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A longer Way

Teil 2

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Informationen

 

Dylan sitzt im Schneidersitz auf dem Bett, vor ihm liegen die Zwillinge, die er je mit einer Hand füttert. Neben ihm liegen Gwen und Cooper und schlafen friedlich, genau wie Stan und Laurel am Fußende des Bettes. Leise ziehe ich die Tür hinter mir zu.

„Hey“, flüstere ich.

Dylan schaut hoch und ich habe das Gefühl, dass die Temperatur im Raum auf einen Schlag um zwanzig Grad sinkt.

„Ich hab hier alles im Griff, geh ruhig duschen.“

Warum sagt er das? Woher weiß er, dass ich es kaum abwarten kann, mir den Dreck, die Schuld richtig abwaschen zu können? Ich verschwinde wieder im Bad und dusche ausgiebig.

Als ich ins Schlafzimmer zurückkomme, ist das Bild unverändert, nur dass die Zwillinge jetzt Tee trinken. Ich hole mir bequeme Kleidung aus dem Schrank und ziehe mich an. Dylan ignoriert mich, auch noch, als ich mich auf die Bettkante setze.

„Dylan …“, flüstere ich flehend.

„Nicht. Schon gar nicht hier.“

„Und was jetzt?“

„Wir vergessen alles, was heute passiert ist“, antwortet er bestimmt.

Sein Blick lässt keinen Zweifel daran zu, dass er das todernst meint. Aber er kann doch nicht wissen, was passiert ist, nachdem er weg war?

„Egal was war, Jordan, wir vergessen es, reden nie wieder davon. Versprich es.“

Ich bin so überrascht, dass ich gar nicht antworten kann. Dylan hat geflüstert, aber sein Tonfall war so intensiv und so … wissend. Endlich fällt mir ein zu nicken.

„Kannst du übernehmen? Ich will auch noch duschen.“

„Okay.“

Daraufhin ist er erst mal verschwunden und lässt mich ziemlich verwirrt zurück. Jake und April schlafen jetzt, das tiefe Atmen macht mich richtig müde. Ich bringe die Beiden in ihre Bettchen. Gwen wird kurz munter, als ich mich hinlege, und kuschelt sich in meinen Arm. Cooper sieht total friedlich aus. Vermutlich hatten Nikki und Oliver ein kurzfristiges Geschäftsessen oder so was, das kommt öfter vor. Die beiden Kleinen sind dann immer bei uns.

Ich frage mich, was Dylan weiß und woher. Eigentlich sollte ich jetzt Panik verspüren, aber mein Umfeld wirkt so beruhigend, so einschläfernd.

Ich bin wohl tatsächlich eingeschlafen. Als ich wach werde, ist das Licht gedimmt und nur noch Gwen und die Katze liegen bei mir im Bett. Es ist halb zwei. Wo ist Dylan? Er zieht sich in schwierigen Situationen immer vor mir zurück, ganz anders als Xander, der sich dann immer extremer an mich geklammert hat. Kurz muss ich lächeln, weil ich an ihn auf meinem Schoß denke. Ich liege in meinem Ehebett und denke an Xander! Das geht doch nicht! Andererseits … das Bett an sich ist ja das gleiche wie damals … Nein, ich muss mich von diesen Gedanken losreißen. Ich bin verheiratet, mit Dylan, habe Kinder mit ihm, liebe ihn. Xander und ich, wir haben unsere Chance gehabt und das war’s. Ich kann nicht mehr dahin zurück. Ich will mit Dylan zusammen sein, jetzt! Mir egal, ob er Abstand braucht, ich brauche ihn, ganz nah. Ich mache mich also auf die Suche.

Von der Treppe aus erkenne ich schon den Lichtschein aus dem Wohnzimmer. Da ist er also. Ich bin fest entschlossen, diesmal nicht zuzulassen, dass er mich einfach wegschiebt. Ich werde mich einfach an ihn klammern und … Ich bleibe wie von Donner gerührt stehen.

Dylan liegt in Embryohaltung auf der Couch und weint tonlos, aber immer wieder von tiefen Schluchzern gebeutelt, in ein Kissen. Ich habe ihn noch nie weinen sehen, nicht mal ein klein bisschen und schon gar nicht so. Es tut mir unglaublich weh und macht mir unglaubliche Angst. Mein starker Ehemann, der immer alles im Griff hat, der für mich immer der Fels in der Brandung ist, so kitschig das auch klingen mag, der liegt wie ein Kind zusammengerollt da und ist so schrecklich traurig und verzweifelt, dass ich für einige Sekunden nur dastehen kann und ungläubig die Szene betrachte. Was soll ich jetzt tun? Ich bin völlig hilflos. Was, wenn er gar nicht will, dass ich ihn so sehe? Was, wenn er mich fortscheucht, so wie üblich? Dann erinnere ich mich wieder an meinen ursprünglichen Plan und gehe, plötzlich sehr selbstsicher, zu ihm in die Hocke, lege ihm eine Hand auf die Schulter. Ohne zu zögern, greift er meine Hand und zieht mich zu sich, hält mich eng umschlungen, klammert sich an mich, als würde ich mich in Luft auflösen, wenn er von mir ablässt. Ich kann kaum atmen aber drücke ihn mindestens genau so fest an mich. Seine Stoppeln reiben an meinem Hals, ich schmiege mich dagegen, genieße dieses vertraute Gefühl. Sein Brustkorb bewegt sich unregelmäßig, er japst nach Luft, zittert, ist nicht zu beruhigen. Er hat seine langen Beine um mich geschlungen, ich versuche beruhigend über seinen Rücken zu streicheln.

Es dauert eine Ewigkeit, bis sein Atem gleichmäßiger wird und immer seltener von Schluchzern unterbrochen wird. Endlich lässt er zu, dass ich in sein Gesicht sehe. Seine Augen sind rot und geschwollen, die Furcht in ihnen, ich kann gar nicht beschreiben, was das in mir auslöst.

„Dylan … was …?“

„Du wirst mich verlassen.“

„Was?! Wovon redest du?“

„Komm schon Jordan, verkauf mich nicht für blöd“, schluchzt er. „Wie weit seid ihr gegangen? Hast du mit ihm geschlafen?“

Ich spüre, wie mir Blut ins Gesicht schießt, sagen kann ich kein Wort. Dylan schaut gequält zur Seite.

„Ich hab es kommen sehen. Von dem Moment an, als er nicht aufgetaucht ist. Ich wusste, du würdest zu ihm fahren und …“

„Was?! Von wem redest du eigentlich?“

„Jetzt tu doch nicht so unschuldig! Von Vince natürlich!“

„Du denkst, dass ich mit Vince geschlafen habe?“, frage ich und mein ehrlich überraschter Tonfall gibt Dylan scheinbar Hoffnung.

„Hast du nicht?“

Ich schüttle den Kopf. Dylan atmet tief durch und redet weiter:

„Ich dachte … ich meine, ich weiß, dass die Dinge zwischen uns gerade ziemlich beschissen sind. Ich weiß, dass du dich nach jemandem sehnst, der dich nicht wegstößt, wenn es schwierig wird und nach jemandem, der dir das Gefühl gibt, dich zu brauchen. Aber ich brauche dich, Jordan, auch wenn ich das nicht zeige.“

„Das weiß ich doch.“

„Nein, du hast keine Ahnung, wie sehr. Ich habe schrecklich Angst dich zu verlieren.“

„Wirst du nicht. Niemals.“

„Aber du hast so viele Menschen aus deiner Vergangenheit, die dir immer noch so viel bedeuten. Ich habe Angst, dich an einen von ihnen zu verlieren.“

„Dylan, ich liebe DICH, ich habe DICH geheiratet, ich habe Kinder mit DIR.“

„Ich weiß, ich hab nur seit einer Weile das seltsame Gefühl, dass ich dir nicht mehr genug bin. Und wie du manchmal über Vince redest … Er ist einfach ganz anders als ich, so anhänglich und … er hat auch keine Angst davor, Schwäche zu zeigen …“

Er hat recht, genau das reizt mich auch an Xander.

„Dylan … was erwartest du jetzt von mir?“

„Keine Ahnung, ich weiß auch nicht. Ich schätze, ich war einfach hirnlos eifersüchtig, als du mit Xander über Vince geredet hast und deine Augen dabei so komisch geleuchtet haben … Und wenn du gegen Scott und Collin gewettert hast, dann hab ich mir eingebildet, dass du das tust, weil du Vince schützen willst, oder weil es dir Angst macht, dass er jetzt wieder Single ist oder irgend so was. Ich hab mir die schlimmsten Dinge ausgemalt, total paranoid. Tut mir leid, ich hätte dir vertrauen sollen. Ich hab hier das Problem, nicht du. Gott, ich komm mir richtig dumm vor.“

Seit er Xanders Namen erwähnt hat, atme ich nicht mehr und schaue auf meine Hände. Was soll ich ihm sagen? Ich weiß gar nichts mehr, ich weiß nur, dass es mir das Herz zerreißt, Dylan so verletzlich zu sehen, aber dass ich gleichzeitig auch froh bin, endlich mal diese Seite an ihm zu erkennen. Ich habe mich ihm noch nie so nah gefühlt aber gleichzeitig steht dieser unüberwindbare Betrug zwischen uns.

„Jordan … bist du mir böse?“

„Nein! Nein natürlich nicht.“

„Ich war in letzter Zeit nicht der beste Ehemann, der ich dir hätte sein können. Aber ich werde dran arbeiten, versprochen. Es war nur alles so stressig. Die Zwillinge, das Zentrum, alles gleichzeitig …“

„Dylan, ich mache dir doch gar keine Vorwürfe.“

„Ich werde mir mehr Zeit für dich nehmen und ich tue alles, damit du dir keine Sorgen mehr um meine Sicherheit machen musst. Du bist das Wichtigste. Diese ganze Sache heute, dieses schreckliche Missverständnis … so was darf nie Wirklichkeit werden, Jordan. Ich werde alles tun, um das zu verhindern. Ich will dich wieder glücklich machen.“

Ich bin Abschaum. Wir liegen da, halten uns fest, Dylan schläft ein. Ich verabscheue mich selbst und würde am liebsten aus meiner Haut fahren, so sehr ekelt es mich vor meinem Körper und dem, was ich mit ihm gemacht habe.

Irgendwann höre ich eines der Babies weinen und schiebe Dylan ein Stück von mir runter, um nach ihnen zu sehen, danach kann ich nicht wieder zu ihm gehen, kann mich auch nicht mehr hinlegen, bin total ruhelos. Mir fällt ein, dass ich Wäsche machen könnte. Meine Hose vom Vortag. Da sind helle Flecken auf dem dunklen Stoff. Als ich sie in die Waschmaschine stopfe, fällt mir auf, dass mein Handy noch in der Tasche steckt. Ich habe eine SMS, von Xander. Ich überlege, ob ich sie ungelesen löschen soll, dann öffne ich sie doch.

'Wie geht es dir? Ich mach mir Sorgen um dich. Mir geht’s beschissen. Bitte melde dich.'

Darauf werde ich nicht antworten, beschließe ich. Aber andererseits … wenn er sich doch Sorgen macht … Ich muss wenigstens ein kurzes Lebenszeichen geben.

'Ich bin okay', tippe ich, lösche es aber sofort wieder, weil es einfach zu blöd ist.

Er wird sich denken können, dass ich nicht okay bin. Ich überlege eine Weile und schreibe dann:

'Mir auch.'

Es dauert keine Minute, da vibriert mein Handy schon wieder.

'Können wir kurz telefonieren? Sitze im Auto, kann nicht zurück zu Tyler. Ich brauche deine Stimme.'

Ich sitze im Bad auf dem Boden und weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß was ich will, ich will auch seine Stimme hören, will ihn trösten, ihm sagen, dass alles wieder gut wird, aber …

Mein Handy klingelt. Und jetzt? Wenn ich nicht dran gehe, dann weiß Xander doch sofort, dass ich nicht mit ihm reden will, obwohl ich das doch eigentlich will. Was mach ich nur? Ich drücke die Annahmetaste, sagen kann ich aber vorerst nichts.

„Hey ... ist es okay, dass ich …“

Seine Stimme bricht, wie immer wenn er weint. Ich habe das schon viel zu oft gehört.

„Ja, ist okay.“

„Ich … tut mir leid, dass … du weißt schon, dass es dir wegen mir schlecht geht.“

„Ist doch nicht deine Schuld“, versuche ich ihn zu beruhigen.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich sitze seit Stunden im Auto, ich kann nicht nach Hause, das geht einfach nicht. … Wo bist du?“

„Zuhause.“

„Oh … klar … Dylan hat doch nicht … er weiß nichts, oder?“

„Nein.“

„Gut. Ich will nicht, dass du … meinetwegen Ärger bekommst, …das könnte ich nicht ertragen.“ Er kann kaum richtig reden, muss immer wieder tief durchatmen. „Wie soll es jetzt weitergehen, Jordan?“

„Ich weiß nicht.“

„Ich kann mich nicht erinnern, … jemand anderen jemals so geliebt zu haben, wie dich, Jordan.“

„Xander, ich kann das jetzt nicht. Nebenan schlafen meine Kinder, mein Ehemann.“

„Können wir uns sehen? … Ich meine … ich weiß, dass wir nicht … aber … sehen, bitte.“

„Bitte wein nicht mehr, okay? Das bricht mir das Herz.“

„Ich kann nicht anders. … Ich muss immer daran denken, was ich verloren habe … und was wir haben könnten. Mein Herz zerspringt, wenn ich mir vorstelle, dass … dass ich dich nie mehr küssen darf.“

„Xander …“

Er versucht jetzt gar nicht mehr zu reden sondern weint nur noch.

„Xander, wo bist du?“

„Garden Ecke Cypress.“

„Das ist ja bei mir um die Ecke!“

„Sei nicht sauer. … Ich musste dir nur irgendwie nah sein.“

„Oh Xander …“

„Ich soll verschwinden, oder? … Tut mir leid, das war ein Fehler. Ich mache alles falsch, am besten wäre, wenn … wenn ich dir nie begegnet wäre. Ich versau immer nur alles.“

„Sag das nicht, Xander. Ich bin froh, dass es dich gibt. Du hast mich glücklich gemacht und ich habe dich geliebt, mehr als alles andere.“

„Und dann hab ich dein Herz gebrochen. Und wofür? Was war die ganze Karriere wert, ohne dich, zu dem ich heimkommen kann? Nichts. Ich habe nichts ohne dich, kann dich aber auch nicht zurückhaben. Ich könnte dem Ganzen genau so gut gleich ein Ende setzen …“

„Sag so was nicht, Xander!“

„Tut mir leid, aber es ist einfach zu schwer ohne dich.“

Die Worte kommen seltsam gepresst aus seinem Mund. Ein schauriger Verdacht beschleicht mich.

„Xander, hast du eine Klinge?“

Er sagt nichts.

„Xander, bitte tu dir nichts. Ich bin gleich bei dir.“

Ich werfe mir irgendwas über und renne so leise wie möglich zur Haustür, bemerke meinen auf der Couch schlafenden Ehemann kaum.

Ich muss ein gutes Stück laufen, bis ich den schwarzen Mini am Straßenrand stehen sehe. Es ist so dunkel, dass ich gar nichts im Auto erkennen kann, bis ich bis auf wenige Meter herangekommen bin. Die Fahrertür geht auf, Xander steigt aus. Von einer Klinge oder Blut ist nichts zu sehen. Nur traurige, verweinte Augen. Ich nehme ihn ganz automatisch in den Arm.

„Danke, dass du da bist“, flüstert er.

„Bist du verletzt?“

„Nicht schlimm.“

Ich schiebe ihn ein Stück zurück.

„Lass es mich sehen.“

„Dazu müsste ich meine Hose runterlassen …“, lächelt er, was einfach nur bezaubernd aussieht, mit der Schminke, die über seine Wange rinnt.

„Dann gib mir wenigstens die Klinge.“

„Ist im Handschuhfach.“

„Du siehst blass aus.“

„Mir geht’s gut.“

„Stell dich mal alleine hin.“

„Ich will aber, dass du mich festhältst.“

Er reibt seine Porzellanhaut-Wange an mir. Mir wird ganz anders, ich schlinge meine Arme noch enger um seinen schlanken Körper und spüre ihn einfach nur dicht an mir.

„So und jetzt zeig mir, wo du dich geschnitten hast.“

Widerspruchslos setzt er sich und macht seine Hose auf. Ich knie mich vor ihn und betrachte die feinen Linien auf seinem linken Oberschenkel. Es blutet kaum, trotzdem werfe ich ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, den er mit einem schuldbewussten Lächeln quittiert. Dann beugt er sich ein Stück runter und haucht mir einen kleinen, süßen Kuss auf die Lippen.

„Danke, dass du da bist.“

Ich streiche leicht über seine Wange, verwische dabei eine der Mascaraschlieren und hole mir noch so einen Kuss. Gott, wie ich dieses Piercing mag! Trotzdem, wir können hier nicht bleiben, mitten auf der Straße, mit heruntergelassener Hose. Ich will mich umsehen, um eine Idee zu bekommen, was weiter passieren soll, aber plötzlich ist das alles egal. Da steht Dylan, vielleicht fünf Meter vom Auto entfernt, steht einfach nur da und starrt auf uns herab. Ich starre für einen Moment einfach zurück, unfähig mich zu bewegen.

Dann macht Dylan einen Schritt rückwärts und so als wären wir durch ein unsichtbares Band verbunden, mache ich auch einen Schritt um die Tür herum, durch deren Scheibe ich meinen Mann gerade noch gesehen habe. Er geht immer schneller, läuft, aber kurz vor unserem Grundstück habe ich ihn eingeholt, halte ihn an der Schulter zurück, meine Hand wird weggeschlagen, Dylan macht einen Schritt auf mich zu, so ruckartig, dass ich unwillkürlich zurückschrecke. Der Ausdruck in seinen Augen, seine konfrontative Körperhaltung, wenn er mir gleich eine verpasst, dann habe ich das verdient.

Aber er schlägt mich nicht, deutet mir nur mit einer Geste an, auf Abstand zu bleiben. Irgendwie wirkt es, als wolle er mich vor sich selbst schützen.

„Was ist denn hier los?“

Wir fahren gleichzeitig herum, in der Haustüre steht Josh mit April auf dem Arm.

„Geh zurück ins Haus“, befielt Dylan.

„Xander? Was willst du denn hier?“

Wieder fahren Dylan und ich gleichzeitig herum. Xander steht an der Grundstücksgrenze, wie ein Häufchen Elend. Dylan macht ein paar Schritte auf ihn zu.

„Ins Haus. Alle. Macht schon!“

Xander schaut irritiert und verängstigt zu mir. Ich zucke nur die Schultern. Hier auf dem Rasen ist nicht der richtige Platz, für was auch immer gleich kommen mag.

Dylan schließt vorsichtig die Haustür hinter Xander. Ich komme mir plötzlich so gefangen vor.

„Josh, geh bitte nach oben, sieh nach den Kleinen.“

„Aber …“

„Josh, jetzt.“

Mein Sohn gehorcht seinem Stiefvater, dreht sich aber an der Treppe noch einmal um:

„Dad, bitte versau das hier nicht.“

Ich senke meinen Blick. Dylan wartet ab bis Joshs Schritte nicht mehr zu hören sind. Xander steht immer noch an der Haustür, ich mitten im Raum, mein Mann zwei Meter weiter. Ich sehe, wie es in seinem Gehirn arbeitet. Momentan fühle ich einfach gar nichts.

„Setzt euch.“

Er deutet auf die Couch, während er sich einen Sessel heranzieht. Xander schaut mich ungläubig an, ich tue, worum ich gebeten wurde. Nach ein paar Sekunden kommt auch Xander rüber.

Als wir sitzen, mit möglichst viel Abstand zwischen uns auf der Dreisitzercouch, schlägt Dylan seine Beine übereinander und sieht unpassend lässig aus.

„Wie lange geht das schon?“

Ich sehe ihm fest in die Augen, als ich antworte:

„Erst seit heute … gestern, nach der Trauerfeier eben.“

„Aber es ist nicht nur Sex, hab ich recht?“

Ich schweige.

„Das ist auch eine Antwort.“

Er lehnt sich zurück, legt einen Arm über die flache Rückenlehne. So viel ist sicher: Seine coole Fassade ist wieder aufgebaut.

„Na gut, dann ist es jetzt wohl Zeit für eine Entscheidung, Jordan. Wer soll es sein? Ich oder er?“

„Das fragst du mich einfach so? Und ich soll das jetzt sofort entscheiden?“

Er lacht verächtlich auf.

„Ich dachte nicht, dass dir die Entscheidung so schwer fällt, aber in diesem Fall nehme ich sie dir ab. Das war’s. Ich will nicht mit jemandem verheiratet sein, der hin und her gerissen ist zwischen allem, was wir uns aufgebaut haben und einem suizidalen Teenyschwarm, der wegrennt, wenn es drauf ankommt. Also ist der nächste Schritt wohl, dass ihr von hier verschwindet.“

Er steht tatsächlich auf, geht zur Tür und hält sie uns auf. Irgendwas läuft hier fundamental verkehrt.

„Jetzt warte mal, Dylan. Ich habe nicht gemeint, dass ich nicht mehr mit dir zusammen sein will …“

„Was dann, soll dein Liebhaber hier einziehen? Soll ich dich mit deinem Exfreund teilen? So wie Patrick es gemacht hat? Das erwartest du doch nicht wirklich von mir, oder? Soll ich die Tür noch lange aufhalten? Geht schon. Es gibt nichts mehr zu sagen.“

Xander steht auf, ich bin noch zu geschockt, um mich zu bewegen.

„Schatz? Komm lass uns gehen.“

Xander steht über mir und streckt mir seine schmale Hand entgegen. Ich tue einfach, was von mir verlangt wird, nehme seine Hand, stehe auf.

„Bist du irre, oder was?!“ Josh, die Treppe herunterstürmend. „Jordan, was machst du denn?!“

Er nennt mich Jordan. Das kann ich nicht leiden.

„Ich bin dein Dad, also nenn mich auch so.“

„Du bist genau so viel oder wenig mein Dad wie Dylan! In den letzten fast vier Jahren war er immer für mich da, für uns! Und jetzt willst du einfach so zu dieser Tür raus gehen? Mit DEM da?! Bist du jetzt total verrückt geworden? Mum und du, ihr wart nie die vernünftigsten und stabilsten Menschen, aber das! Warum habt ihr dann Kinder bekommen?! Was soll aus Jake und April werden? Was sollen die später denken, wenn ihr euch trennt, kaum dass sie auf dieser Welt sind?“

Inzwischen rinnen ihm Tränen aus den Augen, er steht kaum einen Meter von mir entfernt und schreit mich an:

„Was ist mit Gwen?! Sie nennt Dylan sogar manchmal Dad und hängt mehr an ihm, als sie jemals an Xander gehangen hat. Du kannst ihn uns nicht wegnehmen, du kannst ihn MIR nicht wegnehmen! Dylan ist der einzige Erwachsene, der mich noch nie enttäuscht hat! Nicht ein Mal und nicht mal bei kleinen Dingen! Du hingegen …“

Er stößt mit seinem Zeigefinger hart gegen meinen Brustkorb:

„… du bist unberechenbar! Sei dir gewiss, wenn du Dylan verlässt, dann siehst du mich nie wieder und ich werde dafür sorgen, dass du auch aus Gwens Leben verschwindest!“

Dylan legt ihm besänftigend die Hände auf die Schultern, aber Josh ist noch nicht fertig. Er gestikuliert wild Richtung Xander.

„Du wirst uns das alles nicht zerstörend, hörst du?! Mach, was du am besten kannst, abhauen! Keiner will dich hier. Verschwinde!“

Dylan ist inzwischen auch nicht mehr so cool, er nimmt Josh in den Arm, drückt ihm einen Kuss auf den Kopf, flüstert ihm etwas zu.

Ich drehe mich nach Xander um.

„Du solltest jetzt besser gehen“, höre ich mich zu ihm sagen.

Erst schaut er mich verständnislos an, dann entsetzt, dann total verloren, dann geht er und ich habe Angst, was er jetzt tut, aber ich muss ihn sich selbst überlassen. Diesmal schließe ich die Tür hinter ihm, traue mich kaum, mich wieder meiner Familie zuzuwenden. Ich zähle von fünf abwärts, dann bringe ich es hinter mich. Josh ist verschwunden, Dylan sitzt auf der Treppe. Und jetzt?

Ich gehe auf Dylan zu, aber bin noch keine drei Schritte weit, da hebt er schon die Hände.

„Wenn du noch näher kommst, kann ich für nichts mehr garantieren.“

Ich setze mich einfach, dahin, wo ich eben noch gestanden bin. Dylan stützt den Kopf in beide Hände, wir reden nicht, sitzen nur da, er schaut mich nicht mal an, aber keiner von uns steht auf.

Es dämmert, seit Stunden spüre ich meine Beine nicht mehr. Dylan sitzt unverändert auf der vorletzten Stufe. Plötzlich höre ich seine Stimme.

„Der Tag wird nicht auf uns warten, jeden Moment wachen die Zwillinge wieder auf. Und gegen acht kommt Nikki, um Cooper und Gwen abzuholen.“

Mein Herz flattert und mir ist unheimlich flau im Magen, als ich versuche aufzustehen. Es dauert eine Weile, bis meine Knie nicht mehr höllisch wehtun, beim Versuch, sie durchzudrücken. Dylan streckt sich und geht nach oben. Ich stehe kurz unschlüssig da, dann folge ich ihm. Im ersten Stock ist alles ruhig. Im neuen Schlafzimmer liegen die drei Kleinen friedlich in ihren Bettchen, Josh, Kate und Gwen schlafen im Ehebett. Joshs Gesichtszüge wirken sehr angespannt für einen Schlafenden.

Kate regt sich, sieht sich kurz um, setzt sich wortlos auf, nimmt Gwen, die davon kaum etwas mitbekommt, und schleppt sie nach unten. Dylan setzt sich neben Josh, streicht ihm väterlich die Haare aus der Stirn, beugt sich runter und flüstert etwas. Josh wacht auf, gähnt kurz, umarmt Dylan und geht ebenfalls. Irgendwie wirkt gerade alles ziemlich unwirklich. Am Nachmittag war noch alles gut, und jetzt?

„Wenn du noch etwas schlafen willst …“

Ich schüttle sofort den Kopf. Obwohl ich hundemüde bin, ist an Schlaf nicht zu denken.

„Na schön. Ich für meinen Teil lege mich noch hin, bis eines der Babies aufwacht.“

Während er sich auf dem Bett ausstreckt, stehe ich zwei Meter davon entfernt und habe nicht den geringsten Schimmer, was ich jetzt tun soll.

Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche und macht dabei ein leises Surrgeräusch. Ich hole es hervor. Xanders Nummer wird angezeigt. Dylan atmet tief ein.

„Würde es dir etwas ausmachen, das nicht hier drinnen zu beantworten?“

„Ich hatte nicht vor, dranzugehen“, sage ich und schalte mein Handy ab.

Der Wecker zeigt viertel nach sechs. Die Zwillinge wachen für gewöhnlich gegen sieben auf und die Vorstellung, noch fast eine Stunde hier rum zu stehen, ist nicht sehr angenehm.

„Kann ich ins Bett kommen?“

„Es ist dein Bett, ich kann dich wohl kaum aufhalten.“

Das nehme ich als ein Ja und setze mich auf meine Seite, ziehe die Hose aus, lege mich unter die Decke, kaum einen Meter von meinem Mann entfernt.

„Es tut mir leid, Dylan.“

„Was genau? Dass du mich betrogen hast? Dass du gelogen hast? Oder dass ich es herausgefunden habe?“

„Alles. Das letzte was ich wollte, war, dir wehzutun.“

Das klingt abgedroschen und blöd, aber es ist nun mal die Wahrheit.

„Schön, davon hab ich nur leider nichts.“

Er dreht mir den Rücken zu und ich döse ein wenig ein, fahre aber nach gefühlten drei Sekunden aus dem Schlaf, weil Jake schreit.

Dylan und ich kommen gleichzeitig bei seinem Bett an, ich nehme ihn hoch. Er ist rot im Gesicht, Dylan fühlt seine Stirn.

„Er hat Fieber.“

„Ich packe alles zusammen, du weckst Josh und Kate.“

Keine zehn Minuten später sitzen wir mit den Zwillingen im Auto, müde bin ich überhaupt nicht mehr. April scheint es gut zu gehen, aber Jake quengelt und sieht sehr unglücklich aus. Es ist Sonntag, also müssen wir in die Notaufnahme. Mit zwei hungrigen Babies kommt einem selbst die vergleichsweise kurze Wartezeit von einer halben Stunde vor wie eine Ewigkeit. Jake wird immer heißer, eine Schwester misst Fieber und sieht uns alarmiert an.

„40,4. Kommen sie.“

Es dauert keine fünf Minuten, bis sich eine Ärztin den Kleinen ansieht. Nachdem sie ihn ausführlich untersucht hat, beschließt sie, dass weitere Untersuchungen notwendig sind, da sie auffällige Lungengeräusche gehört hat. Als sie uns mitteilt, dass sie von einer Lungenentzündung ausgeht, greift Dylan nach meiner freien Hand. Trotz aller Sorge um meinen Sohn, lässt mir diese Berührung einen wohligen Schauer über den Rücken laufen.

Dann heißt es erst mal Papierkram ausfüllen, während Jake weiter untersucht wird. Nach einer Stunde werden die Befürchtungen bestätigt. Er bekommt sofort ein Antibiotikum und kommt ans EKG, weil die Ärzte befürchten, dass der Erreger auf andere Organe, schlimmstenfalls das Herz, übergehen könnte, weil Jakes Immunsystem scheinbar doch noch nicht so stabil ist wie gedacht.

Gegen zehn muss etwas passieren.

„Einer von uns muss April zu Nikki bringen.“

„Kannst du das machen?“, bittet Dylan.

„Klar, ich komm so schnell wie möglich zurück.“

„Okay.“

„Ich liebe dich, Dylan.“

Er lächelt tatsächlich ein klein wenig, was mein Herz zum Hüpfen bringt und mir den Mut gibt, zu fragen:

„Darf ich dich küssen?“

„Das geht noch nicht.“

„Okay. Wir sehen uns gleich.“

Ich streiche kurz über seinen Arm und mache mich mit April auf den Weg zu Nikki.

Sie hat von Josh schon gehört, dass wir ins Krankenhaus gefahren sind und hat schon mit April gerechnet. Ich bin also innerhalb von kürzester Zeit wieder im Krankenhaus. Jake wird mit fiebersenkenden Medikamenten, immunabwehrstärkenden Präparaten und Antibiotika vollgepumpt. Das Schlimmste ist die Atemnot, die Jakes Lippen plötzlich ganz blau werden lässt. Einen größeren Schrecken habe ich in meinem Leben noch nicht bekommen.

Als alles wieder im Griff ist und Jake am Sauerstoffgerät hängt, nur zur Sicherheit, wie uns die Ärzte versichern, lässt sich Dylan von mir in den Arm nehmen. Mein Herz pocht wie verrückt und ich habe richtig Schmetterlinge im Bauch, als er mir über den Rücken streichelt. Niemals werde ich ihn verlassen, soviel steht fest.

„Wir sollten was essen und mal zu Hause anrufen …“, schlage ich vor.

„Kannst du mich erst noch eine Weile festhalten?“

Den Gefallen tue ich ihm gerne.

In der Cafeteria sitzen wir uns schweigend gegenüber und essen.

„Wann können wir darüber reden?“, frage ich vorsichtig.

„Nicht solange es Jake nicht gut geht. Bis dahin muss ich mir vorspielen können, dass ansonsten alles gut ist.“

„Ich entscheide mich für dich, Dylan. Natürlich. Keine Frage. Ich weiß nicht, warum ich gezögert habe.“

„Ich weiß nicht, ob ich mich noch für dich entscheiden kann.“

Er klingt nicht gehässig oder wütend, sondern unsicher und ehrlich besorgt. Und genau dieser Tonfall versetzt mir einen Stich ins Herz.

„Es tut mir so leid.“

„Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Wir sollten wieder zu unserem Sohn zurück.“

„Du hast recht.“

Stundenlang sitzen wir neben dem kleinen Bett auf einer unbequemen Couch. Jake scheint es am Abend schon bedeutend besser zu gehen und ich werde langsam sehr müde.

„Fahr doch nach Hause“, bietet mir Dylan an.

„Nicht solange du bleibst.“

„Das macht doch keinen Sinn, Jordan. Wir sollten uns abwechseln.“

„Ich will aber bei dir bleiben, wirklich. Ich will nicht, dass du denkst, ich fahre nicht nach Hause, sondern zu … ihm, oder so …“

Dylan zuckt mit den Schultern.

„Na wie du meinst.“

Kann es sein, dass ich hinter seinem lässigen Tonfall einen Anflug von Erleichterung höre?

Ich rufe bei Nikki an, die mir versichert, dass es April gut geht und dass sie bei ihr bleiben kann, solange es nötig ist. Dylan wickelt Jake, packt ihn fest ein und wiegt ihn in den Schlaf zurück. Danach machen wir es uns auf der Couch so bequem wie möglich, was zum Glück jeder Menge Körperkontakt beinhaltet. Ich schlafe wie ein Stein, scheinbar von einer Sekunde auf die andere.

Als ich aufwache, ist es halb vier und die Nachtschwester hängt gerade eine neue Infusion an. Ich rapple mich hoch, muss dazu Dylans Kopf von meiner Schulter schieben.

„Ah, sie sind wach“, flüstert sie.

„So halbwegs.“

„Der Kleine auch. Wenn sie ihn also noch kurz halten wollen, bevor ich die Infusion wieder anlege?“

„Gern.“

Jake genießt den Kontakt sichtlich, wird richtig munter und schaut mich an, mit einem Blick, der Xanders um Welten übertrifft. Was habe ich mir nur gedacht? Wie konnte ich mich darauf einlassen? Und vor allem: Wenn ich es selbst schon nicht verstehe, wie soll ich es dann Dylan erklären?

Bald muss ich mich wieder von meinem Sohn trennen, lehne mich an meinen Mann, lege meinen Kopf auf seine Schulter, spüre seinen gleichmäßigen Atem, höre seine typischen Schlafgeräusche, das gelegentliche Schmatzen, die leichten Seufzer, das alles höre ich seit fast vier Jahren jede Nacht und ich liebe es! Ich habe fast vier Jahre lang ausschließlich mit Dylan Sex gehabt und dabei nie etwas vermisst.

„Wie geht es Jake?“

Dylan bekommt kaum die Augen auf.

„Schon viel besser.“

„Mein Nacken bricht gleich ab.“

„Willst du in meinen Arm?“

Plötzlich reißt er doch die Augen auf und schaut mich an.

„Nein danke.“

„Dylan …“

„Ich brauch frische Luft.“

„Jetzt?“

„Ja, jetzt.“

„Ich könnte auch etwas frische Luft vertragen. Kann ich mitkommen?“

„Dann bleibe ich so lange bei Jake.“

„Aber …“

„Geh schon.“

Schmeißt mich mein Mann gerade aus dem Zimmer? Ich stehe jedenfalls auf dem Flur und die Tür schließt sich hinter mir.

Also schlendere ich Richtung Ausgang.

„Jordan?!“

Eine weibliche Stimme, ich sehe mich um. Da steht eine junge Frau mit einem Kaffee in der Hand und schaut mich überrascht an.

„Ja?“

„Du erkennst mich nicht, oder? Naja, kein Wunder.“

Nach genauerer Musterung hab ich noch nicht mal den Hauch einer Idee, wer die mittelblonde, mittelgroße Mittzwanzigerin sein könnte. Sie lässt es mich wissen:

„Tyler.“

Meine Augen treten mit Sicherheit aus ihren Höhlen hervor. Ich will den Mund aufmachen, um irgendwas zu sagen.

„Spar dir irgendwelche Sprüche über mein Aussehen. Was willst du hier?“

„Was ich hier will? Das ist ein Krankenhaus, mein Sohn liegt hier.“

„Oh. … Na dann, lass dich nicht aufhalten.“

„Warte mal, was dachtest du, dass ich hier will?“

„Nichts. Auf Wiedersehen.“

Dreht die sich einfach um und geht!

„Tyler! Warte!“

Sie atmet hörbar aus und knurrt:

„Geh einfach weg, du hast schon genug angerichtet.“

„Ist Xander hier? Red schon!“

„Nein, ich hänge hier zum Spaß rum, weil der Kaffee so gut ist.“

„Was ist mit ihm? Er hat sich doch nichts angetan, oder?“

„Er hat in unserem Bad eine ganz schöne Sauerei veranstaltet. Ich hab ihn da gestern Vormittag gefunden. War kein schöner Anblick.“

„Gott, wie geht es ihm?“

„Beschissen, er hat eine Transfusion bekommen und dämmert so vor sich hin. Wie es einem halt nach so einer Nummer geht. Ich hab es den Ärzten zwar nicht gesagt, aber ich glaube, er wollte diesmal wirklich Schluss machen. Dass ich nach Hause gekommen bin, war Zufall. Eigentlich hätte ich bis nachmittags arbeiten sollen.“

Von den Schuldgefühlen wird mir schlecht. Warum habe ich mich nicht mehr um ihn gekümmert? Weil das das Aus für meine Ehe bedeutet hätte, antworte ich meinem schlechten Gewissen.

„Hattest du irgendwas damit zu tun, Jordan? Ihr müsst euch auf der Trauerfeier getroffen haben und danach ist er nicht nach Hause gekommen. Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?“

„Wann kann ich zu ihm?“, frage ich, statt zu antworten.

„Frag doch an der Pforte“, zischt sie und lässt mich stehen.

Die paar Schritte dahin spurte ich.

„Ich suche Xander Paulson.“

Der dickliche Kerl hinter der Scheibe schaut mich gelassen an, während er blind ein paar Tasten drückt. Dann wendet er sich dem Bildschirm zu.

„Ich habe hier einen Alexander Paulson.“

„Ja, genau.“

„Intensivstation. Besuch nur nach Absprache mit den Ärzten.“

„Und wo lang geht’s zur Intensivstation?“

Er deutet auf einen Übersichtsplan. Mit eisigem Blick verabschiede ich mich in die Richtung, finde heraus, dass sich die Intensivstation im selben Stock befindet wie die Säuglingsstation, und bin schon auf dem Weg zum Aufzug. Ohne groß nachzudenken, steuere ich als Erstes zurück zu Dylan. Der steht neben Jake und sieht aus, als würde er gleich im Stehen einschlafen

„Komm bitte mit.“

„Wohin?“

„Das erklär ich dir unterwegs.“

Ich schnappe mir seine Hand und nutze den Überraschungsmoment, um ihn aus dem Raum zu ziehen. Im Gang erkläre ich ihm leise:

„Ich habe gerade zufällig herausgefunden, dass Xander hier auf der Intensivstation liegt. Er hat wohl versucht, sich umzubringen.“

Dylan bleibt stehen, da nutzt auch mein Zerren nichts.

„Er hat was?!“

„Ich glaube, er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ich habe unten zufällig seine Freundin getroffen und die …“

„Seine Freundin? Er hat eine Beziehung?“

„Können wir bitte erst mal zu ihm gehen? Ich will nur sicher sein, dass er nicht mehr in Lebensgefahr ist.“

„Okay.“

Dylan legt seinen Arm um mich und schiebt mich voran, durch die Stationstür, den Vorraum und eine weitere Tür bis zu einem Schild, das uns den Durchgang verbietet. Wir müssen auf eine Klingel drücken, schon sehen wir durch die Glasscheibe eine Krankenschwester auf uns zukommen. Sie sieht gestresst aus, aber ihr Ton ist nicht unfreundlich, als sie die Tür öffnet und „Ja, bitte?“ fragt.

„Wir möchten zu Xander Paulson.“

„Tut mir leid, das ist leider nicht möglich. Aber sie können mit seinen Angehörigen sprechen.“

„Ich weiß nicht … ich wollte eigentlich nur wissen, wie es ihm geht.“

„Moment.“

Damit verschwindet sie wieder und ich schaue Dylan Hilfe suchend an, der nur die Schultern zuckt.

Ein paar Augenblicke später sehen wir Marie, Xanders Mutter, mit der Schwester aus einem Zimmer kommen. Als sie mich erkennt, verfinstert sich ihr Blick und ihr Gang wird merklich langsamer, so als würde sie sich überlegen, einfach wieder zurückzugehen. Dann erreicht sie doch die Türe, öffnet sie und tritt zu uns heraus.

„Was willst DU denn hier?“

„Wie geht es Xander?“

„Das geht dich nichts an. Verschwinde. Ich weiß, dass das alles deine Schuld ist. Er hat mich angerufen, gestern in aller Frühe. Er war so verzweifelt und unglücklich. Ich habe mich sofort ins nächste Flugzeug gesetzt, aber ich kam zu spät.“

„Zu spät? Er ist doch nicht …“

„Nein, aber viel hat nicht gefehlt. Und jetzt werden die ihn sicher nicht einfach gehen lassen. Du hast ihn im Stich gelassen, Jordan.“

Dylan tritt neben mich.

„Bei allem Respekt. Jordan ist nicht für ihren Sohn verantwortlich. Ich hoffe, dass er die Hilfe bekommt, die er braucht. Er muss wirklich sehr krank und unglücklich sein, wenn er so etwas tut. Also schieben sie das nicht auf Jordan ab.“

„Ah, der Ehemann. Wie ironisch, dass gerade du Jordan verteidigst. Eine seltsame Ehe ist das. Ich hab keine Zeit für das hier. Ich muss zurück zu meinem Sohn. Haltet euch fern. Ich werde dem Personal die Anweisung geben, euch nicht mal in seine Nähe zu lassen“, zischt sie und verschwindet.

Ich kann meinen Kopf nicht heben, kann nicht hochschauen. Was sie gesagt hat, stimmt. Ich wusste, wie es Xander geht. Ich hätte das verhindern können. Ich habe mich gegen ihn entschieden, ihn alleine gelassen. Seine Liebe zu mir hat ihn zu dem Allen getrieben und ich hab ihn einfach aus dem Haus geworfen, habe nicht mal mehr das Telefon abgenommen, nur um meinen eigenen Arsch zu retten.

„Jordan, komm, lass uns zu Jake zurückgehen.“

„Das ist alles meine Schuld. Ich hab alles versaut.“

„Nein Jordan. Schau mich an. Komm schon.“

Er dreht mich zu sich, sieht mir fest in die Augen, ich kann seinem Blick kaum standhalten, ich schäme mich so.

„Das ist nicht deine Schuld. Xander hat diese Entscheidung getroffen, nicht du. Er ist erwachsen, er muss mit den Konsequenzen seiner Entscheidung klarkommen, nicht wir. Wir haben unsere eigenen Probleme.“

„Wie kannst du nur so herzlos sein?!“, fahre ich ihn an. „Wie kannst du jetzt nur an dich selbst denken? Wie selbstsüchtig bist du eigentlich?!“

„Wie selbstsüchtig ICH bin?! Ich bin nicht derjenige, der sich wegen Liebeskummer die Pulsadern aufschneidet und damit in Kauf nimmt, alle die ihn lieben zu verlassen! Alle die ihn brauchen! Ich denke nicht nur an meine Probleme, daran wie schlecht es mir geht! Ich nehme nicht den leichtesten Ausweg und gebe einfach auf! Ich habe nie einfach aufgegeben und werde auch jetzt nicht damit anfangen! Verdammt, ich hab um das alles gekämpft, schon lange bevor ich dich getroffen habe! Ich hab mir das aus dem Nichts aufgebaut, aus weniger als nichts! Und da drinnen liegt ein Kerl, der nicht aus einem verarmten Elternhaus kommt, jemand, der von seinem Hobby leben kann, Geld wie Heu hat! Der einen Haufen Leute hat, die sich um ihn sorgen und das schmeißt er alles einfach so weg, weil er den Kerl, den er vor Jahren verlassen hat, nicht zurückhaben kann? Wer ist hier selbstsüchtig?!“

„Es war eben zu viel für ihn! Er lässt die Dinge an sich heran, setzt alles auf’s Spiel und baut keine Schutzmauern um sich! Sein Herz ist gebrochen, aber so was kannst DU natürlich nicht nachvollziehen. DU hast noch nie so viel riskiert. DU hältst doch immer deinen Sicherheitsabstand!“

„Bitte, wenn es das ist, was du willst! Das kann ich dir wohl nicht bieten, das musst du dir woanders suchen. Aber rechne nicht damit, dass ich, dass WIR dich mit offenen Armen empfangen, wenn der Kerl wieder genug von dir hat! Verdammt, nicht mit mir!“

Es kracht und das Nächste, was ich sehe, ist die gesprungene Scheibe in der Sicherheitstür und Dylan, der seine Faust hält.

„Gehen sie, oder ich rufe den Sicherheitsdienst!“, dröhnt es aus der Gegensprechanlage.

Dylan geht, ich bleibe, starre die Scheibe an, kann es nicht fassen.

Da sind Stühle, ich setze mich, kann mich kaum noch aufrecht halten, lehne mich zurück, meine Arme sind so schwer, meine Augen brennen, mein Herz rast. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich kann nicht denken! Meine Hände zittern, ich kann nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr, lasse mich einfach gehen, weine.

Jemand nimmt mich in den Arm. Mir ist egal, wer es ist. Ich will nur spüren, dass ich nicht alleine bin. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur mein Gesicht an den fremden Hals drücke, spüre, wie mir über den Rücken gestreichelt wird, auf den ruhigen, gleichmäßigen Herzschlag lausche. Ich versuche, mich dem Takt anzupassen, komme zu Atem, kann mich genug fassen, um mich einigermaßen aufrecht hinzusetzen und zu sehen, wer bei mir ist.

Ein Junge … oder eigentlich junger Mann. Dunkelblond, Sommersprossen und die gleichen braunen Augen wie Xander.

„Ryan.“

„Geht’s wieder?“

„Glaub schon.“

„Willst du Kaffee oder was anderes?“

Ich schüttle den Kopf und mustere Xanders Bruder, den ich zuletzt gesehen habe, als er vierzehn war, damals, als Catherine gestorben ist.

„Wie spät ist es?“, frage ich, um mich zu orientieren.

„Gleich acht.“

„Ich muss zu meinem Sohn.“

„Okay, ich begleite dich.“

„Nein, schon okay.“

„Hier kann ich gerade nichts Sinnvolleres tun, also …“

„Na gut ...“

Ich stehe auf, scheinbar zu schnell, denn ich sehe lila Flecken und befürchte kurz, umzufallen.

„Hey, okay, ich hab dich.“

Ich wundere mich, dass Ryan ungefähr so groß ist wie ich, und nicht gerade schmächtig. Ich komme mir so dumm vor, dass ich so die Kontrolle verloren habe.

„Du brauchst erst mal was Zuckerhaltiges zu trinken.“

Aus einem Automaten holt er eine Sprite und eine Cola.

„Na?“

„Sprite bitte.“

„Setz dich doch lieber wieder hin …“

„Mir geht’s gut, das war nur das schnelle Aufstehen. Ich muss jetzt echt nach meinem Sohn sehen. Er liegt gleich da drüben.“

„Okay, dann komm.“

Die paar Schritte über den Gang machen mir richtig zu schaffen. Meine Knie sind so weich wie nach einem Dauerlauf. Jetzt wird es aber wirklich Zeit, dass ich mich zusammenreiße. Bevor ich die Türe zu Jakes Zimmer öffne, atme ich noch einmal tief durch.

Doch der Raum ist leer. Jake muss bei einer Untersuchung sein. Hinter uns ist schon eine Schwester aufgetaucht.

„Mein Sohn …“

„Mister Handerson, ihr Mann hat den Kleinen gegen ärztlichen Rat mitgenommen. Hat er das nicht mit ihnen besprochen?“

„Was?! Nein! Das kann doch gar nicht sein. Er kann doch nicht einfach … April! Ich muss telefonieren.“

„Buick.“

„Oliver! Ist Dylan bei euch aufgetaucht?“

„Du hast ihn gerade verpasst.“

„Hat er April mitgenommen?“

„Natürlich. Ist was nicht in Ordnung?“

„Nein, doch … alles klar. Bye.“

Sofort tippte ich Dylans Nummer. Mailbox. Und jetzt? Josh und Kate sind mit Sicherheit schon auf den Weg zur Schule. Was hat Dylan vor? Ein anderes Krankenhaus vielleicht? Okay, da fange ich an. Ich muss mir die Nummer be… Mein Handy klingelt. Dylans Nummer wird angezeigt.

„Dylan, wo seid ihr?“

„Zuhause. Jake hat seine Medikamente und braucht keinen Sauerstoff mehr, er kann genau so gut hier gesund werden.“

Ich komme sofort.“

„Nein. Ich will dich hier nicht. Bitte gib mir etwas Zeit. Ich muss überlegen, wie es weiter geht.“

„Aber das ist unser Haus, unsere Kinder …“

„Kannst du bitte für eine Weile woanders bleiben?“

„Können wir das nicht von Angesicht zu Angesicht besprechen?“

„Nein, das geht nicht.“

„Was ist mit meinen Sachen?“

„Lass mich wissen, wo du bleibst.“

„Dylan, bitte.“

„Ich lege jetzt auf.“

„Dylan?! …Mist, verdammter!“

„Was ist?“, fragt mich Ryan und sieht ehrlich besorgt aus.

„Ich wurde meines Hauses verwiesen.“

„Und jetzt?“

Ich zucke die Schultern und gehe einfach mal Richtung Ausgang.

„Wo willst du denn jetzt hin?“

„Keine Ahnung! Woher soll ich das wissen?“

„Kannst du irgendwo bleiben?“

„Wird sich schon was finden.“

„Jordan, jetzt warte doch. Renn doch nicht einfach weg!“

„Was will ich denn hier noch?“

„Was ist mit meinem Bruder?“

„Was soll mit ihm sein? Er ist versorgt und deine Mutter lässt mich sowieso nicht zu ihm, also.“

„Was ist passiert? Warum ist meine Mutter so wütend auf dich?“

„Aus dem gleichen Grund, warum mein Ehemann wütend auf mich ist.“

„Du hattest was mit Xander?“

„Schlaues Kind.“

„Und deshalb hat er das getan? Das versteh ich nicht.“

„Was gibt es da nicht zu verstehen? Er wollte mehr, ich habe mich für meine Familie entschieden. Das war’s.“

„Liebst du ihn noch?“

„Keine Ahnung, ich weiß nicht. Ich weiß gerade gar nichts, also stell nicht so viele Fragen, okay?“

„Aber jetzt warte doch mal! Mein Auto steht da hinten, ich kann dich bringen, wohin du willst. Du musst mir nur sagen, wohin.“

„Ich weiß nicht …“

„Darf ich dir einen Vorschlag machen?“

Ich bleibe stehen und nicke.

„Komm mit zu mir und schlaf erst mal. Du siehst aus wie eine wandelnde Leiche. Danach kannst du immer noch überlegen, wie es weitergeht.“

„Ich bin nicht müde. Ich muss mich bewegen, etwas tun.“

„Dann essen wir erst noch eine Kleinigkeit. Komm schon. Es ist nicht weit bis zu mir. Na, was sagst du?“

Ich zucke die Schultern.

„Okay. Dann hier entlang.“

Eine halbe Stunde später finde ich mich in einer Studenten-WG wieder. Ich schaue mich gar nicht lange um, denn plötzlich kann ich kaum noch die Augen offenhalten und lasse mich einfach in ein Bett fallen.

Als ich aufwache, ist es dunkel. Ich fühle mich immer noch müde, und da ich mich sowieso nicht orientieren kann, bleibe ich einfach liegen, lausche eine Weile in die Stille und schlafe wieder ein.

Als ich zum zweiten Mal aufwache, ist es hell. Ich habe mein Handy in der Hosentasche, der Akku ist leer. Ich brauche dringend eine Dusche und Sachen zum Umziehen. Und überhaupt, ich will nach Hause. Ich will zu meinen Kindern, zu Dylan.

Erst mal suche ich das Bad, dann ein Telefon. Ryan begegnet mir in der Zeit nicht, nur ein gleichgültiger Mitbewohner.

Okay Dylan, bitte geh ran.

„Hallo?“

„Josh, hey, ich bin’s.“

Schweigen.

„Ist Dylan da?“

„Was willst du, Jordan?“

Warum kann er mich nicht Dad nennen? Ob er überhaupt weiß, wie wichtig mir das ist?

„Ich will nach Hause kommen.“

„M-hm. Ich geb dir Dylan.“

„Hallo.“

Sein Tonfall ist eisig. Ich bekomme Gänsehaut.

„Bitte, lass mich nach Hause kommen.“

„Such dir was, wo du ein paar Tage bleiben kannst. Ich brauche Zeit.“

„Aber die Kinder …“

„Vermutlich willst du einige deiner Sachen und dein Auto. Komm in einer Stunde vorbei, bis dahin sind alle unterwegs. Ich lege jetzt auf.“

Ich komme nicht mal dazu, auch nur einen Ton herauszubringen, da höre ich schon das Klicken in der Leitung.

Ich hinterlasse einen Zettel für Ryan und stelle fest, dass ich nicht mal genügend Bargeld für ein Taxi bei mir habe. Ich muss erst in einen Supermarkt und mir von meiner Karte etwas ausbezahlen lassen.

Eine halbe Stunde später finde ich das Haus verlassen vor. Ich dusche erst mal, dann sitze ich eine Weile auf dem Bett, starre vor mich hin, hoffe, dass Dylan vielleicht bald zurückkommt. Irgendwann packe ich doch die wichtigsten Dinge zusammen. Kleidung, mein Notebook, meine Gitarre. Ich weiß nicht, auf wie lange ich mich einstellen muss. Ein paar Tage? Wochen? Für immer? Dylan wird sich doch wieder beruhigen, oder? Das kann es doch nicht gewesen sein. Allein um der Kinder Willen wird er unsere Ehe nicht aufgeben. Oder?

Ich kann das jetzt nicht, ich kann jetzt nicht anfangen zu heulen. Ich muss mir etwas überlegen. Soll ich mir ein Zimmer nehmen? Aber will ich jetzt wirklich alleine in irgendeinem Motel sitzen? Soll ich Vince um Asyl bitten? Das ist eine schlechte Idee. Dylan könnte daraus die falschen Schlüsse ziehen. Wohin dann? Zu Janet. Ja, als Erstesfahre ich zu ihrem Studio, so mach ich’s. Soll ich mich zuvor noch nach Xander erkundigen? Aber wozu? Ich kann doch eh nichts machen, ihn nicht mal besuchen. Nicht nur wegen seiner Mutter. Wenn Dylan herausfinden würde, dass ich … nein. Ich darf Xander nicht mehr sehen. Nie wieder. Das ist die Bedingung, ansonsten hat meine Ehe überhaupt keine Chance mehr. Ich packe meine Taschen ins Auto, steige ein und warte noch genau fünf Minuten darauf, dass Dylan nach Hause kommt. Fehlanzeige.

Wie konnte es nur so weit kommen? Ich dachte, ich hätte diese Seite von mir hinter mir gelassen. Dieses Talent, einfach alles zu zerstören, wenn es am Schönsten ist. Ich habe zwei Babies! Ich habe alles, was ich mir je gewünscht habe! Was stimmt denn nicht mit mir? Warum mache ich so was? Warum hab ich das dem Mann angetan, den ich wirklich von ganzem Herzen liebe? Natürlich empfinde ich noch etwas für Xander, aber er bedeutet mir doch nicht annähernd so viel wie Dylan! Aber wer würde mir das jetzt noch glauben?

Jordan hat es mal wieder versaut. Genau wie früher. Alles beim Alten.

Ich stehe erstaunlich gefasst vor dem Ink & Needle, atme noch einmal tief durch, genieße kurz die Sonnenstrahlen in meinem Gesicht. Dann betrete ich das gekühlte Studio, die altmodische Türklingel kündigt mich an.

„Bin gleich vorne!“, ruft Janet aus dem Pierceraum.

„Lass dir Zeit, ich bin’s nur“, schreie ich zurück.

„Ah, cool!“

Wenige Momente später kommt sie durch den lila Samtvorhang und strahlt mich an.

„Na, Fremder? Schon lange nicht mehr gesehen. Ich hoffe du hast Babyfotos dabei!“

Sie zieht mich in eine Umarmung und … das war’s. Von einem Moment auf den anderen kann ich einfach nicht mehr. Ich halte mich an ihr fest, bete, dass sie mich so schnell nicht loslässt, und ringe um Fassung. Sie hält mich, streichelt mich, küsst meine Wangen.

„Was ist denn bloß los? Ist was mit den Babies?“

Ich schüttle schnell den Kopf, lasse ihr etwas Raum um mich anzusehen und sage dann:

„Ich brauche für ein paar Tage eine Bleibe. Dylan und ich, wir … er hat rausgefunden, dass ich mit Xander geschlafen habe.“

„Was?! Wann? Vergiss es, das ist jetzt nicht wichtig. Setz dich. Ich bringe dir was zu trinken und dann unterhalten wir uns in Ruhe, ja?“

Ich nicke.

Sie verschwindet kurz hinter dem Vorhang und kommt mit einer Flasche Wasser und einer Kundin, die noch schnell bezahlt, zurück. Dann sind wir alleine und sie setzt sich dicht neben mich auf die kleine Wartebank.

„Okay, also was brauchst du?“

„Dylan hat mich gebeten, vorerst nicht nach Hause zu kommen.“

„Du kannst natürlich bei mir bleiben.“

„Ich weiß aber nicht, wie lange …“

„Das ist doch kein Problem.“

„Aber nächste Woche kommt doch Tobey zurück, ihr wollt sicher allein sein.“

Die beiden sind ein Paar. Am Anfang haben sie sich nur ab und zu getroffen, wenn Tobey in der Stadt war. Inzwischen wohnt er bei ihr, wenn er nicht gerade in der Weltgeschichte herumreist.

„Jordan, hör schon auf. Außerdem weißt du nicht, ob Dylan sich nächste Woche vielleicht schon beruhigt hat.“

Ich zucke nur zweifelnd die Schultern.

„Oder … ich hab da noch eine Idee. In der WG sind gerade zwei Zimmer frei. Wäre das vielleicht eine Idee? Ich meine, es ist schließlich deine Wohnung …“

„Ja, das wäre tatsächlich eine Idee …“

Dylan und ich haben damals beschlossen, die Wohnung Kids aus dem Zentrum zur Verfügung zu stellen. Natürlich nicht umsonst, das würde ausgenutzt werden, aber sehr günstig. Wir wollen die unterstützen, die einen Job suchen und dafür einen festen Wohnsitz brauchen. JJ, die Bassistin von Anavrin, war eine der Ersten, die eingezogen ist. Inzwischen leben sie und ihr Freund in einer eigenen Wohnung und arbeiten als Assistenten in einer Independent-Movie-Produktionsfirma. JJ hat sogar eine eigene Band gegründet. Und dafür, dass sie nur zum Spaß zusammen spielen, sind sie verdammt gut.

Die meisten der Kids wohnen nur ein paar Monate in der WG, so ist es ja auch gedacht. Allerdings hat das zur Folge, dass ich die meisten unserer Mieter gar nicht kenne. Dylan regelt das vom Zentrum aus.

„Ich fahr dann gleich mal hin.“

„Warte. Kann ich nichts für dich tun?“, fragt Janet sichtlich besorgt.

„Ich hätte mal wieder Bock auf eine Rundumerneuerung …“

„Gute Idee. Komm doch einfach heute Abend zu mir. Und falls es mit der WG nicht klappt, lass dir von Joe den Schlüssel zu meiner Wohnung geben, ja?“

„Danke Janet.“

Sie umarmt mich noch mal.

„Ist doch klar. Ich hab dich verdammt lieb, Jordan.“

„Und ich dich.“

„Das wird schon alles wieder.“

„Das hoffe ich …“

Ich steige die Treppen hoch, ein Mal mehr. Das wird mein dritter Einzug in diese Wohnung. Bisher war es immer ein neuer Anfang. Mit Vince, mit Nikki … doch diesmal ist es anders. Es fühlt sich nach Scheitern an, nach einem Ende. Ich verdränge den Gedanken.

„Warte!“

Ich halte inne, kurz bevor mein Zeigefinger den Klingelknopf erreicht, und sehe mich um. Die Treppe hoch stürmt eine vielleicht zwanzigjährige Latina. Wunderhübsch aber etwas zu aufgedonnert für meinen Geschmack. Ich frage mich, wie sie es mit ihren hochhackigen Schuhen schafft, die Stufen so sicher zu erklimmen.

„Bist du auch wegen dem Zimmer hier?“, fragt sie.

„Äh, ja, kann man so sagen.“

„Du bist also der Feind“, lächelt sie charmant.

„Soweit ich weiß, sind zwei Zimmer frei. Darf ich jetzt klingeln?“

„Momentchen noch.“

Sie kramt einen Klappspiegel aus ihrem Handtäschchen und wischt sich ein wenig im perfekt geschminkten Gesicht rum. Dann werden noch ein paar Haarsträhnen zurechtgezupft. Endlich gibt sie mir mit einem Nicken zu verstehen, dass ich klingeln soll. Ich verdrehe die Augen, was mir einen Klaps an die Schulter einbringt.

Die Tür öffnet uns ein … korpulenter Skin, den ich noch nie im Leben gesehen habe. Bevor ich etwas sagen kann, höre ich schon in flirtendem Tonfall:

„Hallo, mein Großer. Wir kommen wegen der Zimmer. Es sind doch zwei frei, richtig?“

„Ähm, ja … aber eigentlich … also eigentlich sind die nur für Leute aus unserem Zentrum gedacht.“

„Na na, sei doch mal offen für Neues. Eure Leute haben einen Aushang im Sozialforum ans Schwarze Brett gemacht. Schließlich belegt ihr da derzeit die besten Räume! Da stand, dass die WG für Leute gedacht ist, die neu anfangen wollen. Tadaaa, hier bin ich.“

„Na schön, dann kommt erst mal rein.“

Dafür, dass hier eine Horde Jugendliche haust, ist es recht aufgeräumt. Die Meerjungfrau lächelt uns von über der Couch aus an, meine Begleiterin ist sofort begeistert und dreht sich wie eine Ballerina im Kreis, um alles zu betrachten. Der Koloss wirft mir einen verstörten Blick zu, den ich nur erwidern kann.

„Herrliches Licht! Kann ich mein Zimmer sehen?“

„Mal langsam. Ich muss das noch mit den anderen besprechen. Und mit dem Vermieter. Und was ist eigentlich mit dir?“

Er schaut mich skeptisch an.

„Ich? Ja ich … ich würde das dann gerne selbst mit dem Vermieter klären, wenn ihr euer Okay gegeben habt.“

„Wie du willst.“

„Und wann kommen die anderen nach Hause?“, drängelt die Diva.

„Die sind zuhause. Oben. Und möchten bitte nicht gestört werden“, grinst er anzüglich.

„Wunderbar, und wir warten jetzt hier, bis die fertiggepoppt haben? Bietest du uns wenigstens Kaffee an?“

Ihr Tonfall ist zwar zickig, aber gleichzeitig auch so, dass man ihn ihr nicht übel nimmt. Faszinierend.

„Kann ich mein Handy kurz aufladen?“, frage ich freundlich und bekomme als Antwort einen Fingerzeig zur nächsten Steckdose.

Zum Glück kommt dann auch schon ein Mädchen mit kurzen, schwarzen, teils rasierten Haaren die Wendeltreppe runter. Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass hier jetzt Fremde wohnen, wo ich meine Tochter aufgezogen habe …

„Oh, hey, wir haben Besuch.“

„Ja, die Zwei sind wegen der Zimmer hier.“

„Ah, okay … Wie habt ihr denn davon erfahren?“

„Scheinbar hat jemand im Forum Flyer verteilt“, erklärt der Koloss.

„Das wird wohl Dylan gewesen sein. Habt ihr die Zimmer schon gesehen?“

Wir schütteln den Kopf.

„Na dann kommt mit.“

Sie zeigt uns das ehemalige Büro und Joshs Zimmer, in dem immer noch die Sonne und der Baseballer die Wände schmücken. Ria, so heißt die Diva, ist sofort begeistert. Möbliert sind die Zimmer auch schon. Eigentlich könnte man sofort einziehen. Inzwischen ist auch der dritte Mitbewohner aufgetaucht. Walt. Das Mädchen heißt Sally und der Dicke nennt sich tatsächlich Biggs.

„Also wenn Dylan sein Okay gibt, dann könnt ihr einziehen.“

„Und wie bekommen wir dieses Okay?“

„Ich ruf ihn mal an“, erklärt Sally.

Mir wird heiß. Warum habe ich eigentlich nicht gleich gesagt, wer ich bin? Weil ich nicht erklären müssen wollte, warum ich ein Zimmer brauche. Sally verschwindet in der Küche und kommt kurz darauf mit dem Telefon in der Hand zurück.

„Er kann gerade nicht vorbeikommen, sondern will das telefonisch klären.“

Sie reicht Ria den Apparat. Die verschwindet ebenfalls in der Küche und kommt nach ein paar Minuten bestens gelaunt zurück.

„Du bist dran. Keine Sorge, der Kerl ist voll nett.“

Tja, nicht wenn man ihm gerade fremd gegangen ist …

Ich verziehe mich und stelle sicher, dass ich außer Hörreichweite bin, bevor ich etwas sage.

„Hallo Dylan.“

„Ehm … Jordan?“

„Ja, … ich brauche ein Zimmer, wie du weißt und … das Ganze hier ging irgendwie so schnell. Ich kam nicht dazu, zu erklären, wer ich bin und vielleicht sollten wir es auch erst mal dabei belassen? Ich meine … wenn du das für eine total bescheuerte Idee hältst, dann ziehe ich in ein Motel …“

„Nein. Es ist deine Wohnung.“

„Unsere. Also geht das okay?“

„Ja.“

„Ist mit den Zwillingen alles okay? Wie geht es Jake?“

„Er hat kein Fieber mehr. Alles bestens.“

„Wann kann ich die beiden sehen?“

„Können wir das später besprechen? Ich muss gleich los.“

„Oh … klar. Dann gebe ich dir jetzt wieder Sally.“

Die redet noch kurz mit ihm, dann klärt sie mit uns das Finanzielle. Ria kündigt an, am Abend mit ihrem Zeug zurückzukommen, ich hole meine Taschen aus dem Auto und packe im ehemaligen Büro aus. Die anderen gehen ihre eigenen Wege, ich schaue erst mal in den Laden.

Joe habe ich schon ein paar Monate nicht mehr gesehen. Er wird langsam alt, geht wohl auch schon auf die Sechzig zu.

„Ja wer kommt denn da? Was führt dich denn hier her?“

„Lange Geschichte.“

„Alles klar?“

„Nein, eigentlich nicht. Ich hab ganz schön Scheiße gebaut … und jetzt wohne ich vorerst wieder in der alten Wohnung.“

Er schaut mich an, als würde ich chinesisch reden. Ich erkläre:

„Ich bin fremdgegangen. Bitte keine Vorträge, ich fühle mich beschissen deswegen, aber ich kann es nicht mehr ändern. Jetzt muss ich drauf hoffen, dass Dylan mich irgendwann zurück nimmt.“

Er nickt nur, aber ich sehe in seinen Augen, dass er ziemlich enttäuscht von mir ist. Aber auch das kann ich nicht ändern. Ich fange ein Gespräch über Musik an, er lässt sich zögerlich drauf ein. Dann reden wir noch über Tobey. Joe ist mit Janets Wahl zwar zufrieden, aber dass er so wenig zu Hause ist, findet Joe natürlich nicht gut. Janet sei oft gereizt oder traurig oder einfach niedergeschlagen. Sehr nachvollziehbar, aber sie hat ja gewusst, worauf sie sich bei Tobey einlässt.

„Das glaub ich jetzt nicht!“, schieße ich hervor, als ich durch das Schaufenster auf die Straße blicke.

„Die hat ordentlich aufgeladen“, grinst Joe.

Ria stöckelt vorbei, beladen wie ein Maultier. Sie sieht aus, als könne sie jeden Augenblick unter ihrer Last zusammenbrechen.

„Das ist meine neue Mitbewohnerin. Ich geh ihr mal helfen.“

„Ganz der Gentleman, ich seh schon.“

„Legst du die für mich zurück?“, frage ich auf den CD-Stapel deutend, den ich mal wieder angehäuft habe.

„Klar.“

„Hey, Ria! Kann ich dir vielleicht was abnehmen?“

Kommentarlos drückt sie mir zwei Koffer in die Hand, die vom Gewicht her mit Ziegelsteinen gefüllt sein müssen.

„Was ist denn da drin?“, stöhne ich.

„Schuhe, was denkst du denn?“, zwinkert sie.

„Klar, warum frage ich überhaupt?“

Sie hat immer noch schwer an zwei Umhängetaschen und einem großen Rucksack zu schleppen. Und das alles in High Heels. Warum tut sie sich das bloß an? Mit den vierzehn Zentimeter hohen Absätzen ist sie fast so groß wie ich. Ohne die Dinger wäre sie vermutlich knappe einssiebzig.

Endlich oben angekommen, schnaufe ich wie nach einem Dauerlauf. Ria hingegen behält ihre Contenance. Imposant. Ich stelle die Koffer im ehemaligen Kinderzimmer meines Sohnes ab und ziehe mich erst mal zurück, um Ria in Ruhe ihre Schuhe und den Rest auspacken zu lassen und noch mal zuhause anzurufen.

„Hallo?“

„Hey Kate. Ist Josh da?“

„Warte.“

Eine längere Stille folgt. Dann:

„Ich soll nein sagen.“

„Verstehe. Und Dylan?“

„Der ist noch unterwegs.“

„Sind die Zwillinge bei euch?“

„Ja.“

„Kommt ihr klar?“

„Ja natürlich, keine Sorge.“

„Okay. Und Gwen?“

„Ist bei Nikki.“

„Gut. Ich rufe morgen wieder an.“

„Okay. Bye Jordan.“

Na gut, wenn ich auch Josh und die Zwillinge nicht sehen kann, bleibt zumindest Gwen.

„Buick.“

„Hey Nikki. Ich wollte fragen, ob ich den morgigen Nachmittag mit Gwen verbringen kann.“

„Warte, ich schaue auf den Kalender. … Da steht nichts weiter an. Kannst du sie dann um eins aus der Vorschule abholen?“

„Sicher. Alles klar, also …“

„Warte mal. Was ist denn bei euch los? Josh wollte nicht drüber reden …“

„Lange Geschichte. Ich erzähle sie, wenn ich Gwen morgen Abend zurückbringe, ja?“

„Okay.“

Immerhin etwas, vorauf ich mich freuen kann. Ein paar Stunden mit meiner Tochter. Und am Vormittag steht ein Seminar an. Damit werde ich also erst mal beschäftigt sein.

Gegen Abend, ich schreibe gerade etwas für ein Seminar zusammen, klopft es an meiner Zimmertür.

„Ja?“

Rias perfekt geschminktes Gesicht erscheint.

„Hey. Ich wollte fragen, ob du vielleicht mit mir kochen willst, so zum Einstand?“

„Gute Idee. Ich brauch noch zehn Minuten.“

Ich gehe also mit Ria (die natürlich High Heels trägt) ein paar Zutaten einkaufen und anschließend verköstigen wir die ganze WG. Niemand stellt persönliche Fragen, fällt mir auf. Musik ist ein großes Thema. Filme, Prominenz in der Nachbarschaft … und auch das Zentrum und Dylan. Da ziehe ich mich lieber zurück.

Ich schlafe relativ schnell ein und kann mich am nächsten Morgen an keine Träume erinnert. Aber alleine aufzuwachen ist scheiße. Ich vermisse Dylan. Unglaublich arg. So sehr, dass es sogar körperliche Auswirkungen hat. Mir ist richtig übel und wenn ich die Augen schließe, meine ich, seine Hand auf meinem Bauch zu spüren, so wie jeden Morgen. Hoffentlich nimmt er mich bald zurück, lange halte ich das nämlich nicht aus, denn irgendwann muss ich schließlich die Augen aufmachen und dann ist er weg.

Nach meinen Seminaren fahre ich gleich Gwen abholen. Wir gehen was essen, sie erzählt von den Kindern aus ihrer Vorschulklasse, von allem, was sie dort lernt, von Cooper und noch viel mehr. Ich höre ihr gebannt zu, starre auf ihren Mund, den ich sehr gut von meinem eigenen Spiegelbild kenne. Danach gehen wir am Strand spazieren, waten durch das Wasser, scherzen, jagen uns, lachen, kuscheln … Und Gwen erzählt von ihrem neuen Hobby: Dem fotografiert werden. Und zwar für Kataloge und so. Das ist mir neu.

Gegen fünf wird es Zeit, Gwen zu ihrer Mutter zu bringen.

„Na ihr zwei? Hattet ihr einen schönen Tag?“

„Daddy hat mir ein Armband geschenkt, schau!“

„Lila Leder? Das ist … außergewöhnlich.“

„Das ist doch bloß gefärbt, Mummy!“, belehrt Gwen ihre Mutter.

„Soso. Willst du noch rein kommen, Jordan?“

„Gern.“

Ich werde zum Essen eingeladen. Gwen und Cooper spielen im Wohnzimmer, Oliver ist noch nicht zu Hause. Nikki und ich stehen in der Küche und waschen und schnippeln Salat und Gemüse.

„Also, was ist denn jetzt bei euch zu Hause los?“, fragt Nikki vorsichtig.

„Wir haben … eine Krise. Dylan braucht etwas Zeit … und ich wohne solange wieder in der alten Wohnung.“

„Details wirst du mir eh nicht erzählen, oder?“

„Eher nicht.“

„Na gut … aber Josh scheint das Ganze sehr mitzunehmen, also …“

„Ja, ich rede mit ihm, sobald er mich lässt.“

„Okay.“

„Ich hab auch noch eine Frage.“

„Ja?“

„Gwen hat erzählt, sie macht Katalogfotos?“

„Ah, ja. Das war Zufall. Angefangen hat es mit ein paar Fotos fürs Magazin und der Fotograf meinte, dass Gwen sich echt gut angestellt hat und ihr hat es auch unheimlich Spaß gemacht. Er hat die Bilder einem seiner Kunden gezeigt und der wollte Aufnahmen von ihr für seine Kinderkollektion. Nichts Besonderes. Inzwischen kamen ein paar andere Anfragen. Ich hab mit Gwen geredet und sie wollte gern weiter machen. Also waren wir bei zwei weiteren Shootings.“

„Ich weiß nicht, Nikki …“

„Warum denn nicht, solange es ihr Spaß macht? Das Geld wird gut angelegt. Mit sechzehn kann sie sich davon ein Auto kaufen.“

„Das hat sie doch echt nicht nötig.“

„Nein, aber Spaß machen tut es ihr trotzdem und ich werde es ihr nicht verbieten. Du?“

„Nein, aber ich wäre gern mal bei einem Shooting dabei.“

„Ich sag dir Bescheid, wenn wieder was ansteht.“

„Okay.“

Nach dem Essen mache ich mich auf den Weg zurück in mein provisorisches Zuhause, das ich den Tag über halbwegs erfolgreich verdrängt hatte. Ich rufe auf Dylans Handy an, während ich vom Auto zum Haus gehe.

„Hey Jordan.“

„Hallo. Ist alles okay bei euch?“

„Ja, allen geht es gut.“

„Will Josh immer noch nicht mit mir sprechen?“

„Nein …“

„Kannst du ihn für mich darum bitten?“

„Das habe ich schon, Jordan. Was denkst du denn? Dass ich zwischen dir und deinem Sohn stehen will?“

„Nein, natürlich nicht …“

„Also dann …“

Der Tonfall erklärt das Gespräch für beendet.

„Ja, bis morgen dann.“

In der WG ist niemand zu sehen. Ich gehe erst mal duschen. Danach sitzt Ria im Wohnzimmer und lackiert sich die Nägel.

„Hey.“

„Oh hey Jordan. Ich wusste gar nicht, dass du zu Hause bist. Schönes Tattoo.“

Sie deutet auf meinen Bauch.

„Danke. Sag mal, schminkst du dich eigentlich nie ab?“

„Natürlich nicht! Weißt du, wie lange es dauert, das neu zu schminken?“

„Aha. Na gut, ich geh schlafen.“

„Es ist noch nicht mal neun.“

„Ich muss morgen arbeiten.“

„Du hast einen Job?“

„Jip.“

„Sag mal, so wirklich bedürftig kommst du mir nicht vor. Dein Notebook, dein Handy …“

„Mhm.“

„Weißt du, es gibt Leute, die auf ein günstiges Zimmer angewiesen sind.“

„Ich weiß. Ich habe nicht vor, lange zu bleiben. Ich hab nur schnell was gebraucht, wo ich ein paar Tage bleiben kann. Wenn jemand auftaucht und das Zimmer will, dann nehme ich einfach die Couch.“

„M-Hm.“

Ihre Haltung, ihr Tonfall … das alles erinnert mich unweigerlich an Patrick, wenn er einen auf Queen gemacht hat. Und plötzlich sehe ich es. Der Adamsapfel! Die breiten Handgelenke! Dass ich DAS nicht gemerkt habe?! Ich lache über mich selbst.

„Was ist so komisch?“, fragt sie herausfordernd.

„Sag mal, Ria: Kann es sein, dass du ein Kerl bist?“

Ihre Gesichtszüge sind plötzlich nicht mehr so beherrscht wie sonst. Sie springt auf und zerrt mich in ihr Zimmer, schließt die Türe hinter uns und baut sich bedrohlich vor mir auf, wobei sie allerdings fast einen Kopf kleiner ist als ich, da sie die High Heels gegen Plüschpantoffeln eingetauscht hat.

„Jordan, ich warne dich, wenn du mir Probleme machen willst …“

„Ganz ruhig, das war nicht meine Absicht. Also hab ich recht?“

„Das behältst du gefälligst für dich! Wenn diese Skins das mitbekommen, weiß ich nicht, was sie tun.“

„Warum bist du dann überhaupt hier eingezogen?“

„Aus Mangel an Alternativen. Also, kann ich auf deine Verschwiegenheit vertrauen?“

„Sicher.“

Mein Handy klingelt.

Vinces Nummer.

„Hey.“

„Hey Jordan. Ich wollte mich nur mal melden … und fragen, ob du schon mit Scott gesprochen hast.“

„Mit Scott? Wieso hätte ich … oh, das … das hatte ich irgendwie verdrängt … ehm, kann ich dich gleich zurückrufen?“

„Ja, aber eigentlich wollte ich nur fragen, was du Freitagabend vorhast.“

„Nichts, bisher. Warum?“

„Ich hab da eine Partyeinladung … ich kann Leute mitbringen und dachte, das wäre eine Gelegenheit, mal wieder was zusammen zu unternehmen.“

„Klar, gerne.“

„Ich kann dich abholen. Gegen neun?“

„Alles klar. Dann bis dann.“

„Ja, bis Freitag.“

Oh, ich werde ihm wohl noch schreiben müssen, dass er mich nicht zu Hause, sondern hier abholen muss … Ria sieht mich immer noch skeptisch an.

„Ria, mach dir keine Gedanken. Ich sag es niemandem.“

Eigentlich erwarte ich einen kecken Spruch, aber sie sieht mich immer noch ängstlich an. Es gibt nur eine Sache, die ich jetzt sagen kann, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

„Ich bin schwul, Ria.“

Ihre Augen werden noch größer als sie mit der ganzen Schminke ohnehin schon aussehen.

„Wirklich?“

„Wirklich.“

Sie lächelt. Zwischen uns herrscht plötzlich eine Vertrautheit, die da Sekunden zuvor noch nicht war.

„Danke, dass du es mir gesagt hast.“

„Klar.“

Sie umarmt mich, ich gebe ihr ein Küsschen auf die Wange.

„Aber jetzt muss ich wirklich ins Bett. Ich muss morgen um sechs am Set sein.“

„Am Set?“

„Ich bin im Autorenteam für eine Daily-Soap und donnerstags ist immer noch eine Besprechung vor Drehbeginn. Einteilung für die nächste Woche und so.

„Wow! Genialer Job!“

„Ja, macht Spaß. Aber reich wird man davon nicht.“

„Das wissen wir alle spätestens seit dem Autorenstreik letztes Jahr“, grinst sie.

Am nächsten Tag komme ich erst am späten Nachmittag nach Hause. Ich vermisse Dylan, die Kinder, bin einfach nur total geschafft und sehne mich nach meiner Familie. Ich rufe zuhause an. Niemand geht dran. Dann auf Dylans Handy. Nach einer Ewigkeit meldet er sich endlich.

„Hey, ich bin noch unterwegs, aber alles ist okay.“

„Okay.“

„Also …“

„Warte, bitte!“

„Jordan, ich muss echt …“

„Okay. Aber ich liebe und vermisse dich. Und ich bitte dich, lass uns reden, am Wochenende.“

„Ich denke darüber nach. Bye.“

KLICK

Schön. Da fühl ich mich doch gleich besser. Erst mal duschen. Dann schaue ich zu Joe in den Laden und danach bin ich den ganzen Abend mit meinen neuen CDs beschäftigt und versinke in Selbstmitleid. Irgendwann fällt mir auf, dass kein einziger meiner Gedanken Xander galt. Nur den Kindern und vor allem Dylan. Ich fühle mich so … halb, ohne ihn. In jeder Beziehung. Körperlich und geistig. Ich vermisse es, mit ihm über den Tag zu reden, ich vermisse seine vertrauten Blicke in einem Raum voller Fremder, ich vermisse sein Lachen, seine Berührungen, sogar seinen konzentrierten Blick in seinen PC, wenn er abends noch was arbeitet und kaum ansprechbar ist. Ich brauche ihn und dass er sich mir so versagt, ist grausam.

Am nächsten Morgen wache ich in voller Montur auf meinem Bett auf. Der CD-Player läuft sogar noch, ein Taschentuchhaufen neben mir. Ich verdränge den Impuls, etwas zu tun, um Dylan zurückzubekommen, denn der Schuss würde gehörig nach hinten losgehen. Er braucht Zeit und ich muss warten und hoffen.

Den Tag über habe ich nicht viel zu tun. Gwen hat eine Geburtstagsfeiereinladung, Seminare stehen nicht an, am Set bin ich freitags auch niemandem von Nutzen. Ich gehe an den Strand, aber alleine ist das auch doof, also frage ich mal bei Janet an, ob sie Zeit hat, meine Retro-Umstyleaktion in Angriff zu nehmen.

Sie sagt zu und eine halbe Stunde später stehe ich, ausgerüstet mit Standardblondierung und grüner Lebensmittelfarbe, bei ihr im Studio.

„Hey.“

„Hey. Na, wie geht’s dir? Hast du schon was von Dylan gehört?“

„Lass uns das Thema heute einfach ausblenden, okay?“

„Verstehe. Also, was hast du dir so vorgestellt?“

„Das Übliche. Und ein Brauenpiercing.“

„Cool. Also … hast du da Blondierung dabei?“

„Ja. Warum schaust du so komisch? Glaubst du, dass ich inzwischen aus dem Iro-Alter raus bin?“

„Quatsch, das wird großartig aussehen. Okay … du musst mir absolute Verschwiegenheit schwören, Jordan.“

„Öhm, okay …“

„Ich mach dir den Iro und das Piercing. Kein Problem. Aber das Blondieren wirst du selbst übernehmen müssen. Ich bin schwanger.“

„Was?! Das … von Tobey?“

„Natürlich! Was denkst du denn?!“

„Aber der war doch …“

„… Weihnachten das letzte Mal hier, ja. Zum Glück sind diese Babydoll-Tops jetzt in.“

Sie rafft ihr Oberteil zusammen und man erkennt eine deutliche Wölbung. Wir lachen, fallen uns in die Arme, ich kann es gar nicht glauben!

„Bisher weiß es niemand. Also …“

„Tobey auch nicht?“

„Ich wollte warten, bis ich es ihm persönlich sagen kann. Und da er im März dann doch nicht heimkommen konnte, ist es jetzt irgendwie schon etwas spät dafür.“

„Der wird ausflippen!“

„Aber vor Freude, oder?“

Janet schaut mich ernsthaft besorgt an. Ich drücke sie noch mal.

„Natürlich! Bist du irre?! Er ist total verrückt nach dir und Kinder mag er auch. Also, warum nicht Kinder mit dir?“

„Ich werde auch nicht von ihm erwarten, dass er hier bleibt. Ich bekomm das schon alles irgendwie hin …“

„Du hast ja auch noch Joe und mich natürlich. Ich hab noch einiges an Babysitten bei dir gutzumachen. Das wird toll. Die Zwillinge werden ja kaum ein halbes Jahr älter sein. Strahl gefälligst und freu dich auf das Baby!“

Und das tut sie dann auch endlich.

Zwei Stunden später verlasse ich das Studio und fühle mich endlich wieder total wie ich selbst. Schon seltsam, dass ich immer wieder zu diesem Stil zurückkehre. Nein, das eigentlich Seltsame ist, dass ich mich immer wieder davon entferne, ohne es wirklich zu merken.

Inzwischen ist es fast fünf. Ich hole mir gleich noch was zu essen vom Chinesen und komme in eine leere Wohnung. Als ich die Frühlingsrollen und den gebratenen Reis gerade vernichtet habe, kommen alle vier Mitbewohner auf einmal nach Hause, gackern vor sich hin, lachen zusammen, als wären sie die dicksten Freunde. Hab ich was verpasst?

„Jordan! Was hast du denn angestellt?“, fragt Sally offensichtlich mäßig begeistert, den ‚Feind’ in ihrem Wohnzimmer sitzen zu sehen.

„War beim Friseur.“

„Ja, das sehen wir.“

„Also ich finde es chic“, trällert Ria.

„Dankeschön.“

„Also so können wir ihn aber nicht mit ins Forum nehmen“, erklärt Biggs.

„Ins Forum?“

„Ja, unsere lieben Sozis meinen, eine gemeinsame Party würde die verschiedenen Gruppen einander näherbringen.“

„Und deshalb gehen wir da alle zusammen hin. Du kommst doch auch, oder?“

„Ich hab schon was vor, also …“

„Jordan, das kannst du mir nicht antun! Du kannst mich doch nicht mit den Glatzen alleine lassen!“

Alle lachen. Was auch immer die heute getrieben haben, es scheint sie zu dicken Freunden gemacht zu haben.

„Sorry, nichts zu machen. Ich geh mal noch ein wenig vorschlafen.“

Gegen neun begebe ich mich vors Haus, um noch eine zu rauchen bevor Vince kommt, der auf meine SMS mit der Bitte, mich beim Plattenladen abzuholen, nicht geantwortet hat. Die anderen sind schon los zu ihrer Party. Ob Dylan wohl auch dort ist? Ein inzwischen vertrautes Klappergeräusch reißt mich aus meinen Gedanken. Ria stolziert auf mich zu.

„Ah, du bist noch hier? Wirst du abgeholt?“

„Ja, jeden Moment. Und was machst du schon wieder hier?“

„Mein Täschchen liegt noch in der Wohnung. Soll ich noch mit dir warten?“

„Wenn du willst?“

„Sicher. Also … hast du ein Date?“

„Nur ein alter Freund, der mich auf eine Party mitnimmt. Du hast sogar neben

mir gestanden, als er mich deshalb angerufen hat. Als ich rausgefunden habe, dass …“

„Ja, das“, unterbricht sie mich. „Darüber wollte ich auch noch mit dir sprechen …“

„Was gibt es denn dazu groß zu sagen, Ria?“

„Ich bin es eben nicht gewohnt, dass die Leute damit kein Problem haben …“

„Und jetzt?“

„Keine Ahnung.“

„Wie kommt’s, dass du dich mit unseren Mitbewohnern plötzlich so gut verstehst?“

„Dylan Handerson.“

Mein Herz bleibt stehen.

„Was?“

„Das ist unser Vermieter und einer der Betreuer im Forum. Aussteiger aus der rechten Szene. Er hat heute mit uns geredet, jeder hat von seinen Problemen erzählt und diese ganze Psychokacke. Und irgendwie haben wir bemerkt, dass wir alle in derselben Scheiße stecken, entschuldige meine Ausdrucksweise.“

„Ah …“

„Weißt du, der Kerl ist keiner von den üblichen Sozis, man merkt einfach, dass er einer von uns ist. Er hat diesen Panzer, den man nie wirklich ablegen kann, wenn man das Leben mal in seiner ganzen Härte erlebt hat. Weißt du, was ich meine? Also wenn du mal jemanden zum reden brauchst oder so …“

„Mhm, ja …“

Zum Glück nähert sich Vinces Cabrio. Er parkt und steigt aus. Toll sieht er mal wieder aus. Die perfekte Mischung aus Abendrobe und Lässigkeit, zwischen geschmackvoll und extravagant.

„Hey Vince, darf ich dir Ria vorstellen?“

„Guten Abend, schön dich kennenzulernen.“

Er gibt ihr einen Handkuss. Das habe ich ihn noch bei keiner Frau tun sehen.

„Oh, Dankeschön“, säuselt Ria fast verschämt.

„Begleitest du uns?“

„Nein, ich muss auf eine andere Party, leider.“

„Schade. Na gut, wir müssen los. Auf bald.“

„Ja, vielleicht. Viel Vergnügen, Jungs.“

Kaum sind wir eingestiegen und losgefahren, kann ich nicht mehr an mich halten.

„Was war DAS denn?“

„Was denn? Ich war nur höflich!“

„Ich dachte schon, du machst ihr gleich einen Antrag!“

„Ich bitte dich! Ria ist wunderschön! Ein Gesamtkunstwerk! Das wird man ja wohl noch würdigen dürfen.“

„Soso.“

„Du siehst auch sehr gut aus. Wie in alten Zeiten.“

„Ja, irgendwie war mir danach.“

„Musste ich dich deshalb hier abholen, weil Janet dir die Haare gemacht hat?“

„Nicht direkt … eigentlich wohne ich zurzeit wieder in der alten Wohnung.“

„Was?! Wieso? Ist was mit Dylan?“

Ich erzähle ihm die ganze Geschichte, das dauert eine Weile. Als ich gerade von meinem Einzug in die WG berichte, halten wir vor einer Villa.

„Wow, und wer wohnt hier?“

„Eine Galeristin und Freundin von mir. Ihr Mann hat eine Produktionsfirma. Es ist ihr Hochzeitstag, der Fünfundzwanzigste. Ich wollte nicht absagen, aber alleine hingehen wollte ich auch nicht. Aber wenn ich gewusst hätte, was bei dir zurzeit los ist …“

„Das ist schon okay. So komm ich wenigstens mal raus.“

„Das wird doch wieder, oder?“

„Ich hab Hoffnung. Und jetzt erkläre ich das Thema für beendet.“

Das Haus ist voll, das Buffet reichlich und nachdem mich Vince einigen Leuten vorgestellt hat, drehe ich erst mal ein paar Runden, treffe sogar den ein oder anderen Bekannten. Auf solchen Partys fühle ich mich schon lange nicht mehr unwohl. Das gehört eben zum Geschäft und ist auch nicht gerade unangenehm, zumindest in kleinen Dosen. Die großen Fische verabschieden sich nach und nach und ich habe den ein oder anderen Kontakt geknüpft. Im Musikgeschäft kennt mich so gut wie niemand mehr, dazu bin ich zu lange raus. Aber als Autor könnte ich vielleicht bald mal einen richtigen Treffer landen. Naja, mal sehen.

Vince sitzt etwas abseits und sieht nicht gerade fröhlich aus.

„Na? Machst du eine Pause?“, frage ich.

„Könnte man so sagen … Du bist echt gut in diesem Cocktailparty-Zeug geworden. Wir sollten das öfter zusammen machen.“

„Gern.“

„Kann ich dir etwas zeigen?“

„Sicher. Was denn?“

Er holt sein Handy hervor und lässt mich eine SMS lesen.

„Das hab ich vor fünf Minuten bekommen.“

'Danny schläft friedlich. Ich sehe ihn an und sehe so viel von dir in ihm, Vince. Ich vermisse dich. Collin'

„Oh …“

„Tut mir leid, ich wollte dich da nicht mit reinziehen. Ich sitze nur schon die ganze Zeit hier und weiß nicht, was ich antworten soll. Oder ob ich überhaupt antworten soll.“

„Ja, … ich meine, was ist mit Scott?“

„Keine Ahnung. Collin redet nicht mit mir darüber.“

„Aber ihr beide habt nicht mehr …?“

„Nein. Das ist vorbei. War vorbei … keine Ahnung.“

„Hör mal, das ist etwas, bei dem ich mich wirklich nicht einmischen sollte …“

„Ja, du hast recht. Aber das muss ja auch nicht gleich entschieden werden. Komm, ich muss dich noch ein paar Leuten vorstellen.“

Gegen Mitternacht machen wir uns auf den Heimweg. Gerade rechtzeitig, um dem Partygehabe nicht überdrüssig zu werden.

„Ich habe gerade beschlossen, Collin nicht zu antworten. Und wenn er morgen Danny nach Hause bringt, werde ich ihm sagen, dass ich solche Nachrichten nicht mehr bekommen will. Ich meine, das führt doch zu nichts. Ich bin froh, dass wir endlich den finalen Schlussstrich gezogen haben. War lange überfällig.“

„Gut, das ist eine gute Entscheidung, glaub ich.“

„Und ich habe mir überlegt, Ria um ein Date zu bitten.“

„Was? Echt?“

„Warum nicht?“

„Naja, sie ist … jung, zum Beispiel. Und … eigentlich sagst du doch immer, dass du auf richtige Kerle stehst?“

„Und wohin hat mich das gebracht? Ich will sie doch einfach nur mal besser kennenlernen. Bittest du sie für mich um ihre Nummer?“

„Kann ich machen. Krass, das ist echt untypisch für dich, dass du die Dinge so schnell angehst.“

„Worauf soll ich denn warten? Ich bin Single, das erste Mal seit … seit ich nach New York gezogen bin. Das Leben ist kurz.“

„Zu wahr. Na gut, dann werde ich mal sehen, was ich tun kann.“

„Und wenn du mal über dein Chaos reden willst …“

„Ich weiß, Vince. Danke, aber kein Bedarf.“

„Okay. Danke, dass du mich begleitet hast.“

„Gerne. Ich hatte ja auch was davon.“

„Ich habe Gerüchte gehört, dass Goldenburgh deine Karte behalten hat.“

„Er hat sie in die Innentasche seines Jacketts gesteckt.“

„Volltreffer!“

Zuhause riecht es lecker und aus der Küche kommen Stimmen. Ein Afterpartysnack, alles klar. Da schau ich doch mal vorbei.

„… aber was will man machen? Ich meine, klar wäre es scheiße, aber er hat es sich schon auch selbst zuzuschreiben“, höre ich Walt sagen.

„Bitte?!“, kreischt Ria.

Ich warte erst mal um die Ecke, in eine Diskussion will ich nämlich nicht platzen, ich dachte eher an eine fröhliche WG-Runde.

„Naja, du weißt schon, wegen der ganzen Schwulensache“, erklärt Walt.

Sally fügt hinzu:

„Ich meine, klar kann er machen, was er will. Aber wenn er damit an die Öffentlichkeit geht, dann muss er damit rechnen, dass das seinen Leuten von damals nicht gefällt.“

Geht es etwa um Dylan?

„Und deshalb soll er sich verstecken? Was wäre dann aus eurem Zentrum geworden?“, gibt Ria zu bedenken.

„Hey, ich sag ja nicht, dass er ein schlechter Kerl ist oder so was. Aber er steht nun mal auf der Abschussliste so einiger Leute und deshalb sollte man sich öffentlich nicht zu viel mit ihm abgeben“, höre ich Walt sagen.

„Sally hat draußen nur mit ihm geredet!“

„Ria, du musst mich nicht verteidigen. Walt hat ja recht. Das war unvorsichtig. Man weiß nie, wer von den Leuten ein Spitzel für Ron ist.“

„Dramatisiert ihr das Ganze da nicht etwas? Ich meine, dieser Dylan arbeitet ja nicht erst seit gestern im Zentrum und trotzdem hat er es bisher unbeschadet überstanden.“

„Dafür musste er aber Einiges tun.“

„Sally, sei still!“, zischt Biggs.

Einen Moment lang herrscht Stille. Dann sagt Walt ruhig:

„Die Dinge haben sich geändert. Einige Leute, die nicht gut auf ihn zu sprechen sind, sind aus dem Knast raus und man sieht ja auch, was mit dem Zentrum passiert ist. Ins Forum kann jeder reinspazieren, wie er will. Der Kerl sitzt auf dem Präsentierteller. Also haltet euch einfach von ihm fern. Das ist wohl nicht zu viel verlangt.“

„Also ich gehe schlafen.“

Bevor ich reagieren kann, steht Ria schon vor mir.

„Oh, hi. Wir haben dich gar nicht kommen hören.“

„Bin gerade zur Tür rein.“

„Naja, gute Nacht.“

„Warte. Kann ich kurz mit dir reden?“

„Klar.“

Ich bedeute ihr, dass ich das lieber im Zimmer klären würde und sie folgt mir in meines.

„Also, was gibt’s Süßer? Du siehst irgendwie blass aus.“

Ich muss mich erst mal sammeln.

„Worum ging es da eben in der Küche?“

„Das musst du die anderen fragen.“

„Ich frage aber dich. Bitte.“

„Warum willst du das wissen?“

„Glaubst du, einer von den Dreien weiß etwas Konkretes?“

„Jordan, was soll ich denn sagen?“

„Die Wahrheit, bitte.“

„Ich denke, sie sind alle nicht dumm und haben Ohren, also werden sie vermutlich schon irgendetwas wissen …“

„Dann müssen wir Dylan warnen!“

„Wovor denn? Ich glaube der generellen Bedrohung ist er sich schon auch bewusst.“

„Dann müssen wir eben etwas rausfinden. Sally würde dir bestimmt etwas erzählen …“

„Jordan, ich habe nicht vor, meine Nase da reinzustecken.“

„Du hast doch gesagt, dass du ihn magst. Wieso willst du dann nichts für ihn tun?“

„Jordan, was ist eigentlich los?“

„Bitte Ria. Rede mit Sally. Finde etwas raus. Bitte.“

„Ohne dass du mir sagst, warum?“

„Ich kann dir das alles nicht so einfach erklären.“

Sie schaut mich kurz forschend an.

„Also gut. Morgen früh rede ich mit ihr. Aber dann will ich auch eine Erklärung.“

„Natürlich, die bekommst du. Danke.“

„Dank mir nicht zu früh.“

Es dauert lange, bis ich einschlafen kann. So viele „Was wäre wenn …“-Gedanken rasen durch meinen Kopf. Was, wenn jemand unsere Adresse herausfindet und den Kindern etwas tut? Was, wenn Dylan etwas passiert bevor wir alles klären können?

Ich schlage die Augen nach einem Albtraum auf, es ist hell. Der Wecker zeigt halb elf. Sofort springe ich auf. Ob Ria schon mit Sally gesprochen hat? Schnell ziehe ich etwas über und klopfe an ihrer Tür. Sie ist nicht im Zimmer, aber aus der Küche höre ich Stimmen.

Da sitzen alle meine Mitbewohner. Und Dylan. Er gibt April gerade die Flasche, Jake schläft in seiner Trage. Ich bin so überrascht und überwältigt, dass ich mich erst mal gar nicht bemerkbar machen kann. Ich habe die Babies seit knapp einer Woche nicht gesehen, aber es kam mir eher vor wie Monate. Ich finde sogar, dass sie merklich gewachsen sind.

„Guten Morgen, Jordan“, sagt Ria ruhig und lenkt damit die Aufmerksamkeit aller auf mich.

Ich stehe in der Tür und kann mich noch nicht einmal bewegen. Dylan steht auf, kommt mit April auf mich zu, gibt sie mir. Ihre Augen sehen mich an und sie greift nach meinem Gesicht. Ich küsse ihre kleinen Hände, sauge ihren vertrauten Geruch ein, streiche ihr ein paar erstaunlich lange, schwarze Haare aus der Stirn.

„Ich musste sie mitbringen. Josh und Kate hatten schon was vor“, höre ich Dylan in entschuldigendem Tonfall sagen.

Kurz spüre ich seinen Daumen über meine Wange fahren. Er muss wohl eine Träne wegwischen. Ich atme tief durch und reiße mich vom Anblick meiner bildhübschen Tochter los. Ria lächelt, die anderen blicken eher missmutig drein.

„Was macht ihr denn hier?“, frage ich Dylan.

„Sally, Walt und Biggs hatten mir was zu sagen. Aber ich wollte gerade wieder aufbrechen.“

„Kannst du mir die Zwillinge nicht hier lassen? Nur ein paar Stunden.“

„Wenn du nichts anderes vorhast? Ich würde sie ungern dahin mitnehmen, wo ich jetzt hin muss.“

Ich schaue ihn erschrocken an, aber er lächelt beschwichtigend.

„Zur Polizei. Mach dir keine Sorgen.“

„Ich versuch’s.“

„Gut, in der Tasche ist alles Nötige. Ich komme so bald wie möglich zurück. Danke Leute. Bis später.“

Er geht ohne besondere Verabschiedung an mir vorbei. Normalerweise würde mich das treffen, aber nicht jetzt, wo ich meine Babies endlich wieder bei mir habe. Die anderen sehen mich erwartungsvoll an. Aber auf große Erklärungen habe ich jetzt keine Lust. Ich will erst mal meine Kinder genießen.

„Ich bringe die beiden mal rüber.“

Und schon mache ich es mir mit dem schlafenden Jake und der neugierig dreinschauenden April in meinem Bett bequem. Wie praktisch, dass sie noch beide in einen Arm passen. Ich liebe das. April spielt mit meinen Fingern, Jake gähnt genüsslich und lässt sich nicht weiter stören. Ich bin im Himmel. Natürlich mache ich mir Gedanken darüber, wer oder was Dylan droht, aber gerade jetzt verdränge ich das. So gut habe ich mich die ganze Woche nicht gefühlt.

Es klopft, kurz darauf erscheint Ria in der Tür.

„Darf ich?“, flüstert sie.

„Klar. Und du musst nicht flüstern. Wenn Jake schläft, dann schläft er.“

Sie setzt sich auf den Rand des Bettes und sieht verzückt auf die Kleinen herab.

„Also, du bist der Ehemann.“

„Tut mir leid, dass ich nicht gleich die Wahrheit gesagt habe, aber es hat sich irgendwie so ergeben und ich wollte nichts erklären müssen …“

„Schon gut. Ich bin dir nicht böse. Die Anderen sind allerdings mäßig begeistert. Sie machen sich Sorgen darüber, was ist, wenn jemand herausfindet, dass sie so dicke sind mit dem Ehemann des Verräters.“

„Immerhin leben sie in meiner Wohnung. Darüber scheinen sie sich auch keine Sorgen zu machen.“

„Genau das hat Dylan ihnen auch gesagt.“

„Gut.“

„Du grinst als wärst du breit“, lächelt sie.

„So fühle ich mich auch. Ich hab die Zwei vermisst wie verrückt. … Sagst du mir, was jetzt eigentlich los war?“

„Sollte dir das nicht lieber dein Mann erzählen?“

„Mein Mann und ich reden zurzeit nicht miteinander, also …“

„Na schön. Ein paar Leute haben vor, bei der Wiedereröffnung des Zentrums in zwei Wochen für Krawall zu sorgen. Walt und die anderen haben Dylan die Namen gegeben und jetzt geht er zur Polizei, um dafür zu sorgen, dass das nicht geschieht.“

„Und wie genau?“

„Scheinbar hatten die vor, irgendwelche Rohrbomben zu basteln. Und irgendwo müssen sie das Zeug dafür ja haben. Dylan meint zwar, dass sie das ruhig versuchen hätten können, da sie damit überhaupt nicht reingekommen wären und von außen nicht viel Schaden anrichten könnten, aber man weiß ja nie …“

„Stell dir mal vor, die montieren so was an ein Auto! Gott, stell dir mal vor, meine Kinder sitzen da drinnen, wenn das hochgeht!“

„Ich glaube nicht, dass die Holzköpfe so was bewerkstelligen können.“

„Was wenn die rausfinden, wo wir wohnen? Das dürfte nicht so schwierig sein, dazu müssen sie nur Dylan folgen. Unser Haus ist keine Festung, so wie das Zentrum. Und ich sitze hier und kann nichts tun!“

„Jordan, reg dich nicht auf. Die wollen Dylan treffen, nicht seine Familie.“

„Woher willst du das wissen? Unsere Babies sehen asiatisch aus. Was wenn …“

„Okay, Schluss damit. Mach dich nicht verrückt vor Angst. Dylan hat das im Griff.“

„Nein, er DENKT nur, es im Griff zu haben. Aber er hat seine Augen auch nicht überall. Vergiss es, ich nehme meine Kinder und verschwinde.“

Der Entschluss ist gefasst. Wenn Dylan immer alles mit sich selbst ausmachen will, dann wird er uns ja nicht vermissen. Ria schaut mir dabei zu, wie ich meine Habseligkeiten in meine Taschen packe. Sie versucht nicht, mich aufzuhalten, hilft mir sogar dabei, die Taschen ins Auto zu bringen. Sie fragt noch nicht einmal, wo ich hin will. Das weiß ich ganz genau. Zu meiner Mum.

Die anderen bemerken gar nicht, wie ich verschwinde. Nur Ria steht am Straßenrand und sieht zu, wie ich alles im Auto verstaue.

„Sag Dylan, dass ich ihn heute Abend anrufe.“

„Okay.“

„Danke für deine Hilfe, Ria.“

„Ich hab doch kaum was gemacht. Und du kommst unter?“

„Ja, ich weiß schon, wo ich hinfahre.“

„Okay.“

„Oh, das hätte ich fast vergessen! Vince hat mich um deine Nummer gebeten.“

„Wirklich?!“

Sie strahlt.

„Also darf ich ihm sagen, dass er dich in der WG anrufen kann?“

„Sehr gerne.“

„Alles klar. Ich bin mir sicher, wir sehen uns bald wieder.“

„Das hoffe ich. Pass auf dich auf, Jordan. Und vor allem auch auf die Kleinen.“

„Das werde ich.“

Okay, ich muss nach Hause, dort erst mal die Zwillinge füttern und wickeln und natürlich noch ein paar Dinge zusammenpacken. Dann sollte ich Mum vorwarnen, dass wir kommen. Und ich muss am Set Bescheid sagen und mich für die Seminare entschuldigen. Vermutlich verliere ich das Semester, aber das kann ich jetzt auch nicht ändern.

Das alles dauert über eine Stunde. Vermutlich ist Dylan inzwischen wieder in der WG und hat festgestellt, dass ich nicht mehr dort bin. Aber dann hätte er schon auf meinem Handy angerufen. Mit Nikki muss ich auch noch sprechen.

„Hey, weißt du, wo Josh und Kate unterwegs sind?“

„Hey Jordan. Ja, im Museum, warum?“

„Kannst du dafür sorgen, dass die zwei erst mal bei dir bleiben? Und Gwen natürlich auch.“

„Was ist eigentlich los? Erfahr ich das vielleicht mal?“

„Dylan hat Drohungen bekommen, ziemlich konkrete. Ich fahre mit den Zwillingen nach Phoenix. Hier ist es nicht sicher, egal wie sehr Dylan sich das einreden will.“

„Was denn für Drohungen?“

„Bombendrohungen. Behalt die Kinder bei dir, ja?“

„Okay, aber …“

„Ich muss los, wir telefonieren später.“

Die Zwillinge stehen in ihren Tragen bereit und wirken recht gut gelaunt. Ob ich mich noch nach Xander erkundigen soll? Aber wie? Einfach mal sein Handy anrufen? Na gut, das hat ja auch noch Zeit, bis wir in Phoenix sind. Ich füttere noch Stan und Laurel, dann kann es endgültig losgehen. Die Kinder sind ruhig, ich höre Musik, versuche, nicht zu viel nachzugrübeln, da ich sonst nur panisch werde. So habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Die Ereignisse haben sich überschlagen und plötzlich steht alles Kopf. Was ich noch vor einer Woche als unerschütterliche Grundfeste meines Lebens betrachtet habe, ist jetzt so weit weg.

Ich tue doch das Richtige, oder? Ich will meine Kinder schützen! Ich tue das nicht für mich, um die Babies bei mir zu haben und auch nicht, um Dylan dazu zu bringen, sich mit mir auseinanderzusetzen. Das sind nur positive Nebeneffekte. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ihnen etwas zustoßen würde, während ich meilenweit entfernt in der WG sitze, wo ich nichts tun kann. Nur wegen einem blödem Fehler!

Xander. Ich kann ihn nicht als Fehler ansehen, so sehr ich mich auch bemühe. Ich habe das nicht nur wegen des Sex getan, da würde ich mir selbst etwas vormachen. Natürlich habe ich Gefühle für ihn! Genau wie für Sean, Vince, Scott, Tobey … Aber ich bin doch erwachsen! Jeder hat eine Vergangenheit, mit der er klarkommen muss. Selbstverständlich muss ich auf ein paar Dinge verzichten, die Musik zum Beispiel. Klar fehlt mir manchmal der Trubel und der Erfolg, aber meine Gitarre ist mindestens genau so gut dazu genutzt, Jake und April in den Schlaf zu spielen.

Ich habe das, was ich immer wollte! Eine Familie, mit allem, was dazugehört. Auch mit Verpflichtungen, Verzicht und so weiter. Aber dafür habe ich mich vor drei Jahren entschieden und den Preis zahle ich gerne.

Xander hat mich genau so gemieden, wie ich ihn. Ich habe ihn, seit ich verheiratet bin, vielleicht fünfmal getroffen, auf irgendwelchen Feiern. Warum hätten wir auch Kontakt halten sollen? Als Freunde wären wir nicht gut und offensichtlich war die Versuchung ohnehin zu groß. Der einzige Grund, warum ich ihn gern noch mal in Ruhe sprechen wollen würde, wäre, um endlich zu erfahren, warum er mich damals verlassen hat. Ich habe darüber schon zur Genüge nachgegrübelt, will einfach nur noch Gewissheit.

Aber das kann ich jetzt wohl vergessen, oder? Wie soll ich denn mit ihm reden können, ohne Dylan zu verletzen und ohne dass Xander sich Hoffnungen macht? Nein, ich muss mich langsam mit dem Gedanken anfreunden, dass mir Xanders Fortgang auf ewig ein Rätsel bleiben wird.

Die Kleinen schlafen zum Glück durch, erst als ich gerade das Citylimit passiere, regt sich Jake. Die fünf Minuten hält er jetzt auch noch durch. Ich werde sentimental, denke an die vielen Male, als ich das Citylimit passiert habe. Mit Gwen, mit Dylan … und jetzt eben mit den Zwillingen. Ich habe zwar die Kinder bei mir, aber trotzdem fehlt mir etwas. Mein Blick fällt auf Dylans Namen an meinem Ringfinger.

Er sollte jetzt hier sein. Ich sollte meiner Mutter ihre Enkel nicht ohne meinen Ehemann vorstellen. So vieles ist verkehrt gelaufen. Ich muss jetzt eben das Beste draus machen.

Ich parke in der Auffahrt, bemerke den neuen, hellgelben Anstrich des Hauses und hole Jake und April aus ihren Sitzen. Einer links, eine rechts, mit dem Ellbogen auf die Klingel drücken. Es dauert nicht lange und Marie steht vor mir. Für einen Moment habe ich das Gefühl, in meine eigenen Augen zu starren. Mit jedem Jahr sieht sie mir noch ähnlicher. Jetzt ist sie fast elf und mir in dem Alter wie aus dem Gesicht geschnitten. Laura sieht mir auch nicht unähnlich, aber sie kommt jetzt immer mehr nach Klaus. Ihre Haare sind heller, die Augen auch und den typischen Gwen-Jordan-Mund hat sie auch nicht. Marie dagegen schon. Ich zeige ihr die Zwillinge, sie ist ganz begeistert. Mum und der Rest sitzen im Wohnzimmer. Der Fotoapparat ist schon gezückt und Klaus schießt fleißig Bilder, während Mum mir die Babies abnimmt, April Marie auf den Schoß legt und Jake Laura. Sie setzt sich zwischen die beiden auf die Couch und ist sichtlich gerührt.

„Setz dich dazu, Jordan. Das muss dokumentiert werden“, befiehlt Klaus.

Marie rückt vorsichtig ein Stück und ich setze mich neben sie.

„Nimm sie so, dann sieht man sie auf dem Bild besser.“

Ich lege ihr April in den Arm, streiche der Kleinen noch ein paar Haare aus der Stirn. Marie grinst mich an, ich grinse zurück und habe schon wieder das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen.

Nachdem genug Fotos geschossen und genug Umarmungen ausgetauscht sind, gibt es Abendessen. Mum fragt nicht, wo Dylan ist. Das ist seltsam. Ich hatte mir schon eine Antwort bereitgelegt, denn ich habe nicht vor, Mum zu erzählen, dass ich fremdgegangen bin. Das kann ich einfach nicht. Ich will nicht noch jemanden enttäuschen. Sie ist endlich richtig stolz auf mich, nach allem, was sie wegen mir durchgemacht hat. Und jetzt soll ich ihr sagen, dass ich meine Ehe zwei Monate nach der Geburt der Zwillinge so leichtfertig auf’s Spiel gesetzt habe? Nein. Ich weiß, wie sie mich anschauen würde. Diesen Blick will ich nie wieder von ihr sehen.

Nachdem der Eintopf gegessen, das Geschirr verräumt und die Zwillinge versorgt sind, lotst Mum mich dann doch auf die Terrasse. Sie hat ihre hochoffizielle Besorgteelternmiene aufgesetzt.

„Also, mein Kind.“ Ich muss grinsen. So nenne ich Gwen immer, wenn sie etwas ausgefressen hat. „Du kannst dir sicher denken, was ich fragen will.“

„Warum Dylan nicht hier ist?“

Sie nickt mit strengem Gesichtsausdruck, der mich warnt, sie nicht mit irgendeiner Lappalie abzuspeisen. Aber das habe ich nicht vor.

„Dylan hat Probleme im Zentrum. Er bekommt Drohungen. Sehr ernst zu nehmende Drohungen. Deshalb bin ich mit den Babies hier hergekommen, die Großen sind bei Nikki.“

„Und Dylan?“

„Er arbeitet mit der Polizei zusammen. Aber ich habe das Gefühl, er hält sich für unsterblich. Er könnte vorsichtiger sein. Wir streiten ständig deswegen.“

„Kann man denn nichts tun? Ich meine, die Polizei …“

„… kann ja auch erst eingreifen, wenn eine Straftat begangen wurde. Und dann ist es vielleicht schon zu spät.“

„Und wie lange willst du hier bleiben? Versteh mich nicht falsch, ich hab euch drei gerne um mich, aber langfristig …“

„Ich weiß. Aber was Besseres ist mir spontan nicht eingefallen.“

„Okay, dann entspann dich erst mal, ich kümmere mich um meine Enkelkinder.“

„Ich werde mal bei Sean und Brian vorbeischaun.“

„Gute Idee.“

Es ist kurz vor acht, als ich das Auto in der Auffahrt des schicken Neubaus parke, den ich zuletzt im Rohzustand gesehen habe. Der Garten ist inzwischen schön angelegt, große Fenster dominieren die Front. Sehr ansehnlich aber auch etwas protzig. Irgendwas hat Sean scheinbar doch von seinem Vater geerbt, und wenn es bloß der Immobiliengeschmack ist. Über diese Tatsache grinsend, drücke ich den (ob man es glaubt oder nicht) ebenfalls protzig anmutenden Klingelknopf und bekommen den Big Ben-Glockenschlag zu hören, etwa in Originallautstärke. Kaum ist der letzte Ton verklungen, geht auch schon die Türe auf und Maddy steht vor mir, dicht gefolgt von Brian.

„Du hast schon wieder nicht gefragt, wer draußen ist!“, schallt er sie, bevor sein Blick auf mich fällt und sich erhellt.

„Jordan! Das ist ja ne Überraschung!“

Wow, gut sieht er aus. Er hat einiges abgenommen, besitzt jetzt nicht mehr die typische Drummerstämmigkeit, sondern die Figur von jemandem, der gut in Designeranzügen aussieht. Er trägt sogar ein hochgekrempeltes Hemd und eine Anzughose. Früher hätten ihn keine zehn Pferde in solche Klamotten gebracht. Wir umarmen uns freudig und ich werde weniger hineingebeten als hineingeschleift, durch einen großzügigen, schlicht aber teuer eingerichteten Hausflur in ein, von einer Glasfront abgeteiltes, Wohnzimmer.

„Sean arbeitet und Maddy muss gleich ins Bett, du musst also mit mir vorliebnehmen“, erklärt Brian, während er einen archaisch aussehenden Sessel heranzieht.

„Maddy geht samstags um acht schlafen? Wie macht ihr das? Gwen könnte ich höchstens durch Bestechung dazu bewegen und selbst dann würde sie noch heimlich unter der Bettdecke Tetris spielen oder so.“

„Ich lese immer heimlich“, gibt Maddy zu.

Das Kind ist wohlgemerkt in der ersten Klasse! Brian funkelt sie stolz aber streng an.

„Ab, Zähne putzen und in einer halben Stunde ist das Licht aus. Auch UNTER der Decke.“

Sie kichert und hüpft davon, hält noch mal inne, dreht sich um und fragt:

„Was ist Tetris?“

„Öhm, das ist ein Spiel, von Nintendo.“

„Was ist Nintendo?“

Ich werfe Brian einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Wo ist dein alter Gameboy?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Du kennst doch Sean. Er hat was gegen Videospiele. Er erzählt ständig was von epileptischen Anfällen und so.“

Er bemerkt Maddys interessierten Blick und räuspert sich:

„Also ich meine, WIR machen uns Sorgen darüber. Aber ich denke, wir werden das noch mal besprechen.“

Maddy scheint sich damit zufriedenzugeben und hüpft weiter.

„Sehr vorbildlich“, grinse ich.

„Ach sei still. Was machst du überhaupt hier?“

„Na mit den Zwillingen angeben!“

„Ach, klar. Aber die schlafen wohl schon, oder?“

„Ja, Mum hütet sie. Aber ihr bekommt sie bestimmt bald zu Gesicht.“

„Und Dylan?“

„Lange Geschichte.“

„Ich seh schon, dann bring ich mal eben Maddy ins Bett, dann zeig ich dir, wo der Pool hinkommt und dann machen wir’s uns auf der Terrasse bequem und du erzählst mir die lange Geschichte.“

Das war keine Frage. Trotzdem nicke ich missmutig.

„Also, was willst du trinken? Ein Bier?“

„Lieber was ohne Alkohol.“

„Was isn mit dir los?“

„Nichts, ich bin nur mit dem Auto hier …“

„Na gut.“

Er verschwindet, kommt mit Saft und Wasser zurück und verschwindet gleich noch mal ein paar Minuten, um nach Maddy zu sehen.

„Soh, komm, ich zeig dir unsere letzte Baustelle.“

Das Loch für den Pool ist schon ausgehoben und klein ist er nicht gerade, aber viel zu sehen gibt es auch nicht, also lassen wir uns bei Antimückenkerzenschein auf sehr komfortablen Holzmöbeln auf der Terrasse nieder.

„Also, was machst du hier, ohne Dylan?“

Natürlich erzähle ich ihm erstmal die Drohungs-Geschichte. Er ist erwartungsgemäß geschockt und stammelt irgendwas von Polizei und dass man da doch etwas tun können muss. Ich nicke nur oder zucke resignierend die Schultern.

„Aber das ist nicht alles, oder?“

Ich verschränke die Arme und schaue zur Seite.

„Das reicht doch, oder?“

Ich hab keine Lust auf Beichte.

„Klar, aber ich kenne dich. Du würdest deinen Mann in so einer Situation nie alleine lassen, eher würdest du die Babies irgendwo unterbringen und nicht mehr von Dylans Seite weichen. Es muss also noch was anderes sein, aber wenn du nicht drüber reden willst, akzeptiere ich das.“

„Ich bin fremdgegangen, okay?! Und jetzt will mich Dylan nicht mehr sehen.“

„Oh, … verständlich, dass du das nicht erzählen wolltest. … Ich hab auch alles daran gesetzt, zu verheimlichen, dass ich vor ein paar Monaten zwei Wochen lang auf der Couch im Büro geschlafen habe.“

„Du?! Du hast Sean betrogen?“

„Es war ein dummer Fehler und es hat mir nichts bedeutet. Ich hab es Sean sofort erzählt. Er war wahnsinnig wütend und hat es erst nicht verstanden. Aber irgendwann hat er sich beruhigt. So was geht vorbei, Jordan. Das wird schon wieder.“

„Tja nur mit dem Unterschied, dass ich, erstens nicht selbst die Wahrheit gesagt habe, sondern Dylan es rausgefunden hat und dass ich zweitens nicht mit irgendwem bedeutungslosen geschlafen habe, sondern mit Xander.“

Brian sieht mich jetzt doch vorwurfsvoll an, auch wenn ich ihm anmerke, dass er sich bemüht, mich nicht spüren zu lassen, was er wirklich denkt.

„Oh, aber … du hast doch keine Affäre, oder?“

„Nein, das war ne einmalige Sache. Aber nur weil Dylan uns erwischt hat.“

„Du meinst, er hat euch … dabei erwischt?“

„Nein, danach, als wir uns geküsst haben.“

„Oh Scheiße.“

„Ja …“

„Aber du hast sofort Stellung bezogen und Xander gesagt, dass er verschwinden soll, oder?“

„Nicht direkt …“

„Jordan!“

„Ich war durcheinander, okay?! Ich meine, es geht schließlich um Xander!“

„Ja, deinen Exfreund Xander, der dich verlassen hat, als du ihn am nötigsten hattest!“

„Er war jung und wir wissen doch gar nicht genau, was damals passiert ist …“

„Was damals passiert ist, willst du wissen? Er wurde vor die Wahl gestellt, das ist passiert! Und er hat sich gegen dich entschieden und für die Band. Für die Band samt Knebelvertrag. Für die Aussicht auf Ruhm und dicke Kohle hat er seine Seele verkauft und eure Beziehung gleich mit.“

„So ein Schwachsinn. Woher willst du das wissen?“

„Du warst im Krankenhaus abgeschirmt von allem, ich nicht. Ich habe so einiges mitbekommen, was abging. Ich hab Xander auch zur Drogenberatung geschickt.“

„Warum hast du mir das alles nie erzählt?“

„Was hätte das gebracht, außer dass es dich verletzt hätte? Er war weg und das war auch gut so. Schreib ihn endlich ab, Jordan. Ich weiß, du siehst viel von dir selbst in ihm, aber er ist nicht wie du. Er besitzt nicht deine innere Stärke. Er wird immer aufgeben, du kannst dich nicht auf ihn verlassen.“

„Er hat versucht sich umzubringen“, gebe ich kleinlaut zu.

Ich bin noch ganz benommen von den Dingen, die mir Brian gerade offenbart hat.

„Siehst du, genau das meine ich. Ich werde nicht anfangen, dir was über Verantwortung gegenüber deinen Kindern vorzupredigen. Das weißt du selbst. Aber es geht auch um dich, Jordan. Ist Xander wirklich der, den du willst?“

„Ich will Dylan, aber ich will auch … ich will jemanden, der sein Leben wirklich mit mir teilt. Dylan ist manchmal so verschlossen.“

„Find erst mal raus, wen oder was du willst, Jordan“, erklärt er bitter, so als fühle er sich persönlich angegriffen. Ich stehe auf.

„Ich sollte jetzt gehen.“

„Wie du meinst.“

„Das hier war ein Fehler“, erkläre ich.

„Mit Fehlern kennst du dich ja aus.“

„Spiel nicht den Heiligen!“

Er springt auf.

„Kommt jetzt wieder die Tour? Hältst du mir jetzt wieder vor, was ich im Leben alles für Scheiß gebaut hab? Da hast du völlig recht, Jordan. Aber schau, wo ich stehe und schau, wo du stehst. Ich bin glücklich und zufrieden mit allem, genau wie es ist, aber du musst dir dein Glück immer wieder selbst zerstören. Als würde es dir auf Dauer zu langweilig werden, als müsstest du dir künstlich dein Drama erschaffen!“

Kommentarlos, aber ziemlich geladen, verlasse ich das Haus und steige ins Auto, drehe die Musik auf, so laut es geht und setze zurück.

Als täte ich das absichtlich! Der hat sie wohl nicht mehr alle! Ich hab es mir wirklich nicht so ausgesucht und ich fühle mich auch alles andere als wohl in diesem Drama. Um erst mal wieder runterzukommen, drehe ich ein paar Runden, höre ein halbes Album durch, bevor ich mich dann doch auf den Weg nach Hause mache. Ich habe ja nicht wirklich eine Wahl. Schließlich muss ich mich um die Zwillinge kümmern, auch wenn mir der Sinn im Moment viel eher danach stünde, dem Zen einen Besuch abzustatten.

Ich bin gerade so dermaßen sauer auf Brian, aber vor allem auch auf mich selbst, weil ich insgeheim eingestehen muss, dass er mit vielem recht hat. Das mit Xander würde nicht lange gut gehen, wohingegen Dylan immer für mich da gewesen ist. Ich hab es einfach nicht mehr zu schätzen gewusst und nur noch seine Fehler gesehen. Jetzt bin ich klüger und muss das irgendwie wieder hinkriegen.

Schon als ich in die Straße einbiege, sehe ich Dylans Auto vor dem Haus stehen. Damit hatte ich jetzt wirklich absolut nicht gerechnet. Aber ich freue mich, dass ich so schnell die Chance bekomme, mich bei ihm zu entschuldigen und ihn darum zu bitten, mich zurückzunehmen. Irgendwie fühle ich mich gerade sehr erleichtert und hoffnungsvoll. Wir kriegen das wieder hin, ganz sicher.

Ich parke in der Einfahrt, Dylan kommt gerade aus dem Haus, mit einer Tasche. Schnell steige ich aus, will gerade auf ihn zueilen, als er die Tasche fallen lässt und mir entgegenkommt, im ersten Moment denke ich, um mich zu umarmen, aber sein Blick sagt etwas anderes. Er wird vor mir nicht langsamer und in der nächsten Sekunde spüre ich, wie meine Beine hart gegen den Kühler meines Autos hinter mir stoßen und nachgeben. Dylan lehnt über mir, seine Hände grob am Kragen meines Shirts. Sein Gesicht ist zu einer wütenden Grimasse verzerrt, seine Stimme klingt wie Donnergrollen.

„Versuch noch ein Mal, mir die Kinder wegzunehmen und du bist fällig!“

Er scheint gar nicht viel Kraft zu brauchen, um mich vollends auf die Motorhaube zu stoßen, seine Hände drücken mich so fest gegen das Auto, dass ich für einen Moment kaum atmen kann, dann lässt er mich los, dreht sich um und verschwindet aus meinem Sichtfeld.

Benommen und unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, rapple ich mich hoch, sehe Dylan mit der Tasche auf sein Auto zugehen und weiß plötzlich, dass meine Kinder schon da drinnen sind.

„Warte! Du kannst sie doch nicht einfach so mitnehmen!“

Ich mache ein paar Schritte, den Schmerz in den Beinen bemerke ich kaum.

„Halt dich fern, Jordan! Ich will dich nicht mehr sehen!“

Er steigt ein, ich komme am Auto an, erkenne die Zwillinge auf dem Rücksitz, versuche, die Türe zu öffnen, aber sie ist abgesperrt. Der Motor heult auf, der Wagen fährt los. Ich weiß nicht, wie genau es passiert, aber das Hinterrad überrollt meinen linken Fuß. Schrecklich langsam. Dylans Geländewagen ist schwer. Schwer genug dafür, dass mir die Tränen in die Augen schießen und ich, kaum dass mein Fuß wieder frei ist, auf denn Boden sinke und da einige Sekunden sitzen bleibe, zwischen meinem kaputten Chuck und dem wegfahrenden Auto hin- und herschauend.

Ich muss hinterher. Ich kann nicht anders, muss meine Kinder zurückholen, Dylan erklären, dass das alles ein Missverständnis war! Ich muss irgendetwas tun! Ich stehe auf und ächze, als ich versuche, mit dem linken Fuß aufzutreten. Humpelnd schaffe ich es zu meinem Auto. Ich stelle ganz nebenbei fest, dass meine rechte Hand blutig ist, denke aber nicht weiter darüber nach, sondern öffne die Fahrertür.

„Jordan! Um Gottes Willen!“ Mum kommt aus dem Haus gelaufen. „Kind! Sei vernünftig! So kannst du nicht fahren.“

„Ich muss hinterher, ich muss ihm erklären, dass ich schuld bin. Ich muss …“

Sie schiebt sich an mir vorbei, nimmt den Schlüssel aus dem Zündschloss.

„Mum! Ich brauche den!“

Klaus steht plötzlich ebenfalls neben dem Auto.

„Du brauchst einen Arzt, Jordan.“

„Mir geht’s gut. Ich muss …“

„Dann steig hinten ein, lass deine Mutter fahren.“

„Okay …“

Ich steige wieder aus, Klaus führt mich um das Auto herum und setzt sich selbst hinter den Fahrersitz.

„Schnall dich an“, fordert er väterlich.

Ich gehorche. Mum startet das Auto. Der Jeep ist nicht mehr zu sehen.

„Wir müssen uns beeilen.“

„Gib mir deine Hand“, bittet Klaus.

Ich reiche ihm irritiert die Linke, er will aber die Rechte. Mein Blick wird von dem vielen Rot ebenfalls angezogen.

„Das muss genäht werden, Jordan. Der Kühlergrill hat scharfe Kanten.“

Er zieht eines seiner spießigen Stofftaschentücher aus der Tasche und bindet es mir um das Handgelenk. Ich bin so fasziniert davon, dass ich fast nicht bemerke, dass Mum falsch abbiegt.

„Hier geht es nicht auf die Schnellstraße. Ist Dylan hier lang gefahren?“

Sie sagt nichts.

„Mum! Wir müssen umkehren!“, rufe ich empört.

Klaus legt mir die Hand auf die Schulter.

„Beruhige dich, Jordan. Wir bringen dich erst mal zum Arzt“, erklärt er.

„Was?! Nein, ich will nicht zum Arzt! Ich will zu Dylan! Was zum …“

Klaus drückt mich mit sanfter Gewalt in den Sitz zurück.

„Bitte, mein Sohn. Du musst uns jetzt vertrauen. Wir kümmern uns um dich.“

Seine Hände ruhen auf meinen Schultern, er sieht mich so eindringlich an, dass ich nur nicken kann.

„Gut. Und jetzt halt deine Hand nach oben. … So ist es gut.“

An den Rest der Fahrt kann ich mich kaum erinnern. Es ist, als würde ich auf Standby laufen, bis wir vor dem Krankenhaus parken.

„Komm Jordan, wir müssen aussteigen.“

„Ich fühl mich nicht so gut …“

„Ich weiß, aber das wird schon wieder. Wir bringen dich jetzt erst mal zu einem Arzt.“

Meine Tür geht auf und Mum hilft mir beim Aussteigen. Die Notaufnahme ist so hell beleuchtet und die Warteecke ist noch die gleiche wie damals, als ich mir den Arm gebrochen hatte. Ich fühle mich plötzlich sehr unwohl. Mein Fuß tut höllisch weh, egal wie vorsichtig ich auftrete. Eine Schwester winkt uns gleich durch in den Behandlungsbereich. Mum tuschelt noch mit ihr, Klaus stützt mich weiter.

Ich setze mich auf eine Liege. Bald darauf kommt eine junge Ärztin, lächelt freundlich. Klaus verlässt den nur durch Vorhänge begrenzten Raum.

„Ich kümmere mich um den Papierkram.“

„Gut, also dann wollen wir mal sehen. Zuerst müssen wir etwas wegen der Blutung unternehmen.“

Der Vorhang wird wieder zurückgeschoben. Ein weiterer Kittelträger kommt herein. Sean.

„Danke Diane, ich übernehme.“

„Oh, natürlich, Doktor Wittmore.“

Als die Frau weg ist, setzt Sean sich neben mich auf die Liege.

„Was ist passiert?“

„Ein Unfall …“, stammle ich.

„Das war Dylan“, erklärt meine Mutter nüchtern.

„Was?! Warum? Jordan! Was ist los?“

Ich schaue unsicher zu meiner Mutter. Sean deutet diesen Blick völlig richtig:

„Carol, würdest du bitte draußen warten?“

Sie sieht zwar wenig begeistert aus, nickt dann aber und geht.

„Was ist passiert?“, fragt Sean ruhig, während er an meiner Hand herumdoktert.

„Das war … keine Absicht, er war nur wütend.“

„Jordan, ich muss die Wunde klammern, also spiel das nicht runter. Ist dir sonst noch was passiert?“

„Ich weiß nicht genau.“

„Okay, das binden wir erst mal ab. … So, zieh dich bitte aus und legt dich hin.“

Er hilft mir, mich aus meinem Shirt zu schälen. Als ich auftrete, um meine Hose auszuziehen, schießen mir wieder die Tränen in die Augen, so sehr schmerzt mein Fuß.

„Oh Mann, was ist mit dem Fuß passiert?“

„Der Jeep ist drübergerollt.“

„Das muss geröntgt werden. Setz dich, ich zieh dir den Schuh aus … oder was davon noch übrig ist.“

Er redet nicht weiter, setzt seine professionelle Miene auf und tut, was er tun muss. Nachdem meine Hand lokal betäubt, gesäubert und mit ein paar Klammern getackert ist, werde ich in einen Röntgenraum geschoben, bekommen einen dieser schrecklichen Krankenhauskittel und werde durchleuchtet.

Sean sieht alles andere als begeistert aus.

„Zwei gebrochene Mittelfußknochen. Morgen früh, wenn die Schwellung zurückgegangen ist, bekommst du einen Gips. Und jetzt bekommst du erst mal ein Zimmer.“

„Ich soll hier bleiben?!“

„Natürlich, was denkst du denn?“

Ich fahre von meiner rollbaren Liege hoch.

„Ich muss zurück nach Hause. Die Zwillinge …“

Er legt mir die Hände auf die Schultern.

„Beruhige dich. Deine Eltern werden sich um alles kümmern.“

„Die Zwillinge dürfen nicht bei Dylan bleiben, da sind sie nicht sicher.“

„Denkst du, er tut ihnen etwas? Hat er dich schon öfter verletzt?“

„Nein!“

„Du musst ehrlich zu mir sein, Jordan.“

„Bin ich doch! Er hat weder mir, noch den Zwillingen jemals etwas getan! Das könnte er gar nicht! Was denkst du dir eigentlich dabei, solche Beschuldi…“

„Also war das nicht Dylan?“

„Doch, aber doch nicht mit Absicht! Wir hatten einen Streit, ein totales Missverständnis …“

„Hat er dich geschlagen?“

„Nein!“

„Wie ist dann das mit deiner Hand passiert? Und woher kommen die blauen Flecke an deinen Waden?“

„Das war ein Versehen. Er wollte das nicht.“

Der Vorhang wird zurückgerissen und meine Mutter steht wutentbrannt vor uns.

„Egal ob er es wollte oder nicht, er ist auf dich losgegangen und hat in Kauf genommen, dass du dich dabei verletzt!“

„Halt dich da bitte raus, Mum.“

„Auf keinen Fall! Ich lasse nicht zu, dass man dich so behandelt! Ich war selbst in der Situation. Nimm ihn nicht in Schutz, das macht alles nur noch schlimmer.“

„Das mit deinen Kerlen war ja wohl ganz was anderes! Und jetzt will ich hier raus und zu meinen Kindern! Warum habt ihr ihn die Kinder mitnehmen lassen?!“

„Wir haben versucht, dich anzurufen! Aber dein Handy war aus und Brian meinte, du seist schon vor einer Weile losgefahren. Wir wussten doch überhaupt nicht, was los ist! Er sagte, er würde das mit dir klären. Wenn wir geahnt hätten, wozu er fähig ist …“

„Hört auf, gegen ihn zu wettern! Es ist nicht seine Schuld!“

„Ich kann das nicht mehr, Jordan. Wenn du so bist, kann ich nicht mit dir reden.“

Und damit verschwindet sie.

„Sean, bitte, ich muss zurück nach L.A.“

Er mustert mich ernst, als suche er nach Zeichen akuten Irrsinns.

„Warum?“

„Weil meine Kinder nicht sicher sind.“

„Du gehst nicht zurück zu Dylan?“

„Nein“, denn er will mich nicht zurück, füge ich in Gedanken hinzu.

„In Ordnung.“

„Du lässt mich gehen?“

„Nicht alleine. Ich begleite dich.“

„Kannst du hier einfach so weg?“

„Wozu bin ich denn der Chef?“, grinst er.

Er redet mit Mum, bereitet die Entlassung vor, offiziell gegen ärztlichen Rat, besorgt mir Krücken … ich liege nur rum, frage mich, warum ich nicht richtig denken kann, warte, bis Sean mich endlich zu seinem Auto lotst. Mum ist schon weg, erklärt er mir. Das ist seltsam, aber ich habe im Moment keinen Kopf dafür. Ich will einfach nur zu meinen Kindern. Langsam zieht der Schmerz bis in den Oberschenkel hoch, Sean gibt mir irgendwelche Pillen und erklärt, ich solle versuchen zu schlafen, bis wir in L.A. sind. Das klappt erstaunlich gut, sodass Sean gar nicht erst dazu kommt, seine bestimmt reichlich vorhandenen Fragen zu stellen.

„Jordan? Wach auf, wir sind da.“

Als erstes registriere ich, dass sich das Auto nicht mehr bewegt, dann kommt der Schmerz und dann die Erkenntnis, dass Sean das Auto ziemlich an der gleichen Stelle geparkt hat, wie Xander letzte Woche, also ein Stück die Straße runter, ich kann unseren Briefkasten im Schein einer Straßenlaterne erkennen.

„Wie spät ist es?“

„Gleich drei. Wie willst du das jetzt anstellen? Sollen wir lieber in ein paar Stunden wiederkommen, wenn es hell ist?“

„Nein, ich will das jetzt gleich klären. Warte einfach hier.“

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“

Er steigt aus und kommt zu mir rüber, reicht mir die Krücken vom Rücksitz und sieht ziemlich entschlossen aus, als er mir auf die Beine hilft.

„Er wird nicht wagen, dich anzurühren, wenn ich dabei bin“, erklärt er bestärkend.

„Ich habe keine Angst, dass er mir was tut“, gebe ich giftig zurück.

Sean nickt leicht genervt. Mein Blick fällt auf ein fremdes Auto, das schräg gegenüber von unserem Haus parkt. Ich könnte schwören, da drinnen gerade eine Bewegung gesehen zu haben. Jetzt sieht es leer aus, aber vor sich von hinten nähernden Leuten kann man sich gut im Sitz verstecken, wenn man will.

„Sean, hast du das auch gerade gesehen?“

„Was denn?“, fragt er, immer noch etwas pampig.

„Das sitzt wer in dem Auto, ich bin mir ziemlich sicher. Geh einfach weiter, als hätten wir nichts bemerkt.“

„Das hier ist kein Krimi, Jordan. Es ist nicht verboten, nachts im Auto zu sitzen …“

Er geht selbstbewusst weiter, während ich zögere.

Als Sean auf unseren Rasen einbiegt, regt sich im Auto wieder etwas. Schneller als ich ihn warnen kann, springen zwei Gestalten heraus. Ich fange an zu laufen.

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