich krankenversichert, das wusste ich als sein Arbeitgeber. Schleppte er sich wirklich nur zur Arbeit, weil ich von Drückebergern und Schmarotzern nichts hielt? Überhaupt machte er viele Dinge nicht, nur weil ich sie nicht mochte. Ein seltsamer Mensch.
„Ich werde nicht krank. Wirklich nicht!“ Seine Stimme vibrierte in meiner Hand, schickte ein sachtes Grummeln direkt in meinem Bauch. Das fehlte mir noch. Es gab viel zu viel zu tun, als dass ich jetzt auf meinen Buchhalter verzichten könnte. Kein Wunder, warum mir das Magenschmerzen bereitete.
Schnaubend ließ ich ihn los, drehte mich um und steuerte das Kräuterregal an. Mit wenigen Handgriffen fischte ich das Gewünschte aus einem Glas und zerkleinerte die Blätter in einen bereitstehenden Mörser. Während ich zurück zu Crat ging, ließ ich einen kleinen Teil meiner Magie in die zerstampfte Masse fließen, damit sie ihre volle Kraft entfalten konnte.
Ungefragt kippte ich den Brei in Crats Tasse und murmelte einen Spruch. Sofort lösten sich die Blätter komplett auf und der Heiltee war trinkbereit. Normalerweise brauchte ich für so etwas mehr Konzentration, um Kraft zu sammeln. Allerdings wühlte mich das Ganze so auf, dass sie regelrecht von selbst aus mir herausbrach.
„Trink. Alles.“ Möglich, dass ich etwas zu weich klang. Anders konnte ich mir Crats sofortige Widerworte nicht erklären.
„Meister Roge, ich...“
„Ich habe gesagt: Trink!“ Ich musste ihn sofort unterbrechen, auch wenn er dadurch ein klein wenig zurückzuckte.
Zaghaft nahm er mir die Tasse ab, berührte dabei flüchtig meine Finger, was mir kleine Stromstöße versetzte. Der sollte mich bloß nicht anstecken. Eindringlich schaute ich auf Crat hinab, bis er endlich zum Trinken ansetzte. Und sich glatt die Zunge verbrannte. Wusste er nicht, dass man erst vorsichtig prüfte, ob das Gebräu die richtige Temperatur hatte, bevor man es probierte? Wo waren nur seine Gedanken?
Crats Wangen verfärbten sich herrlich rosa, während die Zungenspitze über seine Lippen glitt, in der Hoffnung auf Abkühlung. Allen Grund, um peinlich berührt zu sein, hatte er auf jeden Fall. Entnervt wandte ich mich ab, ging abermals in die Küche und kam mit einem kleinen Becher und etwas Crushed-Eis darin zurück, welches ich gelegentlich für bestimmte Salben benötigte.
„Ich kann es mir nicht leisten, wenn mein Buchhalter ausfällt, nur wegen so ein paar dummen Kleinigkeiten. Immer im Wechsel.“ Ich deutete auf den Becher und die Tasse. „Die Rechnungen für Ehrhardt und Osterberg sind für heute fällig. Außerdem muss Kräuter-Höfer bezahlt werden. Der gewährt uns sonst keinen Skonto.“
Ein Lächeln zeichnete sich auf Crats schönen Lippen ab. Er sah aus, als hätte ich ihm drei Wochen bezahlten Sonderurlaub gewährt. Rasch nickend kippte er sich etwas Eis in den Mund und beugte sich dann über seine Arbeit.
„Wird sofort erledigt, Meister Roge“, nuschelte er über die Eiswürfel hinweg, hielt mich allerdings kurz am Unterarm fest, als ich mich schon wegdrehte. „Und danke.“
Wieder dieses Strahlen. Gut, ich war auch ein hervorragender Arbeitgeber, der sogar seinen Angestellten Tee aufbrühte, obwohl es eigentlich andersherum sein müsste. Dankbarkeit war da schon angebracht. Ich nickte erhaben und zwang mich sogar zu einem sachten Lächeln, das mir leichter fiel als gedacht.
Crats Mundwinkel wurden noch ein Stück breiter. Dann ließ er mich los und begann, geschäftig auf der Tastatur des Laptops herumzutippen. Gut so. Wenn man sich jemandem verpflichtet fühlte, arbeitete man umso effektiver. Ich klopfte mir gedanklich selbst auf die Schulter für den Geniestreich und ignorierte das Kribbeln, das von Crats Berührung ausgehend bis zu meinem Bauch vordrang. Nur nicht selbst krank werden. War ja auch der einzige Grund, warum ich Crat überhaupt diesen Spezialtee aufgebrüht hatte. Die Höhe der Einbußen wären nicht auszudenken, wenn keine Kunden mehr kämen, weil im Laden alle von Erkältungsviren verseucht werden würden.
Und doch stand ich da, betrachtete sein Profil von der Seite, wie er konzentriert auf den Bildschirm starrte, ganz in seiner Arbeit vertieft. Es hatte etwas Beruhigendes an sich. Etwas Beständiges. Nichtmal die nervige Türglocke brachte mich davon ab, meinen Buchhalter weiter wie ein Kunstobjekt anzustarren.
„Einen schönen guten Tag, die Herren.“
Bestimmend drangen die Worte zu mir vor, ließen mich zurück in die allgemeine Welt finden. Auf Knopfdruck fand ich mich in meinem üblichen Muster ein und setzte ein geschäftiges Lächeln auf. Jede Ablenkung war mir recht, nur um nicht darüber nachzudenken, warum Crat gerade so faszinierend auf mich wirkte.
Auch wenn das bedeutete, dass ich mich einem recht unbequemen Kunden zuwenden musste. Ein breitschultriger Kerl, der es gewohnt war, sofort im Mittelpunkt zu stehen, sobald er den Raum betrat. Aber er zahlte gut. Ein schwerwiegender Grund, ihm jedwede Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
„Herr Behringer. Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, uns persönlich aufzusuchen.“
Ich ging auf dem Mann zu und reichte ihm meine Hand. Kräftig wurde diese gepackt und ordentlich zugedrückt. Wie jedes Mal verzog ich keine Miene, wartete geduldig ab, bis er mich wieder freigab. Sein ganz persönliches Machtspiel, um zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Ich ließ ihn in dem Glauben. Es brachte mehr Profit.
„Manche Dinge muss man selbst erledigen. Sie wissen ja sicherlich, wie das ist, Meister Roge.“
Da Herr Behringer keine Erwiderung erwartete, deutete ich mit einer weit ausholenden Geste auf meinen Arbeitstisch und nickte.
„Die Kräuter wurden Ihren Wünschen nach besprochen und entwickeln ein angenehmes, ausgeglichenes Gefühl, sobald man sie zu sich nimmt. Einfach als Topping mit der Vorsuppe servieren und Ihre Kunden haben ein offenes Ohr für Sie in entspannter Atmosphäre.“
Als großer Bauunternehmer, der selbst in der Politik mitmischte, war das ungemein wichtig, auch wenn meine Kräuter nicht bewirkten, dass er anderen seinen Willen aufzwingen konnte. War man innerlich zufrieden, stimmte man Dingen eher zu, als sonst. Ich stellte das dezent umwickelte Päckchen vor ihm ab, samt einem Umschlag, der die Rechnung enthielt.
Ganz Geschäftsmann nahm er diesen sofort an sich und studierte nach dem Öffnen die Zahlen genau. Anstatt wie sonst seine Karte zu zücken, zog Herr Behringer eine Augenbraue hoch.
„Ihr Buchhalter sollte die Kenntnisse in seinem Fach auffrischen, wie mir scheint.“
Allein diese Worte lösten Unbehagen in mir aus. Es passte mir überhaupt nicht, dass er von Crat sprach, ohne sich direkt an ihn selbst zu wenden, geschweige denn seinen Namen zu erwähnen. Ich vertiefte mein künstliches Lächeln, bevor ich ihm eine Nuance kühler antwortete.
„Herr Crat ist bestens ausgebildet und arbeitet zu meiner vollsten Zufriedenheit.“
„So?“ Herr Behringer schaute mich abschätzig an. „Dann ist der Zahlendreher hier also gewollt? Oder warum hat sich der Preis im Gegensatz zum letzten Jahr fast verdoppelt?“
Mist. Crat sollte zehn Prozent draufschlagen, die übliche Erhöhung pro Jahr. War gestern die Erkältung schon so weit fortgeschritten, dass ihm Fehler unterlaufen waren? Crat lernte verdammt schnell. Nach einer Einarbeitungszeit von kaum mehr als zwei Wochen, hatte er die gesamte Buchhaltung übernommen und ab da selten etwas falsch gemacht. Kam also überhaupt nicht in Frage, ihn jetzt vors Loch zu schieben.
Herr Behringer brauchte die besprochenen Kräuter dringend. Schon morgen sollte sein Weihnachtsessen stattfinden und soweit ich aus der Klatschpresse wusste, plante er ein größeres Projekt. Es fehlten nur noch ein paar Genehmigungen und Geldgeber. Zeit diesem Herren aufzuzeigen, dass er sich auf meinem Terrain befand.
„Weil die Kosten sich immens erhöht haben“, antwortete ich ruhig. „Die Energiewende macht es selbst Kleinunternehmern wie mir zu schaffen, kostendeckend zu arbeiten. Dabei geht es noch nicht einmal um die makellose Qualität der Kräuter, die ich nur von auserwählten Lieferanten beziehe und die auch ihren Preis haben. Sie als erfolgreicher Geschäftsmann wissen aber sicherlich ein hervorragendes Preis-Leistungs-Verhältnis zu schätzen bei voller Garantie. Natürlich kann ich verstehen, wenn Sie sich anderweitig ein Vergleichsangebot einholen möchten.“
Blöd für ihn, dass ich einen verdammt guten Ruf hatte und der einzige Kräuterhändler war, der besprochene Waren in kurzer Zeit anbot. Die Trägheit der Konkurrenz spielte mir eindeutig in die Karten.
Für einen kleinen Moment verengten sich die Augen von Herrn Behringer und fast glaubte ich, dass er mit einem „gut“ auf der Stelle kehrtmachen und aus dem Laden verschwinden würde. Doch dann glätteten sich seine Züge. Er lächelte breit und nickte anerkennend.
„Sicher, dass Sie nicht in meinen Vertrieb wechseln wollen? Standhafte Geschäftsmänner wie Sie kann ich unter mir gut gebrauchen.“
Er zückte seine Kreditkarte und legte sie auf das rundliche Terminal. Ein leiser Piep und die kleine grüne Lampe zeigten den erfolgreichen Transfer. Der könnte maximal sein williges Frauchen mal wieder unter sich vertragen. Ich war Top, durch und durch, nicht nur im Geschäftsleben.
„Ich fühle mich geehrt, Herr Behringer. Aber ich glaube, hier kann ich Ihnen am ehesten dienlich sein. Wenn wir gerade dabei sind.“
Ich wandte mich zu Crat um, der lautlos hinter mir getreten war. Zurückhaltend, aber doch präsent, dass es mir einen kleinen Schauer durch den Magen jagte. Es war schwer, nicht überrascht zurückzuschrecken, sondern stattdessen so zu tun, als wäre es das Normalste der Welt.
„Crat. Sei so gut und hol den speziellen Tee. Den, für unsere besseren Kunden.“
Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen, als Crat nach hinten verschwand, um das Gewünschte zu bringen. Es dauerte keine Minute, da übergab er Herrn Behringer eine durchsichtige kleine Tüte, wie man auch handelsüblichen Tee erstehen konnte.
„Eine Zugabe des Hauses aufgrund der bevorstehenden Feiertage. Ihnen ein erfolgreiches neues Jahr.“ Crats Stimme war einschmeichelnd. Besser hätte ich es nicht machen können.
Wie selbstverständlich nahm er hinter mir Aufstellung, als würden wir das Geschäft gemeinsam führen. Seltsamerweise empfand ich das in diesem Moment als recht angenehm.
„Trinken Sie heute Abend mit Ihrer werten Frau ein Tässchen Tee. Glauben Sie mir, sie wird sich äußerst erkenntlich zeigen.“ Ich senkte meine Stimme vielsagend, damit Herr Behringer verstand. Und seinem zufriedenen Lächeln nach zu urteilen, war ich mehr als nur deutlich.
„Dann wünsche auch ich Ihnen einen guten Abschluss. Meister Roge, Herr Crat.“ Herr Behringer schüttelte unser beider Hände und schritt dann hoheitsvoll aus dem Laden.
Erst als sich die Tür vollkommen geschlossen hatte und mindestens drei weitere Sekunden vergangen waren, gluckste Crat und schaute mich fragend an.
„Ich wusste gar nicht, dass zusammengekehrte Pfefferminz, Kamille und Zitrone aphrodisierende Wirkung haben.“
Unsere Spezialmischung bestand aus allen Resten, die wir gerade eben auffinden konnten, vorbehalten der am meist nervenden Kundschaft. Ich drehte mich nicht um, genoss die Wärme des anderen in meinem Rücken, seinen Atem, der meinen Nacken streifte.
„Hat es auch nicht. Aber wenn der sich nur fünf Minuten Zeit für seine Frau nimmt, um ihr zuzuhören, während er auf das Einsetzen der Wirkung wartet, zeigt sie von ganz allein ihre Dankbarkeit.“
Wieder dieses Glucksen hinter mir, dass mich weich lächeln ließ. Nun drehte ich doch meinen Kopf, nur leicht, um Crat gerade so anschauen zu können. Der bekam plötzlich große Augen und seine Wangen färbten sich ungewöhnlich rot. Bekam er jetzt doch Fieber? Er merkte wohl meinen forschenden Blick, räusperte sich rasch und kratzte sich dann verlegen im Nacken.
„Steht Ihnen“, krächzte er.
Von was redete Crat? Er merkte, dass ich nicht recht verstand und setzte zu einer knappen Erklärung an.
„Das Lächeln. Ist selten.“ Wieder ein Räuspern seinerseits, bevor er an seinen Platz flüchtete und sich über die Papiere beugte, als wären sie total interessant. Ich schüttelte dagegen mit dem Kopf.
„Unsinn. Ich lächle sehr oft.“
„Ja, wenn es darum geht, mit anderen zu verhandeln. Dieses Mal war es keine Geschäftsmaske. Es waren Sie.“
„Du solltest heute eher nach Hause gehen.“
Sein Kopf schnellte zu mir herum und ein erschrockener Ausdruck spiegelte sich darin wider.
„Ich mache bestimmt keine Fehler mehr. Das war wirklich eine einmalige Sache. Wenn Sie wollen, kontrolliere ich natürlich nochmal alle Rechnungen.“
Crat hatte wirklich Angst, dass ich ihn rauswarf, wegen dieser Lappalie. Gut so. Er wurde mir heute eh viel zu vertraut. Trotzdem war ich mir sicher, dass er einen kleinen Scherz gut vertragen konnte.
„Das will ich auch hoffen! Dennoch. Du redest wirr. Lächeln. Ich. Der Tee vorhin scheint dir nicht nur die Zunge verbrannt zu haben.“
Unglaube schlug mir entgegen. Ja, auch ich konnte scherzen. Außerdem sprach ich fließend ironisch.
„Bestimmt“, hauchte Crat lediglich. Er grinste dümmlich und strahlte so ekelhaft, dass selbst die Weihnachtsbeleuchtung von draußen dagegen blass wurde.
Auch das versuchte ich zu ignorieren. Meine Arbeit war wichtig. Jeder Handschlag musste präzise erfolgen, jedes Grämmchen korrekt abgewogen. Nur so entfalteten die Salben und Tränke ihre volle Wirkung, was meine Kunden zu schätzen wussten. Es galt also, sich zu konzentrieren.
War der Stuhl nicht etwas zu klein eingestellt für Crats Größe? Der Tisch könnte ebenfalls höher und vor allem breiter sein. Teilweise lagen Unterlagen um ihm herum auf dem Fußboden, damit diese nicht durcheinanderkamen. Trotz des Chaos sah alles geordnet aus, fast wie ein Kunstwerk.
Zumindest das kleine Headset, was Crat sich einseitig hinter das rechte Ohr geklemmt hatte, hatte sich gelohnt. So stand nicht auch noch ein Telefon auf dem Tisch herum. Ich hörte nicht einmal, wenn es klingelte. Nur Crats Stimme, wenn er leise mit jemand anders sprach, Termine ausmachte, Rechnungsbeträge einforderte oder mit Lieferanten Vergünstigungen aushandelte.
Viel zu leise. Ich mochte seine Stimme. Dieses warme Kribbeln, was sie in meinem Bauch auslöste. Irritiert schaute ich an mir herab. Noch immer stand ich vor dem Kräuterregal, die Liste mit den Zutaten für die nächste Tinktur haltend, ohne dass ich mich rührte.
Vorsichtig lugte ich hinüber zu Crat. Seit wann beschäftigte er mich mehr als meine Arbeit? Länger darüber Gedanken machen konnte ich mir nicht. Als ob nach den Feiertagen die Welt unterginge und man nirgendwo mehr besprochene Kräuter bekommen würde, ging es im Laden zu wie im Taubenschlag.
Zum Glück hatte ich einiges auf Lager und so gingen Tränke, Salben und sogar Gutscheine wie auf dem Laufband über den Tisch. Wieder half Crat, wo er nur konnte. Reichte Tüten, holte Zutaten aus dem Lager, band Schleifen und richtete verschiedene Tees als Geschenk her. Alles dezent im Hintergrund, dass man ihn kaum sah und noch weniger hörte. Waren die Leute schon immer so ignorant oder warum bedankte sich keiner bei ihm für die vielen kleinen Nettigkeiten, mit denen er jede einzelne Ware bedachte?
Es war weit nach achtzehn Uhr, als es endlich ruhiger im Laden wurde und ich merkte, wie ich wieder zu starren begann. Crats Rücken war leicht gekrümmt, eine Falte auf seiner Stirn, während er konzentriert auf den Bildschirm starrte. Ab und an lehnte er sich zurück, überlegte angestrengt und knabberte dabei an seinem Daumen, bevor Crat einem Einfall nachging und erneut auf der Tastatur rumhämmerte.
Mehrfach war mir aufgefallen, dass mein Buchhalter ungewöhnlich viel über Kräuter wusste, wie man Salben anwandte und was man bei Tinkturen definitiv unterlassen sollte. Nicht nur einmal hatte er sich mit der Kundschaft unterhalten, sie hingehalten, bis ich wieder Luft hatte, um mich um sie zu kümmern. Meist wussten sie dann genau, was sie wollten, weshalb ich nur noch gezielt das Produkt hervorzuholen brauchte.
Hatte er fleißig gelernt? Oder nur das aufgeschnappt, was ich die letzten Jahre so von mir gegeben hatte? Ich war einer der besten Kräuterhexer der Stadt, kein Wunder also, dass man bei mir nebenher etwas lernte, wenn man sich in meiner Nähe aufhielt.
Weiter hatte Crat sich damals als Lehrling beworben, nicht als Buchhalter, der er jetzt war. Und Kräuterwissen hin oder her, wollte man ein Kundiger werden, benötigte man Magie. Ohne diese könnte man sich auch als Apotheker verdingen oder als einer von den Video-Streaming-Spinnern, die mit Pflanzen redeten, weil sie glaubten, dass jene sich dann besser entwickelten.
Langsam stand ich auf, umrundete den massiven Arbeitstisch aus Holz und ging auf Crat zu. Für einen Meister seines Faches war es einfach zu erkennen, ob ein anderer eine Affinität zum selbigen Bereich besaß. Man musste ihn sich nur genauer anschauen.
„Meister Roge?“
Crat hatte mein Näherkommen bemerkt und schaute mich aus großen Augen von unten herauf an. Ich ließ mich davon nicht beirren, nicht von dem Hundeblick, bei denen selbst Eis schmelzen würde. Wie ein treudoofer Dackel, der geduldig auf das Leckerli wartete.
Direkt vor ihm blieb ich stehen, suchte in seinen Iriden das sachte Glimmen, das so typisch für meinen Zweig der Magie war. Doch Crat wurde unruhig. Sein Blick huschte nervös hin und her, versuchte, die Blätter vor ihm zu ordnen, nur um nicht nur mir hochschauen zu müssen. Allerdings wollte ich Gewissheit.
Kurzerhand langte ich nach seinem Kinn, fixierte es leicht, damit er den Kopf nicht mehr wegdrehen konnte. Sacht beugte ich mich zu Crat hinab, suchte in seinen Augen, seiner Seele.
Die Lippen, so geschwungen, leicht geöffnet, einladend. Die Nasenflügel bebten vor Anspannung. Der ganze Mensch so unscheinbar. Und doch gerade so verlockend.
Der stetige Schlag der alten Standuhr meiner verstorbenen Eltern holte Crat aus der Starre und ließ ihn aufspringen.
„Schon halb sieben. So ein Mist!“
Fluchend hob er die Blätter wieder auf, die durch den Windzug auf den Boden gesegelt waren, und drapierte sie sorgfältig zurück auf den Tisch. Dann hastete er zur Garderobe und warf sich seine zerschlissene Jacke über, die für meinen Geschmack viel zu dünn für diese Jahreszeit war.
„Ich habe meiner Mutter versprochen, für die Kids Geschenke zu besorgen. Wenn ich mich nicht ranhalte, ist entweder alles weg oder die Geschäfte haben zu. Die Rechnungen sind soweit fertig, müssen nur noch ausgedruckt werden. Dieses Mal dreifach kontrolliert. Bis...bis morgen, Meister Roge.“
Ich nickte mechanisch, nicht wirklich fähig zu antworten. War regelrecht erleichtert, als sich endlich die Türe schloss und ich alleine im Laden zurückblieb. Was war da eben geschehen? Was wäre fast geschehen?
Und dann fuhr mir die Erkenntnis eiskalt in die Glieder. Ich war dabei, Jakob zu vergessen. Hatte an dem Tag nicht einmal an ihn gedacht, an das Geld, das ihn womöglich hätte retten können, wenn ich nur konsequenter, zielstrebiger gearbeitet hätte.
Meine Knie wurden weich und der Raum um mich herum begann sich zu drehen. Zitternd suchte ich an Crats Schreibtisch Halt, tat einen Schritt und ließ mich dann auf seinen Stuhl fallen. Alles hier roch nach ihm, nach seinem Lebkuchenshampoo, das er anscheinend das ganze Jahr über benutzte. Selbst die krakelige Handschrift auf den vielen Notizzetteln erschien plötzlich filigran und lockte, berührt werden zu wollen, nur um ihm so vielleicht näher zu sein.
NEIN!
Wütend sprang ich auf und fegte dabei den halben Tisch leer. Mochte sein, dass Crat ganz amüsant war. Doch an Jakob kam niemand heran. Keiner würde jemals seinen Platz einnehmen können. Und die, die es trotzdem wagten, würden dafür büßen. Ich wollte nicht vergessen. Niemals!
Der Laptop war noch an. Das dunkelblaue standardisierte Hintergrundbild leuchtete höhnisch, als würde es mir nicht zutrauen, diese Art von Technik benutzen zu können. Magie hin oder her, aber Computern oder Spielekonsolen war ich noch nie abgeneigt gewesen. Zumindest bis Jakob beschlossen hatte, mich hier alleine zurückzulassen.
Das Schreibprogramm war schnell geöffnet und ein letzter Brief in eine Kündigung umgewandelt. Natürlich gab es eine Frist, die eingehalten werden musste. Doch Crat hatte bisher kaum einen seiner wenigen Urlaubstage eingelöst. Dürfte also genügend übrig sein, um sich möglichst bald von mir zu trennen.
Erst als ich die Kündigung ausdruckte und unterschrieb, ließ endlich das Zittern in meinen Händen nach. Ich schloss die Datei, ohne zu speichern, und steckte das Stück Papier in einem Umschlag, den ich sicher in meinem Schreibtisch aufbewahrte.
Dann schnappte ich mir meinen Schal und Mantel und trat ins Freie. Dort atmete ich tief durch. Ja, so wäre es das Beste. Kein Crat, der leise um mich herumschlich und mich bemutterte. Der mich von der Arbeit ablenkte, mich Zeit, Nerven und Geld kostete. Nein. Ohne ihn wäre ich besser dran. Denn nur Jakob hatte in meinen Gedanken Platz, niemand anderes.
Das Rauschen in meinem Kopf ließ nach, machte dem Drücken Platz, welches mich seit gut drei Jahren stetig begleitete. Mir innerlich selbst zunickend, schloss ich den Laden ab und wollte gleich die Straßenseite wechseln. Eine Horde Rentner blockieren den Fußweg, studierte eine Touristenkarte und suchte womöglich die nächste Kneipe. Noch mehr Menschen um mich herum ertrug ich nach diesem Tag nun wirklich nicht.
Mitten im Schritt jedoch hielt ich inne. Auf der anderen Straßenseite stand Onkel Silas und öffnete gerade meiner Tante die Heckklappe des Autos, damit sie ihre Einkäufe darin verstauen konnte. Gleichzeitig fingen wir den Blick des anderen auf, stockten. Fast glaubte ich, dass er die Straße überqueren wollte, um zu mir zu kommen. Doch meine Tante hielt ihn auf. Eindringlich redete sie auf ihn ein und drängte ihn dann, ins Auto zu steigen. Man sah ihm seinen Unwillen darüber an, dennoch fügte er sich. Gleich darauf fuhren sie davon und ließen mich nachdenklich zurück.
Bisher hatte Onkel Silas jede Gelegenheit dazu genutzt, mir auf den Keks zu gehen. Mir zu versichern, wie willkommen ich in der Familie doch wäre und wie sehr mich alle vermissten, seit ich mich zurückgezogen hatte. Warum nicht dieses Mal? Sylvia hatte ihn ja regelrecht ins Auto getrieben. Normal ging sie immer in die Konfrontation. Es sei denn, sie heckte etwas aus.
Wieder dieses Gefühl, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Ich taumelte bis zum Laden zurück und setzte mich zitternd auf die kalten Stufen davor. Zwar hatte Onkel Silas kein magisches Erbe abbekommen, Tante Sylvia dagegen schon. Ihre Familie reinigte Häuser und Umgebungen von bösen Schwingungen und brachten die Energieflüsse wieder ins Gleichgewicht. Dabei war es sicherlich ebenfalls möglich, einen dieser Flüsse so zu leiten, dass eine bestimmte Ebene über meinem Haus ein Riss bekam und somit eine verirrte Seele zu mir fand.
War Jakobs Besuch auf ihrem Mist gewachsen? Wollte sie mich so wieder zurück ins Leben holen, wie sie immer formulierte? Hart presste ich die Zähne aufeinander und stand auf. Keiner hatte sich bei mir einzumischen, weder Tante, noch Onkel und ein Buchhalter schon gar nicht.
Wurde Zeit, dass ich wieder zu mir fand. Denn ich brauchte niemanden. Außer zahlungswilliger Kundschaft. Mehr nicht.
An jenem Abend trainierte ich fast doppelt so viel, konzentrierte mich auf die genaue Ausführung der Übungen und wiederholte diese, sobald ich merkte, dass sie nicht korrekt waren. Hauptsache nicht nachdenken, über eine samtene Stimme und eine wärmende Präsenz im Rücken.
Das Essen dagegen fiel rar aus und hatte kaum Geschmack. Aber der Körper brauchte Energie, musste funktionieren. Mühsam schleppte ich mich nach oben ins Schlafzimmer, konnte nicht das nervöse Grimmen verdrängen, dass sich dabei in meinem Magen ausbreitete.
Drei Geister, hatte Jakob gesagt. Nur wann ließ er offen. Es war nahe Mitternacht, doch kein Luftzug regte sich. Die schweren Vorhänge aus dunklem Stoff wellten sich nicht geheimnisvoll und auch unterm Bett konnte ich, außer ein paar Wollmäusen, nichts finden.
Gleich darauf schalt ich mich einen abergläubigen Idioten. Es mochte zwar paranormale Zwischenfälle geben, ob durch Zufall oder herbeigeführt. Aber gerade bei letztgenanntem benötigte man selbst mit Medium zu viel Energie, als dass sich so ein Ritual tags drauf wiederholen ließe.
Trotz dieser Erkenntnis und dem intensiven Training dauerte es ewig, bis ich endlich in den Schlaf fand, verfolgt von wirren Bildern über leicht geöffnete Lippen, die sich geisterhaft in Luft auflösten, sobald ich mich ihnen näherte.
Der Tag darauf begann früh. Dunkles Zwielicht herrschte im Raum und eine Ruhe, die fast drückend wirkte. Normal genoss ich Stille, hüllte mich nur zu gerne in ihre erlösende Umarmung, in der jeglicher äußerer Einfluss von mir abfiel. Jetzt trieb sie mich um. Selbst die wechselwarme Dusche schaffte es nicht, sie zu vertreiben. Erst der frisch aufgebrühte Tee brachte Erkenntnis und damit Sicherheit. Wurde Zeit, mich von unnützem Ballast zu befreien.
Ungeachtet davon, dass ich den morgendlichen Spaziergang erheblich ausdehnte, stand ich viel zu früh vor dem Laden und schloss ihn auf. Drinnen tat ich einen tiefen Atemzug, sog den Duft der Kräuter ein, der mein Gemüt beruhigte, mein Innerstes erdete.
Mehr brauchte ich nicht im Leben. Meine Arbeit, die mir vieles abverlangte, aber auch so viel mehr zurückgab. Ganz anders als Menschen, die unbeständig und egoistisch auftauchten und ebenso schnell wieder verschwanden. Automatisch fiel mein Blick auf Crats Schreibtisch, noch immer zerwühlt, samt den heruntergefallenen Blättern. Es musste Ordnung geschaffen werden. Je eher, desto besser.
Energisch schob ich mir den Mantel von meinen Schultern und hängte diesen mit Schal an der Garderobe auf. Dann ging ich zu meinem Schreibtisch hinüber und schaute die Aufträge durch. Eine gute Stunde blieb mir, bevor ich meinen Entschluss in die Tat umsetzen konnte. Zeit, die genutzt werden wollte.
Ich war gerade damit beschäftigt, Kräuter zu zerkleinern und sie dabei zu besprechen, als die Tür aufflog und ein kalter Wind den Laden flutete. Sofort verkrampfte sich mein Griff um den Mörser und erste magische Funken knisterten.
„Guten Morgen, Meister Roge. Sind Sie schon lange da? Haben Sie draußen das Wetter bemerkt? Ein richtiger kleiner Schnee... sturm.“
Mitten im Redefluss blieb Crat stecken und starrte erschrocken auf die untere Zeile des Regales, vor dem ich stand. Je mehr Worte aus ihm gesprudelt waren, desto mehr Energie hatte sich in meinem Inneren gesammelt. Bis es einfach aus mir herausbrach, durch die Gläser fuhr und sie zerbarsten ließ. Zu aufwühlend, nicht kontrollierbar.
„Meister Roge, alles in Ordn...“
„Ruhe!“
Dieses eine Wort donnerte durch den Raum und ließ Crat zusammenzucken. Das Grimmen im Magen wuchs. Kein Wunder, ich hatte schließlich innerhalb Sekunden Kräuter mit hohem Wert vernichtet. Diese neu zu bestellen und zu besprechen würde ein kleines Vermögen kosten.
„Ich benötige für meine Arbeit absolute Ruhe.“
Unbeachtet der Scherben ließ ich alles liegen und ging zu meinem Tisch, ohne mich umzudrehen. Mit einem Ruck öffnete ich die Schublade und starrte den Briefumschlag an, der dort lag. Dann holte ich Luft und blickte auf, schaute Crat direkt an, der erwartungsvoll verharrte, spürte, dass ich noch mehr vorhatte.
Schneeflocken glitzerten in seinen dunklen Haaren, ließen ihn noch weicher ausschauen, als sonst. Die langen Wimpern schimmerten feucht, die Wangen von der Kälte gerötet. Und wieder diese Lippen, angeraut vom eisigen Wind. Den Balsam, den ich für Fräulein Elfi zusammengerührt hatte, schob sich seitlich in mein Blickfeld. Nur ein Hauch davon auf die Lippen aufgetragen und schon glänzten sie wieder rosig frisch. Allein die Vorstellung, wie mein Daumen die Konturen von Crats Mund nachfuhren, verwandelte das Magengrimmen in ein aufregendes Flattern.
Papier knisterte, als meine Finger krampften und den Umschlag halb zerknüllten. Warum auch immer, aber ich konnte nicht in dieses Gesicht sehen und ihm gleichzeitig die Kündigung geben. Wollte nicht auf ihn verzichten. Noch nicht.
Ich zuckte zurück und betrachtete verwundert meinen Zeigefinger. Ein schmales Rinnsal füllte sich mit Blut, zu dünn, als das ein Tropfen hervorquellen konnte. War es ein Zeichen, dass ich mich eben an Crats Schreiben geschnitten hatte?
„Ruhe und Ordnung“, gab ich streng von mir und schloss mit einem Ruck die Schublade. Kurz musterte ich den zerwühlten Schreibtisch, damit Crat verstand. Besser er räumte erstmal das auf, was ich durcheinandergebracht hatte und regelte die Quartalsabrechnungen. Gerade zum Ende des Jahres waren diese recht umfangreich. Am Abend vor den Feiertagen war noch genügend Zeit, ihm den Umschlag zu übergeben.
Crats Schultern sackten nach vorn und das Lächeln erlosch auf dem leicht kantigen Gesicht.
„Natürlich, Meister Roge.“
Kleinlaut hängte Crat seine zerschlissene Jacke auf und sammelte still die am Boden liegenden Blätter zusammen. Auch meine Überreaktion beseitigte er gewissenhaft, ohne etwas zu sagen und so leise, wie nur möglich. Ab und an spürte ich seinen Blick schwer auf mir ruhen und jedes Mal schmeckte ich eine Entschuldigung auf der Zunge, die unbedingt hinauswollte.
Doch ich schluckte sie stets hinunter und begrüßte den bitteren Nachgeschmack, der sich daraufhin in meinem Mund ausbreitete. Er hielt mich davon ab, noch mehr unsinnige Dinge zu veranstalten, so wie tags zuvor. Kein Wunder, dass Crat sich auf einmal einbildete, mehr zu sein, als das, was er war. Ein Buchhalter. Mehr nicht.
Der Tag schleppte sich dahin. Je näher die Feiertage rückten, desto unerträglicher wurden die Menschen. Bester Laune trudelten sie in meinen Laden, schauten sich gemächlich um, ließen sich beraten, nur um unverrichteter Dinge wieder zu gehen. Da waren mir die Leute fünfmal lieber, welche gehetzt hineinstürmten und eine Standartsalbe aus dem Regal kauften. Die zahlten zumindest, ohne zu zögern das Doppelte, nur um endlich von diesem Weihnachtswahnsinn ihre Ruhe zu haben. Zum ersten Mal seit langem sehnte ich mich nach Ladenschluss und meine eigenen vier Wände. Lag vielleicht auch daran, dass Crat heute besonders tollpatschig war. Tackerte, lochte und tippte einfach viel zu laut. Wie sollte man sich so auf ein Kundengespräch konzentrieren, geschweige denn auf einen Zauberspruch.
Es war kurz vor achtzehn Uhr, als die Türglocke erneut schellte und ich mich verkrampft zu meinem üblichen Verkaufslächeln zwang. Mühselig richtete ich mich auf, stockte jedoch, als ich die zwei Gestalten entdeckte, die mitten im Laden standen. Nach ihren abgetragenen Kleidern und verfilzten Haaren zu urteilen, würden diese sich nicht mal den preiswertesten Tee aus meinem Sortiment leisten können. Oder es war der neuste Look der High Society. Wer wusste das schon bei diesen verwirrten Menschen heutzutage.
„Wie kann ich helfen?“ Ich wollte professionell kühl klingen, klang jedoch erschreckend müde. Zwei Augenpaare hörten auf, sich neugierig umzusehen und richteten sich auf mich.
„Guten Abend, Meister Roge“, begann der Größere. Er sah mager aus, doch seine Iriden sprühten vor Energie. „Wie man hört, sind Sie der beste Kräuterkundige der Stadt und selbst darüber hinaus sind Sie in den Meisterkreisen wohl bekannt.“
Auch wenn ich Schmeichelei ab und an mochte, hatte ich zu dem Zeitpunkt keine Nerven dafür. Trotzdem wartete ich geduldig ab.
„Sie wissen sicherlich, wie aufzehrend es war, die eigenen Kräfte zu entdecken, geschweige denn einen Meister zu finden, der einen unterweist.“
Ich runzelte die Stirn und schaute auf beide hinab.
„Zur Zeit nehme ich keine Lehrlinge an“, stellte ich sofort klar. Ein nerviger Buchhalter, der glaubte, mit meinen teuren Kräutern herumexperimentieren zu können, reichte mir vollkommen aus.
„Und ohne Prüfung schon gar nicht“, setzte ich weiter nach. Diese Halbwüchsigen sahen nicht aus, als könnten die sich so etwas leisten. Doch anstatt davon abgeschreckt zu sein, sprang der Junge gleich auf den Zug auf.
„Genau um diese geht es. Die Prüfung zur Feststellung der magischen Affinität ist sehr kostspielig. Wir vertreten eine kleine Gemeinschaft von Magiern, deren Verdienst nicht ausreicht, um ihre Kinder testen zu lassen.“
Mit unbewegter Miene sah ich beide an. Ich würde jetzt definitiv nicht anfangen, laut herumzurätseln, was die genau wollten. War mir längst klar. Allerdings wusste ich ebenfalls, was ich wollte. Meine Ruhe. Der Kleineren wurde die eingetretene Stille zu unangenehm.
„Wir bitten um eine Spende“, platzte es aus ihr heraus und klang dabei nicht so, als würde sie sich irgendwelche Erfolgschancen ausmalen. Sie schien definitiv die Clevere von beiden zu sein.
„Es muss nicht viel sein. Jeder Cent hilft“, setzte der Größere nach.
Wie alt waren diese Kids? Vierzehn? Fünfzehn? Viel zu alt, um getestet zu werden und viel zu jung, um auf Spendenfang gehen zu dürfen.
„Ihre Genehmigungen?“ Mehr brauchte ich nicht, um die zwei kurz sprachlos zu machen.
„Sie meinen?“, versuchte der Junge.
„Um geldliche Zuwendungen entgegennehmen zu dürfen, ist eine Erlaubnisbescheinigung nötig, die P38, um genau zu sein. Könnt ihr die vorweisen?“
Ihren verzweifelten Blickwechsel zu urteilen, wussten sie nicht im Geringsten, wovon ich sprach. Kein Wunder, war schließlich alles frei erfunden.
„Verstehe“, griff ich ihr Schweigen auf und wies auf die Tür. „Wenn das so ist.“
Mich traf der Blick aus zwei paar traurige Augen, doch gehen taten die beiden nicht. Ließ man mich heute denn gar nicht in Frieden? Zumal ich Crats Aufmerksamkeit überdeutlich auf mir spürte, auch wenn er nicht herübersah.
„In ein paar Tagen veranstalten wir eine kleine Spendengala. Ein Vorweihnachtsfest, bei dem selbstgebackenes und Punsch verkauft wird. Der Erlös geht an diese Gemeinschaft. Und wenn Sie wollen, können Sie auch vor Ort spenden.“
Der Junge gab nicht auf, auch wenn sein Enthusiasmus deutlich abgeebbt war. Unsicher legte er einen selbstgemalten Flyer in eines der Regale, was ich mit Argusaugen beobachtete. Nicht dass er aus der Gelegenheit hinaus etwas mitgehen ließ.
„Ungenutzte Kräfte verkümmern. Zumindest bestenfalls“, setzte das Mädchen an und schaute eindringlich zu mir. „Oder sie machen einen verrückt, fressen einen von innen heraus auf. Lassen Sie nicht zu, dass das Leben eines Heranwachsenden zerstört wird, nur weil es an Geld mangelt.“
Sie schlang ihre dünnen Arme um sich, als hätte sie so etwas direkt miterlebt und als ließe die Erinnerung daran sie frösteln. Gleichsam kroch ein Schaudern mein Rückgrat hinab. Jakob hatte nicht überlebt, eben weil das Geld für die lebenswichtige OP gefehlt hatte. Warum sollte es anderen besser ergehen?
„Leider ist Geld nun mal alles, was im Leben zählt.“
Ob es Bitterkeit oder Kälte war, die dabei mitschwang, konnte ich nicht sagen. Die Halbwüchsigen schauten mich bei diesen Worten mitleidig an. Mir egal, was sie von mir dachten, Hauptsache sie verließen meinen Laden. Um ihnen dabei zu helfen, öffnete ich die Tür und blickte beide auffordernd an.
Endlich setzten sie sich in Bewegung. Und während der Junge mit einem genuschelten „Ihnen trotzdem frohe Weihnachten“ hinaustrat, bleib das Mädchen auf meiner Höhe stehen.
„Auch wenn´s schon länger zurückliegt. Aber erinnern Sie sich an Ihre Anfänge, daran, wie Sie zu alldem gekommen sind. Vielleicht besinnen Sie sich dann, wie schwer sich die ersten Schritte gestalten. Oder Sie waren schon immer ein arroganter arschiger Geizkragen.“ Damit marschierte sie nach draußen und ließ mich fassungslos zurück.
„Unglaublich“, sagte ich laut und schloss die Tür. Da kämpft man sich durchs Leben, arbeitet hart, Tag für Tag. Und dann kommen solche Gören daher und wollen alles hinterhergeworfen, ja geschenkt bekommen.“
Sich über etwas sinnfrei aufzuregen tat gut. Lenkte ab von Jakob, unserer ersten Zeit zusammen und wie wir hier alles mühselig aufgebaut hatten. Gemeinsam.
„Unfassbar“, ereiferte ich mich weiter und wanderte zu meinem Schreibtisch. „Wie kann man so etwas nur beschreiben?“
„Traurig.“
Ich stockte und drehte mich verwundert zu Crat um. Pure Enttäuschung wallte mir entgegen, geballt in einem Blick, dass es mir den Brustkorb zuschnürte. Kraftlos langte er nach seiner Jacke und verließ den Laden, ohne Abschied. Als sich die Tür schloss, schlug die alte Standuhr zur vollen sechsten Stunde.
Dieses eine Wort verfolgte mich den gesamten Abend, machte Sport und Essen fast unmöglich. Beides brach ich bei der Hälfte ab. Warum verlangte ein jeder zur Weihnachtszeit, dass man großzügig war? Nett? Im Hochsommer forderte das niemand. Ein Grund mehr, dieses Fest zu hassen. Jeder heuchelte dem Anderen etwas vor, in der vagen Hoffnung, dass irgendetwas für einem raussprang.
Jakob hatten sie auch umschmeichelt. Hatten ihm teure Tränke für wenig Geld aus dem Kreuz geleiert. Oder ihm weiß gemacht, dass es Heilung für ihn gab. Alles Lügen. Vehement schüttelte ich mit dem Kopf, um die alten Erinnerungen loszuwerden. Sie brachten mir Jakob nicht zurück. Außerdem war ich nahe dran. Nahe an meinem Ziel, an dem ich seit Jakobs Tod arbeitete. Noch ein wenig mehr Geld und ich hätte genügend Mittel, um die Penner aufspüren zu lassen, die damals aus seinem Leid Profit geschlagen hatten. Ich musste nur sparsam leben, viel verkaufen, nichts verschenken. Jeder Cent war wichtig.
Müde stapfte ich hinauf in mein Schlafzimmer, schaute mich um und verzog dann das Gesicht. Geister? So so. Die einzigen Geister, die mich verfolgten, waren meine eigenen. Die kleine Dämonin, die ich an die alte Dame verwiesen hatte. Die beiden Gören, die so dreist waren, mein Geschäft aufzusuchen. Crats enttäuschter Blick. Als hätte er von mir mehr erwartet. Dabei kannte er mich nun wirklich lange genug, um zu wissen, dass Großzügigkeit keine Stärke von mir war. Was sollte sich also plötzlich geändert haben?
Ich konnte nicht genau sagen, was mich aus dem unruhigen Schlaf weckte. Der Duft von frischem Braten, Plätzchen und Glühwein oder das Zupfen an meiner Decke, welches langsam immer energischer wurde.
„Ändlich. Ich ha scho gmeint, ich müesst en Chessel chalts Wasser hole, damit d'wach wirsch.“
Ich riss die Augen auf und fuhr hoch. Und als ich die Gestalt an meinem Bettende sitzen sah, zog ich automatisch die Decke an mich und wich nach hinten zurück.
„Muesch gar nöd so schüch tue, Schätzli. Nach däm, was ich ha dörfe gseh, muesch du dich würkli nöd verschtecke.“
Die junge Frau zwinkerte mir kokett zu und ließ dann ihre Augen einmal grinsend über meinen Oberkörper wandern. Zwar verstand ich kein Wort ihres Kauderwelschs, aber der Kommentar schien eindeutig anrüchiger Natur zu sein.
„Da d'ja jetz wach bisch, chömmer endli gah.“
Freudig stand sie auf und rieb sich die Hände. Irgendwie sah sie so aus, als ob ich es ihr gleichtun sollte. Ohne sie aus den Augen zu lassen, langte ich nach meinem Morgenmantel und zog ihn mir rasch über, bevor ich ebenfalls aus dem Bett stieg. Der ungebetene Gast beugte sich derweil über einen Tisch, der mit Plätzchen und anderem Süßkram regelrecht überfüllt war. Ich hätte schwören können, dass auch die restlichen Anrichten mit Punsch, Braten und Obst noch nicht in diesem Zimmer standen, als ich zu Bett gegangen war.
„Ehrlich, dini Tantä häts würkli voll druff. Alles isch so fein, wiä's schmöckt: würkli gluschtig!“
Genießerisch schloss sie die Augen, nur um gleich darauf erneut einen gierigen Blick auf das Essen zu werfen.
„Entschuldige, aber wer bist du und was machst du in meinem Schlafzimmer?“
„Oh, tschuldigung. Wiä unhöflich vo mir. Aber ich bi eifach abglänkt gsi. Aso grad dopplet.“
Sie lachte kurz auf und hielt sich dann die Hand vor dem Mund, damit nicht noch mehr Plätzchen herausbröselten. Mir wurde das langsam zu albern. Genervt verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Geht das auch in einer Sprache, die ich verstehe?“
Verdattert schaute die Frau mich an und überlegte kurz. Dann klatschte sie ihre Hand auf die Stirn.
„Ja klar, dä Jakob isch ja vo Dütschland cho.“ Sie räusperte sich, bevor sie ihre arme ausbreitete und ein breites Lächeln aufsetzte. „Ich bin Ainex, der Geist der vergangenen Weihnacht. Und mir wurde aufgetragen, dich an dein altes Versprechen zu erinnern.“
Na klar. Und Schweine können neuerdings fliegen. Die Braut sah aus wie eine Rockabilly aus dem Katalog. Knallig rote Haare zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, passender Lippenstift, bleiche Haut und um die üppige Figur schmiegte sich ein rot-schwarz-gepunktetes Kleid mit farbgleichem Unterrock, als würde sie zur nächsten 50iger Party gehen wollen. Ein Hingucker durch und durch. Aber bestimmt kein Geist, der mich was lehren könnte. Dafür sah sie viel zu ausgeflippt aus.
„Altes Versprechen. Ah ja. Und was soll das Gelage hier darstellen? Alle Häppchen, die ich versprochen hatte, aufzuessen?“
Wie sehr ich ihr glaubte, war deutlich aus meiner Stimme herauszuhören. Der Geist verzog missbilligend den Mund und stemmte die Hände in die Hüfte.
„Das hier sind all die Speisen, die deine Tante für dich zubereitet hatte, in der Hoffnung, du würdest zum Essen kommen. Sie hat mühsam alles warm gestellt und die Jungs davon abgehalten, es dir wegzufuttern, während du dir nicht mal die Mühe gemacht hast, sie anzurufen. Macht sie übrigens noch heute. Jeden Sonntag steht ein Teller für dich bereit. Deine Familie vermisst dich.“
Jetzt wusste ich, was Jakob damit meinte, dass die Geister anstrengend wären, die er mir schickte. Denn bei mir regte sich das schlechte Gewissen. Tante Sylvia war die Gütigkeit in Person und noch dazu die beste Köchin und Bäckerin, die ich kannte. Mit Jakob hatte ich mich früher immer gebalgt, wer ihr in der Küche helfen durfte, da derjenige immer den ersten Bissen bekam. Fest ballte ich die Hände zu Fäusten. Ich wollte nicht daran erinnert werden. Die fröhlichen Zeiten waren vorbei. Punkt.
„Was für ein Versprechen meinst du?“ Angriff war noch immer die beste Verteidigung.
Die Augen der Geisterlady funkelten verschmitzt auf, als sie mir im verschwörerischen Tonfall antwortete.
„Ich denke, Bilder sagen mehr als Worte.“
Sie schnippte mich dem Finger, worauf ein starker Windstoß mir die Sicht nahm. Als sich diese wieder klärte, schaute ich mich interessiert um. Wir waren in einem Club. Düstere Beats hämmerten im Hintergrund und der Geruch von Absinth und Gebäck schwebte in der Luft. Überall lagen kleine Pappteller übervoll mit Plätzchen auf den Tischen. Und auch wenn die alten Holzbalken und grauen Steinwände weihnachtlich geschmückt waren, hatte alles einen dunklen Touch. Dark Christmas.
Ich befand mich im Lieblingsclub meines alten Meisters. Ein Urzeitgoth, wie aus dem Lehrbuch. Jakob und ich hatten immer darüber gewitzelt, dass er die dunkle Musik in die Stadt gebracht hatte. Kaum gedacht, hörte ich seine Stimme, wie er nach mir rief. Mein Herz machte einen entsetzten Sprung, als ich mich umdrehte und Jakob direkt gegenüberstand. Doch der lief einfach durch mich hindurch. Irritiert schaute ich auf meine Hände, deren Festigkeit schimmerte, wie ein nicht richtig eingestelltes Bild eines uralten Fernsehers.
„Na du Emo, frönst du wieder dem Alleinsein?“
Auch wenn mir nicht danach war, aber ich musste einfach lächeln. Jakob war eine widerliche Frohnatur. In seinem Beisein Trübsal blasen war einfach nicht möglich.
„Würde ich ja gern. Aber so ein Spinner klebt wie alter Kaugummi an meiner Hacke.“
Jay lachte auf und übergab mir ein Glas. „Das mit dem alten Kaugummi nimmst du sofort zurück.“
Wir prosteten uns zu und nahmen einen kräftigen Schluck. Unwillkürlich verzog ich das Gesicht. Der Cocktail schien eine Extramischung zu sein. Zumindest freute es Jakob, der mich wissend anstrahlte.
„Damit du genug Mut hast, um Elli endlich anzuquatschen.“ Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen und deutete zu dem Pulk von Menschen hinüber, die sich bei einer Sitzgruppe angeregt unterhielten. Entnervt winkte ich ab.
„Längst erledigt.“
Nun bekam Jakob große Augen. „Echt jetzt? Und? Na los man, erzähl schon!“, forderte er energisch und beugte sich weiter zu mir, um auch ja kein Wort über die Musik hinweg zu verpassen. Ich druckste erst rum, aber schlussendlich konnte ich Jakob noch nie etwas ausschlagen.
„Sie kam vorhin von der Toilette, rein zufällig zur gleichen Zeit, wie ich. Hab sie beiseite genommen und ihr gestanden, dass ich sie süß finde.“
„Vor der Toilette? Mit Romantik und so hast du es nicht wirklich, was?“
Den Einwurf ignorierend erzählte ich einfach weiter.
„Sie fand mich auch interessant und wir haben ein bisschen rumgeknutscht.“
Voller Respekt nickte Jakob. Bevor er wieder etwas dämliches einwerfen konnte, fuhr ich fort.
„Hat aber nicht gepasst. Also hab ich ihr gesagt, dass doch nichts draus wird.“
Jakobs Gesicht war zum Schreien komisch. Der schien gerade überhaupt nichts zu verstehen, was er mit einem einzigen Wort kundtat.
„Warum?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Hat nicht gekribbelt in den Fingerspitzen.“
Leicht schüttelte Jakob mit dem Kopf. „Du hängst mir seit über einem Monat wegen ihr in den Ohren und jetzt gibst du nach einem Kuss schon auf?“
Rasch nahm ich einen weiteren, tiefen Schluck von dem überzuckerten Cocktail. In dieser Hinsicht war ich ziemlich altmodisch. „Es muss ja kein krasses Feuerwerk sein, aber mindestens ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Ein Reiz, der mehr will.“
„Oh man.“ Jakob atmete tief durch, bevor er sein Glas mit einem Zug leerte und es beiseitestellte. „Ich weiß zumindest, was ich jetzt will. Und rausreden ist nicht! Denk dran: Versprochen ist versprochen.“
Wo waren die dicken Balken, hinter den man sich verstecken konnte? Mit einem Ruck kippte ich den Cocktail hinter und ließ mich dann von Jakob auf die Tanzfläche ziehen. Es war ja nicht so, dass ich mich nur ungern zu Musik bewegte. Aber normal waren da keine Kollegen anwesend und ich alkoholtechnisch auf höherem Level. Doch mit Jakob an meiner Seite fühlte ich mich sicher, vergaß alles um mich herum und ließ mich von den düsteren Klängen treiben.
Jakob bewegte sich dermaßen anmutig, als wäre er mit der Musik eins. Und dieser Bastard wusste, wie gut er dabei aussah. Mit einem unheilvollen Grinsen, das besagte, dass er etwas ausheckte, tanzte er auf mich zu und schlang seine Arme um meine Hüfte. Jakob passte sich meinem Rhythmus an, bis wir uns auf der gleichen Ebene bewegte, fast eins waren. Langsam beugte er sich zu mir hinab, ohne mich aus den Augen zu lassen, unsicher und doch zielstrebig.
Dann schloss er die Lider und küsste mich. Es war so harmlos, nur ein leichtes Flattern wie von Schmetterlingsflügeln auf den Lippen. Ich konnte nicht anders, wollte unbedingt mehr. Also reckte ich mein Kinn und kam ihm entgegen. Der Kuss wurde intensiver, der Griff um meine Hüfte fester. Ich legte meine Hände in Jakobs Nacken, übte dort leichten Druck aus, um ihn noch dichter bei mir zu haben.
Zaghaft leckte ich über seine Lippen, bis er sie endlich für mich öffnete und mir Einlass gewährte. Als sich unsere Zungen trafen, wurden wir beide nur noch gieriger. Knabberten, bissen, leckten und knutschten, was das Zeug hielt. Und doch...fehlte etwas. Nach einer kleinen Ewigkeit ließen wir endlich voneinander ab und schauten uns atemlos an. Jakob war der erste von uns, der wieder zu Worten fand.
„Das war echt geil. Aber keine kribbelnden Fingerspitzen, oder?“
Fast schon enttäuscht musterten wir uns gegenseitig. Bedauernd schüttelte ich den Kopf. Wäre ja auch zu schön gewesen. Aber wir hatten beide geahnt, dass uns außer einer sehr tiefgehenden Freundschaft wohl nicht mehr verband. Jetzt war es zumindest amtlich.
„Ich werde als alte Jungfrau sterben. Allein und mit zehn Katzen, die dann an mir rumnagen, weil mich keiner besuchen kommt.“
Jakob lachte laut auf, sah aber überhaupt nicht ein, von meinen Hüften abzulassen. „Alos das mit der Jungfrau ist ja mal längst vorbei. Oder wie war das mit Tom?“
Blöd, wenn der beste Freund über absolut alles Bescheid wusste.
„Du wirst schon noch deinen Traummenschen finden. Und dann wird es so krass in dir kribbeln, dass du es erst merkst, wenn er oder sie kurz weg ist, weil´s ganz plötzlich aufhört. Wie auf so einem Rüttelbrett. Hat ihn dann bloß fest, deinen Menschen. Sonst tret ich dir in den Arsch, egal wo ich da gerade bin!“
Besorgt schaute ich zu Jakob auf. Er war mit dem Loch im Herzen geboren worden und bisher hatte es sich auch nicht vergrößert. Wir hatten noch ewig viel Zeit. Zusammen. Einer der ehesten Gründe, warum Jakob so intensiv zu leben versuchte, wie nur möglich. Selten driftete er in Melancholie ab. Und wenn, schaffte ich es bisher immer, ihn da wieder rauszuholen.
„Ich bin echt gespannt, wie du das von Irland aus bewerkstelligen willst. Aber gut. Ich werde auf deinen weisen Rat hören, oh Obi-Wan. Versprochen. Doch vorerst komm zu mir auf die dunkle Seite der Macht.“
„Das passt doch von den Charakteren gar nicht“, lachte Jakob auf, ließ sich dann aber doch zu einem weiteren Kuss verführen.
Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte ich schmunzelnd an der Wand und beobachtete das Treiben. Mehr als diese Küsse war damals nie zwischen uns geschehen. Und trotzdem standen wir uns so nahe, dass kaum ein Partner des andern dazwischen Platz fand. Vielleicht lag es aber auch an dem Kribbeln, welches wir bis dato stetig vermissten.
Kurz tauchte Crat vor meinem inneren Auge auf. Mein Finger prickelte noch immer, sicherlich von dem Schnitt an diesem unsäglichen Papier.
„Na, spürst du schon die Auswirkungen des nichteingehaltenen Versprechens?“ Ainex schaute mich herausfordernd an und lächelte wissend. Ich dagegen wusste nicht, wovon sie sprach.
„Noch nicht?“, interpretierte sie meinen fragenden Blick richtig. „Na gut. Dann auf zum Zweiten.“
Der Geist wedelte einmal mit der Hand, worauf wieder der Windstoß aufkam und sich die Umgebung um uns herum änderte. Ich blinzelte kurz, dann erkannte ich meinen Laden. Oder zumindest den alten meines Lehrmeisters, kurz nachdem er ihn Jakob und mir vererbt hatte. Jener kam gerade aus dem Lager gestürmt und warf kleine Fläschchen in den schon gut gefüllten Mülleimer.
„Verdammt noch mal, da ist alles Schrott. Keine Ahnung, warum er unbedingt von Normalos und Möchtegernkräutertypen kaufen musste, aber die gesamten Vorräte sind verunreinigt.“
Müde sah ich von den Papieren auf, über denen ich eben noch gebrütet hatte. „Weil kaum mehr Geld da war. Rechnungen, Mahnungen, Spendenquittungen.“ Ich rieb mir über die brennenden Augen. „Er hat schon immer lieber gegeben, als genommen.“
„Mag sein. Aber warum er gerade uns das sterbende Pferd überlassen musste.“
Mit einem Lächeln stand ich auf und ging zu der kleinen Musikstation im Regal. Dort kloppte ich mein Handy rein und schaltete meine Lieblingsplaylist ein. Harte Beats vermischten sich mit melodischen Stimmen und zauberte ein Schmunzeln auf Jakobs Gesicht. Und das, obwohl er genauso überarbeitetet und mit den Nerven fertig war, wie ich.
„Na weil wir es voll drauf haben. Wir machen aus dem alten Schuppen eine Goldgrube.“ Mit dem Kopf zur Musik mitwippend, ging ich auf Jakob zu, der mich kritisch musterte.
„So? Und was ist mit den verschmutzten Kräutern und Tinkturen? Sie zu ersetzen wird ein kleines Vermögen kosten.“
Ich winkte ab. „Meine Eltern haben mir was hinterlassen. Und ich frage Silas. Der neue Starautor gibt mir bestimmt einen Kredit.“
„Die verärgerten Kunden?“
„Wissen, dass unsere Produkte wirken. Deswegen wollten sie zum Schluss nur noch die Sachen von uns besprechen lassen. Etwas Werbung und ein paar kostenlose Pröbchen hier und dort und wir sind wieder voll im Geschäft.“
„Was machen wir mit den ganzen Gläubigern?“
Noch bevor Jakob einen Blick auf die Stapel von Rechnungen werfen konnte, schlang ich meine Arme um seinen Hals und drehte sein Gesicht mit der Hand zu mir.
„Mit denen trinken wir einen leckeren, selbstgebrauten Tee und schon sind sie uns gegenüber milde gestimmt. Ist schließlich Weihnachten.“
Ergeben lehnte Jakob die Stirn an meine. „Wenn wir alles verschenken, haben wir bald nichts mehr zu verkaufen. Und von was sollen wir dann leben?“
„Wie wäre es mit Luft und Liebe?“
„Unverbesserlicher Idealist. Für einen verkappten Emo hast du eine viel zu positive Lebenseinstellung.“ Lachend knuffte ich Jakob in die Seite, doch der schmiegte sich nur enger an mich. „Behalte das bloß bei!“
Mühselig verkniff ich mir die Tränen und schaffte es doch nicht ganz. Drei Jahre nach der Weihnachtsfeier war unser alter Lehrmeister verstorben und hatte uns mangels Erben alles hinterlassen. Leider auch die, wie sich herausstellte, verschmutzten Kräuter und Tränke, die er wider guten Glaubens von unzertifizierten Straßenhändler abgekauft hatten. Diese arbeiteten gerne mit Pestiziden und künstlichen Düngern, damit die Pflanzen schneller wuchsen.
Leider zerstörte dies ihre gesamte Wirkung und machte schlimmstenfalls krank. Mit beiden Händen rieb ich mir über das Gesicht, wollte nichts mehr sehen und hören. Zu viele alte Erinnerungen, die nun schmerzten.
„Du warst nicht immer ein elender Geizkragen, der an allem was zu nörgeln hat“, hörte ich Ainex Stimme im Hintergrund. „Es gab eine Zeit, da hast du aus jeder Situation etwas Positives geschöpft und an deine Mitmenschen weitergegeben.“
Energisch schüttelte ich den Kopf. Konnte sie nicht endlich still sein?
„Erinnere dich an deine Versprechen. Denn nur du selbst entscheidest, wer du bist. Auch für andere. Nur du selbst. Du selbst.“
Die Worte verhallten, als kämen sie als Echo von weit weg. Ich spürte, dass ich mich wieder in meinem Schlafzimmer befand, die üblichen Geräusche, der übliche Geruch, ganz ohne Festbraten und Plätzchen. Auf meinem Bett sitzend getraute ich mich kaum, die Hände vor dem Gesicht wegzunehmen. Auch wenn die Erinnerungen an Jakob unglaublich wehtaten, erschreckte mich mehr der Mensch, der seit seinem Tod aus mir geworden war. Hatte mich das Streben nach Geld, um Jakobs Dealer ausfindig zu machen, wirklich so verbittert? Aber ich konnte diese Leute doch nicht ungesühnt ziehen lassen. Ich musste sie zur Rede stellen, koste es, was es wolle.
„Oh man. Hast du’s wirklich immer noch nicht begriffen?“
Ich schreckte hoch und sah gerade noch ein zierliches Persönchen, bevor eines meiner Kissen direkt in meinem Gesicht landete.
„Mit Reflexen und Reaktionsfähigkeit hast du’s nicht wirklich, oder?“
Entnervt pflückte ich das Kissen von meinem Gesicht und betrachtete resigniert meinen Gast. „Und du bist...?“
Jakob hatte zwar etwas von anstrengend gesagt, aber nicht, dass es so aufreibend werden würde. Die letzten Eindrücke hatte ich nicht mal ansatzweise verarbeitet und nun schien noch mal eine gehörige Portion auf mich zuzuschippern. Ich war definitiv nicht begeistert.
„Mal abgesehen von wunderschön, durchtrainiert und absolut clever?“ Die Kleine grinste auffordernd, doch ich hatte keine Kraft, um auf ihr Spiel einzusteigen. Auch sie schien das zu merken, ging aber einfach darüber hinweg. „Ich bin Itak, der Geist der gegenwärtigen Weihnacht.“
„Und ich bin weg.“
Mit dem Kommentar drehte ich mich um und wollte mir die Decke über den Kopf ziehen. Allerdings blieb die Kleine hartnäckig. Kurzerhand stibitzte sie mir meinen Schutzbunker und warf ihn achtlos hinter sich.
„Auf auf, der Herr. Wir haben eine kleine Reise vor uns.“
„Genau das habe ich geahnt.“
Grummelnd kam ich ihrer Aufforderung nach und sah sie von oben herab an, als ich vor ihr stand. Gute Güte, sie war wirklich einen ganzen Kopf kleiner als ich. Doch ihre Augen glitzerten vor Tatendrang. Super.
„Gut so. Bereit daran erinnert zu werden, was Wohlgesonnenheit und Rücksichtnahme bedeutet?“
Ich schnaubte. Was bitte sollte denn das werden?
„Ich wüsste nicht, wer in letzter Zeit auf mich Rücksicht genommen hat oder mir gutgesonnen war. Die Welt ist voller Egoisten.“
„Mit dir als Oberhaupt, was?“
Die Kleine war ganz schön frech. Und dreist. Kaum öffnete ich den Mund zu einer Erwiderung, schnitt sie mir mit einer harschen Bewegung vor dem ersten Ton die Luft ab.
„Da ist Ruhe drin“, befahl sie streng, setzte aber weicher nach: „Bilder sagen außerdem mehr als Worte.“
Erneut kam dieser starke Windstoß auf, der meinen Geist aus meinem Körper zerrte und an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit wieder ausspuckte.
Desorientiert schüttelte ich meinen Kopf, dann sah ich mich um. Ich stand in einem kleinen Wohn-Ess-Zimmer, dessen Wände mit Bücherregalen vollgestopft waren. Eine abgewetzte Couch diente als Raumteiler und auch das Parkett hatte schon bessere Tage gesehen. Ganz sicher, hier war ich noch nie. Aber sollten es nicht meine Gedanken sein, in denen wir stöberten? Irritiert schaute ich zu dem Geist hinüber, die überinteressiert die Bücher musterte. Noch wollte sie sich anscheinend nicht erklären.
„Jungs, Essen!“
Eine Frau, vielleicht Anfang vierzig, betrat den Raum und platzierte Unterleger auf dem kerbenreichen Tisch. Ihr kantiges Gesicht umrahmten dunkle Haare, die ihr in einem klassisch geflochtenen Zopf bis zur Hüfte reichten. Ich kannte sie, dessen war ich mir sicher. Nur woher?
Als sich auf ihr Rufen hin in der Wohnung nichts rührte, pfiff sie laut mit zwei Fingern, dass mir die Ohren klingelten. Gleich darauf klapperte eine Tür und drei Burschen kamen angerannt. Sich laut unterhaltend setzten sie sich an den Tisch, ohne groß auf ihre Mutter zu achten. Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend. Woher nur...?
Die jedoch baute sich vor dem Esstisch auf, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete mit strengem Blick ab, bis einer der Jungs sie endlich bemerkte. Der wurde sofort ruhig und tippte hektisch seine Brüder an, die nach und nach verstummten. Es reichte ein leichtes Anheben ihrer Augenbraue, dass alle drei aufsprangen und ins Bad rannten.
„Ich glaube, ich habe meinen neuen Mentor gefunden“, meinte der Geist begeistert und himmelte die Frau verzückt an. Die schüttelte gutmütig ihren Kopf und jagte ihre Jungs in die Küche, als diese mit frisch gewaschenen Händen erneut angerannt kamen.
Gemeinsam deckten sie den Tisch fertig. Doch selbst als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren und zwei Töpfe darauf warteten, leergefuttert zu werden, fing die Familie dennoch nicht an zu essen. Ein Platz, vor dem ein Teller stand, war noch leer.
„Sicher, dass Ben heute zum Abendbrot kommt?“, fragte einer der drei und schaute dabei sehnsüchtig auf einen Topf.
„Nicht, wenn er seinem Herrn und Meister noch eine Minute länger hinterher schmachten kann“, witzelte ein anderer und fing sich sofort einen mahnenden Blick seiner Mutter ein.
„Meister Roge verdanken wir ein Dach über dem Kopf und das warme Essen auf dem Tisch. Also etwas mehr Respekt.“
Leichte Übelkeit stieg in mir auf. Ich kannte diese Familie überhaupt nicht. Warum also nahm die Frau mich in Schutz? Was meinte der Junge mit seinen spöttelnden Worten? Und meinten die mit Ben etwa...?
Bei eben jenem Gedanken klackte das Schloss der Eingangstür und Crat betrat die Wohnung.
„Sorry Leute. Die Menschen benehmen sich, als wäre morgen Weltuntergang.“
Gehetzt zog er die Schuhe aus und legte die Jacke ab. Volle Beutel wurden in einen Nebenraum verfrachtet, der danach vorsorglich abgeschlossen wurde. Natürlich unter scharfer Beobachtung seiner Brüder. Denen wuschelte er durch die Haare, bevor er seiner Mutter einen Kuss auf die Wange gab und sich neben sie setzte.
Dann durfte endlich zugegriffen werden. Und das taten sie, besonders die Halbwüchsigen. Währenddessen wurde sich die ganze Zeit über unterhalten. Über Schule, Arbeit, Freunde. Es war ein warmes Miteinander, trotz der kläglichen Umgebung, sodass mir schwer ums Herz wurde. Ein gemeinsames Essen mit meiner Familie war lange her.
„Die Frau ist der absolute Hammer, ich sags dir!“ Kauend verschlang Itak ein Plätzchen nach dem nächsten und schloss dabei ab und an genießerisch die Augen. Diese Geister schienen alle miteinander total verfressen zu sein.
Meinen Blick auf das selbstgemachte Gebäck gerichtet, ging ich verhalten darauf zu. Dann streckte ich doch den Arm aus und lange zögerlich nach einem Plätzchen, fasste allerdings komplett durch, als versuchte ich ein Hologramm zu packen.
„Na, den Geist der Weihnacht noch immer nicht verinnerlicht?“, fragte Itak spöttisch und schob sich vor meinen Augen noch einen Keks in den Mut. Kleine, provozierende Hexe.
Schnaubend wand ich mich ab, beobachtete lieber Crat, wie er seinen Brüdern Soße über die Spirelli schüttete, bis diese alle war, obwohl er selbst kaum welche hatte. Kein Wunder, dass er so schmal und kantig im Gesicht war, wenn er sich alles wegfuttern ließ.
Trotzdem stahl sich ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen. Die drei Gören schienen ihn regelrecht anzuhimmeln, holten sich Rat, wie sie gegen einen Raufbold ankämen, ohne selbst zum Schläger zu werden, und lästerten gemeinsam über Lehrer, die schon Crat in der Schule nicht wirklich gemocht hatte.
Selbst der Abwasch danach verlief harmonisch. Keiner beschwerte sich darüber, dass er abwaschen oder abtrocknen musste. Es halfen einfach alle mit, ganz von allein. Als die Mutter die Drillinge entließ, beeilten sich diese jedoch, um aus ihrer Reichweite zu gelangen, was Crat mit einem Kopfschütteln kommentierte. Dann sah er auf die Uhr und legte das Küchentuch beiseite.
„Du musst schon wieder los?“ Crats Mutter sah ihren Sohn besorgt an.
„Jup. Professor Dr. Klein gibt heute eine Extrastunde. Die will ich nicht verpassen.“
Verwundert drehte ich mich zu dem Geist um, der lässig an der Wand lehnte und auf etwas zu warten schien.
„Wer ist Dr. Klein? Und wo will Crat um diese Uhrzeit noch hin? Es ist fast acht Uhr abends.“
Itak antwortete nicht, sondern deutete mit dem Kinn lediglich auf das Geschehen.
„Du weißt schon, dass auch du etwas Zeit für dich brauchst“, mahnte die Mutter und tätschelte ihrem Sohn die Wange. Dann hielt sie inne und schaute besorgt zu ihm auf. „Du bist ja ganz heiß. Bekommst du Fieber?“
Genervt nahm er ihre Hände aus seinem Gesicht.“
„Quatsch. Bin nur etwas im Stress. Aber ist ja bald geschafft. Hab da übrigens noch was.“
Er drückte seiner Mutter zwei Fünfzig-Euro-Scheine in die Hand und wollte schon weiterhetzen. Doch sie hielt seinen Arm fest und sah ihn verwirrt an.
„Für die Haushaltskasse. Du machst immer Nudeln, wenn es zum Monatsende knapp wird. Und die Soße war total gestreckt, kaum Fleischwurst drin. Die Jungs brauchen aber Energie. Die wachsen noch.“
Mit wässrigen Augen schüttelte die Frau ihren Kopf und ließ sich schwer auf einen der Stühle am Tisch fallen. „Du weißt, dass du das nicht machen musst. Es ist nicht deine Aufgabe, uns durchzufüttern.“
Liebevoll küsste Crat seiner Mutter auf die Stirn und kniete sich vor ihr ab. „Wir sind eine Familie und immer füreinander da, oder nicht?“
Milde lächelte die Frau ihren Sohn an, runzelte dann aber die Stirn, als dieser anfing zu husten. „Das wird ja immer schlimmer. Schatz, du brauchst Ruhe. Die Uni überlebt auch einen Tag ohne dich.“
Crat studierte? Warum wusste ich davon nichts? Und warum sah er noch blasser aus als tags zuvor? Hatte mein Trank denn gar nicht gewirkt? Der tötete doch sonst alle Viren binnen eines Abends ab. Fast hatte ich das dumpfe Gefühl, dass hinter dieser Erkältung mehr steckte.
„Aber ich nicht ohne sie. Ich darf mein Stipendium nicht aufs Spiel setzen. Außerdem hat Meister Roge mir einen Trank gebraut. Morgen geht es mir sicherlich besser.“
„Noch immer so zuversichtlich, was ihn betrifft?“
Gerade eben noch voller Optimismus, wechselte Crats Gesichtsfarbe ins Rötliche. Verunsichert wandte er sich ab und starrte den Tisch an. Schwach zuckte er mit den Schultern.
„Es ist immer leichter, sein Herz zu verlieren, als es wieder zurückzubekommen. Man muss nur aufpassen, dass man es irgendwann wieder einfängt, bevor es auf ewig abhanden bleibt.“
Was sollte dieser kryptische Spruch? Und überhaupt. Was sollte dieses ganze Gebaren? Natürlich war mein Trank einwandfreier Qualität. Über was also machte sich diese Frau Sorgen?
„Ehrlich? Du kapierst es wirklich immer noch nicht?!“ Entgeistert starrte mich Itak an, als hätte ich gerade behauptet, dass Trump frauenfreundlich wäre.
„Ist eh bald vorbei. Mit der letzten Lohnzahlung im Januar unterbreite ich ihm meine Kündigung.“
Mein Kopf fuhr zu Crat herum. Was hatte er da gerade gesagt?
„Was?“ Seine Mutter schien genauso fassungslos, wie ich. „Warum?“
Müde zuckte er mit den Schultern.
„Das Geld für den Wesenstest der Jungs habe ich fast zusammen. Sobald ihre Affinitäten festgestellt wurden, werden sie Mentoren zugeteilt, die sie finanziell fördern werden und dich somit entlasten. Ich kann das Studium auf Vollzeit machen, sobald ein Platz frei ist und dann endlich richtig arbeiten gehen. Außerdem hat sich ein Nebenjob aufgetan, bei dem ich wesentlich mehr Geld verdiene in kürzerer Zeit.“
„Du versuchst Abstand zwischen euch zu bringen.“ Auf das Geld ging seine Mutter gar nicht ein, als wäre ihr dieser Aspekt überhaupt nicht wichtig. Stattdessen schien sie hinter die Kulissen blicken zu können, direkt in den Backstage-Bereich. Und ich war mir ziemlich sicher, dass sie das traurig machte, was sie dort entdeckte.
Mir dagegen ging langsam dieses ganze Theater gehörig auf die Ketten. Crat wollte kündigen? Mich durch jemanden ersetzen, der besser bezahlte? Wenn er so dringend Geld brauchte, warum hatte er bisher nie nach einer Gehaltserhöhung gefragt? Doch bevor ich mir wütend Luft machen konnte, piepte etwas nervig und Crat sprang gehetzt auf.
„Ich muss los.“ Gehetzt schaute er auf eine uralte Retrouhr, die exakt neunzehnuhrdreißig anzeigte. Rasch schlüpfte er in seine alten Schuhe und langte nach der Jacke, während seine Mutter ihm die Tür aufhielt.
„Pass auf dich auf, mein Schatz.“ Sie küsste ihn auf die Wange. Dann stürmte er davon.
Die Welt um mich herum verschwamm und gleich darauf fand ich mich in einem großen Hörsaal wieder, überfüllt mit Studenten jeglichen Alters. Vorn dozierte ein alter Herr, der kaum mehr Haare auf den Kopf hatte und nach Zigarette stank. Dennoch klebten alle an seine Lippen, als würde er die Formel zur Herstellung von Gold diktieren.
Crat schrieb eifrig mit, meldete sich ein paar Mal und stellte sogar recht interessante Fragen, die mich erstaunten. Ich wusste gar nicht, dass er bei einem Thema so um die Ecke denken konnte und selbst für den Professor neue Denkrichtungen anstieß. Seine Kommilitonen wirkten entweder genervt oder sichtbar neidisch. Ein paar tuschelten, dass er wohl seine Bücher auffraß und den ganzen Tag nichts anderes tat, als diese auswendig zu lernen.
Keine Ahnung, warum mich das wütend machte und ich mit Absicht gegen deren Kaffeebecher stieß. Zu meiner Verwunderung kippte der sogar um und ergoss sich unter dem Fluchen der lästernden Tussi über ihre teure Designerjeans.
„Ahh, der Herr fängt langsam an, zu verstehen“, hörte ich Itak hinter mir triumphierend. Fragend sah ich sie an. Warum klappte es hier und vorhin bei den Plätzchen nicht? „Oder auch doch nicht.“ Augenrollend deutete sie wieder zu Crat, der gerade sein Zeug zusammenpackte, wie alle anderen. Die Uni war wohl für heute vorbei.
„Benjamin, darf ich Sie noch für einen Augenblick zu mir bitten?“ Auch wenn es der Dozent anders formulierte, es war definitiv eine bindende Aufforderung.
Als der Hörsaal sich geleert hatte, drückte Herr Dr. Klein, mit einem bedeutungsvollen Blick, Crat einen Umschlag in die Hand.
„Sie leisten gute Arbeit, Benjamin und Ihr Fortschritt kann sich sehen lassen. Doch am Tag gibt es wesentlich mehr Kurse, die Ihren Leistungen eher entsprechen. Deswegen sind die Direktion und ich uns einig, dass Sie am Regulärbetrieb teilnehmen sollten.“
Mit offenem Mund nahm Crat den Umschlag entgegen, riss ihn mit zitternden Händen auf und überflog kurz die Zeilen.
„Wow, Herr Dr. Klein. Das ist wirklich total klasse! Vorhin hab ich noch mit meiner Mutter drüber gesprochen und...“ Plötzlich wurde er ruhig und runzelte die Stirn. „Aber das ist schon ab Januar.“
„Natürlich. Diese Plätze sind sehr begehrt und müssen deswegen vollumfänglich ausgefüllt werden.“ Dr. Klein zog eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche seines Hemdes und klopfte sich einen Stängel heraus.
„Ich geh nebenher noch Arbeiten und meine Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen. Ginge nicht ab Februar? Da könnte ich meinen Resturlaub noch mit einbringen und...“
Dr. Klein schüttelte vehement mit dem Kopf. „Wenn nicht zum Januar, dann gar nicht. Eine Wartezeit lässt die Direktion leider nicht zu. Kündigen Sie doch einfach und verzichten auf die letzten beiden Gehälter. Da kann selbst der nörgeligste Geizkragen nicht widerstehen.“
Traurig starrte Crat den Brief in seiner Hand an. „Wenn Sie wüssten...“
Ein Stich durchfuhr meine Brust. Ich wusste ja, für was mich die halbe Menschheit hielt. Aber das Crat das Gleiche dachte, war mir neu. Und es tat weh. Warum? Warum war mir wichtig, wie Crat mich beurteilte?
„Geben Sie mir bis Übermorgen Bescheid, Benjamin. Ihnen einen schönen Abend!“
„Ihnen auch. Danke.“
„Dieser Dr. Klein ist ein Arsch!“, machte ich mir empört Luft und schaute zu Itak auf, die auf einem Tisch sitzend irgendwelche bunte Schnüre in sich hineinstopfte. Als sie nur unbehelligt mampfte, wetterte ich weiter. „Ben ist ein Stipendiat, braucht also jeden Cent. Sonst könnte er sich schließlich ein normales Studium leisten. Das weiß dieser Klein doch auch. Und trotzdem verlangt der von ihm, auf zwei Monatsgehälter zu verzichten?“
„Ja genau, wie herzlos.“ Kauend hüpfte Itak vom Tisch und stolzierte auf mich zu. „Wie kann er nur Benjamin aufgrund seiner hervorragenden Leistungen anderen vorziehen, damit er das Vollzeitstudium erhält und der Platz nicht mit einem verwöhnten Balg besetzt wird, sobald der normale Mob von einer freien Stelle Wind bekommt.“
Sie zupfte unsichtbare Flusen von meinem Morgenmantel, bevor sie sich weiter ausließ. „Vielleicht gibt es nicht immer nur Schwarz oder Weiß. Vielleicht stecken hinter den Intensionen eines Menschen mehr, als man auf den ersten Blick sieht. Aber hey, wem erzähle ich das, hm?“
Sie versetzte mir mit dem Handrücken einen Klaps gegen die Schulter. Dann nahm sie gemächlich jede Stufe einzeln, hinab zu Crat. Abermals piepte seine alte Uhr, was ihn hektisch draufschauen ließ.
„Mist.“ Fluchend stopfte er den Brief in seine Umhängetasche und hetzte Richtung Ausgang. Kurz davor jedoch begann er zu husten, dies so stark, dass er sich mit der Hand an der Wand abstützen musste, um nicht verkrampft vornüber zu fallen. Doch er nahm sich kaum Zeit, zu erholen. Rasch kippte er sich ein paar Schlucke Wasser aus seiner Trinkflasche hinter und stürmte dann weiter.
„Was soll das? Crat ist offensichtlich krank und es ist zehn Uhr durch. Wo will er hin?“
Prüfend schaute der Geist mich an. „Sicher, dass du das wissen willst?“
Es reichte ein düsterer Blick meinerseits und schon wedelte Itak mit der Hand und die Umgebung verschwamm. Als alles wieder klar wurde, stand inmitten eines kaum mehr benutzten Industriegebietes, von den Gerüchen und den Schienen her betrachtet, wohl der alte Hafen.
Ein kühler Wind kam auf, der mich kaum störte. Lag wohl an den schwarzen Rollkragenpullover, den Militärhosen in dunklem Tarn und den Kampfstiefeln, die ich trug. Itak stand ein paar Meter von mir entfernt und lugte gerade in ein altes Lagerhaus, ganz vorsichtig, mit dem Rücken zur Wand. Als sie merkte, dass ich sie beobachtete, fing sie an, wild mit ihren Händen zu gestikulieren. Sollte wohl irgendeine Aufforderung sein. Ich stapfte auf sie zu und schaute sie fragend an.
„Meine Güte, seid ihr alle elende Verweigerer, oder was? Na egal. Wir sind ja eh als Geister unterwegs, also sieht und hört uns sowieso keiner.“
Sie ging aus ihrer Deckung und spazierte in das Gebäude hinein, mit mir im Schlepptau. Drinnen zog es weniger, war aber auch nicht viel wärmer. An einer Wand standen Tische auf denen Rundkolben, Büretten und weitere Glasbehälter aufgebaut waren, wie in einem chemischen Labor. Kräuter langen herum und ein kleiner Brenner zischelte vor sich hin, während ein Typ mit feinen Zügen alles kritisch mustere.
„Sorry, hab die erste Bahn verpasst.“ Crat kam mit raschen Schritten auf den Typen zu, legte seine Tasche beiseite und schaute sich dann die Aufbauten interessiert an. „Was machen wir heute?“
„Gar nichts, wenn das noch einmal vorkommt!“
Okay, diesen Kerl mochte ich schonmal nicht. Vor allem deswegen, weil Crat fast panisch dreinschaute und zu einer Erklärung ansetzte, die der Andere mit einer Handbewegung rigoros abschnitt.
„Schon gut, Süßer. Sieh einfach zu, dass du beim nächsten Mal pünktlich bist. Vor allem wenn die Kundschaft da ist.“
Crat nickte ergeben.
„Dann fang mal an. Wir brauchen drei Salben gegen Herpes und zwei Tränke für leichteres lernen. Ich habe hier schon mal angefangen. Probier den Trank mal aus.“
Was?! Nein! Auf gar keinen Fall!!! So stümpferhaft, wie hier alles aufgebaut war, holte man sich maximal irgendwelche Pilze. Der Glasstab war vergilbt und die Kräuter schienen stumpf und rochen nicht mal ansatzweise nach dem, wonach sie normalerweise riechen sollten. Billigzeug, herangezüchtet in Hinterhöfen von Nichtwissenden.
Erst zögerte Crat. Dann gab er sich einen Ruck, langte nach dem Gläschen und kippte sich den gesamten Inhalt hinter, bevor ich auch nur irgendwie reagieren konnte. Wieder dieses unselige Husten, tiefer und kratziger als noch vorhin.
Unbändige Wut kroch in mir hoch. Warum, bei allen guten Geistern, machte Crat so ein Blödsinn?! Kein Wunder, warum mein Trank nicht wirkte. Schließlich war er nicht erkältet, sondern lebensmüde!
„Na Süßer, du verträgst wohl nicht so viel. Sicher, dass du deine Arbeit hier schaffst? Wenn es dir lieber ist, besorge ich für die Tests jemand anderes.“ Der Typ klopfte auf Crats Rücken, ging dann aber in ein Streicheln über, als dieser sich wieder beruhigt hatte. Ich dagegen ballte meine Fäuste so fest zusammen, dass meine Gelenke knackten.
„Nein nein, alles gut. Hab mich nur verschluckt mehr nicht“, begann Crat sich zu rechtfertig und zwang sich zu einem Lächeln. Von wegen. Dieses zusammengebraute Mistzeug zerfraß seine Lungen. Merkte der das nicht?
„Na ja, das kennen wir ja schon.“ Der Typ zwinkerte Crat zu und drückte ihm einen kleinen Bündel Scheine in die Hand. Mir wurde spontan schlecht. War das etwa sein... Nein, ich wollte das noch nicht mal denken.
Crat nahm verlegen das Geld entgegen, wehrte aber den Arm ab und ging dann zu den Tischen hinüber. Ihm schien das sichtlich peinlich zu sein. Gut so. „Hast du alles besorgt, worum ich dich gebeten habe? Ohne die Zutaten wirkt keine der Salben oder Tränke.“
Musste dieser Typ ihm unbedingt auf den Arsch starren, als der ihm hinterherlief? Was war das überhaupt für einer? Seiner Aura nach zur urteilen, ein Kräuterkundiger, aber keiner der hochrangigen Kollegen. Die würden ihre Tinkturen niemals in so einem zugigen Gebäude und mit so miesen Materialien zusammenbrauen.
„Es liegt alles bereit. Apropos. Während das gemütlich vor sich hinköchelt, hätte ich eine hübsche Idee, wie wir die Wartezeit bis zur Fertigstellung sinnvoll überbrücken könnten.“
Der Typ streichelte über Crats Nacken, was bei mir einen Brechreiz auslöste. Unbemerkt sammelte sich ein Energieball in meiner Hand. Und kaum merkte ich dies, fuhr er schon auf den Typen nieder. Allerdings waren magische Kräfte in Geistergestalt wohl weitaus harmloser, denn das einzige, was in Feuer aufging, war der Rundkolben, der lautstark zersprang.
Beide zuckten zusammen und Crat nutzte die Gelegenheit, um sich von dem anderen zu befreien.
„Sorry, aber du siehst ja, dass das hier meine volle Aufmerksamkeit benötigt. Vielleicht ein andermal.“ Ohne ihn anzusehen, bereinigte Crat das Chaos, und regelte die Temperatur des Brenners runter.
„Sicher.“ Der Typ war weniger begeistert, einfach so abgewiesen worden zu sein. „Sieh zu, dass du in zwei Stunden fertig wirst. Ach und morgen musst du um dreizehn Uhr hier sein.“
Erschrocken schaute Crat auf.
„Aber ich arbeite bis achtzehn Uhr.“
„Morgen kommt aber Kundschaft. Die wollen wissen, ob ihre Tränke funktionieren. Und du hast gesagt, dass du dabei bist.“
In Crats Kopf schienen die Gedanken zu rasen. Warum überlegte er so lange? So, wie sich das für mich anhörte, sollte er Versuchskarnickel für ein paar Möchtegernmagier spielen. Das war nicht nur dämlich, sondern auch hochgradig gefährlich. Eine falsche Zutat und seine Lunge wäre dann das kleinste Problem.
„Kein Problem. Dann frag ich Fin. Der steht mir jeder Zeit zur vollsten Verfügung.“
Was bitte sollte dieser schmierige Unterton? Und warum huschte Crats Blick gehetzt durch die Halle? Seine Antwort müsste doch eindeutig sein! Schließlich gehörte er zu mir. Er war MEIN Buchhalter!
„Nein nein“, knickte Crat ein und ließ die Schultern nach vorne fallen. „Ich hab eh noch etliche Urlaubstage übrig. Morgen passt. Dreizehn Uhr.“
„Gut. Sei pünktlich.“ Mit kalter Miene drehte der Typ sich um und stolzierte davon. Crat atmete erleichtert auf. Genau wie ich.
„Naaaa, mit wem gehen denn da die Hormone durch, hm?“ Grinsend schaute mich Itak an, was ich mit einem irritierten Blick erwiderte. „Ach komm schon. Selbst du kannst nicht so arg auf der Leitung stehen. Der Typ baggert Ben an und zu zerlegst die Einrichtung. Und das als Geist. Weißt du, was da an Gefühlen umherfliegen müssen, um das zu bewerkstelligen?“
Gefühle? Natürlich war ich voller Gefühle. Ich war wütend auf den Typen, dass der Crat viel zu nahegekommen war. Wütend auf Crat selbst, dass der mit sich experimentieren ließ, nur um an mehr Geld zu kommen. Wütend auf mich selbst, dass ich gerade nicht mehr unternehmen konnte.
Am liebsten hätte ich dieses klägliche Labor in Brand gesteckt, dem Typen ein paar reingehauen und mir Crat unter den Arm geklemmt und rausgeschliffen. Mit zu mir, um ihm eine ordentliche Lektion zu erteilen, wem man trauen konnte und wem nicht. Von wem es gesund war, Geld anzunehmen und um wen man lieber einen riesigen Bogen machte.
Natürlich war mir deutlich bewusst, warum Crat das tat. Er war nicht dumm. Auch jetzt nicht. Pickte sich das Beste aus den Kräutern heraus, wog alles genau ab und achtete peinlich auf Sauberkeit und Ordnung.
Seine Brüder waren fast zu alt, um auf ihr Wesen geprüft zu werden. Wenn nicht jetzt, würde kein Magier die Prüfung mehr durchziehen wollen. Er brauchte das Geld. Aber warum kam er nicht zu mir? Ich würde...
Schwindel kam auf und ließ mich taumeln, so hart traf mich die Erkenntnis. Ich würde alles für ihn tun. Ich mochte nicht nur seine Aufmerksamkeit, ich brauchte sie, wollte sie, konnte nicht mehr ohne. Ich wollte ihn ständig in meiner Nähe, genoss es, wenn er an meinen Lippen hing und mir bedingungslos folgte. Sog seinen Duft auf, sein gesamtes sein, als wäre es für mich lebensnotwendig. Ich wollte ihn nicht mehr missen, wissen, dass es ihm gut ging und allen, die ihm wichtig war. Ich glaubte, ich...
Ein erneuter Hustenanfall lenkte meine Aufmerksamkeit auf ihn. Wieder musste Ben sich vornüber beugen, um diesem Herr zu werden, während sein gesamter Körper durchgerüttelt wurde.
„Er braucht einen Reinigungstrank. Am besten sofort. Muss diesen Mist aus sich rausschwitzen. Itak, bitte bring mich zurück. Ich muss zu ihm. Bitte!“ Suchend schaute ich mich nach dem Geist rum, doch sie war längst verschwunden. Und je mehr ich mich um mich selbst drehte und nach ihr rief, nach Ben rief, desto mehr verschwamm die Umgebung um mich herum, bis ich taumelnd zu Boden ging.
Ich spürte den Holzboden meines Schlafzimmers unter den Füßen, hasste jedoch zum ersten Mal seit langem die Stille um mich herum. Sie zerquetschte mich, ebenso wie der Gedanke, dass Ben alleine in einer abgeranzten Lagerhalle womöglich um sein Leben kämpfte.
Welchen Tag hatte mir der Geist gezeigt? Diese Nacht? Oder die Nächste? Es war definitiv vor Weihnachten gewesen. Die Uni gab bis zum 22.12. Vorlesungen und Ben sollte sich noch vor den Feiertagen zwecks des Vollzeitstudiums entscheiden. Ich musste ihn finden. Von diesem Typen wegholen. Ihm klar machen, was er seinem Körper mit diesen verunreinigten Tränken antat. Und... und ihm gestehen, wie wichtig er für mich war. Eigentlich schon die ganze Zeit.
Scheiße verdammt. Ich war so dämlich, so blind. Plötzlich fielen mir viele kleine Situationen ein, Gesten von Ben, Reaktionen seinerseits. Bisher hatte ich alles auf Nebensächlichkeiten geschoben. Eine unbekümmerte Schwärmerei gegenüber einem Magier, dem man gerne nacheifern würde. Aber es war so viel mehr.
Hustend runzelte ich die Stirn und betrachtete den Nebel, der sich um mich herum ausbreitete. Der dritte Geist. Der konnte mir bestimmt helfen, konnte mir sagen, was aus Ben und seinen Brüdern wurde. Er musste einfach!
Mühsam kämpfte ich mich auf die zittrigen Beine und musterte die schmale Gestalt vor mir. In dem weiten Umhang gehüllt sah sie ziemlich gebrechlich aus, auch wenn unter der tiefsitzenden Kapuze wache Augen hervorschimmerten. Ein helles Gluckern war zu hören, dann ein langer Atemzug, bevor erneut Dampf das Zimmer flutete. Es roch nach wilden Früchten. Seltsam.
Egal. Ich hatte ein Ziel und das durfte ich nicht aus den Augen verlieren.
„Du bist der Geist der zukünftigen Weihnacht, richtig?“
Mein Gegenüber nickte knapp, was man nur am leichten Wackeln der Kapuze erkannte. Sehr gut. Es gab also eine Chance, Ben ausfindig zu machen. Mit einem Hauch von Hoffnung im Leid, drückte ich meinen Rücken durch und stellte mich aufrecht hin.
„Bitte, sag mir, wo sich Ben aufhält. Geht es ihm gut? Haben seine Brüder Mentoren gefunden? Hat er bei diesem Wichser die Tests überstanden?“
„Na na. Also an eine korrekte Ausdrucksweise sollten wir uns schon halten.“
Die rauchige Stimme knarzte ein wenig und auch die knochigen Hände, die die Kapuze zurückschoben, passte zum Rest der Erscheinung. Graue dichte Locken umrahmten ein faltiges Gesicht, doch von Gebrechlichkeit keine Spur. Unwillkürlich senkte ich den Blick und schaute sie von unten her entschuldigend an.
„Natürlich. Entschuldigung. Ich...“ Tief atmete ich durch. Jetzt, nachdem es mir so überdeutlich bewusst war, schmerzte es regelrecht, dies so spät auszusprechen. „Ich mache mir nur unglaubliche Sorgen. Meine ganze Hoffnung liegt bei dir. Bitte, sag mir, dass es Ben gut geht. Hat er endlich Frieden gefunden und Zeit für sich? Es...“ Wieder ein schwerer Atemzug meinerseits. „Es ist auch okay, wenn er sie bei jemand anderem findet. Hauptsache, ihm geht es gut.“
Mit hochgezogener Braue schaute die Lady mich an und musterte mich skeptisch. Ich dagegen fühlte mich zurückversetzt in meine Grundschulzeit, als hätte man mich zur Direktorin geschickt. Und da stand man nun und hoffte, dass zumindest nicht der gesamte Blödsinn, den man angestellt hatte, rausgekommen war.
Doch ich spürte auch, dass man ihr Vertrauen schenken konnte. Aus einem mir unerfindlichen Grund fühlte ich mich bei mir sicher. Wusste zwar, dass sie mich rund machen könnte für das, was ich bisher verbockt hatte, aber auch, dass sie mich trösten und in den Arm nehmen würde, wenn ich zu Boden fiel. Ein seltsames Gefühl.
„Sicher, mein Junge, dass du das so genau wissen willst?“
Mein Magen krampfte sich zusammen. Warum fragte sie so etwas? Natürlich würde es mir nicht besonders gefallen, Ben in den Armen eines anderen zu sehen. Nicht nachdem mir endlich bewusst wurde, was und vor allem wie viel ich für ihn empfand. Aber es wäre zu verkraften, so lange es Ben nur gut ginge. Ich ballte die Hände fest zu Fäusten, versuchte so, ihr Zittern zu verbergen. Dann nickte ich.
„Ganz sicher.“
Gemächlich hob sie ihre elektronische Zigarette und zog daran, atmete lange ein, bevor sie den Dampf gemächlich ausblies. Und ich hasste jede Sekunde, in der sie mich weiter warten ließ.
„Nun gut“, meinte sie endlich nach einer gefühlten Ewigkeit und ich spannte meine Muskeln an. Kniff meine Augen zusammen und wartete auf den so typischen Windstoß, bei dem mir schwindelig wurde. Doch dieser Geist schien alles etwas ruhiger anzugehen.
Abermals das Gluckern der Dampfe und noch mehr Rauch, der das Zimmer flutete, mir die Sicht nahm, bis ich kaum mehr die eigene Hand vor Augen erkannte. Erst ein sanfter Wind, gleich einem Sommerhauch, klärte die Sicht.
Neugierig drehte ich mich um meine eigene Achse. Ich stand in einem Wald. Die warme Herbstsonne glitzerte über Wiesen und vereinzelte Bäume, die weitläufig verteilt standen. Goldbraune bis rote Blätter säumten den Weg oder tanzten träge im Wind. Lachende Kinder tollten zwischen gemächlich spazierenden Erwachsenen, die die letzten Strahlen des Tages aufsogen.
Ich wusste, dass ich gleich Ben gegenüberstehen würde, glaubte ihn ein paarmal zu entdecken, Hand in Hand mit seinem Liebsten. Doch jedes Mal entpuppte es sich als jemand anderes.
Und dann sah ich sie, Bens Mutter. Sie stand vor einem der Bäume, ganz in Schwarz gekleidet und starrte ein goldenes Schild an, das an dem Stamm befestigt worden war. Übelkeit stieg in mir auf. Hektisch schaute ich mich um und entdeckte weitere Plaketten an Bäume. Ein Friedwald.
Nein. Bei allen Göttern, bitte nicht! Bittere Galle stieg in mir auf, die ich kaum schaffte, zurückzudrängen. Vielleicht lag hier Bens Vater. Genau. Das musste es sein. Doch eben als ich dies dachte, erkannte ich die alte Armbanduhr in den Händen von Bens Mutter. Lautlos tropften Tränen auf diese, bevor sie sie ins Gras ablegte, am Fuße des Baumes. Dann ging sie davon.
Mit wackligen Beinen überwand ich die letzten Schritte und las die Namen, welche auf dem glänzenden Schild eingraviert waren. Ich nahm sie nicht mal wirklich wahr, hatte sie noch vor dem letzten Buchstaben vergessen. Nur einer brannte sich in mein Hirn, während die Uhr zu meinen Füßen mit einem schwachen Piepen die volle Stunde ankündigte:
Benjamin Crat.
Nein. Nein! NEIN!!! Das durfte nicht sein! Rasch beugte ich mich zur Seite und übergab mich geräuschvoll ins Gras. Mit zitternden Händen wischte ich mir über den Mund, merkte, dass sie feucht waren von den Tränen, die unablässig über meine Wangen liefen.
Wenn sich dies alles nur in meinen Gedanken abspielte, warum tat es dann so beschissen weh? Warum schmeckte mein Mund pelzig und fühlten sich meine Glieder so schwer an wie Blei? Dann kam mir etwas in den Sinn. Langsam richtete ich mich wieder auf und hielt nach dem Geist Ausschau. Ich entdeckte sie, keine drei Schritte von mir entfernt.
„Geist, wie viel davon ist wahr? Du bist doch der Geist der zukünftigen Weihnacht, richtig? Und hier ist Herbst. Also ist noch Zeit. Dies ist alles noch nicht geschehen, oder? Bitte Geist...“
„Alkeht.“
Irritiert schaute ich die Lady an.
„Mein Name ist Alkeht. Ich spreche dich doch auch nicht die ganze Zeit mit ‚Mensch‘ an.“
Tief atmete ich durch, mahnte mich zur Ruhe. Ich wollte sie auf keinen Fall verärgern, schließlich konnte sie nichts dafür, dass mich dies so mitnahm. Dann schob ich die Übelkeit beiseite und versuchte, meiner Stimme an Festigkeit zu verleihen.
„Ist es möglich, dieses Schicksal noch abzuändern, zum Guten beziehungsweise Besseren zu wenden?“
Der Ton meiner Worte klang viel zu hoch und meine Stimme zitterte wie Espenlaub. Alkeht stand lediglich da, mit unbewegter Miene und zog an ihrer Dampfe. Mich machte das wahnsinnig.
„Ich kann helfen“, begann ich und setzte rasch nach: „Das Geld für den Wesenstest der Jungs geb ich gerne. Dann braucht Ben keine Tränke mehr zu schlucken und wird wieder gesund.“
Alkeht zog nur wieder eine Augenbraue hoch. Bei den Göttern, ich wusste, wie kläglich das klang. Doch meine Gedanken waren kaum zu fassen, kreisten in einem reißenden Strudel durch meinen Kopf, ohne dass ich es schaffte, einen ganz rauszuziehen.
„Ich werde mich um Bens Familie kümmern. Zwar sind meine Kontakte zu den anderen Meistern etwas eingeschlafen, aber die lassen sich wieder beleben. Mit etwas Überzeugungskraft kommen die auch zu dem kleinen Straßenfest der Kids, die mich im Laden besucht haben.“
Mehr und mehr Dampf waberte um meine Füße, stieg auf und ließ mich aller paar Wörter husten.
„Für Ben braue ich...braue ich einen Heiltrank. Ich habe...habe seltene Kräuter, erstklassig besprochen...waren eigentlich für einen gut betuchten Kunden...aber egal. Ben ist wichtiger!“
Der Nebel nahm mir jegliche Sicht, dämpfte meine Hoffnung gen null. Plötzlich war der fruchtige Geruch weg. Stattdessen kroch klamme Kälte meine Glieder hinab, zerfraß mich von innen heraus. Ich wollte Ben nicht verlieren. Unter keinen Umständen.
Nicht weil ich mich daran schuldig gemacht hatte. Denn das war ich, so oder so. Sondern weil er es verdient hatte. Weil er ein guter Mensch war, liebevoller Bruder, treuer Sohn... und guter Freund. Keine Ahnung, warum er es so lange mit mir ausgehalten hatte, aber es wurde Zeit, dass ich etwas zurückgab.
„Bitte. Ich kann mich ändern. Ich werde mich ändern! Und wenn ein Leben nötig ist, dann nimm das meine. Aber lass Ben leben. Ich bitte euch Alkeht, Itak, Ainex.“ Schwach fiel ich auf die Knie und ließ den Tränen freien Lauf. „Jakob. Hilf mir.“
Langsam kippte ich zur Seite weg, hatte keine Kraft mehr, mich abzufangen. Doch ich war dem Boden weiter weg, als gedacht. Mit einem erschrockenen Aufschrei drehte ich mich einmal um mich selbst, bevor ich hart auf dem Laminat in meinem Schlafzimmer landete.
Hektisch wickelte ich mich aus der Decke und blinzelte ins Licht. Ich befand mich eindeutig zurück in meinem Haus und der Morgen war längst angebrochen. Rasch drehte ich mich um und starrte auf das Ziffernfeld meines digitalen Radioweckers. 23.12. diesen Jahres.
„Sie haben mir noch eine Chance gegeben! Die Geister haben mir wirklich noch eine Chance gegeben!“
Zum ersten Mal seit gut drei Jahren lachte ich. Laut und aus der Tiefe meiner Seele. Dann hielt ich inne. Ich musste Cra... Ben. Ich musste Ben finden. Ihm meine Gefühle erklären und um Vergebung bitten. Vergebung, weil ich ihn so ewig hatte warten lassen, weil ich ihn nie wirklich beachtet und ihm zu wenig bezahlt haben. Ach, wegen allem!
Und ich musste ihn abhalten, sich als Versuchskaninchen zu verkaufen. Abermals prüfte ich den Wecker. 11:43 Uhr. Shit. Die Geister hatten meine gesamte Kraft aufgebraucht, weswegen ich länger als sonst geschlafen hatte. Und 13 Uhr war schon Bens Termin mit diesem Wichser. Mit etwas Glück konnte ich Ben im Laden abfangen. Dann würde ich ihn festhalten und, wenn er denn wollte, nie wieder loslassen.
Gehetzt suchte ich mir ein paar Sachen aus dem Schrank, Jeans und Sweatshirt, obwohl ich sonst nur Hemd und Anzughose trug. Egal. Keine Zeit für lange Abwägungen, was gut zueinander passen würde. Ben und ich passten hervorragend. Nur er musste noch davon überzeugt werden.
Die Stufen hinab zur Küche nahm ich jeweils zwei auf einmal und wäre unten fast mit Darja zusammengestoßen, die gerade zur Tür hineinkam.
„Oh Darja, gut das ich dich noch sehe. Sei so lieb und richte die anderen Zimmer her. Mit etwas Glück kommt wieder Leben in die Bude. Hol am besten deine Schwester und deine Cousine dazu. Zusammen bekommt ihr das heute bestimmt noch hin. Geld müsste genügend in der Kaffeekasse drin sein. Ansonsten schreib mir einen Zettel, ich leg dir dann den Rest raus. Und geiz nicht. Ist schließlich Weihnachten.“
Ich drückte ihr einen dicken Kuss auf die Stirn, während sie mich nur verdattert anstarrte.
„Ihnen gäht es gut, Meister Roge?“ Götter, wie hatte ich ihren lustigen Akzent vermisst.
„Natürlich. Die Geister haben mir noch eine Chance gegeben. Jetzt wird endlich alles gut. Sag mal, der Picanto, ist der aufgetankt?“
„Sicher. War erst in Werkstatt für Wechsel Reifen. Alles gut.“
„Sehr gut. Wenn du dann heute mit den Zimmern durch bist, nimm dir bis Neujahr frei. Und grüß mir deine Familie!“
Ich schnappte mir die Autoschlüssel und meinen Mantel und hüpfte nach draußen, ungläubiges Geschnatter seitens Darja in ihrer Landesprache hinter mir. Das Garagentor quietschte, als ich es nach oben schob, blieb aber brav dort, wo es bleiben sollte. Dann setzte ich mich ins Auto und startete den Motor.
Kurz vor Jakobs plötzlichem Tod hatten wir uns diese kleine grüne Knutschkugel gekauft, um besser durch die Stadt zukommen. Und obwohl ich ihn nach Jakobs Ableben nicht mehr sehen wollte, war ich Darja dankbar, dass sie mich davon abgehalten hatte, ihn zu verkaufen. Sie brauchte den Wagen für die schweren Einkäufe und so ließ ich ihr ihren Willen.
Jetzt schoss ich aus der Garage und legte vor der regulären Straße eine quietschende Vollbremsung hin. Richtig, war ja ein Automatik, ohne Kupplung. Ich kicherte, belustigt über meine eigene Dämlichkeit und ordnete mich dann verkehrskonform zwischen den restlichen Fahrzeugen ein.
Es dauerte keine zwanzig Minuten, bis ich das Auto auf dem Firmenparkplatz abstellte, die kleinen Stufen hinaufsprang und... vor verschlossener Tür stand. Ich runzelte die Stirn. War Ben schon gegangen? So früh? Nein, bitte nicht!
Hektisch kramte ich nach den Ladenschlüsseln und bekam diese vor Aufregung kaum ins Schloss. Als ich dann endlich im Inneren stand, schaute ich mich suchend um. Vielleicht erledigte er nur einen kleinen Botengang und war gleich wieder da. Es war nicht unüblich, dass er dies für bessere Kunden übernahm, hinterließ mir dann allerdings eine Nachricht, falls ich durch einen Außentermin nicht anwesend war.
Schon entdeckte ich einen Zettel auf meinem Tisch. Erleichtert ging ich darauf zu, doch je näher ich kam, desto mulmiger wurde es mir. Denn unter dem Papier lag Bens Kündigung, ausgepackt und von ihm unterschrieben. Kurz überflog ich seine Notiz.
Er habe nach einer Rechnung gesucht und dabei die Kündigung gefunden, die ich an ihn gerichtet hatte. Er wollte diese akzeptieren, schlug aber gleichzeitig jegliche Lohnfortzahlung aus. Es folgte eine knappe Auflistung von Dingen, die buchhalterisch erledigt werden mussten und was sonst die nächsten Tage zu beachten sei. Dann wünschte er mir ein erfolgreiches Leben und ein besinnliches Weihnachtsfest.
Ich zerknüllte das Papier und warf es in die Ecke. Nein! So einfach würde er mir nicht davonkommen. Und wenn ich ihm die Kohle in seine verschlissene Jacke einnähen musste, wenigsten die musste er annehmen. Um seiner Brüder Willen. Zwecks seines Studiums, seiner Mutter, und überhaupt.
Mit etwas Glück wüsste ich, wo er sich heute gegen ein Uhr nachmittags aufhalten würde. Und wenn ich den ganzen Hafen zehnmal umkrempeln müsste, ich würde Ben finden, koste es, was es wolle.
Keine fünf Minuten später stand ich wieder draußen...und lief direkt in die Arme meines Onkels.
„Onkel Silas, dich schicken die Götter!“ Ich umarmte ihn kräftig und hielt ihn dann eine Armeslänge von mir entfernt. „Ich brauche dringend deine Hilfe, oder besser gesagt die von...“ Als ich seine Frau entdeckte, ließ ich ihn einfach stehen und umarmte stattdessen sie. „Tante Sylvia. Ich weiß, es ist viel passiert und ich erzähle es euch gerne alles morgen Mittag, also wenn ich noch kommen darf. Und wenn ich noch wen mitbringen darf. Zumindest wenn ich das jetzt nicht vergeige und er überhaupt mitkommen will. Aber dazu müsste ich ihn erstmal finden und...“
„Stopp!“ Meine Tante hielt mir kurzerhand den Mund zu und starrte mich aus großen Augen an, als stünde Mister Spock persönlich vor ihr. Nur hatte ich keine Zeit für Details. Sacht nahm ich deshalb ihre Hand in meine.
„Ben ist weg. Er ist dabei, eine riesen Dummheit zu begehen. Will Tränke von Nichtmagiern testen. Ich muss ihn finden und davon abhalten.“
„Ben Crat? Dein Buchhalter?“, fragte Onkel Silas verwundert nach, doch Sylvia rollte nur mit den Augen.
„Sag bloß, das hast du noch nicht bemerkt“, gluckste sie, schaute mich aber weiterhin an. Tränen glitzerten ihr in den Augen und auch ich schaffte es kaum, diese zurückzuhalten. Aber dafür war keine Zeit.
„Er ist so viel mehr, als nur ein Buchhalter. Ich stand nur viel zu lange auf der Leitung, war zu dämlich und blind zu sehen, was für ein toller und warmherziger Mensch er ist. Ich will nicht, dass ihm etwas passiert. Diese Tränke greifen seine Lunge an. Noch mehr davon und...“ Ich wagte es nicht mal, auszusprechen.
„Dann war das doch keine einfache Erkältung“, schlussfolgerte Onkel Silas und schaute seine Frau bedrückt an.
„Bitte Tante Sylvia. Du bist der weibliche Magnus Bane in der Familie. Es muss ja kein Portal sein. Weiß ja eh nicht wohin. Aber ein Suchzauber würde schon vollkommen reichen. Damit ich ihn im Hafen schneller finde. Bitte Tantchen!“
Schmunzelnd tätschelte mir meine Tante die Wange und schüttelte den Kopf. „Als ob ich dir bei diesem Blick je etwas abschlagen könnte.“ Dann wurde sie ernst und deutete auf die Tür. „Rasch, lass uns reingehen. Dort kann ich den Zauber anwenden, ohne dass gleich ein Unwissender auf uns aufmerksam wird.“
Sylvia war wirklich erstaunlich. Verstärkt mit einem kleinen Konzentrationstrank meinerseits hatte sie binnen Minuten meinen Schal besprochen, so dass dieser wärmer wurde, je weiter ich mich Ben näherte.
„Meine Kräfte basieren auf dem Willen der Geister und Götter. Nur wenn diese es wollen, wenn sie dich unterstützen, nur dann schlägt mein Zauber an. So ist das, wenn man als Medium Magie betreibt. Man ist abhängig von ihren Launen.“ Sylvia zwinkerte mir zu und obwohl sie geschwächt ausschaute, schenkte sie mir Zuversicht.
Ich konnte nicht anders und musste sie noch einmal drücken, genau wie meinen Onkel. „Danke. Ich muss jetzt los. Zieht einfach die Tür hinter euch zu, wenn ihr rausgeht. Aber nehmt euch Zeit zum Erholen.“
Einer Eingebung folgend, lief ich zu meinem Schreibtisch und öffnete den darunter befindlichen Safe. Dieser Typ, der Ben so widerlich ausnutzte, schien mir recht geldbesessen zu sein. Vielleicht konnte ich auf diese Art Übel von Ben abwenden, so weit es ging. Dann ging ich nach draußen.
„Wir können den Laden doch nicht unbeaufsichtigt lassen. Was ist mit den teuren Kräutern und Tränken?“, rief mein Onkel und folgte mir auf dem Fuß. Ich warf ihm lediglich einen kurzen Blick über die Schulter zu.
„Mir egal. Ben ist gerade wichtiger.“ Damit setzte ich mich ins Auto und düste davon.
Eine gefühlte Ewigkeit tuckerte ich schon durch den alten Hafen, im halben Schritttempo, Straße um Straße, aus Angst ich könnte nicht merken, wenn der Schal anspringt. Vielleicht würde er es nie, wenn ich Tante Sylvia richtig verstanden hatte.
‚Oh bitte, ihr Geister. Wenn nicht für mich, dann für Ben. Jakob, hilf mir!‘
Verkrampft hielt ich Ausschau nach etwas, dass mir von letzter Nacht bekannt vorkäme. Ein alter Schutthaufen, zerbrochene Fensterscheiben, irgendwas. Doch die Zeit lief mir davon. Die Uhr im Auto zeigte schon zehn Minuten nach eins.
Im Geiste durchlebte ich die schlimmsten Szenarien, von wilden Verschmähungen seitens Ben, Trotzreaktionen und das Auffinden eines fast leblosen Körpers. Darüber hinweg merkte ich kaum, wie es um meinen Hals wärmer wurde, bis ich mich fast verbrannte.
Fluchend trat ich auf die Bremse, schaltete den Motor aus und sprang aus dem Auto. Angestrengt sah ich mich um und glaubte, alte Stahlträger wiederzuerkennen, die vom Gras halb überwuchert waren. Eiligen Schrittes ging ich in die Richtung und zerrte mir den Schal vom Hals. Das musste es einfach sein.
Ich musterte das alte Lagerhaus, sah flackerndes Licht über die Wände huschen und hörte sachtes Gelächter. Genießt die letzten Sekunden der Freude. Gleich ist Schluss mit lustig. Ohne mich groß anzukündigen, stieß ich die Tür auf und stapfte auf die fünf Leute zu, deren Köpfe überrascht zu mir herumflogen.
Und da stand er, Ben. In der Hand eines der unsäglichen Glasgefäße, dass schon gelblich angelaufen war. Ich schüttelte den Schal von meinen Händen, der daraufhin komplett in Flammen aufging und knapp neben meinem Kopf verbrannte. Das nannte man zumindest einen feurigen Auftritt.
„Meister Roge? Was machen Sie denn hier? Und war das nicht gerade Ihr teurer Kaschmirschal?“
Während Ben mich nur verwundert anstarrte, wichen die Unwissenden zurück. Leider tat es dieser widerliche Typ von gestern nicht.
„Was wird das hier? Wenn du eine Vorführung haben willst, musst du dafür zahlen, klar!“ Er baute sich neben Ben auf und stemmte die Hände in die Hüfte. Versuchte so wohl, seine Muskeln deutlich zu präsentieren, die wirklich reichlich vorhanden waren. Dumm nur, wenn in den Oberarmen ne Menge Volt drin war, aber es in der Birne nicht leuchtete.
Zwischen meinen Händen begann es unheilvoll zu knistern. Er stand neben Ben. Viel zu nahe.
„Und wenn du gleich eine Lightshow haben willst, brauchst du nur weiter dumm rumzuquatschen. Ben, leg das Zeug weg!“ Die Worte waren gefährlich ruhig, doch nicht minder fordernd.
„Was bist du denn für einer?“ Der Typ rümpfte die Nase und wandte sich dann an Ben. „Ist das ein Stecher von dir? Die Zeit geht von deiner Kohle ab. Und jetzt trink endlich. Unsere Kundschaft wartet.“
Dieser Dummbeutel schien wirklich nicht die hellste Leuchte am Weihnachtsbaum zu sein. Weder bemerkte er die erwachende Magie in mir, noch Bens klägliche Versuche, ihn vor mir zu warnen. Mit Dollerzeichen in den Augen nickte er den drei Unwissenden zu, die unsicher von einem Bein aufs andere trippelten.
„Wenn dir so viel an deinen Kunden liegt, trink doch das zusammengebraute Mistzeug selbst. Oder hast du Angst, dass es nicht so wirkt, wie du es dir erhoffst? Kleiner Tipp, ein altes Buch, das man auf dem Dachboden einer Hütte findet, macht einen noch lange nicht zu einem Magier.“
Ich deutete auf die zusammengebundenen Seiten, die im Luftzug raschelten, der stetig durch die Halle wehte. Unsicherheit flackerte in dem Blick des Typen auf und langsam glaubte ich, dass er verstand.
„Du hast gesagt, du hast es von deinen Großeltern. Und du würdest Magie in dir spüren, könntest sie nur nicht erwecken, weil dir ein Mentor fehlte.“ Ben klang enttäuscht, ließ aber endlich den Glasbehälter sinken.
„In dem da steckt genauso viel Magie wie in dem Stein hier“, kommentierte ich abwertend und funkelte den Typen angriffslustig an. Der bekam hingegen langsam rote Wutflecken, die sich stetig ausbreiteten.
„Es ist ein Buch der ältesten Magier der Stadt. Mit Sprüchen und Tränken, die einem die Sinne schwinden lassen und...“
Versuchte der mir gerade wirklich ein Verkaufsgespräch aufzudrücken? Wäre ich von diesem Wichser nicht so angepisst, würde ich jetzt laut loslachen. Doch dieses Mal verwies ihn Ben in seine Schranken.
„Vielleicht hast du dir zu oft etwas daraus gebraut. Sorry, aber ich bin weg.“ Es klang nicht mal spöttisch, sondern lediglich resigniert.
So leicht gab der Typ allerdings nicht auf. Als Ben das Glas abstellte und sich mir zuwenden wollte, wurde er von ihm am Arm gepackt und aufgehalten. Erneut knisterte es gefährlich zwischen meinen Händen und ich musste diese zu Fäusten ballen, damit die Energie nicht daraus hervorbrach.
„Wenn du jetzt gehst, brauchst du nie mehr bei mir auftauchen. Die Kohle kannst du für heute eh in den Wind schießen.“ Drohend schaute er Ben an, der lediglich mit den Zähnen knirschte.
Dann begann Ben zu husten. Es klang noch schlimmer als im Vorlesungssaal der Universität, tiefgehend und verkrampft. Doch noch immer ließ der Typ nicht von ihm ab, bestand auf eine deutliche Antwort. Wenn der nicht sofort von Ben abließ, würde ich deutlich werden und das so ziemlich.
„Ja, huste nur. Das kommt davon, wenn man seinen Trank nicht einnimmt. Sonst wärst du längst geheilt“, tönte dieser Bastard und drehte sich zu den Unwissenden. Versuchte der wirklich, gerade sein Geschäft zu retten, während Ben direkt neben ihm litt? Drohend ging ich auf beide zu und ein wildes Wortgefecht entstand.
„Dein Trank hat ihn erst krank gemacht.“
„Es war meine Medizin, die alles eingedämpft hat. Sonst läge er längst im Krankenhaus auf der Intensivstation.“
„Dort wirst du gleich liegen, wenn du nicht sofort von Ben ablässt.“
„Ach, und du Hämpfling willst mich dahin befördern, oder was?“
Grob stieß er Ben von sich weg und baute sich mit erhobenen Fäusten vor mir auf. Mir dagegen brannten die Sicherungen durch. Ich sah nur Ben, wie er hustend in sich zusammensackte, zu Boden ging, ich viel zu weit weg, um ihn auffangen zu können. Sah diesen Wichser vor mir, hämisch lächelnd und so ekelhaft siegessicher. Tja, man sollte nie einen Cupcake nur von außen beurteilen.
Ohne dass ich es weiter verhindern konnte – ohne dass ich es wollte – schoss die Magie aus mir heraus. Mit letzter Willenskraft lenkte ich sie an dem Typen vorbei, direkt auf die Anrichte hinter ihm. Unter lautem Getose ging der Tisch mit den Apparaturen in Flammen auf und ließ jegliche Glasbehälter zerspringen.
Die Unwissenden liefen schreiend davon, während der Typ vor mir nur angstvoll den Kopf einzog. Ich beachtete sie alle kaum. Rasch kniete ich mich neben Ben nieder und flüsterte einen Zaubersprung. Zwar heilte dieser nicht, aber linderte zumindest.
„Sie haben gerade mein gesamtes Labor zerlegt. Und meine Kundschaft verjagt. Wissen Sie eigentlich, was mich das kosten wird?!“
Der Typ war wirklich seines Lebens müde. Anstatt sich wie die anderen zu verpissen, schaute er fordernd auf mich hinab. Zumindest war seine Anrede nun passender. Und Angst zu haben schien er auch, so unsicher wie sein Blick flatterte.
Kurz prüfte ich, ob es Ben besser ging und stand dann mit ihm zusammen auf. Ich spürte seinen Blick auf mir ruhend, merkte seine Unsicherheit darüber, wie er das Geschehen einordnen sollte. So gerne wollte ich ihm alles erklären, ihm so viel gestehen. Doch zuerst galt es, diesen Typen hier loszuwerden. Und zwar so weit, dass er Ben nie wieder belästigte.
„Ich kann es mir ungefähr vorstellen“, meinte ich kühl und zückte den Bündel Scheine, den ich vorhin aus dem Tresor geholt hatte. Es leuchtete grün im flackernden Licht. Ohne es auseinander zu binden, drückte ich das Bündel dem Typen an die Brust, der es gierig in Empfang nahm.
„Moment mal, das ist viel zu viel. Das ganze Zeug haben wir aus zweiter Hand gekauft über Kleinanzeigen oder auf Flohmärkten.“ Noch immer war Ben viel zu gut für diese Welt. Viel zu gut für mich. Er versuchte glatt, mein Geld zu schützen. Dabei war es mir vollkommen egal geworden.
„Schnauze“, blaffte der Typ, worauf ich ihm am liebsten ein paar reingehauen hätte. „Das reicht gerade so für die Ausstattung. Aber meinen entgangenen Gewinn deckt das nicht mal ansatzweise. Außerdem haben sie mir meinen Handlanger ausgespannt.“
Ich schnaubte, langte trotzdem nochmal in meine Jacke und holte ein weiteres Bündel hervor. Doch anstatt es ihm in die Hand zu drücken, warf ich es in die Luft, so dass es Geldscheine regnete. Nur die Kohle im Blick, achtete der Typ nicht weiter auf mich, was ich ausnutzte. Grob packte ich ihn am Kragen und zog ihn dicht zu mir heran.
„Erwische ich dich noch einmal, wie du Unwissende versuchst zu verarschen und auszunehmen, hetze ich dir den Rat auf den Hals. Und glaube mir, Auroren sind absolut nichts dagegen!“ Der Typ starrte mich verblüfft an, wollte sich von mir lösen. Aber noch wollte ich ihn nicht freigeben. Zog ihn stattdessen ein weiteres Stück näher zu mir. „Doch die stelle ich komplett in den Schatten, falls du es wagen solltest, dich Ben und seiner Familie, Freunden oder seiner Katze noch einmal zu nähern. Denn dann zeige ich dir, was Magier wirklich können!“
Ich fixierte einen Geldschein, der auf der Schulter des Typen gelandet war und steckte ihn in Flammen. Erschrocken machte sich mein Gegenüber los und klopfte hastig das zusammengeschrumpfte Papier von sich ab. Ich beachtete ihn nicht weiter. Sein geschockter Ausdruck war Antwort genug. Ben am Handgelenk packend stolzierte ich aus der Lagerhalle und war einfach nur erleichtert, dass ich ihn rechtzeitig gefunden hatte.
Ben ließ sich von mir ohne etwas zu sagen nach draußen führen, zumindest so lange, bis er mein kleines grünes Auto sah, dessen Blinker erwartungsvoll aufleuchteten, als ich es entriegelte.
„Sie sind mit dem Auto gefahren? Aber das hassen Sie doch.“
Ich zuckte mit einer Schulter. „Möglich. Die Zeit war knapp und es gab etwas Wichtigeres als meine Abneigung gegen diese Idioten, die die Straße blockieren. Und bitte, nenn mich Abe. Wir kennen uns, glaub ich, lange genug für ein ‚du‘. Wäre eigentlich längst fällig gewesen. Wie so vieles.“
Abrupt blieb Ben stehen und starrte mich mit offenem Mund an. „Haben Sie...“
„Du“, unterbrach ich ihn, worauf Ben genervt das Gesicht verzog.
„Hast du irgendwas genommen? Ich meine, geht es dir gut?“
Schmunzelnd sah ich zu Ben auf, der so herrlich verwirrt dreinschaute.
„Jetzt, da ich dich gefunden habe, rechtzeitig, geht es mir hervorragend.“
Meine Hand glitt von seinem Gelenk herab zu seinen Fingern, die ich leicht drückte. Ein Zittern ging durch mein Gegenüber, dann entwand er sich mir und trat einen Schritt zurück. Mich kostete es all meine Selbstbeherrschung, ihm nicht nachzusetzen.
„Du...du hast dort drin die halbe Einrichtung zerlegt und mit Geld um dich geworfen. Es angezündet. Das waren mindestens die gesamten Dezembereinnahmen! Das bist doch nicht du selbst!“
Aufgelöst fuhr sich Ben durch die Haare und lief vor dem Auto auf und ab. Es schien, als machte er sich Vorwürfe. Warum? Wegen des Geldes? Nach dem ich so lange ein geiziger Kotzbrocken war, musste ihn das Geschehen von eben irritieren. Doch wie konnte ich ihm erklären, ihm deutlich machen, dass ich endlich aufgewacht war. Dass mir die Scheine egal waren, im Gegensatz zu ihm.
Eine Bewegung im Augenwinkel lockte meine Aufmerksamkeit auf sich. Jakob. In der blassen Wintersonne spiegelte er sich in der Seitenscheibe meines Wagens wider und wackelte mit allen zehn Fingern, während er belustigend mit den Augenbrauen auf und ab wippte. Dieser Idiot. Selbst jetzt machte er sich noch über mich lustig, wenn auch auf eine liebevolle und sehr hilfreiche Art und Weise.
„Ich war die letzten Jahre nicht ich selbst“, begann ich und schaute bedauernd auf meine Hände hinab. „So besessen davon, die Leute zu finden, die in meinen Augen mitverantwortlich für Jakobs Tod waren, hatte ich keinen Blick für etwas anders. Ich brauchte dafür Geld und nur noch das war wichtig.“
Kraftlos ließ ich die Schultern hängen und schaute Ben direkt an.
„Jakob war mein bester Freund, wie ein Bruder. Ich wollte ihn nicht gehen lassen. Obwohl ich es versprochen hatte. Und zwar für denjenigen, der in mir mehr auslöst als ein simples Flattern im Bauch. Derjenige, das bist du, Ben.“
Noch immer zeigte er Unverständnis, konnte wohl kaum glauben, was er da gerade hörte. Vielleicht haute er mir auch jeden Augenblick ein paar rein, weil ich seine Freundlichkeit einfach nur überinterpretiert hatte.
„Ich war nur zu dumm, zu blind, es zu bemerkten. Habe auf ein Prickeln in den Fingern gewartet. Dabei stand ich die ganze Zeit auf einer Rüttelplatte, weil du mein ganzes Sein durchgeschüttelt hast, jeden Tag.“
Ben schluckte trocken. „Was genau willst du mir damit sagen?“
Mit einem mulmigen Gefühl versuchte ich, seinem Blick standzuhalten. Warum fiel mir das plötzlich so schwer? Oft hatte ich ihn gereizt, seine Aufmerksamkeit auf mich gezogen, mich darin gesuhlt. Sie abgeschmettert, wenn ich sie nicht mehr benötigte. Doch nun, nun wollte ich sie nie mehr missen. Hatte Angst, hier zu versagen, weil ich es nicht schaffte auszudrücken, was ich für ihn empfand. Angst davor, wie er darauf reagieren würde.
„Na dass ich...“, begann ich schwungvoll, verschluckte aber die restlichen Worte. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich erneut ansetzen konnte. „Ich glaube, ich habe mich in dich verlie...“
Ich hatte nicht mal ganz ausgesprochen, da stürmte Ben auf mich zu und presste mir einen Kuss hart auf die Lippen. Zuerst überrascht, dann unglaublich erleichtert erwiderte ich diesen und ließ meine Hände über seine Wangen gleiten. Erst als der Kuss intensiver wurde, er lockend über meine Lippen leckte, schob ich ihn sacht von mir weg.
„Auch wenn ich mich gerade sehr geschmeichelt fühle, sollten wir langsam gehen. Du brauchst einen Heiltrank, damit endlich dieser verfluchte Husten weg geht.“
„Entschuldige bitte“, japste Ben und unterdrückte glatt einen kleinen Hustenanfall. „Ich dachte nur, dass es wieder ein Traum sei.“
„Wieder?“ Schmunzelnd schaute ich zu ihm auf und entdeckte einen süßen Hauch von Röte, die sich sacht über Bens Wangen schlich.
„In meinen Träumen hast du mir schon oft gestanden, dass du mich mehr magst. Aber jedes Mal, wenn ich dich küssen wollte, bist du verschwunden. Das wollte ich heute vermeiden.“
Bei den Göttern, Ben war unheimlich niedlich, wenn er sanft seine Stirn an meine legte und unsere Nasen aneinander rieb. Wie von selbst streiften meine Finger über Bens Nacken und kribbelten dabei, als würden Ameisen darüber krabbeln. Ohne Zweifel, er war definitiv mein Mensch.
„Ich werde nicht mehr verschwinden. Nie mehr. Zumindest so lange, wie du es willst beziehungsweise aushältst.“
Ben vergrub sich in meiner Halsbeuge und legte seine Arme um meine Hüfte, zog sich dabei nur noch näher an mich heran. „Ich kann recht hartnäckig sein“, nuschelte er an meinem Hals, was mich auflachen ließ. Leider wurde unsere Zweisamkeit gleich darauf gestört.
„Also ist der Affe doch dein Stecher.“ Dieser Typ war tatsächlich noch da und uns bis nach draußen gefolgt. „Jetzt kannst du vergessen, dass ich dir echte Magie beibringe. Ich war schließlich der einzige Mentor, der dir was hätte zeigen können.“
Ich schob Ben ein Stück von mir weg, um ihn anzuschauen. Der wich meinem Blick traurig aus, was mir einen kleinen Stich verpasste. Warum gab er nur so viel auf das dumme Gequatsche dieses Typen? Magie konnte man nicht einfach jeden x-beliebigen Menschen lehren. Es musste in einem stecken, von Anfang an.
Die Drillinge kamen mir in den Sinn und der Wesenstest, den sie so dringend brauchten. Magie lag zumeist in der Familie. War es möglich...? Ich musterte Ben genau und plötzlich setzte sich Puzzleteil um Puzzleteil zusammen.
Als er damals meinen Laden betrat, bat er nicht um die Stelle als Buchhalter, an die ich bis dato noch nicht mal gedacht hatte, auszuschreiben. Auch hatte er dabei nicht seine Brüder im Hinterkopf. Die aufmerksamen Beobachtungen, die Wissbegierde, die Enttäuschung, als ich die Unbestimmten aus dem Laden jagte. Ben war einer von ihnen.
All die Jahre war ich mit Scheuklappen durch die Gegend gelaufen und er hatte es still geduldet. War es ihm so wichtig gewesen, ein Magier zu werden? Oder gingen seine Empfindungen mir gegenüber so tief? Es gab nur einen Weg, dies rauszufinden. Und dann gab hoffentlich dieser dämliche Wichser neben uns ebenfalls Ruhe.
„Weder bist du Schwachmat ein Mentor, noch könntest du wahre Magie vermitteln. Sieh zu und lerne!“
Mit beiden Händen packte ich Bens Gesicht und hielt es direkt vor meines. Tief sah ich ihm in die Augen, suchte die Magie darin und bündelte die in mir selbst. Dann öffnete ich meinen Geist und ließ ihn mit einem kräftigen Stoß in den von Ben fahren. Der schnappte erschrocken nach Luft, umklammerte meine Unterarme und wollte sich von mir befreien. Doch ich hielt ihn eisern fest, grub und wühlte in seinen Gedanken, seinem Wesen, suchte die ureigenste Kraft in ihm. Tief verborgen unter etlichen Erinnerungen und Entbehrungen fand ich sie endlich, packte zu und zerrte sie gnadenlos an die Oberfläche, bis sie aus Ben hervorbrach.
Meinen Geist wieder in mir verankernd, legte ich zur selben Zeit einen Schutz um Ben, damit er niemanden aus Versehen ankokelte. Zuerst musste er schließlich lernen, mit Magie umzugehen und diese gezielt zu bündeln. Als ich ihn losließ, taumelte er einen Schritt zurück und sah fasziniert auf seine Hände hinab, in denen es erwartungsvoll knisterte.
Ich kannte dieses berauschende Gefühl, wenn die Kraft zum ersten Mal in einem erwachte. Man fühlte sich unbesiegbar. Leider hielt dies nicht besonders lange an. Mit einem Satz war ich bei Ben und fing diesen auf, als seine Beine unter ihm nachgaben und er zusammensackte.
„Vorsicht. So eine Erweckung ist ganz schön kräftezehrend.“ Ich lehnte ihn halb ans Auto und öffnete ihm die Tür.
„Warum hast du das getan? Man sagt doch immer, je älter die Unbestimmten sind, desto gefährlicher ist es, ihr Wesen zu offenbaren.“ Ben lallte. Seine Augen fielen ihm unablässig zu, und alleine ihn auf dem Beifahrersitz zu platzieren, gestaltete sich als kleine Herausforderung.
Rasch lief ich um das Auto herum, ignorierte den Typ, der mit elektrisierten Haaren auf dem Boden saß und uns mit offenem Mund anstarrte, und klemmte mich hinters Lenkrad. Zielsicher fuhr ich zu meinem Laden und versuchte dabei die ganze Zeit, Ben wach zu halten. Irgendwie musste ich ihn schließlich die Treppen nach oben in die Einliegerwohnung schaffen und schleppen war bei diesem Riesen ausgeschlossen.
Endlich am Ziel angekommen war ich komplett durchgeschwitzt. Ben lag friedlich schlummernd im Bett, hatte sich mit meiner Hilfe gerade noch die Schuhe, Hose und Pullover auszuziehen können, bis er völlig abdriftete und nicht mehr ansprechbar war.
Eine kleine Weile lang schaffte ich es nicht, meinen Blick von seinem schlafenden Gesicht abzuwenden. Er zählte nicht mal fünfundzwanzig Winter, sah deshalb so unglaublich jung und verletzlich aus. Wärme breitete sich in mir aus. Ich wollte ihn beschützen. Würde ihn beschützen, so lange er mich ließe.
Mit Zwang riss ich mich von diesem Anblick los und ging runter in den Laden. Draußen hing ein Schild, dass wegen Weihnachtsferien geschlossen war. Onkel Silas und Tante Sylvia waren wohl fest davon überzeugt gewesen, dass ich Erfolg haben würde. Ich musste mich dringend revanchieren. Doch zuerst suchte ich aus dem Lager einen Trank für Ben, der ihm frische Energie verlieh. So etwas hatte ich zum Glück auf Vorrat. Aber ich wollte den besten davon, der, der mir vom Gefühl her am stärksten gelungen war. Samt einer Salbe, die die Lungen stärkte, stieg ich wieder die Treppe hinauf. Für die Reinigung brauchte er neue Kraft. Diese musste erst wiederhergestellt werden, bevor ich die großen Geschütze auffuhr.
Leise stellte ich alles auf den Nachttisch, um Ben nicht zu wecken. Dann holte ich mir einen Stuhl und setzte mich zu ihm ans Bett. Es war seltsam, wie natürlich und richtig es sich anfühlte, mit Ben hier zu sein, ihn in Jakobs Bett liegen zu sehen.
Nach der Beerdigung hatte ich all seine persönlichen Sachen einlagern und hier alles abdecken lassen. War nie wieder in der Wohnung gewesen, aus Angst, an die schönen Zeiten erinnert zu werden, die wir hier zur Genüge verbracht hatten. Merkwürdig war nur, dass mir wirklich wieder vieles ins Gedächtnis kam.
Den Fleck an der Wand, als Jay sich den Abend nochmal durch den Kopf gehen lassen hatte. Die Kerbe im Türrahmen, weil wir unbedingt selbst das Bett transportieren und aufbauen wollten. Die riesige Matratze, auf der Jay und ich gekuschelt hatten, er weinend in meinen Armen lag, wenn er durch seinen Herzfehler Angst bekam und in eine depressive Phase rutschte.
Wie befürchtet taten die Erinnerungen weh, denn ich vermisste Jakob noch immer sehr. Doch er hatte mich nicht verlassen, wie ich bisher immer glaubte. Die ganze Zeit über wachte er über mich, ich war nur zu besessen und zu blind, es zu sehen. Ein Schimmern in der Fensterscheibe hier, ein Schatten im Spiegel dort. Und er würde weiterhin auf mich aufpassen. Auf mich und Ben, wenn ich sein zufriedenes Grinsen aus dem Augenwinkel richtig deutete.
„Was ist das?“, holte mich eine verschlafene Stimme aus den Gedanken. Müde musterte Ben die zwei Behälter auf dem Nachttisch. „Riecht nach Eukalyptus und Engelwurz.“
Ich schmunzelte. „Damit wäre auch deine Affinität bestätigt.“
Ein überraschtes Augenpaar richtete sich auf mich. „Dann war auch das kein Traum? Du...du hast wirklich in mir die Magie erweckt und konntest sie sogar bestimmen? Aber...bin ich eigentlich nicht viel zu alt dafür?“
Ich konnte nicht anders, und setzte mich zu ihm am Rande der Matratze, wollte ihm nahe sein. „Der einzige Traum in diesem Zimmer liegt gerade im Bett und sieht absolut niedlich aus.“
Sanft streifte ich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht, was Bens Wangen herrlich rosa färbte. So unbedarft, fast unschuldig. Doch ich wusste auch, dass mehr in ihm steckte. Meine Lippen prickelten noch immer, wenn ich nur an unseren Kuss dachte. Und gerade diese Gegensätze waren es, die ihn so anziehend machten. Man wusste nie, was auf einen zukam.
„Aber was die Magie betrifft: Alleine, dass du riechen kannst, was sich in den verschlossenen Behältern befindet, reicht aus, um zu wissen, welcher Affinität du entsprichst. Was jedoch das Erwecken betrifft, muss ich mich bei dir entschuldigen. Ich hätte dich vorher fragen müssen.“
Es war amüsant anzusehen, wie jemand stufenweise noch verwirrter ausschaute, als zuvor. „Du wusstest doch, wie viel mir die Magie bedeutet“, entgegnete Ben. „Ich finde es eher beeindruckend, dass du das Risiko eingegangen bist. Auf den Straßen hört man dauernd Schauergeschichten über Meister, die ältere Schüler angenommen haben und die nach der Bestimmung verrückt geworden sind.“
„Wenn ich sehe, auf was für Straßen du dich rumtreibst, wundern mich solche Märchen überhaupt nicht.“ Mahnend schaute ich auf Ben hinab, der trotzig das Gesicht verzog. „Es sind die Erinnerungen des Schützlings, die man aushalten muss“, setzte ich rasch nach, bevor mein Gegenüber etwas sagen konnte.
„Bei der Bestimmung gehen Meister und Schüler eine Verbindung ein. Denn um Magie erwecken zu können, muss man tief in der Seele des Schützlings wühlen, da diese mit dem Sein verbunden ist. Allerdings ist das wiederum geschützt durch Erinnerungen und durchlebte Empfindungen. Erst wenn man sich da durchgekämpft hat, kann man das Wesen des anderen bestimmen. Umso älter jedoch der Schüler, umso mehr Erinnerungen verbauen den Zugang zur Magie. Ergo wird es schwieriger da ranzukommen.“
Langsam ahnte Ben, worauf ich mit meiner Entschuldigung hinauswollte, denn sein Gesicht machte von der Färbung her einer reifen Tomate mehr als Konkurrenz. „Du kennst jetzt also meine komplette Vergangenheit und weißt genau, wie ich zu was stehe und was ich fühle?“
Ich nickte und starrte die Bettdecke an. Interessant, welche Muster sich ergaben, wenn man nur lang genug drüber strich. „Tut mir leid. Ich war nur so wütend auf diesen Affen. Und dann noch dein enttäuschter Blick. Ich wollte unbedingt, dass du glücklich bist und habe keine zehn Meter weitergedacht.“
Ben rieb sich über das Gesicht und schaute mich dann kopfschüttelnd an. „Bitte hör auf damit.“
Jetzt war es an mir, verwirrt dreinzublicken.
„Du hast dich bisher noch nie entschuldigt, bist egoistisch, ein elender Geizkragen, einnehmend, verlangend, dreist, rücksichtslos, fordernd...“
„Auf was willst du hinaus?“, unterbrach ich Bens liebreizende Aufzählung.
„Ich habe mir das alles hier so sehr gewünscht, dass mir so viel Fürsorge und Rücksicht einfach zu schaffen macht.“
Ah, daher wehte der Wind. „Ich weiß, dass du die etwas härtere Gangart bevorzugst. Dachte allerdings, dass du noch etwas Erholung benötigst.“
Es war zu schön zu beobachten, wie Bens verwirrter Ausdruck ins leicht panische überging.
„Ich kenne deine Gedanken, schon vergessen?“, erklärte ich mich und tippte ihm auf die Stirn.
Erst jetzt schien Ben zu realisieren, dass ich nicht nur Erinnerungen und Empfindungen beiseitegeschoben habe, um an seine Magie zu gelangen. Ich musste sie auch selbst durchleben. Und genau das war der Punkt, warum nur selten Schüler über zwanzig Jahren angenommen wurden. Für einige Meister waren die Erlebnisse ihrer angehenden Schüler zu viel, als dass sie selbst sie verkraften konnte. Kinder dagegen zählten zu den unbeschriebenen Blättern. Es gestaltete sich als leichter, ihre Magie hervorzuholen, weil diese mit noch nicht so vielen Erfahrungen bedeckt waren.
„Gibt es eigentlich einen Unsichtbarkeitstrank? Oder ein ‚schwarzes-Loch-öffne-dich-und-verschluck-mich-Trank‘?“ Ben wagte kaum, seine Augen vor Scham zu öffnen.
Ich dagegen genoss es unheimlich, alles über ihn zu wissen. Zum einen gab es mir Sicherheit, weil ich genau wusste, was und wie viel er für mich empfand. Auf der anderen Seite verursachte es leichte Panik, da ich hoffte, dem gerecht werden zu können.
„Den einzigen Trank, den du schlucken darfst, ist der hier.“ Ich drückte ihm den kleinen Glasbehälter in die Hand und beobachtete genau, dass er alles bis auf den letzten Tropfen einnahm. Als Ben mir die leere Flasche wieder reichte, hielt ich seine Hand fest in meine und schaute ihm tief in die Augen.
„Niemals mehr wirst du von jemand anderem etwas in dieser Richtung annehmen. Keine Salbe, keine Tinktur, keinen Tee und vor allem keinen Trank. Hast du mich verstanden!“
Bens Augen wurden riesig. Mit offenem Mund starrte er mich an und wusste wohl nicht recht, wie ernst ich das meinte. Doch je länger ich ihn fixierte, desto deutlicher wurde ihm der Schweregrad meines Verlangens. Er nickte verschüchtert und hauchte ein okay, was mich wieder milder stimmte. Der Gedanke, er könnte sich wem anders zuwenden, nur weil er in seiner Ausbildung vielleicht ungeduldig wurde, war für mich kaum zu ertragen. Es reichte, dass wir seine Altlasten erst loswerden mussten.
„Und jetzt dreh dich um. Die Salbe hier wird deine Lungen stärken, bevor wir die Reinigung durchführen können.“
Grummelnd kam Ben meiner Aufforderung nach. „Muss das denn sein? René war doch nicht mal ein Magier. Wie also sollten seine Tränke schädlich sein?“
So hieß also dieser Affe. Wurde Zeit, dass der Name aus Bens Gedächtnis weitestgehend verdrängt wird, maximal als schlechtes Beispiel im Hinterkopf flüsternd verblieb.
„So gut hast du also bei mir aufgepasst?“, schimpfte ich und schmierte mit Absicht die noch kalte Salbe auf die Haut, ohne sie vorher anzuwärmen. Mit einem zufriedenen Grinsen registrierte ich das erschrockene Luftholen von Ben, bevor ich mit meiner Belehrung fortfuhr. „Kräuter müssen rein sein, frei von Pestiziden, aufgewachsen in freier Natur, am besten in wilder Umgebung, ohne Autogase und Smog. Sonst ist das einzige, was du zu dir nimmst, Teer statt heilender Kräuter. Und woher glaubst du kommt dein festsitzender Husten?“
Ben hatte seinen Kopf auf die Arme gelegt und schaute zum Fenster. Das leichte Spiel seiner Muskeln machte es mir schwer, mich auf meine Worte zu konzentrieren. Aber dafür war nicht die Zeit. Erst musste er gesund werden. Dann wäre er allerdings fällig und je mehr ich über seine Haut fuhr, Linien zog von einem Leberfleck zum nächsten, desto mehr freute ich mich darauf.
„Es ist Winter“, meinte er lediglich, doch ich hörte, dass er selbst seinen eigenen Worten nicht wirklich traute. Er hatte es geahnt, dass sein neuer Nebenjob etwas damit zu tun haben könnte, brauchte aber das Geld und verdrängte einfach die negativen Effekte davon.
Ich schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Als Kräuterkundiger wirst du mit Erkältungen keine Probleme mehr haben. Nicht nur dafür werde ich schon sorgen.“ Mit Absicht ließ ich zum Schluss meine Stimme etwas dunkler klingen, was Ben eine süßprickelnde Gänsehaut bescherte. Ihr Geister, wusste dieser Mann eigentlich, wie begehrenswert er wirkte?
Rasch stellte ich die Salbe beiseite und deckte ihn wieder zu. Dann stand ich auf und räusperte mich vernehmlich, hatte Angst, dass man meiner rauen Stimme anhören konnte, wie viel mehr ich gerade von ihm wollte.
„Ich bin kurz unten im Laden und braue den Heiltrank zusammen. Kommst du hier eine halbe Stunde ohne mich zurecht?“
Ben formte eine Schnute, lehnte sich nach vorn und zog mich an meinem Pullover zu sich heran. „Nein“, hauchte er gegen meine Lippen, bevor er diese sanft mit den seinen berührte. Ihn zu küssen war einfach unglaublich. Mein gesamter Körper vibrierte, allein von diesem unschuldigen Kuss ausgehend. Doch ich musste es unterbrechen, auch wenn es mir mehr als nur schwerfiel. Mühsam pflückte ich seine Hand von meinem Pullover und drückte meine Lippen zärtlich auf seine Finger.
„Du wirst es überleben.“ Fast war ich etwas stolz, dass die Worte nicht ganz so kratzig klangen, wie sich mein Hals anfühlte.
Ich schnappte mir das leere Glasfläschchen und die Salbe und stahl mich dann aus dem Schlafzimmer hinunter in den Laden. Eine Sekunde länger in Bens Nähe und ich wäre mit zu ihm unter die Decke gekrochen. Das Reinigungsritual hätte dann ganz andere Ausmaße angenommen, die seiner Lunge jedoch mehr Anstrengung abverlangt hätte, als gerade gut für ihn war.
Die eindeutig nicht jugendfreien Gedanken verdrängend kümmerte ich mich endlich um den Trank, den Ben bitternötig hatte. Zum Glück hatte ich alle Zutaten vorrätig, nichts musste in einem Sud einwirken oder vom Mondlicht aufgeladen werden. Dennoch achtete ich genaustens auf die Regeln zur Zubereitung, ließ alles langsam hochköcheln und nutzte nur das Beste der Kräuter, um die Flüssigkeit so kraftvoll wie nur möglich werden zu lassen.
Es dauerte etwas länger als eine halbe Stunde, bis ich wieder neben Ben am Bett stand und vorsichtig die Tasse abstellte. Er war wohl in einem leichten Schlaf abgedriftet, öffnete jedoch verschlafen die Augen, als ich mich zu ihm aufs Bett setzte.
„Das war viel zu lang“, grummelte Ben, stemmte sich hoch und stahl sich einen weiteren Kuss von mir. Er schmeckte herrlich nach Lebkuchen und Orangen. Daran könnte man sich wirklich gewöhnen.
„Ein genau eingehaltenes Rezept ergibt...“, begann ich, wurde aber von Ben gleich unterbrochen.
„... hohe Wirkungskraft und gut zahlende Kunden.“
„In diesem Fall einen gesunden Lehrling. Wodurch ich wieder an einigem sparen kann, da ich die meiste Arbeit dann auf dich abdrücken werde.“
Ich lächelte süffisant und hielt ihm auffordernd den Trank hin. Vorsichtig roch Ben an der Tasse und verzog gleich das Gesicht.
„Sicher, dass mich dieses Gebräu gesund macht und nicht doch umbringt?“
Seine Skepsis war greifbar, für mich dennoch leicht unverständlich. Von dem Affen hatte er schließlich auch alles getrunken, ich dagegen war ein Meister meines Faches. War ja gerade nicht so, dass es an meiner Ehre kratzte.
„Trink!“, forderte ich streng und schaute Ben mahnend an. Alles andere als begeistert atmete er aus und kippte dann das Gebräu in einem Zug hinunter. Brav.
Ich nahm ihm die Tasse ab, stellte sie auf den Nachttisch und machte Anstalten, mich wieder auf den Stuhl zu setzen, doch Ben hielt mich auf. Mit großen Augen sah er zu mir hoch, während sich erste Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Oh ja, der Trank wirkte schnell.
„Bleibst du bei mir. Also hier?“ Er deutete auf das Bett und klang dabei so unglaublich schüchtern, als hätte er Angst, ich würde ihn komplett alleine lassen. Wie konnte dieser Riese nur so unsicher sein? Liebevoll streifte ich ihm eine Strähne aus dem kantigen Gesicht und nickte dann leicht.
Meine Schuhe waren, genau wie mein Pullover, rasch ausgezogen. Dann legte ich mich neben ihm auf die Decke, während er darunter gut eingepackt war. Ben würde eh alles vollschwitzen, um das unsaubere Zeug aus sich herauszubekommen. So musste er sich um mich keine Gedanken machen.
Dann ging es schon los. Gequält stöhnte er auf, während ein Krampf den nächsten ablöste. Er zitterte, fror, schwitzte und keuchte. Und das Einzige, was ich für ihn tun konnte, war liebevoll auf ihn einzureden, ihm Mut zuzusprechen, ihn zu halten und ihm zu versichern, dass ich ihn nie wieder loslassen würde.
Tage später.
Nervös stand ich vor der Tür meines Onkels und meiner Tante, keine Ahnung wie lange schon. Es war Ben, der endlich für mich klingelte. Dankbar lächelte ich ihn an, konnte es noch immer nicht glauben, dass er wirklich mit mir hier war, mir beistand.
Zu viel war einfach in zu kurzer Zeit geschehen. Der Besuch von Jakob, die drei Geister, mein Geständnis gegenüber Ben, das Wiederfinden meines wirklichen Selbst. Ohne Ben hätte ich das alles nie überstanden.
Die Tür ging auf und Onkel Silas schaute uns groß an. Dann breitete sich ein erleichtertes Lächeln auf seinen Lippen aus und wir wurden überschwänglich hineingebeten.
„Ich wusste nicht, ob ihr es wirklich noch schafft. Aber noch ein Weihnachten ohne euch und Sylvia hätte mich gelyncht.“ Er lachte laut und nahm uns die Tüten mit den Geschenken ab, die vorsorglich zu den anderen unter dem Baum ins Wohnzimmer gelegt wurden.
Derweil kam meine Tante in den Flur, blieb erst kurz stehen und stürmte dann auf mich zu, um mich in eine feste Umarmung zu ziehen. Ihr zarter Körper bebte kurz und sie schaffte es einfach nicht, das Schluchzen zu unterdrücken.
„Gesegnet seien die Geister! Es tut so wahnsinnig gut, dass du wieder bei uns bist.“ Sie schniefte und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln. Dann war Ben an der Reihe, der dieselbe Tortur über sich ergehen lassen musste. „Danke. Für alles, was du für Abenezer und uns getan hast. Das werden wir dir nie vergessen.“
Bens Wangen verfärbten sich wieder herrlich rot. Ihm war es sichtlich peinlich, so im Mittelpunkt zu stehen. Aber da musste er bei meiner Familie durch. Ein Klingeln aus der Küche erlöste ihn – zumindest vorerst –, denn meine Tante eilte mit einem „Oh das Essen“ davon und ließ uns kurz allein. Ben nutzte den Moment sofort und schlang von hinten seine Arme um mich, während ich unsere Jacken aufhing, und knabberte an meinem Ohr.
„Dein voller Name ist Abenezer?“, zog er mich auf und gluckste.
„Nenn mich nur einmal so und du kannst das Abendprogramm für heute vergessen“, grummelte ich, konnte die süße Gänsehaut jedoch nicht unterdrücken, die seine Liebkosung bei mir verursachte.
„Und du glaubst, dass du es dieses Mal schaffst, es durchzuziehen?“ Er klang wirklich belustigt. Aufmüpfiges freches Ding.
„Und was wenn doch? Hetzt du mir dann wieder drei Geister auf den Hals?“
Mit Genugtuung merkte ich, wie Ben sich versteifte und mit seinen Knabbereien innehielt.
„Woher...?“, begann er verwirrt.
Ich drehte mich zu ihm um und schaute ihn abschätzig an. Dabei war es nicht gerade hilfreich, dass Ben mich um einen halben Kopf überragte. Dennoch verfehlte mein strenger Blick nicht seine Wirkung.
„Ich war in deinem Kopf, schon vergessen?“ Auf seine Stirn tippend verzog ich missbilligend den Mund, worauf Ben schuldbewusst die Schultern hängen ließ.
„Bist du sauer? Warum...warum hast du bisher nichts gesagt?“ Süß, wie Ben zwischen schlechtem Gewissen und Trotz hin und her schwankte. Ich umrahmte lediglich sein Gesicht mit beiden Händen und sah ihm tief in die Augen.
„Weil es das Beste war, was mir seit dir geschehen ist. Erst dadurch bin ich aus meiner Lethargie aufgewacht. Deswegen bin ich dir auf ewig dankbar.“
Ich konnte mich nicht länger zurückhalten und küsste ihn. Sanft umspielte sich unsere Zungen, neckten sich gegenseitig, während sich kräftige Hände um meine Taille schlangen. Erst ein Räuspern unterbrach unser süßes Spiel.
„Ich will ja nicht stören, aber die Jungs sind im Anmarsch und wollen alles darüber wissen, wie ihr den Rat aufgemischt habt, um den Wesenstest für Unbestimmte unabhängig vom Alter zur Pflicht zu machen. Mit eurem Auftritt auf dieser kleinen Spendengala habt ihr ganz schön Staub aufgewirbelt.“ Onkel Silas klang mehr als nur Stolz und nicht minder neugierig als seine beiden Söhne.
Lächelnd suchte ich nach Bens Hand und verknotete meine Finger mit seinen. So spektakulär wie es sich erzählt wurde, war alles gar nicht abgelaufen. Während Ben nach der Reinigungsaktion in einen tiefen, erholsamen Schlaf geglitten war, hatte ich meine alten Kontakte aufleben lassen und einige Meister der Kunst mobilisiert. Zusammen mit ihnen waren wir zu der Gala spaziert und hatten vor Ort Kinder von Familien bestimmt, die sich den Wesenstest nicht leisten konnten. Dem Rat hatte das gar nicht gefallen, weswegen schon eine Vorladung ins Haus geflattert war, der ich allerdings erst im neuen Jahr nachzukommen gedachte.
Bens Studium hatte vorerst höhere Priorität. Mit Hilfe seiner Mutter hatte ich am selben Abend das Dokument ausfindig gemacht, dass er benötigte, um den Vollzeittagesplatz zu erhalten. Zwar mussten wir dazu seine Unterschrift fälschen, doch in dieser Hinsicht hatte es Kayla voll drauf.
Sie war es auch, die Ben wieder beruhigt hatte, als dieser erfuhr, dass wir einfach über seinen Kopf hinweg für ihn entschieden und gehandelt hatten, indem wir das unterschriebene Stück Papier rechtzeitig bei seinem Professor abgaben, damit er ab Januar studieren konnte. Ganze zwei Stunden hatte er nur mit zusammengepressten Lippen dagesessen und kein Wort mit mir gewechselt. Die längsten zwei Stunden meines Lebens. Erst der Klaps von Kayla auf Bens Hinterkopf hatte ihn wieder milde gestimmt.
Ich schmunzelte und schob die Erinnerungen beiseite. Ben hatte mir vergeben. Also warum sollte ich es ihm nicht gleichtun? Ich stahl mir einen letzten Kuss von meinem Liebsten, dann folgte ich, mit ihm im Schlepptau, meinem Onkel ins Wohnzimmer, wo meine jüngeren Cousins auf uns warteten.
Es tat unglaublich gut, die Feiertage mit meiner Familie zu verbringen. Mit ihr und Ben an meiner Seite. Und ich hoffte, es würden noch viele folgen.
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