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A longer Way

Teil 4

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Informationen

 

Meine Sachen sind gepackt, Vince wird mich erst mal aufnehmen, ich warte nur noch auf Josh, um mich wenigstens von ihm verabschieden zu können. Dylan wirkt ziemlich niedergeschlagen. Ich nehme an, er hat die ganze Nacht kein Auge zugetan, sondern darüber nachgedacht, wie er mir sagen kann, was er zu sagen hatte. Jetzt schleppe ich meine Koffer ins Auto, humpelnd natürlich. Gut, dass ich Automatik fahre …

Kates Wagen parkt in der Auffahrt. Ich erkenne durch die Frontscheibe, wie Josh mich sieht und genervt die Augen verdreht. Er steigt aus.

„Was willst du denn hier?“

„Das sollten wir drinnen besprechen.“

„Warum denn? Du scheißt doch sonst auch auf das, was die Nachbarn sagen.“

„Aber drinnen ist Dylan. Komm schon, sei nicht so …“

„Du kannst mich mal, Jordan! Ich verschwinde.“

„Josh, komm ins Haus, damit wir das wie Erwachsene klären können“, höre ich Dylan fordern.

Er ist in der Haustür aufgetaucht. Mein Sohn gehorcht ihm sofort. Kate schenkt mir ein kleines, mitfühlendes Lächeln, doch der finstere Blick meines Sohnes macht das wieder mehr als wett.

Er stapft an mir vorbei ins Haus und rempelt mich dabei an. Ich spüre, wie ich an eine Grenze komme. Ich kann gleich nicht mehr. Ich kann nicht damit umgehen, dass Dylan sich gerade von mir getrennt hat. Und jetzt auch noch das. Aber ich bin der Erwachsene hier. Ich muss mich jetzt zusammenreißen.

„Ich habe mich gerade von deinem Vater getrennt, Josh. Also bitte lass ihm jetzt erst mal etwas Luft“, erklärt Dylan viel zu nüchtern für meinen Geschmack.

Trotzdem bin ich ihm dankbar für den Rückhalt. Josh steht aber immer noch ein paar Meter von mir entfernt und sieht aus, als würde er jeden Moment explodieren.

„Das hat er auch verdient! Nach allem, was er getan hat!“, zischt er und stellt sich näher zu Dylan, frontal zu mir.

Ich schlucke schwer, sollte mich eigentlich verteidigen, weiß aber nicht so recht, wie.

„Der Grund für die Trennung ist eine Sache zwischen deinem Vater und mir. Niemand hat alleine dran Schuld.“

„Klar, nimm ihn halt auch noch in Schutz! Warum machst du das?!“

„Weil er immer noch euer Vater ist und zur Familie gehört.“

„Warum? Können wir nicht einfach …“

„Josh!“ Jetzt ist Dylan deutlich eine Gemütsregung anzumerken. „Hör auf! Siehst du nicht, wie es uns geht? Weißt du, was wir heute verloren haben?“

„Ja, wegen dem da!“

Ich stehe da und nehme alles um mich herum wie eine Szene am Set wahr, greife nicht ein, konzentriere mich nur auf meine Aufgabe. Und die ist dafür zu sorgen, dass genügend Sauerstoff in meinen Körper gelangt.

„Nein! Wegen mir! Weil ich Jordan nicht der Partner sein konnte, den er gebraucht hätte.“

Meine Lungen füllen und leeren sich, mein Brustkorb hebt und senkt sich. Ich habe trotzdem das Gefühl, nie genug zu bekommen und atme schneller. Mir wird schwindlig.

„Jordan?“

Das Atmen wird mehr und mehr zu einem Schluchzen. Ich beuge mich vornüber, um den Druck in meinem Brustkorb loszuwerden. Und die Übelkeit. Das hilft.

„Geht nach oben!“, befielt Dylan.

„Aber …“

„Jetzt!“

Ich höre sich entfernende Schritte auf der Holztreppe.

„Hey … ist ja gut.“ Hände auf meinem Rücken. „Ist gut.“ Sie ziehen meinen Oberkörper mit sanfter Gewalt in die Höhe. „Ich halte dich.“

„Ich … hab ihn … hab ihn diesmal ganz verloren.“

„Nein, Jordan. Das glaube ich ehrlich nicht. Gib ihm etwas Zeit …“

„Ich hab alles versaut. Diesmal …“

„Shhh, beruhige dich erst mal.“

„Dylan“, schluchze ich und suche mit meinen Händen nach Halt.

„Ich bin hier.“

„Ich weiß nicht, wie … wie es weitergehen kann.“

„Wir werden es schon rausfinden.“

„Die Babies …“

„Wir bekommen das hin.“

Ich habe das Gefühl, dass es nicht mehr mehr zu sagen gibt, also konzentriere ich mich wieder aufs Atmen. Das geht jetzt auch schon viel ergiebiger.

„Ich sollte fahren …“

„Bist du sicher, dass du das schaffst? Ich kann dich auch zu Vince bringen …“

„Nein, schon okay, wirklich. Ich will das jetzt hinter mich bringen. Küss die Zwillinge von mir.“

„Du kannst sie jederzeit sehen.“

„Ich weiß, danke. Bye Dylan.“

Und damit reiße ich mich los und humple so schnell es geht zu meinem Auto, schaffe es damit aber nur drei Querstraßen weiter, bevor ich stehen bleiben muss und die Musik aufdrehe. Ich gebe mir drei Songs, um mich irgendwie zu beruhigen. Drei Songs, mehr werde ich mir nicht gönnen.

Vince empfängt mich mit Kaffee, Keksen und einer Umarmung.

„Wo ist Danny?“

„Mit Collin bei seinen Großeltern.“

„An der Ostküste?“

„Ja, noch bis Freitag.“

„Heute ist Dienstag, richtig?“

„Japp.“

„Mann, das Semester kann ich vergessen und seit Wochen war ich nicht mehr am Set …“

„Das kannst du schon wieder irgendwie hinbiegen …“

„Das mit der Uni vielleicht. Aber Doris kennt da kein Erbarmen. Ich muss heute Nachmittag mal hin …“

„Sicher? Willst du dich nicht erst noch ein wenig ausruhen? Du siehst ziemlich fertig aus.“

„Nein, ich muss das jetzt regeln.“

„Na gut. Aber jetzt trinken wir erst mal in Ruhe aus, ja?“

Danach bringen wir meine Koffer ins Gästezimmer. Ich stecke plötzlich voller Tatendrang, räume innerhalb von ein paar Minuten alles aus und mache mich fertig fürs Set.

„Also, ich bin dann mal weg …“

„Warte! Was ist eigentlich mit deinem Fuß? Solltest du so viel rumlaufen?“

„Jaja, das passt schon.“

„Hast du keine Schmerzen?“

„Ich hab Tabletten dagegen, also …“

„Du nimmst Schmerzmittel?“, fragt er übermäßig besorgt.

Ich weiß, worauf er anspielt.

„Vince, ich hab ein gebrochenes Bein. Natürlich nehme ich da Schmerzmittel. Jetzt flipp nicht aus. Mein Arzt kennt meine Vorgeschichte und hat sie mir trotzdem verschrieben.“

„Du meinst Sean? Du hast dein Rezept von ihm?“

„Na ja, nicht direkt. Also die Pillen sind noch aus Deutschland …“

„Und der Arzt dort weiß von deiner Abhängigkeit?“

„Na ja, nein, aber Sean hat gesagt, ich soll mir drüben welche verschreiben lassen, also …“

„Ich weiß nicht, Jordan. Mit allem was gerade so passiert …“

„Mach dir keinen Kopf. Mir geht’s gut.“

Hab ich das gerade wirklich gesagt? Vince sieht mich wissend an, und mit einem Gesichtsausdruck, der mir sagt „Hab ich’s nicht gesagt? Du hast ein Problem.“

Ich habe aber gerade keinen Nerv für so ein Gespräch. Ich muss jetzt erst das mit meinem Job regeln.

Bevor ich die Glastür, die ins Studio führt, öffne, werfe ich noch eine Pille ein. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich das tue ohne nachzudenken, ist schon gruslig. Aber ich kann darüber jetzt gerade nicht nachdenken.

„Oh … hallo.“

„Hey Tina.“

Meine Lieblingskollegin sieht mich besorgt an.

„Wo hast du bloß gesteckt?“

„Lange Geschichte. Wie sieht es hier aus?“

„Na ja, sagen wir mal so: Ich hatte gehofft, dass Doris nicht hier ist, wenn du kommst, um deine Sachen zu holen …“

„So schlimm?“

„Konntest du dir das nicht denken? Warum hast du nicht mal angerufen? Und was ist mit deinem Bein? Warst du im Krankenhaus oder so was?“

„Nein. Nein das … also glaubst du nicht, dass ich den Job noch irgendwie retten kann?“

Sie lacht los und schüttelt ungläubig den Kopf.

„Ist ja gut“, motze ich. „Dann hilf mir wenigstens, an meine Sachen zu kommen.“

„Bleib am besten hier. Ich hole die Kiste.“

Scheint, als könnte ich mich nicht mal von den Kollegen verabschieden, ohne Gefahr zu laufen, meinen Kopf an den Doris-Drachen zu verlieren. Das Seminar bei ihr kann ich also auch auf jeden Fall vergessen. Aber vielleicht, wenn ich es schaffe noch in eine Blockveranstaltung zu kommen, …

Während ich auf meinen Karton voll Habseligkeiten warte, schmiede ich Pläne dafür, die letzten Scheine doch noch in diesem Semester zu bekommen. Mit etwas mehr Aufwand sollte das zu schaffen sein. Ich hab ja sonst nix zu tun …

Etwas wehmütig schließe ich die Glastüre - wie es aussieht zum letzten Mal - hinter mir.

Aber wem mache ich etwas vor? Als Autor bin ich nicht halb so gut wie als Musiker.

In letzter Zeit habe ich wieder öfter Gitarre gespielt, Schlaflieder für die Babies und so. Das ist die Gelegenheit, mich weiter in diese Richtung zu orientieren.

Mein Handy klingelt. Dylan.

„Ja?“

„Hey … ich hab denen in der WG gerade gesagt, dass sie sich so schnell wie möglich was Neues suchen müssen. Es sollte also bald wenigstens ein Zimmer frei werden, damit du da schon mal einziehen kannst.“

„Okay, danke.“

„Wie geht’s dir?“

„Ich bin jetzt offiziell arbeitslos.“

„Oh, tut mir leid. Doris hat mal hier angerufen. Sie war ziemlich sauer. Ich hab versucht sie zu besänftigen, allerdings mäßig erfolgreich …“

„Ja, also dann …“

„Ja, bye.“

Er hätte wohl gerne noch länger mit mir gesprochen, aber ich muss mich jetzt beeilen, um noch rechtzeitig zu Tishas Sprechstunde zu kommen. Wenn ich wenigstens den Seminarschein bei ihr retten kann, ist noch Licht am Ende des Tunnels …

Dank des verdammten Staus brauche ich fast eine Stunde zur Uni. Ich treffe Tisha gerade noch, als sie ihr Büro absperrt.

„Jordan …“ Oh-oh, der Tonfall gefällt mir gar nicht. „Ich hab’s eilig.“

„Ja, tut mir leid, ich stand im Stau …“

„Was willst du?“

„Meinen Schein retten“, antworte ich geradeheraus, weil mir für Diplomatie keine Zeit mehr bleibt.

„Du warst das halbe Semester wie vom Erdboden verschwunden!“

„Ja, ich weiß. Aber ich schwöre dir, dass ich ab sofort keine Veranstaltung mehr verpassen werde. Von mir aus mach ich auch noch eine Präsentation und schreibe die Seminarabschlussarbeit über was du willst und ich werde auf jede Stunde vorbildlich vorbereitet sein und …“

„Ist ja gut. Die ganzen Versprechen kenn ich zur Genüge.“

„Gib mir noch die eine Chance, bitte.“

„Na schön, unter zwei Bedingungen.“

„Ja?“

„Ich will, dass du mir nachher in Ruhe erzählst, was passiert ist. Jetzt muss ich eine Vorlesung halten.“

„Klar, gebongt. Und was noch?“

„Ich denke, das weißt du.“

Sie drängt mich schon seit meinem ersten Semester, eine Arbeit über Rechtsradikalismus zu schreiben. Ich habe mich aus dem Themenbereich bisher immer schön rausgehalten. Ich habe einfach keinen Bock drauf, mich damit zu beschäftigen, das ist Dylans Metier. Und etwas Schiss hab ich davor auch. Was, wenn ich ihn danach mit anderen Augen sehe?

„Ach Tisha …“

„Was ich will, hast du gesagt! Das ist die Bedingung.“

„Na dann hab ich wohl keine Wahl …“

„Ich halte jetzt den Grundkurs. Danach können wir weiterreden.“

„Okay, danke Tisha.“

„Dank mir nicht zu früh. Wenn du’s versaust, zögere ich nicht, dich aus dem Seminar zu werfen.“

Bei einem Kaffee erzähle ich ihr von dem Chaos im Zentrum und von der Trennung. Natürlich gehe ich nicht auf die genauen Gründe ein, aber sie versteht den Ernst meiner Lage und gibt mir Tipps, in welche Blockseminare ich vielleicht noch reinkommen könnte. Sie verspricht mir am Ende sogar noch, ein paar Anrufe zu machen, um die Dozenten gnädig zu stimmen. Na bitte, irgendwas muss doch mal klappen!

Und weil ich gerade so guter Dinge bin, rufe ich auch gleich noch Mum an, um sie auf den neusten Stand zu bringen. Unser letztes Treffen war für sie sicher wenig erfreulich und dann bin ich einfach so zwei Wochen nach Europa verschwunden. Sie reagiert verhalten, als ich ihr von der Trennung erzähle, so als hätte sie es schon geahnt. Alles in allem bleibt sie recht distanziert, bietet mir aber ihre Hilfe an, falls ich etwas brauche. Ich lehne dankend ab und bin nach dem Auflegen etwas in meiner Euphorie getrübt.

Einen Anruf will ich aber gleich noch erledigen:

„Hey Scott.“

„Jordan! Ich hatte schon gar nicht mehr mit einem Anruf von dir gerechnet.“

„Ja, tut mir leid. Es war viel los. Wie wäre es mit Mittagessen morgen?“

„Sehr gern. Ich bin in Hollywood unterwegs. Können wir uns in einem Laden da treffen?“

„Sicher. Sag mir einfach noch Bescheid wo genau.“

„Alles klar, dann bis morgen. Freut mich wirklich, dass du dich gemeldet hast.“

So herzlich kenne ich ihn gar nicht. Ich fange tatsächlich an, mich zu fragen, ob das mit ihm und Collin nicht doch funktionieren könnte …

Vince erwartet mich zu Hause mit Abendessen und besorgter Miene. Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange und trällere:

„Hey Schatz, ich bin zu Hause. Was gibt’s zu essen?“

Sein Gesichtsausdruck ändert sich nicht, er ist nicht auf mein kleines Ablenkungsmanöver eingestiegen …

„Wo warst du unterwegs?“

„Hey, jetzt spiel mal nicht die eifersüchtige Ehefrau“, grinse ich.

Aber auch darauf steigt er nicht ein.

„Ich hab eine Gruppe gefunden, die sich dienstags trifft.“

„Oh komm schon, Vince. Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, oder?“

„Es kann doch nicht schaden, oder?“

„Ich hab aber keinen Bock, noch mal rumzufahren. Der Tag war anstrengend genug.“

„Du musst dich nur ins Auto setzen, ich mach den Rest. Jetzt essen wir erst mal in Ruhe, und dann …“

„Nein, ich hab keinen Bock. Check es!“

Er tritt einen Schritt zurück und sieht mich wieder so verdammt wissend an. Ich ahne, was er jetzt denkt, aber er irrt sich. Ich habe nicht vor, irgendwelche Probleme zu verdrängen oder sonst was. Ich hab einfach keinen Bock auf das Psychogelaber. Und schon gar nicht, wenn ich überhaupt kein Problem habe.

„Ich geh erst mal duschen“, verkünde ich.

Danach tut mein Bein wieder verdammt weh. Kein Wunder, ich muss es ja auch immer sonst wie verrenken, damit es nicht nass wird. Wie sollte ich das denn bitteschön ohne Schmerzmittel aushalten? Mit bockiger Miene, die mich aus dem Badspiegel ansieht, schiebe ich mir eine Pille in den Mund. Meine dritte heute. Oder doch meine vierte? Jedenfalls ist beides ja wohl noch total im Rahmen! Vince soll sich mal nicht so anstellen und sich lieber um seine eigenen Probleme kümmern.

Er sitzt bereits am Tisch. Salat, Wokgemüse, lauter gesunde Sachen …

„Riecht gut …“

„Danke. Welches Dressing willst du?“

Ich deute auf die Flasche mit der weißen Sauce und setze mich, während Vince mir einen Salatteller herrichtet.

„Hast du dich jetzt eigentlich bei Ria gemeldet?“, frage ich und diesmal tut er mir den Gefallen und geht auf die Ablenkung ein.

„Ja, wir haben uns ein paar Mal getroffen …“

„Und?“

„Was und?“, grinst er.

„Na wie oft ist ein paar Mal? Wie war’s? Seht ihr euch wieder? Wart ihr schon im Bett?“

„Jordan!“, macht er gespielt schockiert.

„Jetzt pack schon aus!“

„Wir hatten bisher drei Dates.“

„In zwei Wochen? Das ist viel.“

„Es können ruhig noch mehr werden“, lächelt er etwas entrückt.

„Und wie war der Sex?“

„Wer sagt, dass wir schon welchen hatten?“

„Nach drei Dates? Also bitte, ich kenn dich doch!“

„Tja, Ria hat eben so ihre Prinzipien. Ich hab erst beim zweiten Date einen Abschiedskuss bekommen.“

„Ernsthaft? Oh Mann, solche Spielchen würden mich ja nerven …“

„Ich finde es ganz reizvoll.“

„Aber einen Schwanz hat sie schon noch, oder?“

„Jordan!“

„Was denn, das ist doch wichtig zu wissen!“

„Ja, für mich. Dich geht das allerdings gar nichts an.“

„Spielverderber.“

„Iss jetzt. Die Unterhaltung ist beendet.“

Er schüttelt über mich grinsend den Kopf und tut sich selbst Salat auf.

Der Frieden währt allerdings nicht lange. Kaum haben wir aufgegessen und die Teller abgeräumt, fängt er wieder an:

„Das Treffen beginnt in einer halben Stunde, also …“

„Das ist schön, Vince. Aber ich gehe nicht hin.“

„Weißt du, es geht nicht nur um die Pillen alleine, Jordan. Bei allem was du in letzter Zeit durchgemacht hast …“

„Ich komme klar.“

„Ja eben! Du wirkst irgendwie seltsam unbeteiligt. Das macht mir eigentlich die meisten Sorgen …“

„Unbeteiligt?? Was soll ich denn tun? Mir den ganzen Tag die Augen aus dem Kopf heulen? Nur weil ich dir nicht zeige, wie es mir geht, bedeutet das nicht, dass das alles spurlos an mir vorüberzieht!“

„Ich weiß, so hab ich das auch nicht gemeint …“

„Ich hab keinen Bock auf den Scheiß. Ich will meine Ruhe, okay? Gute Nacht.“

„Es ist halb acht!“

„Tja, ich ticke wohl noch nach europäischer Zeit.“

Ich höre noch eine Weile Musik, das bringt mich etwas runter. Aber ich verstehe wirklich nicht, warum Vince mir jetzt auch noch Stress machen muss! Ich will einfach nur schlafen. Das gelingt mir auch für eine Weile, doch ein Albtraum macht mir einen Strich durch die Rechnung. Irgendwas von Jake und dass seine Lungen plötzlich nicht mehr richtig funktionieren und ich bin nicht bei ihm, weil ich ja nicht mehr zu Hause wohne. Das Bild meines blau angelaufenen Sohnes will nicht weggehen, auch nicht, als ich das Licht einschalte. Selbst der starke Schmerz in meinem Bein kann mich nicht davon ablenken, obwohl mir davon schon übel wird.

Ich schlucke eine Pille, nein zwei. Das Bild verschwimmt langsam, aber die Angst bleibt. Ich mache den Raum so hell wie möglich, schaue auf die Uhr. Halb zwei. Ich kann jetzt nicht zu Hause anrufen, um sicherzugehen, dass es Jake gut geht. Ich kann von hier aus überhaupt nichts tun. Das ist ja das Problem. Ich will zu meinen Kindern! Ich will nicht alleine sein. Aber niemand ist da. Niemand außer Vince.

Ohne lange nachzudenken, stehe ich auf und gehe auf den Flur. Vinces Schlafzimmertür steht ein Stück offen, alles ist dunkel, nur der Lichtschein vom Flur erhellt das Zimmer ein wenig. Ich präge mir den Weg zum Bett ein und drücke den Schalter aus. Nach wenigen Schritten kann ich mich auf die Kante setzen.

„Vince? … Vince!“, zische ich.

„Mh?“

„Kann ich vielleicht bei dir schlafen?“

„Mh-hm.“

Er rückt rüber und hält die Decke für mich hoch. Ich spüre die warme Stelle, an der er gerade noch gelegen hat. Irgendwie fühle ich mich gleich sicherer und schlafe bald wieder ein.

Schon wieder weckt mich ein Traum. Allerdings kein schlechter. Eigentlich sogar ein ausgesprochen guter. Seltsamerweise spielte Vince darin eine Hauptrolle. Na gut, nicht so seltsam, wenn man weiß, dass er gerade halb nackt neben mir liegt. Hübsch sieht es aus, wie die ersten Lichtstrahlen des Tages auf seinen schönen Oberkörper fallen. Mh, wie gern würde ich jetzt meine Hand ausstrecken und ihn berühren. Warum eigentlich nicht? Wir sind beide wieder Single, was sollte mich also davon abhalten, das ein wenig zu genießen?

Meine Finger ertasten weiche, ebenmäßige Haut, die sich unter der Berührung zu einer feinen Gänsehaut zusammenzieht. Vince liegt mit dem Rücken zu mir, ich rücke näher, schmiege meinen Körper an ihn.

„Was machst du?“, höre ich ihn im Halbschlaf fragen.

Ich presse meinen Unterleib an seinen Hintern.

„Rate mal.“

Dann spiele ich mit dem Bund seiner Hose und ziehe sie ein Stück nach unten.

„Das mag ich so nicht, Jordan.“

„Oh, magst du es andersrum inzwischen lieber? Ist mir auch recht …“

Meine Hände umfassen seine Hüfte und finden seinen harten, flachen Bauch.

„Nein, hör jetzt auf, Jordan.“

„Aber warum denn? Wir können doch ein bisschen Spaß miteinander haben …“

„Hände weg!“

„Aber …“

„Sein kein Arschloch, Jordan. Hör jetzt auf!“

Ihm scheint es wirklich ernst zu sein. Was hat der denn für ein Problem?! Ich rücke jedenfalls mal ein Stück weg, Vince setzt sich auf und zieht sich die Decke bis unters Kinn. Als wüsste ich nicht, was sich darunter verbirgt, das ist ja lächerlich!

„Es ist besser, wenn du wieder ins Gästebett gehst.“

„Wie du meinst.“

Ich bin echt sauer. Er hat ja wohl total überreagiert. Und überhaupt, seit wann will er denn nicht mehr mit mir schlafen? Und dann gleich so patzig werden! Zu mir hat noch niemand 'nein' gesagt, und gerade er fängt jetzt damit an? So eine Scheiße! Hier bleibe ich keine Sekunde länger. Ich fange an, meine Koffer vollzustopfen. Die ganze Hektik tut meinem Bein nicht gut. Ich schlucke eine Tablette, brauche wohl bald ein neues Rezept. Irgendwie schaffe ich es, die Koffer trotz Stopftechnik zuzubekommen.

„Was machst du?“

Vince steht in der Zimmertür, inzwischen voll bekleidet.

„Wonach sieht’s denn aus?“

„Du musst doch nicht gleich ausziehen …“

„Doch“, entgegne ich knapp und zerre den ersten Koffer Richtung Tür. „Dürfte ich mal durch?“

„Können wir bitte drüber reden? Fünf Minuten, dann lass ich dich ziehen, wenn du immer noch willst.“

Ich schaue auf die Uhr.

„Gut, Zeit läuft.“

„Können wir uns setzen?“

„Keine Zeit dafür.“

„Jordan … ich hab nicht gewusst, dass dich das so sehr kränkt.“

„Ich bin nicht gekränkt.“

„Warum willst du dann verschwinden?“

„Hier ist nicht der richtige Platz für mich. Wir kommen gerade nicht gut miteinander aus.“

„Das stimmt, aber wir kriegen das doch irgendwie hin, oder?“

„Ich habe für so was zurzeit einfach keinen Nerv, Vince.“

„Geht es um die Pillen? Weil ich deshalb genörgelt habe?“

„Jetzt hör doch mal mit diesen verdammten Pillen auf!“

„Dann geht’s um die Sache eben? Versteh das doch, Jordan! Ich will bei Ria ausnahmsweise Mal alles richtig machen …“

„Um DIE geht es dabei?! Du weist mich wegen der kleinen Tussi zurück?!“

„Ich mag sie sehr gerne, okay? Wenn man sie erst mal besser kennt …“

„Danke, kein Interesse. Lass es einfach gut sein, Vince. Ich such mir eine andere Bleibe.“

„Ich wollte dich ehrlich nicht verletzen.“

„Hast du nicht“, lüge ich.

Schweigend bringen wir das Gepäck zu meinem Wagen. Bevor es zu irgendeiner beklemmenden Abschiedsszene kommen kann, steige ich ein.

„Also, man sieht sich.“

„Aber wo willst du denn jetzt hin?“

„Ich hab schon ein paar Ideen, also …“

„Lass mich wissen, wo du untergekommen bist.“

„Jo. Bis dann.“

Ich setze zurück und kann es plötzlich kaum erwarten, aus dieser Wohnsiedlung herauszukommen. Überall eng bemessene Gärten mit unnatürlich kurz gestutztem Gras und individualitätstötender Uniformität. Wah!

Ich suche meinen Hausarzt auf, bekomme eine Gehschiene und bitte ihn um ein weiteres Rezept. Er wirkt zunächst skeptisch. Ich mache ihm aber deutlich, dass ich mit den Schmerzen, die ich ohne Pillen habe, nicht fähig bin, mein momentanes Lebenschaos in den Griff zu bekommen. Endlich unterschreibt er mir diesen blöden Wisch. Es wird wohl Zeit, mir einen neuen Arzt zu suchen, wenn der mit solchen Zicken anfängt. Endlich mailt Scott, um mir mitzuteilen, in welchem Restaurant wir uns treffen. Die Zeit bis dahin schlage ich mit Musikhören im Auto tot.

Er sitzt bereits am Tisch und kommt nicht, wie üblich, erst eine viertel Stunde zu spät hereingeschneit. Sein Äußeres ist wie immer makellos, er scheint sich wieder gut im Griff zu haben.

„Hallo.“

Er steht auf und umarmt mich kurz zur Begrüßung. Sein Aftershave ist markant und wie gewohnt. Das wird er wohl nie wechseln. Braucht er auch nicht. Riecht toll. Sehr toll.

„Ich freu mich, dich zu sehen“, sagt er und es klingt sehr ehrlich und nicht wie eine Floskel.

Wir setzen uns.

„Ja, ist eine Weile her. ... Wie geht es dir?“

„Ganz passabel. Ich vermisse Patrick. Aber die Sache mit Collin … manchmal weiß ich nicht, wie ich zu fühlen habe, aber eigentlich macht er mich ziemlich glücklich. Ich weiß nur nicht, ob es in Ordnung ist, glücklich zu sein, so kurz nach … du weißt schon.“

„Patrick würde sich für dich freuen.“

„Kannst du dich für mich freuen?“, fragt er und sieht mir direkt in die Augen.

„Ich war am Anfang ziemlich schockiert. Aber ich bin nicht in der Position, irgendwelche moralischen Urteile über andere zu fällen.“

„Bei dir alles okay?“

„Nicht wirklich, aber eigentlich will ich nicht drüber sprechen. Nicht heute.“

„Ist alles okay mit den Babies?“, fragt er beängstigt.

„Ja, ihnen geht’s gut.“

„Gut. Also, warum wolltest du dich mit mir treffen?“

„Weil ich vorhabe, wieder professionell Musik zu machen. Ich bräuchte also einen Agenten.“

Scott freut sich sichtlich. Das restliche Treffen ist geschäftlicher Natur. Scott verspricht, sich nach Songwriteraufträgen umzuhören. Studiomusiker sein würde mich ebenfalls interessieren. Mal sehen, was sich so ergibt.

Am Ende werden wir doch noch mal persönlich. Scott ist sogar richtig gefühlsduslig.

„Zuvor habe ich all die Jahre umsonst gewartet, und jetzt finde ich die Liebe gleich im Doppelpack. Endlich weiß ich, wie es ist, geliebt zu werden.“

„Hey, und was ist mit uns damals?“, frage ich und bin tatsächlich etwas beleidigt.

„Nichts für ungut, aber das war doch eigentlich ziemlich einseitig. Ich hab dir nie wirklich etwas bedeutet.“

„Aber das … das stimmt doch nicht!“

„Nein? Warum hast du mich dann bei der erstbesten Gelegenheit verlassen? Zwei Mal?“

„Weil … das lag nicht dran, dass ich dich nicht geliebt hätte. Wir wollten nur einfach nicht das Gleiche …“

„Ach, aber Sean und du schon? Oder Nikki und du? Oder damals mit Vince?“

„Deshalb bin ich mit denen ja auch nicht mehr zusammen.“

„Okay, Punkt für dich. Ich denke, wir sollten das Thema einfach gut sein lassen …“

„Nein. Ich will nicht, dass du so von uns denkst.“ Ich greife über den Tisch nach seiner Hand und weiß eigentlich nur, dass es mir aus irgendeinem Grund verdammt wichtig ist, dass er weiß, dass er mir viel bedeutet hat und es immer noch tut. „Wir hatten etwas Besonderes. Wir haben es geschafft, zusammen zu sein, obwohl wir so unterschiedlich sind.“

„Jordan …“

„Und wenn ich noch mal dahin zurück könnte, dann würde ich dich nicht so schnell aufgeben. Ich meine, wenn ich sehe, wer du jetzt bist, wie offen und mit dir selbst im Einklang, dann … dann bereue ich, dass ich dich gehen hab lassen.“

„Jordan, das geht jetzt in eine seltsame Richtung …“

„Ja, es ist seltsam. Seltsam, dass diese Erkenntnis erst so spät kommt. Wir beide zusammen, wir waren so ein gutes Team, nicht nur geschäftlich. Und jetzt, da wir den Teil unserer Beziehung wieder auferstehen lassen …“ Ich streiche über seine Hand höher zu seinem Arm. „… da wäre es doch nur logisch, es auch noch mal miteinander zu versuchen, oder?“

„Ist das ein Scherz?“, fragt er ruhig.

Ich schüttle den Kopf

„Nein, das ist mein Ernst. Ich wäre gern wieder mit dir zusammen …“

Dann geschieht etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Er steht auf, kommt zu mir rüber und beugt sich zu mir runter, nimmt meine Hände und sieht mir fest ins Gesicht.

„Jordan, du brauchst Hilfe. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber du wirkst auf mich nicht gesund. Du solltest zu einem Arzt gehen. Ich muss jetzt weg, weil ich nicht stark genug bin, um mit dir umzugehen, wenn du so bist. Aber du sollst wissen, dass du mir wichtig bist und dass ich, wenn es dir wieder besser geht, gerne dein Agent bin. Aber nicht mehr. Bye Jordan.“

Und damit verschwindet er.

Ich sitze da und brauche einen Moment, um zu verstehen, was gerade passiert ist. Vince muss mit ihm gesprochen und ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt haben. Verdammter Mist! Und wo soll ich jetzt heute Nacht pennen?

Janet sieht mich etwas verdattert an, als ich in ihrem Studio aufkreuze.

„Jordan? Hey!“ Sie umarmt mich, ihr inzwischen doch etwas dicker Bauch drückt sich gegen mich. „Was machst du denn hier?“

„Ich bräuchte mal wieder Asyl.“

„Klar! Kein Problem. Tobey ist im Laden. Er lässt dich rein.“

„Was macht er denn im Laden?“

„Greift meinem Dad ein wenig unter die Arme. Ihm geht’s in letzter Zeit nicht besonders …“

„Oh, was Ernstes?“

„Ach quatsch, aber man wird eben nicht jünger.“

„Okay, dann werde ich mich mal auf den Weg dahin machen.“

„Was ist denn los?“

„Lange Geschichte …“

„Du siehst müde aus.“

„Ja, etwas Schlaf wäre nicht verkehrt.“

„Fahr vorsichtig.“

„Mann, du redest schon wie eine richtige Mami.“

Ich parke vor dem Laden. Mein Bein bringt mich um, Autofahren bekommt ihm nicht sonderlich. Und da würden diese Leute mir die Pillen schlechtreden wollen. Klar!

Tobey steht hinterm Tresen. Das ist irgendwie verquer, aber eigentlich passt es auch. Vielleicht wird er ja sesshaft und übernimmt den Laden?

„Jordan! Hey! Ich hab bei dir angerufen, aber Dylan meinte, du seiest verreist.“

„Ja, bin seit vorgestern wieder im Land.“

Wir umarmen uns kurz. Irgendwas muss mit meiner Nase verdreht sein, denn auch er riecht heute besonders toll. Zu toll. So toll, dass mir heiß wird und ich an Dinge denke, die ich vor Jahren mit ihm getan habe. Ich verdränge die Bilder. Tobey hat mich was gefragt.

„Hm, was?“

„Ich hab gefragt, was dich herführt. Alles in Ordnung?“

„Ja, klar. Ich bräuchte nur für ein paar Tage einen Platz zum Schlafen …“

„Ehm, klar, sicher. Ich sag nur kurz Joe Bescheid, dann können wir hoch gehen und in Ruhe reden.“

Er verschwindet kurz im Hinterzimmer, dann begleitet er mich nach oben.

In Janets Eineinhalbzimmerwohnung hat sich nicht viel verändert, seit Tobey hier wohnt. Mir kommt ein Gedanke:

„Wenn das Baby da ist, werdet ihr umziehen, oder?“

Er sieht mich ob der Unvermitteltheit meiner Aussage kurz überrascht an, dann erklärt er:

„Ja, aber nicht weit weg. Wir tauschen die Wohnung mit Joe. Die drei Zimmer sind ihm zu viel zum Putzen, behauptet er.“

Joe wohnt oberhalb des Ladens. Ich war schon ein paar Mal dort. Da wäre tatsächlich genug Platz für ein Kind.

„Gute Idee. Und du bleibst jetzt in den Staaten?“

„Ja. Janet hat mich nicht drum gebeten oder so. Aber mal ehrlich: Wenn man schon ein Kind in die Welt setzt, dann will man auch da sein, um die ganzen einmaligen Momente zu erleben, oder?“

Ich spüre einen Kloß im Hals und gebe nur ein zustimmendes Geräusch von mir.

„Also, was ist bei dir zu Hause los?“

„Dylan und ich haben uns getrennt.“

„Was?! Warum? Wann?“

„Gestern …“

„Hat dein Bein was damit zu tun?“

Ich hab es satt, dass alle immer diesen Schluss ziehen! Was denken die eigentlich von Dylan?! Meine Augen verengen sich zu Schlitzen und ich werfe Tobey einen finsteren Blick zu. Der wird sogleich defensiv:

„Hey, ich wollte nur sichergehen. Ich meine, Dylan ist ein großer, starker Kerl. Es wäre für dich unmöglich, dich richtig zu wehren, wenn er es Ernst meint.“

„Schwachsinn. Erstens könnte ich mich sehr wohl wehren, nicht dass das je nötig gewesen wäre, und zweitens würde Dylan nie im Leben jemandem absichtlich wehtun. Und mir schon gleich gar nicht.“

„Was ist dann passiert?“

„Ich habe Scheiße gebaut. Mehr will ich dazu eigentlich nicht sagen …“

„Verstehe. Na ja, also du kannst gern die Couch haben. Die lässt sich ausklappen. Ist nicht mal so unbequem.“

„Ich weiß, ist nicht das erste Mal, dass ich hier schlafe.“

„Ach so, klar. Also ich brauch jetzt erst mal Kaffee, bevor wir dein Gepäck holen. Du auch?“

„Gern.“

Ich beobachte ihn bei dieser alltäglichen Handlung des Kaffeekochens. Die Art, wie er sich bewegt, wie er seine schmalen Hüften an den Schränken vorbeischiebt … Als er sich endlich wieder zu mir setzt, steigt mir, neben dem Kaffeeduft wieder sein Körpergeruch in die Nase. Süßlich, immer mit einem Hauch von Kokos und etwas Würzigem.

„Das riecht so gut.“

„Findest du? Ist eigentlich ganz normaler Billigkaffee …“

Ich sehe hinter mir auf einem kleinen Tischchen etwas, das mich wieder zur Besinnung bringt.

„Ist das …?“

Ich deute auf das schwarzweiße Etwas.

„Das ist er, ja. Das ist unser Sohn. Das Ultraschallbild ist eine Woche alt.“

„Das hier wird nicht funktionieren.“

„Was?“

Habe ich das gerade laut gesagt? Ich muss mir was einfallen lassen.

„Das hier, das wird nicht funktionieren. Dass ich hier wohne, meine ich. Ihr braucht gerade viel Zeit für euch und ich will ehrlich gesagt auch nicht ständig daran erinnert werden, was ich bei den Babies zu Hause gerade alles verpasse. Ich schau mal hoch in die WG. Zur Not schlaf ich eben da auf der Couch.“

„Aber das ist doch echt nicht nötig …“

„Doch, so ist es mir lieber. Hätte ich eigentlich auch gleich drauf kommen können. Danke für den Kaffee, Tobey.“

„Klar, kein Problem.“

Etwas verdattert lasse ich ihn zurück. Mann, was läuft da mit mir eigentlich falsch?

„Ria!“

Ich hätte sie im Treppenhaus fast umgerannt.

„Oh, hey Jordan. Seit wann bist du aus Europa zurück?“

„Vorgestern. Hör mal, ich bräuchte ne Bleibe.“

„Ja, habe ich gehört. Wir räumen die WG schon. Ich bin gerade auf dem Weg, um mir ein Zimmer anzusehen.“

„Was? Ach so, ja. Aber ich meinte eher eine Bleibe für heute Nacht …“

„Oh, ach so. Na ja, die anderen werden nicht begeistert davon sein, aber du kannst gern in meinem Zimmer schlafen. Es gibt ein Gästebett. Nicht gerade bequem, aber …“

„Ist gebongt.“

„Okay, na ja, ich muss los, also …“

„Warte. Warum willst du eigentlich ausziehen?“

„Na Dylan hat gesagt, dass du die Wohnung wieder selbst beziehen willst …“

„Das stimmt. Aber eigentlich hab ich keinen Bock, alleine zu wohnen. Das Pärchen und der dicke Kerl fallen allerdings als Mitbewohner flach.“

„Ja, ist nicht besonders toll mit ihnen …“

„Also, könntest du dir vorstellen, mit mir zusammenzuwohnen?“

Sie grinst breit.

„Ich finde, das hat gut geklappt, solange es gedauert hat.“

„Cool. Dann hast du ja jetzt Zeit, mir mit dem Gepäck zu helfen.“

Sie verdreht zwar die Augen, packt aber dann kräftig mit an.

Walt und seine Freundin sind nicht da, dafür aber der Koloss. Ihm liegt was auf der Zunge, aber dann besinnt er sich doch und zieht nach oben ab.

„Ein Sonnenschein, nicht wahr? Er gräbt mich ständig an. Ich habe meine liebe Not, mir den Kerl vom Leib zu halten.“

„Wie, ist er nicht so dein Typ?“, grinse ich.

Sie verdreht nur die Augen.

„Wer wohnt jetzt eigentlich im Büro?“

„So ein Bübchen, ganz schnuckelig. Erinnert ein wenig an den Kleinen aus American History X.“

„Da bin ich ja mal gespannt. Ich müsste noch ein paar Anrufe machen, aber danach hab ich für heute nichts mehr zu tun. Hast du vielleicht Bock was zu unternehmen? Strand oder so?“

Sie zögert. Etwas flackert in ihren Augen auf.

„Was ist? Hat Vince mit dir gesprochen?“, frage ich genervt.

„Vince? Nein warum?“

Sie scheint ehrlich verwirrt zu sein.

„Was ist dann?“, frage ich weiter.

„Komm erst mal in mein Zimmer.“

Sie schließt die Tür hinter uns und deutet mir an, mich zu setzen. Ich gehorche.

„Na?“

„Dein Vorschlag mit dem Strand … also … Badebekleidung kann ich nicht tragen.“

„Hä? … oh. OH!“

„Ja …“

„Verstehe. Hm, dann einfach ein Spaziergang?“

„Gern.“

„Ich brauch noch ne Viertelstunde.“

Denn zuerst muss ich ein paar Dozenten durchtelefonieren.

Schon beim dritten habe ich Glück. Er gibt ein Seminar, das vier Wochenstunden hat und deshalb erst in der zweiten Semesterhälfte begonnen hat. Ich hab also erst zwei Termine verpasst. Es sind sogar noch Plätze frei, was mich nicht wundert. Es geht um Lokalpolitik. Also Aufbau der Stadtregierung, Wirkungsweisen, bürokratische Wege und so weiter. Hört sich verdammt trocken und uninteressant an, aber ich kann es mir nicht leisten, wählerisch zu sein. Einen Lichtblick habe ich: Die Veranstaltung findet gleich im Anschluss an Tishas Montagsseminar statt. Zumindest muss ich also nur einmal die Woche auf den Campus. Dafür bis acht Uhr abends.

„So, bereit?“

„Ja gleich.“

Und schon hetzt sie ins Bad vor den Spiegel, um ihr Makeup aufzufrischen. Das kann doch nicht wahr sein! Ich trotte hinter ihr her, lege eine Hand um ihre Taille und ziehe sie mit sanfter Gewalt raus auf den Gang.

„Jordan!“

„Du siehst doch schon toll aus! Und draußen ist es schweineheiß, das verläuft nur alles. Komm schon!“

Erst funkelt sie mich wild an, dann scheint sie das Kompliment zu bemerken, das ich ihr gemacht habe.

„Findest du wirklich?“

„Ja, du bist wunderschön und jetzt lass uns gehen“, drängle ich sie weiter.

Sie schlüpft tatsächlich in ihre hohen Schuhe. Unfassbar!

„Wenn du dir im Sand ein Bein brichst, trag ich dich nicht.“

„Auf den Dingern könnte ich Hürdenläufe gewinnen, mach dir mal keine Gedanken.“

Ich packe vorsichtshalber was zu trinken und ein großes Handtuch in meine Umhängetasche, dann kann’s endlich losgehen. Mein Handy lasse ich bewusst zu Hause. Vince wird bestimmt noch ein paar Kontrollanrufe starten.

Ria stöckelt neben mir her. Ihr langes Haar hat sie provisorisch zu einem Dutt hochgesteckt, so wie Nikki immer, wenn ihr heiß ist.

„Sind die eigentlich echt?“, frage ich und deute auf den Knoten an ihrem Hinterkopf.

„Seh ich so aus, als könnte ich mir falsche Haare leisten?“

„Soll ich dich lieber nichts fragen, was dein Äußeres betrifft?“

„Nein, ist schon gut. Ich bin es nur nicht gewöhnt, offen darüber reden zu können.“

„Auch nicht mit Vince?“

Sie lächelt.

„Am allerwenigsten mit Vince! Er soll mich hübsch finden und nicht drüber nachdenken, was jetzt echt ist, und was nicht.“

„Ich würde dich verdammt gerne mal nackt sehen.“

Ihr Kopf schnellt zu mir, sie mustert mich, will wohl rausfinden, ob ich mich über sie lustig mache. Aber meine Neugierde ist echt.

„Warum?“

„Weil ich gerne hinter Fassaden schaue.“

„Fassaden dienen aber immer einem Zweck.“

„Zu verstecken, was dahinter liegt?“, mutmaße ich.

„Zu verschönern, was dahinter liegt.“

„Ich glaube nicht, dass das was dahinter ist, hässlich ist.“

Sie wirkt fast etwas beschämt, plötzlich nicht mehr so selbstsicher wie üblich.

„Du bist sehr direkt.“

„Bin ich dir zu nahe getreten?“

„Du bringst mich aus der Fassung. Das hat schon lange niemand mehr geschafft.“

Sie flirtet mit mir. Und ich mag es. Mir fällt etwas ein:

„Ich hab eine Idee. Wollen wir nicht mit dem Auto ein Stück wegfahren? Ich kenne da einen Platz … den würde ich dir gerne zeigen.“

„Was für einen Platz?“, fragt sie mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugierde.

„Wirst du schon sehen. Na, was sagst du?“

„Na gut, aber dann muss ich noch mal in die Wohnung, um mir ein paar Dinge mitzunehmen.“

„Nur zu, ich warte hier. Aber wehe du schminkst dich nach! Das seh ich sofort.“

Sie verdreht fröhlich die Augen und klackert davon.

Ich tue etwas sehr Berechnendes. Ich gehe in den kleinen Supermarkt an der Ecke und kaufe Kondome. Hab ich wirklich vor, sie zu verführen? Warum sonst würde ich sie an den Ort bringen, wo ich sie hinbringen will? Mir gefällt unser kleines Flirt-Spielchen und ich bin wirklich neugierig darauf, wie es ist, mit Ria zu schlafen. Jemand vergleichbaren hatte ich noch nie im Bett.

Als sie mit einer großen Handtasche bewaffnet wiederkommt, lehne ich schon lässig am Auto.

„Bereit entführt zu werden?“

„So bereit man dafür nur sein kann“, gibt sie lächelnd zurück.

Ich halte ihr die Tür auf, steige selbst ein und werfe erst mal schöne, ruhige Musik an. Sie scheint mit meiner Auswahl zufrieden und fragt:

„Wie lange werden wir fahren?“

„Eine knappe Stunde. Aber keine weiteren Fragen zum Ziel“, unterbreche ich ihren gerade einsetzenden Fragenfluss.

„Na schön. Wie war deine Reise?“

„Ich war bei Freunden in München. War ganz erholsam.“

„München, wirklich? Du kommst ja rum.“

„War mein dritter Besuch dort. Das erste Mal 2005, während der Europatour meiner damaligen Band.“

Ich fange an, von damals zu erzählen, nicht ohne zu merken, dass ihr das sehr imponiert. Heute habe ich mal keine Skrupel davor, mit meiner Rockstarvergangenheit anzugeben.

„Das ist unsere Ausfahrt. Noch zehn Minuten, dann sind wir da“, verkünde ich.

„Oh, das ging jetzt aber schnell.“

„Hast du Durst? In meiner Tasche ist Wasser.“

„Nein, aber danke. Ich hab selbst was dabei. Hier sieht es irgendwie ganz schön unerschlossen aus.“

„Ja, wir sind genau zwischen L.A. und San Diego.“

„Und was machen wir jetzt hier?“

„Na am Strand spazieren gehen, genau wie abgemacht. Nur dass hier etwas weniger Leute rumhängen.“

„Gibt es überhaupt eine Zufahrt hier?“

„Klar!“

Ich biege in eine kleine Straße ein. Der folgen wir einige Minuten schweigend. Bis ich auf einen Schotterweg einbiege.

„Hier ist ja wirklich keine Menschenseele“, stellt Ria etwas verunsichert fest.

„Hast du Angst?“

Sie schaut mir in die Augen, einen ausgedehnten Moment lang. Dann schüttelt sie den Kopf.

Ich parke am Rand eines kleinen Waldes.

„Ab hier geht es zu Fuß weiter. Ich hoffe, du bist so gut in den Dingern unterwegs, wie du behauptest.“

Wir steigen aus und saugen erst mal die salzige Brise tief in unsere Lungen.

„Wo geht es lang?“

„Na durch den Wald, was denkst du denn?“, grinse ich und ignoriere ihren genervten Blick.

Wandern ist wohl nicht so ihr Ding.

Galant wie ich bin, reiche ich ihr auf dem steinigen Waldboden meinen Arm. Sie stellt sich gar nicht so dumm an, findet mit ihren Stöckeln immer wieder Halt, aber muss sich dabei sichtlich konzentrieren. Die Bäume werden immer lichter. Es geht bergab. Man hört das Rauschen des Meeres.

„Mach die Augen zu. Das letzte Stück trag ich dich.“

„Mit deinem Bein?“

„Das geht schon. Wir müssen nur noch um die Felsen da vorne rum. Lass die Tasche einfach stehen.“

Es fällt ihr sichtlich schwer, sich von dem Ungetüm zu trennen, doch sie tut es und schlingt ihre Arme um meinen Hals.

„Du wiegst ja fast nichts!“

„Angeber.“

„Augen zu.“

Vorsichtig trage ich sie das letzte Stück bis zum Meer. Kurz nach der Biegung ändert sich die Bodenbeschaffenheit und ich stapfe durch Sand. Diesen Küstenabschnitt hab ich letztes Jahr entdeckt, als ich auf einer Art Selbsterfahrungstrip versucht habe, mit dem Auto nach San Diego zu fahren. Weiter als bis zu dieser Ausfahrt bin ich nicht gekommen. Ich war ziemlich mitgenommen. Mit Hilfe einer Landkarte hab ich mir dann eine Straße gesucht, die mich möglichst nah an die Küste gebracht hat, und bin genau hier gelandet. Einen ganzen Tag habe ich alleine an diesem verlassenen Strandabschnitt verbracht. Der Sand reicht gerade mal fünfzig Meter in beide Richtungen, bis zwei große Felsenreihen dieses Stückchen Erde vom Rest der Welt abtrennen. Heute war die perfekte Gelegenheit, um noch mal herzukommen.

Ich setze meine Begleiterin vorsichtig ab und trete hinter sie, um ihr die Augen zu verdecken.

„Bereit?“

„Ja …“

Ich gebe den Blick frei, auf die Weite des Pazifiks, die im krassen Widerspruch steht zur gemütlichen Enge unseres Strandes.

„Wow.“

„Gefällt’s dir?“

Ich habe meine Arme um ihre Taille gewunden und muss sie gar nicht an mich ziehen, denn sie lehnt sich von selbst gegen mich.

„Hier ist es wirklich wunderschön.“

„Und weißt du, was das Beste an diesem Platz ist? Man braucht keine Badekleidung.“

Ohne auf ihre Reaktion zu warten, schäle ich mich aus meinem, vom Autositz an mir klebenden Shirt, löse meine Beinschiene und ziehe mich ganz aus. Ich jogge auf die Brandung zu, ohne mich noch mal umzudrehen und lasse mich von den kühlen Wellen umspielen.

„Aaaah, das tut gut! Kommst du?“

Sie steht immer noch unentschlossen an der Stelle, an der ich sie verlassen habe.

„Na, was ist? Das Wasser ist total angenehm!“

„Dreh dich um!“

Mit so was habe ich schon fast gerechnet und gehorche sofort.

Nach einer kurzen Weile höre ich sie scharf einatmen.

„Brrrr, ist das kalt. Noch nicht umdrehen!“

Ich stehe inzwischen bis zu den Schultern im Wasser, der Wellengang ist noch nicht besonders stark, aber das kann sich hier schnell ändern. Eine Hand berührt mich kurz, ich drehe mich um.

„Ich kann hier nicht mehr stehen.“

„Komm her.“

Ich lege mir ihre Arme um den Nacken, kann nicht viel mehr erkennen, als Kopf und Schultern. Ich streiche ihr über das hübsche Gesicht. Makeupschlieren bleiben an meiner Hand zurück.

„Wollen wir das abwaschen?“

„Meine Schminke?“

„Ich würde dich gerne ohne sehen.“

„So habe ich mich schon lange niemandem mehr gezeigt.“

„Es ist deine Entscheidung.“

Sie löst sich von mir und verschwindet unter der Wasseroberfläche. Ich sehe, wie sie in ihrem Gesicht rumreibt und dann ihren Dutt öffnet.

Die langen, dunklen Haare kommen zuerst an die Oberfläche zurück, dann die Augen, die Nase und die ungeschminkten Lippen. Ria schnappt nach Luft und klammert sich an den Arm, den ich ihr entgegenstrecke.

„Na, wie seh ich aus?“

„Wie ein Waschbär. Komm her.“

Ich verwische vorsichtig die Schlieren unter ihren Augen und denke kurz an Xander. Nein. Diese Gedanken kann ich gerade überhaupt nicht brauchen.

„So ist es besser. Du siehst immer noch sehr hübsch aus. Und immer noch weiblich.“

„Hast du erwartet, dass sich unter der dicken Makeupschicht Bartstoppeln verstecken?“, grinst sie.

„Denk dran, dass du hier nicht stehen kannst, Frechdachs“, gebe ich zurück.

Ich streiche noch mal über ihre Wange. Das fühlt sich endlich an wie echte Haut. Keine braunen Schlieren mehr. Viel besser. Als mein Daumen über ihre gewundenen Lippen fährt, küsst sie ihn kurz und sieht mich unsicher an. Ich lächle und ziehe sie näher zu mir, streiche über ihren Hals runter über ihre Schultern, tauche ins Wasser und berühre ihren schmalen Rücken. Sie befeuchtet ihre Lippen, ich weiß, was sie will. Unsere Nasenspitzen berühren sich schon, ich drehe meinen Kopf ein wenig zur Seite und bin am Ziel. Ihr Mund öffnet sich sofort für mich. Ich schmecke außer Salz auch noch Lippenstiftreste. Mh, dieses Prickeln, das man nur beim ersten Kuss spürt, als würden kleine Funken zwischen uns überspringen.

Ria entfährt ein leises Summen, ihr Körper wird merklich weicher und entspannter, sie kommt noch ein Stück näher. Wir sind beide nackt, das kommt mir jetzt wieder voll ins Bewusstsein. Ihre Beine schlingen sich um meine Hüfte.

Plötzlich ist das Wasser über uns. Eine hohe Welle, die erste von vielen, hat sich rücksichtslos über uns hinweg gerollt. Ria taucht einen Meter von mir entfernt wieder auf, hustet und japst genau wie ich nach Luft. Schon kommt die nächste und spült uns noch ein Stück näher ans Ufer. Unter meinen Beinen spüre ich den weichen Boden. Ich richte mich auf. Zwischen den Wellen reicht mir das Wasser gerade mal bis zur Hüfte. Von Ria sehe ich allerdings immer noch nur den Kopf, obwohl sie sich ein Stück näher am Land befindet.

„Alles okay?“

Sie nickt, taucht dabei mit dem Kinn sogar ins Wasser. Ich gehe auf sie zu.

„Warte.“

Ich bleibe stehen, eine Welle schubst mich noch ein Stück weiter. Wenn ich wollte, bräuchte ich nur die Arme ausstrecken, um Ria zu berühren. Aber sie wirkt irgendwie … verschreckt. Ich will sie nicht drängen, sich mir zu zeigen, auch wenn ich die Spannung kaum noch aushalte.

Sie richtet sich langsam auf, die Arme krampfhaft vor der Brust verschränkt. Oder vor den Brüsten? Das Wasser reicht ihr noch bis zum Nabel.

„Komm her“, bittet sie mich.

Zwei kleine Schritte, dann bin ich bei ihr, ganz nah. Sie zieht ihre Hände zwischen uns heraus, drückt sich an mich. Sie ist über einen Kopf kleiner als ich. Ich umfasse ihre weiblich gerundeten Hüften knapp unter dem Wasserspiegel und versuche zu erspüren, ob sich Brüste gegen meinen Bauch drängen.

Da ist etwas, aber nicht viel. Nach unten schauen will ich noch nicht, denn ich glaube, Ria ist noch nicht soweit.

„Jordan?“

Oder doch? Ich schau runter, in ihr Gesicht. Sie führt meine Hände aufwärts, ihren Rücken entlang, dann nach vorne und legt sie auf die beiden weichen Rundungen.

„Fühlt sich echt an“, flüstere ich.

„Ist echt.“

Ich will fragen, wie das möglich ist, beschließe dann aber, dass das noch Zeit hat. Denn es gibt da noch eine andere Stelle, deren Beschaffenheit mich interessiert. Ria sieht mir das wohl an.

„Da unten ist auch alles echt“, flüstert sie und drängt sich gegen mein Bein.

Ich muss lächeln, weil es so obskur ist, dass wir an diesem verlassenen Ort hier flüstern. Überhaupt ist mir gerade nicht nach Reden, sondern nach küssen.

Aus den vorsichtigen Annäherungen wird schnell ein wildes Rumgeknutsche, das den Titel „Vorspiel“ verdient. Ich hebe Ria hoch, ihre Beine um meinen Bauch geschlungen, und trage sie Richtung Ufer, ohne aufzuhören, sie zu küssen. Irgendwie finde ich es überhaupt nicht schlimm, sowohl Brüste, als auch einen Schwanz zu spüren. Ich weiß schließlich mit beidem etwas anzufangen.

Als ich nur noch knöcheltief im Wasser stehe, gehe ich in die Hocke und lasse Ria in den Sand gleiten. Sie sieht mich immer noch etwas ängstlich an.

„Du bist schön“, flüstere ich und unterziehe sie sogleich einer näheren Betrachtung. Fast alles an ihr ist weiblich. Kleine, schön geformte Brüste, an denen man noch die Druckstellen ihres BHs sieht. Eine schmale Taille und runde Hüften. Und ein Schwanz. Durchschnittlich groß, sieht ganz normal aus, fühlt sich ganz normal an. Aber etwas fehlt. Na ja, nicht gänzlich, aber ihre Eier sind ziemlich klein. Sie stöhnt auf, als meine Finger daran vorbeigleiten.

„Ich tu es nicht ohne Gummis“, flüstert sie.

Ich knabbere an ihrem festen, langen Hals, muss das aber wohl unterbrechen.

„Bin gleich zurück.“

Unsere Taschen liegen hinter den Felsen. Ich jogge los, fange an, mein Bein wieder zu spüren, mit jedem Schritt schlimmer. Und die Sonne brennt so vom Himmel, dass mir übel wird. Das kann ich gerade echt nicht brauchen. Ich beeile mich noch mehr, um zu meinen Pillen zu gelangen.

Als ich mich nach meiner Tasche bücke, bin ich richtig außer Atem. Okay, Pillen und Gummis. Mir ist schlecht. Ich setze mich kurz hin, krame auch noch nach etwas zu trinken, werde fündig, schlucke zwei Kapseln und spüle mit Wasser nach. Noch während des Schluckens stehe ich umständlich auf. Keine gute Idee. Irgendwie wird meine Speiseröhre seltsam zusammengepresst und ich muss fast kotzen. Nein, ich muss kotzen.

Irgendwas stimmt nicht. Ich schmecke Blut. Und ich sehe Blut. Dunkelrot und schaumig. Okay, ruhig bleiben. Ich trinke noch einen Schluck, aber die Übelkeit schlägt jetzt voll zu und der metallische Geschmack im Mund ist nicht besonders hilfreich. Ich versuche ein paar Mal ruhig ein- und auszuatmen. Nutzt aber nicht viel, ich kotze mir die Seele aus dem Leib. Jetzt hab ich echt ein Problem. Das ist nicht gerade wenig Blut. Fuck.

„Jordan? Oh Gott!“

Ria ist immer noch nackt, aber ich habe keine Zeit sie lange zu mustern. Meine Speiseröhre verkrampft sich schon wieder. Ich spüre ihre kühlen Hände auf meinem Rücken.

„Wo ist dein Handy?“

„Zu Hause.“

„Schaffst du’s zum Auto?“

„Wird schon. Halb so schlimm.“

„Okay, ich hole unsere Klamotten. Bin gleich wieder da.“

Ich spüle meinen Mund mit Wasser aus, um diesen ekligen alkalischen Geschmack loszuwerden und versuche noch mal abzuschätzen, wie viel Blut ich gerade über den Waldboden verteilt habe. Was ist da bloß los, verdammt?!

„Hier, zieh die Hose an. … Geht’s?“

Ich nicke und steige in meine Jeans. Den Rest meiner Kleidung und die Schiene stopft Ria in ihre Handtasche. Sie selbst hat sich ihr kurzes Kleid angezogen, ohne Unterwäsche, das sehe ich genau.

„Leg deinen Arm um mich.“

„Ich schaff’s schon.“

„Du bist schrecklich blass. Was hast du?“

„Keine Ahnung.“

Wir stapfen bergauf und ich muss mich bald doch auf Ria stützen, die immer noch barfuß ist und damit echt klein. Mein Bein tut weh. Die Pillen haben es nicht in meinen Magen geschafft. Ein plötzlicher Gedanke trifft mich. Ob die Schmerzmittel was mit dem Blut zu tun haben?

„Ria, ich kann nicht mehr.“

„Musst du dich übergeben?“

Ich gehe kurz in mich.

„Glaub nicht.“

„Zwei Minuten Pause, dann müssen wir wirklich weitergehen. Was soll ich denn machen, wenn du mir hier mitten im Nirgendwo umkippst?“

„Dramatisier das mal nicht.“

„Jordan, du kotzt Blut. Das kann alles Mögliche bedeuten.“

„Nur ne Magenschleimhautreizung vermutlich. Mit dem ganzen Stress in letzter Zeit …“

„Was ist jetzt mit dir und Dylan?“, fragt sie leise.

„Nichts mehr“, antworte ich bitter.

„Tut mir leid …“

„Lass uns weitergehen.“

Alles ist besser, als dieses Gespräch fortzusetzen.

Als das Auto in Sichtweite kommt, bin ich so erfreut, dass ich gleich noch mal kotzen muss.

„Der Schlüssel ist in meiner Tasche.“

Ria schaut mich irritiert an.

„Ehm ich … ich hab keinen Führerschein.“

„Fuck.“

„Ja …“

„Na gut, das schaff ich jetzt auch noch.“

„Jordan, du kannst so auf keinen Fall auf den Freeway. Aber du musst schleunigst zu einem Arzt.“

„Na ja, hier wird keiner vorbeifliegen“, gebe ich säuerlich zurück.

„Nein, ich dachte wir könnten bis zur Hauptstraße fahren und dann jemanden anhalten, der uns telefonieren lässt.“

„Und wen willst du dann anrufen?“

„Einen Krankenwagen“, erklärt sie unsicher.

Ich lache auf.

„Wegen dem bisschen Kotzen?“

„Was ist dann dein genialer Plan?“, fragt sie gereizt zurück.

„Ich fahre nach Hause. Da geh ich dann zu meinem Hausarzt.“

Sie denkt kurz nach.

„Also schön. Lass uns einfach mal losfahren und sehen, wie es läuft.“

„Gut.“

„Gut.“

„Halt hier an.“

„Wieso denn?“

„Deine Augen fallen immer wieder zu.“

„Ach so ein Schwachsinn!“

„Jordan, halt sofort das Auto an!“

Wir sind gerade mal in Sichtweite einer größeren Straße. Und ich finde eigentlich, ich halte mich ganz gut. Verdammt, gleich will sich mein Magen wieder entleeren. Ich muss also anhalten.

Als ich wieder aufschauen kann, sitzt Ria nicht mehr auf dem Beifahrersitz, sondern stöckelt Richtung Highway. Warum muss diese Frau eigentlich so unglaublich stur sein?! Es dauert natürlich keine zwei Minuten, bis ein schicker Schlitten neben ihr anhält. Kein Wunder, in DEM Kleid. Sie streckt mir ihren Hintern entgegen, während sie mit dem Fahrer durchs heruntergelassene Fenster redet. Der Kerl gibt ihr tatsächlich sein Handy. Sie telefoniert eine Weile, inzwischen bin ich vielleicht noch fünfzig Meter entfernt. Ich sehe, wie sie das Telefon freundlich lächelnd zurückgibt. Na ja, das Lächeln sehe ich eigentlich nicht, aber ich kenne Ria inzwischen. Ich hab ihr Gesicht genau vor Augen. Dann zuckt sie plötzlich. Ich erkenne, dass sie versucht, sich loszureißen. Der Kerl hält ihren Arm fest.

„Hey!“, kläffe ich und renne los.

Weit muss ich nicht laufen, und könnte es auch gar nicht, da springt Ria schon vom Auto weg. Ich erhasche einen kurzen Blick auf einen schmierigen Latino mit Sonnenbrille, bevor sich das Auto wieder in den fließenden Verkehr einfädelt und verschwindet. Ria schimpft und flucht ihm noch auf Spanisch hinterher, wirft ihm sogar einen Stein vom Straßenrand nach.

Ich komme bei ihr an. Sie ist immer noch sichtlich aufgeregt, aber nicht verängstigt, sondern wütend. Mit einer ängstlichen Frau könnte ich umgehen, aber was mach ich mit ihr?

„Ria, alles okay?“

„Sicher. Bloß ein Idiot unter vielen. Lass uns zurück zum Auto gehen“, meint sie seltsam ruhig und gepresst.

Ich humple hinter ihr her.

„Wen hast du angerufen?“

„Vince.“

„Was?! Aber …“

„Ich kenne nicht so viele Leute, die ein Auto haben, okay?!“

„Aber doch nicht Vince! Ich meine, ihr geht doch miteinander aus und wir beide haben gerade …“

Ein enorm giftiger Blick bringt mich zum Schweigen.

Na toll. Nicht nur dass ich gleich erklären darf, warum ich mit seiner Freundin in die Einöde gefahren bin, er wird mir auch noch mal eine Standpauke wegen der Pillen halten.

Ria steigt hinten ein, ich ebenso.

„Ich muss mich wieder richtig anziehen.“

„Lass dich nicht aufhalten“, gebe ich gleichgültig zurück.

Sie atmet geräuschvoll aus, fischt dann aber ihre Unterwäsche aus der Handtasche.

„Kannst du dich dann wenigstens nützlich machen?“, fragt sie, nachdem sie mir kurz ihre Brüste dargeboten hat, um den BH wieder anzuziehen.

Bereitwillig fummle ich die Haken in die passenden Ösen. Mann, das hab ich schon lange nicht mehr gemacht.

„Glaubst du, Vince kommt damit klar?“, fragt sie unvermittelt.

„Womit?“

„Mit allem was an mir weiblich ist.“

„Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Eigentlich steht er auf Männer. Richtige Männer. Ich hab mich schon gewundert, als er mich nach deiner Nummer gefragt hat.“

„Nächstes Mal sag einfach ‚Klar, da bin ich ganz sicher’“, schmollt sie.

„Tut mir leid, nach dem Mund reden ist kein Talent von mir.“

„Die Freundinnen deiner Freunde verführen hingegen schon.“

„Hey, mal langsam. Du hast es mir nicht gerade schwer gemacht. Von wegen du hast Prinzipien ...“

„Die hab ich auch! Aber die gelten nur für Männer, mit denen es mir ernst ist.“

„Dankeschön.“

„Oh bitte! Tu doch nicht so, als hättest du dabei an irgendwas außer Sex gedacht!“

„Ist ja schon gut.“

„Was machen wir wegen Vince?“

„Was meinst du?“

„Stell dich nicht dumm, Jordan. Sagen wir es ihm?“

„Er wird sicher fragen, was wir hier gemacht haben. Willst du dann lügen?“

„Nein …“

„Na siehst du.“

„Wie wird er reagieren?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Ihr seid seit Jahren befreundet!“

„Na ja, ich glaube, er kann ganz gut trennen, was etwas bedeutet und was nicht. Er ist mir damals schließlich auch des Öfteren fremdgegangen …“

„Was?!“

„Jetzt spiel mal nicht den Moralapostel …“

„Ihr wart zusammen?“

„Oh, ich dachte das wüsstest du.“

„Nein, das … na toll, ich habe mit seinem Exfreund geschlafen!“, verkündet sie melodramatisch.

„Also technisch gesehen haben wir nicht …“

Wieder bringt mich ein Blick von ihr zum Schweigen. Und die Stille dehnt sich aus. Ich habe wieder Zeit, an meine Übelkeit zu denken, Ria hat Zeit, ihren Schlüpfer wieder anzuziehen. Dann zaubert sie einen Taschenspiegel hervor und zupft an ihren nassen Haaren rum.

„Hoffnungslos.“

„Allerdings“, pflichte ich ihr bei.

Ihre Augen knurren mich an. Ja, das können die.

„Zieh gefälligst auch was an“, bellt sie und wirft mir mein Shirt und meine Unterhose in den Schoß.

Dann wendet sie sich tugendhaft ab und wartet, bis ich fertig bin.

„Ich hab übrigens ein Handtuch in meiner Tasche.“

„Warum hast du dass denn nicht früher gesagt?!“, schnauzt sie.

Das ist mir keine Antwort wert. Sie bedient sich selbst und frottiert ihre Haare.

„Was ist eigentlich mit deiner Stimme?“, frage ich.

„Was soll mit der sein?“

„Kannst du auch tiefer sprechen?“

„Klar, du nicht?“, gibt sie zurück.

„Nein, ja … ich meinte …“

„Ich weiß was du meintest. Und nein, kann ich nicht.“

„Wie kommt das? Also nicht nur die Stimme. Alles halt.“

„Klinefelter-Syndrom.“

„Ehm?“

„Kurz gesagt bin ich einfach nie in die Pubertät gekommen. Mein Körper produziert zu wenig männliche Hormone.“

„Aber streng genommen bist du ein Kerl?“

„Was macht denn einen Kerl aus?“

„Ehm … na ja, ein X und ein Y-Chromosom zum Beispiel.“

„Und was macht eine Frau aus?“

„Zwei X-Chromosomen“, antworte ich etwas verunsichert.

„Dann bin ich beides. Ich habe Trisomie. XXY. Das nennt man Klinefelter-Syndrom.“

„Verstehe.“

„Aber bis ich dreizehn war, war ich für alle ein ganz normaler Junge.“

„Verstehe.“

„Nein, tust du nicht. Du kannst nicht verstehen, wie das ist.“

„Ich finde dich auf jeden Fall sehr schön.“

Wenn man nicht mehr weiter weiß, macht man Komplimente. Aber trotzdem ist es nicht gelogen. Auf ihre Art ist Ria wirklich schön.

„Danke …“

Und Komplimente nehmen ihr den Wind aus den Segeln.

„Ich glaub, ich versuche jetzt, etwas zu schlafen …“

„Oh, sicher. Ruh dich aus. Ich mach dir mal Platz.“

Sie steigt kurz aus und auf dem Beifahrersitz wieder ein. Bevor ich die Augen zumache, sehe ich noch, wie sie diverse Schminkutensilien herauskramt.

Als ich wieder aufwache, sitzt Vince plötzlich auf dem Fahrersitz. Ich glaube wir fahren sogar. Die beiden unterhalten sich.

„… man doch was tun können.“

„Nein, das ist ja das schlimme bei einer Sucht. Der Süchtige selbst sieht die Dinge anders, so wie sie ihm passen. Und wenn Freunde und Familie ihre Sorgen äußern, wird das als ungerechtfertigte und hysterische Einmischung gewertet.“

Oh Mann.

„Und diese Pillen können wirklich dafür verantwortlich sein, dass er Blut bricht?“

„Ja, die Schmerzmittel greifen die Schleimhäute an. Er muss dringend aufhören, das Zeug zu schlucken. Das heute hätte ziemlich übel ausgehen können. Was wolltet ihr eigentlich hier?“

„Na ja, Jordan hat etwas Abstand von allem gebraucht und er hat gefragt, ob ich ihm Gesellschaft leisten kann. Irgendwie hatte ich ein mulmiges Gefühl. Ich wollte ihn nicht alleine lassen.“

Diese kleine Schleimerin!

„Ja, gut, dass du dabei warst.“

Ich strecke mich ausgiebig, um auf mich aufmerksam zu machen. Vinces Tonfall ist wider erwarten freundlich und süßlich:

„Na? Wieder wach? Wie geht’s dir?“

„Mhhhh, ganz okay, glaub ich. Wie lange sind wir schon unterwegs?“

„Ein paar Minuten erst.“

Ich rapple mich auf, habe Kopfschmerzen.

„Und wo ist dein Auto?“

„Eine Freundin hat mich abgesetzt. Sie hat die Chance spontan genutzt, um mit ihren Kindern nach San Diego zu fahren. Sea World und so.“

San Diego. Ich bekomme Gänsehaut. Dann sehe ich auch noch Vinces Hand auf Rias Oberschenkel liegen. Auf diesem weichen, haarlosen Flecken brauner Haut.

„Ich muss …“

„Tüte!“

Die finde ich gerade noch rechtzeitig, um nicht in mein eigenes Auto zu kotzen.

„Versuch lieber wieder zu schlafen“, bittet Ria mütterlich.

Ich werfe ihr einen bösen Blick zu und nehme wieder Schlafposition ein. Die restliche Fahrzeit dämmere ich so vor mich hin.

„Jordan? Aufwachen. Wir sind gleich da. Ich brauche die Adresse von deinem Arzt.“

„Fahr zu dir. Den Rest schaffe ich alleine.“

„Nein nein, kein Problem. Du musst erst mal zu einem Arzt.“

„Und wie willst du dann wieder nach Hause kommen?“

„Das hat Zeit.“

Okay, ich weiß, dass er keine Ruhe geben wird. Es ist Zeit für die Flucht nach vorne.

„Vielleicht hast du recht.“

„Ja?“

„Ja, fahr mich zu meinem Arzt.“

Ich gebe ihm die Adresse und sitze bald darauf im mir wohl vertrauten Wartezimmer.

Vince und Ria haben sich nicht abschütteln lassen. Sie schmökern in irgendwelchen Promimagazinen, während ich von der Sprechstundenhilfe Anti-Übelkeitstropfen eingeflößt bekomme.

„Na, was hat der Arzt gesagt?“

„Dass es vermutlich eine Schleimhautreizung ist und ich die Pillen nicht mehr nehmen soll. Er hat mir was zur Magenberuhigung gegeben und gesagt ich soll nur bekömmliche Dinge essen. Nichts Saures und so. Wenn es in ein paar Tagen nicht besser ist, muss ich zur Magenspiegelung. Das war’s.“

„Und deine Schmerzen?“

„Für den Notfall hat er mir Zäpfchen aufgeschrieben.“

Vince und Ria grinsen breit.

„Haha, sehr lustig. Ihr Kindsköpfe. Ich würde mich gern etwas hinlegen …“

„Dann fahren wir in die WG.“

Vince bleibt noch eine Weile bei seiner Freundin. Die beiden kochen ein bekömmliches Abendessen, was anscheinend ungewürzt bedeutet. Aber ich beschwere mich nicht. Als mein Bein wieder mächtig wehtut, nehme ich natürlich eine meiner alten Pillen. Ich meine Zäpfchen? Hallo?! Zum Glück hab ich noch fast eine ganze Packung davon. Das wird eine Weile anhalten.

Irgendwann werde ich Vince dann auch wieder los. Er nimmt sich ein Taxi nach Hause. Bus fahren scheint unter seiner Würde zu sein. Bitte, wenn er meint. Ria redet jedenfalls den ganzen Abend nur davon, wie toll er doch ist. Ich stelle mich nach einer halben Stunde schlafend.

Am Morgen lerne ich den neuen Mitbewohner flüchtig kennen, nachdem ich auf dem Weg zum Bad in ihn geprallt bin und mein Bein verdreht habe. Zäpfchen, pah! Er ist wohl so achtzehn oder neunzehn und sieht tatsächlich ein wenig aus wie Edward Furlong.

Am Nachmittag beschließe ich, Dylan zu bitten, die Babies besuchen zu dürfen. Oder am besten fahre ich einfach gleich vorbei.

Beide Autos stehen in der Auffahrt. Es sind also alle zu Hause. Ich überlege kurz zu klingeln, benutze dann aber doch meinen Schlüssel. Das ist schließlich auch mein Haus. Das Wohnzimmer ist leer, nur Stan hebt kurz seinen Kopf, erkennt mich und schläft einfach weiter. Aus der Küche höre ich Stimmen. Dylan und Josh.

„Aber es ist doch so. Das musst du zugeben! Sei doch mal ehrlich, Dylan.“

„Na ja … irgendwie …“

„Glaubst du ich weiß nicht, wie ihr euch kennengelernt habt?“

„Woher … ?“

„Ich hab die Geschichte aufgeschnappt, bei wem ist doch egal. Jedenfalls weiß ich, dass ihr eigentlich nur ein Sexdate hattet.“

„Josh, über so was will ich eigentlich echt nicht mit dir sprechen.“

„Darum geht’s mir ja auch gar nicht. Mein Punkt ist, dass du ihn niemals hättest näher kennenlernen wollen, wenn er nicht so gut aussehen würde. Nur deshalb hast du dich auch weiter für ihn interessiert. Das ist einfach das Erste, was man sieht. Und Jordan hat Glück, dass seine Schale nicht sein Inneres widerspiegelt. Sonst wäre er ganz schön hässlich.“

„Jetzt pass aber mal auf, wie du über deinen Vater sprichst.“

„Das nervt einfach auf Dauer, weißt du? Es war schon immer so. Die Leute haben sich scharenweise in ihn verknallt, sogar die Mädels in meiner Klasse haben mir nach meinen Geburtstagsfeiern immer Löcher in den Bauch gefragt. Und die ganze Bandsache! Meinst du, er wäre da so erfolgreich gewesen, wenn er nicht so aussehen würde, wie er aussieht? Jeder der ihn nur flüchtig kennenlernt, findet ihn ach so interessant. Aber wehe man gräbt ein bisschen tiefer! Im Inneren ist er nur ein nie wirklich erwachsen gewordener Exjunkie, der macht was er will und mit wem er will und das dann als coolen, freien Lebensstil verkauft. In Wahrheit hat er alles versaut, was er angefangen hat und lebt bloß von seinem Image. Absolut substanzlos. Ohne ihn sind wir alle besser dran.“

Uff. Mir ist, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube abbekommen. Ich muss hier raus, flüchte so schnell und leise wie möglich zurück in mein Auto. Es ist nicht die Respektlosigkeit meines Sohnes, die mir zu schaffen macht. Es ist … der Stachel der Wahrheit. Und es ist die Ähnlichkeit zu den Worten meines Großvaters und meines Vaters. Josh sieht mich genau so, wie die beiden. So wie ich wirklich bin?

Es klopft. Ich schrecke auf. Dylan steht neben dem Auto. Ich steige aus.

„Hey …“

„Hey …“

Er umarmt mich.

„Alles in Ordnung? Du siehst blass aus.“

„Nur eine Magenverstimmung, nichts Ernstes. Ich war schon beim Arzt.“

„Warum sitzt du hier?“

„Ich … ich wollte fragen, ob ich den Tag mit den Zwillingen verbringen kann.“

„Sicher. Jederzeit, das weißt du doch.“

„Okay, dann … dann mach ich sie mal startklar.“

„Du warst schon drinnen, oder?“

Verdammt, woher weiß er so was immer? Ich mustere meine Fußspitzen.

„Du hast mich und Josh gehört“, stellt er fest.

„Ich wollte nicht lauschen oder so …“

„Ich bin mir sicher, er meint es nicht so …“

Ich lache auf, denn ich kenne meinen Sohn. Er sagt nie etwas Unüberlegtes. Und Dylan weiß das eigentlich auch.

„Nein, Josh hat recht.“

„Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?“

„Doch, ehrlich gesagt schon. Ich versau wirklich immer alles. Und was die andere Sache betrifft: Ich hab oft davon profitiert, dass sich jemand in mein Äußeres verschossen hat. Scott zum Beispiel … und Sean … und du.“

„Ich hab mich doch nicht …! Jetzt hör aber auf. Natürlich bist du nicht perfekt, aber wer ist das schon? Aber ich hab mich in dich verliebt, in dich als Mensch. Es stimmt. Deine Gefühle und deine Impulsivität haben dir schon viele Schwierigkeiten eingebracht. Aber sie machen dich auch aus. Die Fähigkeit zu lieben, bedingungslos, und nicht zu urteilen. Und deine verrückten Ideen und dein Mut, das alles umzusetzen … und deine Hingabe. Du bist innen mindestens genau so schön wie außen, Jordan.“

„So fühl ich mich aber nicht. Ich fühle mich kaputt und leer und wie ein Versager. Ich hab alles verloren …“

„Warst du schon bei Xander?“, fragt er vorsichtig.

Ich schüttle den Kopf.

„Warum nicht?“

„Ich hab Angst davor. Ich weiß nicht, in welcher Verfassung er ist. Und ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe, ihn so zu sehen.“

„Du solltest nicht zu lange damit warten.“

„Dylan, ich kann doch nicht mit dir über Xander sprechen …“

„Doch, kannst du. Ich bin immer noch dein Ehemann und ich habe geschworen, dass ich für dich da sein werde. In guten wie in schlechten Zeiten. Das schulde ich dir.“

Sein Blick lässt keinen Zweifel daran zu, dass er das bedingungslos ernst meint. Ich bin nicht allein auf dieser Welt. Er beschützt mich noch immer, trotz allem was ich ihm angetan habe.

„Danke … das … das bedeutet mir viel.“

„Lass uns die Kinder holen.“

Josh sieht mich und verzieht sich kommentarlos. Die Zwillinge liegen in ihren Bettchen und sehen sich neugierig um. Gemeinsam packen Dylan und ich die Wickeltasche und wechseln dann noch mal Windeln. Dylan hat einen Zwillingskinderwagen besorgt. Der kommt in meinen Kofferraum. Bald sind wir startklar. Ich justiere noch mal meine Beinschiene neu, bevor ich mich hinters Steuer setze. Dylan steht neben dem Auto, hält die Fahrertür noch offen und fragt:

„Wie geht es deinem Bein?“

„Wird schon …“

Er geht neben mir in die Hocke.

„Es tut mir wirklich leid.“

„Das war doch keine Absicht.“

„Ich dachte, ich hätte mich besser im Griff. Ich bin ziemlich vor mir selbst erschrocken.“

„Ach das war nur eine Verkettung unglücklicher Umstände …“

„Nein, ich hab die Kontrolle verloren. Ich hab rot gesehen. Da hätte noch viel Schlimmeres passieren können.“

„Dylan, ich hab dir verziehen. Also sei nicht so hart zu dir.“

„Ich wache nachts auf, nass geschwitzt und panisch, weil ich geträumt habe, dass ich dir wehtue. Das ist wirklich mein schlimmster Albtraum. Ich will dich beschützen. Aber wie kann ich dich vor mir selbst beschützen?“

„Gar nicht. Und das musst du auch nicht. So was wird nie wieder passieren, das weiß ich. Ich habe keine Angst vor dir. Ich vertraue dir.“

Ich streiche über seine Wange. Er hält meine Hand kurz fest, atmet tief ein und steht dann auf.

„Wir sehen uns heute Abend.“

Er schließt die Tür schneller als ich etwas entgegnen kann und klopft kurz aufs Autodach, bevor er Richtung Haus zurückgeht, ohne sich noch mal umzudrehen.

Der Tag mit den Babies tut mir wirklich gut. Ich bin beschäftigt und nicht allein, werde gebraucht und kann die Beziehung zu den Beiden stärken. Wahnsinn, wie sehr diese Kinder auf mich reagieren!

Den darauffolgenden Tag verbringe ich mit Gwen. Shopping. Mein Magen hat sich inzwischen beruhigt. Ich habe die Pillen auch ziemlich zurückgeschraubt. Eine am Tag, mehr nicht. Dann wird es Zeit, mich auf meine Seminare vorzubereiten. Ich grüble auch viel über Xander nach.

Am Sonntagabend beschließe ich, Andy anzurufen. Sie wird wissen, wo er gerade ist. Ob ihre Nummer wohl noch stimmt? Ich versuche es einfach mal. Nein. Wer könnte die haben? Scott? Sonst fällt mir niemand ein. Verdammt. Na dann muss ich wohl in den sauren Apfel beißen.

„Hallo Jordan“, höre ich in unterkühltem Tonfall.

„Hey … Ich wollte mich entschuldigen.“

„Mhm.“

„Ich war an dem Tag nicht ich selbst.“

„Was ist los?“

„Dylan und ich haben uns getrennt.“

„Was?! Wann?“

„Am Tag vor unserem Treffen.“

„Das tut mir ehrlich leid. Kann ich was tun?“

„Nein, …. Das heißt ja, ich bräuchte Andys Nummer.“

„Andy von den O-Scars?“

„Ja, ihre alte funktioniert nicht mehr.“

„Hm, ich glaub nicht, dass ich die habe. … Aber Patrick vielleicht. Ich seh mal eben in seinem Handy nach.“

„Danke.“

„Ja, hier ist sie. Hast du was zu schreiben?“

Er gibt mir die Nummer durch.

„Dankeschön.“

„Kein Problem. Und wenn ich sonst noch irgendwas für dich tun kann?“

„Wenn dann nur Geschäftliches.“

„Ich halte die Ohren offen.“

„Danke.“

Okay, ich atme noch mal tief durch, setze mich bequem hin und wähle Andys Nummer.

„Ja hallo?“

„Hey Andy. Ich bin’s, Jordan.“

„Oh … hi.“

Ohjeh, den Tonfall kenne ich inzwischen nur zu gut. Wieder jemand der nicht gerade begeistert davon ist, von mir zu hören.

„Ich wollte fragen, ob du weißt, wie es Xander geht.“

„Warum fragst du das nicht seine Familie?“

An ihrem Unterton merke ich, dass sie die Antwort schon kennt.

„Weil die mir nichts sagen würden.“

„Zu recht.“

„Ich weiß“, gebe ich zu. „Aber ich … ich will für Xander da sein. Bitte, kannst du mir nicht wenigstens sagen, ob er noch in der Klinik ist?“

„Nein, ist er nicht. Zumindest nicht in der gleichen. Inzwischen ist er in einer Art Reha und wird dort wohl auch noch eine Weile bleiben.“

„In einer Psychiatrie?“, mutmaße ich.

„Ja.“

„Hier in L.A.?“

„Ja. Hör mal, ruf seine Eltern an. Ich leg jetzt auf.“

„Warte …“

Aber es ist schon zu spät.

Immerhin ist er in L.A.. Jetzt muss ich nur noch rausfinden, in welcher Klinik. So viele können das doch nicht sein.

Ein Blick in die gelben Seiten belehrt mich eines besseren. Ich muss mir etwas einfallen lassen. Aber erst mal muss ich mich auf meine Seminare konzentrieren. Ria steckt ihren Kopf zur Tür herein.

„Komm ruhig rein, ich bin fertig“, erkläre ich.

„Ah, gut. Ich sollte nämlich langsam schlafen gehen.“

„Warum? Was steht morgen an?“

„Ein Vorstellungsgespräch.“

„Wirklich? Als was?“

„Nichts Besonderes. Assistentin in einem Spa.“

„Was musst du da machen?“

„Alles mögliche. Terminvereinbarungen, Getränke servieren … alles was gerade anfällt.“

„Auch putzen und so?“

„Ja …“

„Ist das nicht … ich meine …“

„Unter meiner Würde? Tja, irgendwo muss das Geld ja herkommen …“

„Hast du den High School Abschluss?“

„Nein …“

„Wie alt bist du eigentlich? Und sag jetzt nicht, ich soll dich schätzen.“

„Neunzehn.“

„Wirklich? Ich dachte du wärst älter. Nicht weil du älter aussiehst“, füge ich schnell hinzu. „Sondern weil du dich älter gibst. Reifer.“

„Ja … jedenfalls schlafe ich vor so was immer schlecht und deshalb würde ich jetzt gerne ins Bett gehen.“

„Okay, ich geh noch kurz ins Bad und leg mich dann auch hin.“

Als ich wiederkomme, ist sie abgeschminkt. Das ist das erste Mal, dass sie nicht perfekt angeschmiert ins Bett geht.

„Kann ich mir ein Shirt von dir leihen?“, fragt sie.

„Ehm, ja sicher. Was für eines?“

„Eines in dem ich schlafen darf.“

Ich suche kurz durch, was ich dabei habe, und gebe ihr ein einfaches, grau meliertes. Sie zieht sich aus, komplett, und zieht es an.

„Ehm … willst du auch Shorts von mir?“, frage ich etwas baff.

„Wenn das geht?“

„Klar.“

Sie kriegt meine Smiley-Boxers, die ich von Gwen zum Geburtstag bekommen habe.

„Du siehst echt unglaublich sexy darin aus.“

„Wirklich? Das hängt doch alles viel zu weit an mir dran …“, winkt sie bescheiden ab.

„Ich find es toll. Und auch dein Gesicht. Du solltest dich nicht immer hinter dem ganzen Makeup verstecken.“

„Ich hab mich nur abgeschminkt, weil ich morgen etwas professioneller Aussehendes versuchen will, für das Vorstellungsgespräch.“

„Verstehe. Und warum meine Kleidung?“

„Mir war danach.“

„Du hast dir das Leben als Frau nicht ausgesucht“, stelle ich etwas naiv fest.

„Wer sucht sich das auch aus?“

„Nein, ich meine … du wurdest als Junge erzogen und plötzlich hattest du den Körper einer Frau, oder?“

„Na ja, nicht plötzlich, aber ja …“

„Vermisst du es manchmal?“

„Das ist kompliziert …“

„Du hättest einen gut aussehenden Mann abgegeben.“

„Das könnte ich immer noch. Mit einer Hormontherapie …“

„Denkst du darüber nach?“, frage ich erstaunt.

„Nicht ernsthaft. Ich könnte niemals das Geld dafür auftreiben.“

„Aber wenn du könntest?“

„Dann würde ich ernsthaft darüber nachdenken.“

„Seltsam.“

„Warum?“

„Weil du dich sehr weiblich kleidest und so. So als würdest du deine Weiblichkeit richtig zelebrieren.“

„Mir ist wichtig, dass ich gut aussehe. Um Weiblichkeit geht’s mir dabei nicht. Aber als Mann gekleidet würde ich lächerlich wirken. Ich meine, ich müsste mir die Brüste abbinden und so.“

„Hast du das schon mal gemacht?“

„Sicher, anfangs oft. Das geht schon. Aber das nächste Problem wären passende Hosen. Meine Rundungen könnte ich höchstens in Baggy-Klamotten verstecken. Bei meinen Cousins sehr beliebt. Aber ich will nicht wirken, als würde ich einer Straßengang angehören.“

„Also bist du nicht glücklich mit deinem Körper?“

„Wärst du’s?“

„Weiß ich nicht“, antworte ich ehrlich.

„Sicher, über so was musstest DU dir noch nie Gedanken machen.“

„Was meinst du?“

„Na dein Äußeres ist perfekt.“

Oh nein, nicht das Thema schon wieder.

„Auf das Äußere kommt es aber nicht an.“

„Aber es schadet auch nicht.“

Sie lässt sich auf ihr Bett fallen. Ich setze mich auf mein provisorisches Lager.

„Manchmal schadet es doch“, behaupte ich.

„So, wie das?“

Ja, wie das? Wie kann ich ihr das erklären?

„Na ja, die Leute erwarten sehr viel von einem. Und man wird sehr oft in Versuchung geführt …“

„Ja, du lässt nichts anbrennen. Das hab ich bemerkt.“

„Na ja, immerhin war ich Dylan fast vier Jahre lang treu …“

„Aber dann hattest du es recht eilig, mit mir zu schlafen.“

„Ja, das … ich weiß auch nicht, das war ein seltsamer Tag.“

„Inwiefern?“

„Bitte werd nicht sauer, okay?“

„Mal sehen.“

„In der Nacht zuvor hab ich mich an Vince rangemacht. Aber er hat mich zurückgewiesen. Wegen dir.“

„Und du hast das mit mir getan, um ihm eins auszuwischen?“, fragt sie eher ängstlich als sauer.

„Nein! Natürlich nicht! Das wollte ich damit nicht sagen. Danach hab ich das Gleiche bei Scott versucht, ein anderer Exfreund. Und dann auch noch bei Tobey.“

„Janets Tobey?!“

„Ja … wir waren auch mal zusammen.“

„Sag mal, mit wem warst du eigentlich noch nicht zusammen?!“

„Ja, ich weiß … aber ich bin auch bedeutend älter als du. Abwarten, wer in zwölf Jahren so alles auf deiner Liste steht.“

„Also bist du ein Springer?“

„Ein was bitte?“

„Ein Springer. Wie die Dämonen in Filmen. Wenn ihr Wirt stirbt, dann springen sie sofort zum nächstbesten Menschen über. Und wenn bei dir eine Beziehung stirbt …“

„So hab ich das noch nie gesehen. Aber ja, das könnte hinkommen.“

„Ich hatte noch nie Sex mit jemandem, der mir was bedeutet“, gesteht sie unvermittelt.

„Aber Sex hattest du schon?“, frage ich vorsichtshalber.

„Versprich mir, dass das, was ich dir gleich sage, unter uns bleibt.“

„Du bist Anschaffen gegangen“, rate ich.

„Woher …?“

„Liegt nahe, oder?“

„Siehst du mich jetzt anders?“

„Um Gottes Willen, nein! Es gab eine Zeit, da hatte ich auch viel bedeutungslosen Sex. Allerdings war ich zu dämlich, dafür Geld zu verlangen.“

Das ringt ihr ein Lächeln ab.

„Was hat dich in diese Situation gebracht?“, frage ich.

„Ich bin mit fünfzehn in ein Heim gekommen. Na ja damals hab ich noch versucht, ein Junge zu sein. Hat nicht besonders gut funktioniert. Ich wurde ständig verprügelt und so. Daraufhin bin ich abgehauen. Ich hab fast zwei Jahre auf der Straße gelebt. Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag bin ich zurück, um noch das Arschtrittgeld zu kassieren.“

„Das was?“

„So haben wir die paar Dollar genannt, die man bekommt, wenn man mit achtzehn aus dem System fliegt.“

„Verstehe.“

„Na ja, dann hab ich mich eine Weile alleine durchgeschlagen, bis ich bei meinem Exfreund untergekommen bin. Ihm habe ich meine Schuhsammlung und das alles zu verdanken. Er hat sich gut um mich gekümmert.“

„Ich dachte, du hast noch nie mit jemandem geschlafen, der dir etwas bedeutet?“

„Ich habe nie mit ihm geschlafen. Er war vierundachtzig.“

„Was?!“

„Er war eher so was wie ein Großvater … nur mit vor ihm strippen und so.“

„Verstehe. Und im Gegenzug hat er dir teure Geschenke gemacht.“

„Sehr zum Ärger seiner Kinder. Aber als er gestorben ist, war das vorbei. Ich stand mit leeren Händen da, die Erben konnten sich in ihrem neuen Reichtum suhlen und ich musste sehen, wo ich blieb. Zum Glück hab ich bald diese Wohnung hier gefunden.“

„Du suchst also wieder einen Mann, der sich um dich kümmert?“

„Mit Vince ist es nicht so, falls du darauf anspielst.“

„Gut.“

„Darf ich dir noch etwas anvertrauen?“

„Sicher.“

„Ich bin sehr unsicher, was den Sex betrifft. Ich weiß einfach nicht, wie man ganz normal miteinander schläft …“

„Am Strand hast du nicht sehr unsicher gewirkt …“

„Du hast mir die Nervosität genommen, mit deiner Selbstsicherheit und deiner Ehrlichkeit.“

„Und was erwartest du jetzt von mir?“

„Kannst du hier rüber kommen?“

Ich stehe auf, gehe langsam auf sie zu. Sie blickt etwas ängstlich zu mir auf. Wie ein scheues Reh. Nein, eher wie eine vorsichtige Streunerkatze. Als ich meine Hand nach ihrer Wange ausstrecke, schmiegt sie sich an mich. Sie schnurrt sogar ein wenig. Ich setze mich neben sie, ziehe ihren geschmeidigen Oberschenkel über meine Beine, streichle sie, küsse ihren Hals. Sie scheint es eilig zu haben, schiebt mir mein Shirt über den Kopf. Ich ziehe sie rittlings auf meinen Schoß, fahre mit meiner Zunge über ihre Lippen, öffne meine Hose. Ria drückt mich nach hinten, entledigt mich meiner restlichen Klamotten. Wow, die geht ran! Sie streift sich mein Shirt wieder ab, beugt sich über mich. Ich küsse ihren Oberkörper, fasse sie an, überall, spüre, wie sich ihr Herzschlag beschleunigt. Sie atmet schnell, drängt sich an mich. Ihr Schwanz drückt sich gegen meinen, nur noch der dünne Stoff zwischen uns. Dann nichts mehr. Sie liegt auf mir, wir bewegen uns im selben Rhythmus, reiben und pressen uns gegeneinander. Meine Arme umfassen sie, ziehen sie noch näher. Sie sieht mich aus glasigen, wollüstigen Augen an, küsst mich. Wir bewegen uns schneller, sind eins. Ich liebe das.

„Mh, ah … Jordan, mh … darf ich … ich will in dich.“

Etwas überrascht nicke ich. Sie kramt kurz ein Kondom und Gleitmittel hervor.

„Dreh dich um.“

Ich gehorche und spüre kurz darauf ihre Zunge. Ich gebe einen wohligen Laut von mir. Dann dringt sie ein. Ganz vorsichtig. Fast unaushaltbar langsam. Ich atme tief durch, spüre sie für einen Moment einfach nur, bevor sie anfängt, sich sachte zu bewegen.

„War alles … okay? Ich meine …“

„Es war toll, Ria.“

Sie kriecht in meinen Arm.

„Ich hab das vorher noch nie gemacht.“

„Dann bist du ein Naturtalent.“

„War das Tempo okay?“

„Du hast dich gut auf mich eingestellt. Du bist sehr einfühlsam.“

„Hätte ich irgendwas zusätzlich machen sollen?“

„In der Stellung kamst du ja nicht an meinen Schwanz, was hättest du also noch tun sollen?“

„Wäre dir eine andere Stellung lieber gewesen?“, fragt sie sofort.

„Es gibt viele tolle Techniken und so weiter, man kann immer ein bisschen abwechseln.“

„Ich mag diese am liebsten, … also wenn ich den passiven Part übernehme.“

„Ich sehe meinem Partner dabei gern ins Gesicht.“

„Wie mag es Vince?“

„Das findest du schon noch raus“, grinse ich.

„Aber er ist auch lieber passiv, richtig?“

„Stimmt.“

„Ich glaube, ich könnte mich dran gewöhnen“, grinst sie.

„Soso. Fühlst du dich jetzt also sicherer?“

„Ja, ich glaube, ich krieg das hin.“

„Wann triffst du ihn wieder?“

„Übermorgen gehen wir Abendessen.“

„Und danach werdet ihr …?“

„Das ist der Plan, ja.“

„Hui. Glücklicher Vince.“

„Ach hör schon auf, du Charmeur!“

„Du bist wirklich was Besonderes, Ria. Ich freu mich, dass du meine Mitbewohnerin bleiben wirst.“

„Wir sollten jetzt schlafen“, lächelt sie und zieht die Decke über uns.

Bald schon wird ihr Atem an meinem Hals ruhig und gleichmäßig. Auch ich entspanne mich und schließe meine Augen.

Ria steht früh auf, verschwindet im Bad und kommt ewig später fertig aufgetakelt ans Bett zurück.

„Guten Morgen.“

„Morgen“, gähne ich.

„Wie seh ich aus?“

„Wie eine Assistentin in einem Spa.“

„Gut. Willst du noch mit mir frühstücken?“

„Wie spät ist es?“

„Halb neun.“

„Wann musst du los?“

„Mit dem Bus um fünf nach neun.“

„Du willst mit dem Bus zum Vorstellungsgespräch? Das kann ich nicht zulassen. Ich fahr dich.“

„Wirklich?“

„Klar. Ich muss erst nachmittags zur Uni.“

Kurz vor zehn parken wir vor einem Mittelklassespa mit getönten Scheiben und rosa Werbetafeln.

„Du musst wirklich nicht warten.“

„Doch, klar. Ich will doch wissen, wie es gelaufen ist. Und jetzt geh schon. Du packst das.“

„Sind meine Haare okay?“

„Ja, sieht sehr verantwortungsbewusst aus. Dein Makeup ist auch nicht verschmiert und du hast nichts zwischen den Zähnen. Geh schon.“

„Danke Jordan.“

Ich kann dank des Schattenparkplatzes im Wagen sitzen bleiben und etwas Musik hören. Ich habe so viele Ideen im Kopf, die wollen da dringend raus. Ich sollte wirklich mal wieder anfangen, Dinge aufzuschreiben.

Nach zwanzig Minuten höre ich das inzwischen vertraute Klackern auf Asphalt. Ich steige aus und sehe Ria mit undurchdringlicher Miene auf mich zukommen.

„Na?“

Sie kommt schweigend noch ein Stück näher. Dann grinst sie:

„Ich hab den Job!“

„Yeah! Hab ich doch gesagt!“ Wir fallen uns erst mal in die Arme. „Ich bin stolz auf dich, Süße!“

Ich drücke ihr einen Schmatz auf die Lippen.

„Das hat noch niemand zu mir gesagt“, erklärt sie mit großen Augen.

In diesem Moment sieht sie trotz der dicken Schminke so jung aus, wie sie ist. Nur drei Jahre älter als mein Sohn. Ich nehme sie fest in den Arm.

Sie wird gleich eingearbeitet, also mache ich mich allein auf den Rückweg. Die WG ist verlassen. Ich spiele noch ein wenig Gitarre, bevor ich los muss. Erst zu Tisha, dann in das neue Seminar.

Ich habe die Vorbereitungstexte brav gelesen und mir sogar Notizen dazu gemacht. Entgegen meiner Gewohnheiten beteilige ich mich rege am Unterrichtsgespräch. Tisha lächelt mich beim Rausgehen sogar an und zwinkert mir zu.

Das Lokalpolitik-Seminar ist in einem anderen Gebäude. Ich beeile mich, weil ich nicht weiß, wie lange ich dahin brauche und nur eine halbe Stunde Zeit habe. Aber schon siebeneinhalb Minuten später komme ich an und muss nur noch die Raumnummer suchen. Gleich gegenüber ist die Tür zu einem kleinen Innenhof. Ich beschließe, noch ein bisschen frische Luft zu schnappen. Die meisten Bänke stehen recht zentral und damit in der Sonne. Genau eine steht allerdings im Schatten. Für die entscheide ich mich. Ich überlege, meinen MP3-Player rauszukramen, aber hier ist es so angenehm ruhig und verlassen, dass ich mich entschließe, ein paar Textideen aufzuschreiben.

„Natürlich Sir, gar kein Problem. Ich habe mich bereits darum gekümmert.“

Ein Kerl im Anzug, nicht viel älter als ich, redet viel zu laut in sein Handy.

„Auch das ist kein Problem. Unser Team hat die Rede schon vorbereitet. Moment, ich schlage kurz nach.“

Jetzt bleibt der Typ auch noch direkt vor mir stehen, um irgendwas aus seiner Tasche zu kramen. Er scheint gefunden zu haben, was er gesucht hat und liest aus einer Aktenmappe vor:

„Die Beschäftigung mit den Problemen der einkommensschwächeren Bürgerinnen und Bürger unseres Wahlkreises ist eines meiner Hauptanliegen. Denn unsere Gesellschaft ist eine Einheit. Das Leid eines Einzelnen ist das Leid der ganzen Gesellschaft. Nur wer … Eine Wortwiederholung? Gesellschaft? Ja, tatsächlich. Ein Synonym dafür … nunja …“, stottert er.

„Gemeinschaft“, zische ich genervt und hoffe, dass er dann endlich verschwindet und hier wieder Ruhe einkehrt.

„Gemeinschaft!“, wiederholt er und streckt mir seinen Daumen entgegen. „Genau Sir. Gut, ich faxe ihnen den Rest zu. Natürlich, ich kümmere mich um alles. Auf Wiederhören.“

Er legt auf und lockert erst mal seinen Krawattenknoten. Dann kommt er auf mich zu.

„Puh, dankeschön. Gutes Synonym.“

„Kein Problem.“

Ich sehe kaum von meinem Block auf. Ich hab keine Lust auf Smalltalk.

„Sie schreiben?“, fragt er und deutet auf meinen Notizblock.

„Jo.“

„Ist das Lyrik?“

„Ein Song.“

„Darf ich?“

Er schielt auf mein verkritzeltes Blatt und liest laut:

„When I come home late at night

And realize you’re there even though we had this fight

I try to be grateful but I just want you out of sight.

Why can’t you leave?

Oh Baby please,

Together we can’t make it right.

… Wow, das ist stark.“

„Ach, das ist bloß ein erster Entwurf …“

Er bietet mir seine Hand an.

„Michael Buttler.“

„Jordan Handerson.“

„Schön sie kennenzulernen. Studieren sie hier?“

„Ja, noch. Ich werde bald meine Abschlussarbeit anmelden.“

„Ah? Schon ein Thema in Aussicht?“

„Ich hab mich noch nicht entschieden.“

„Was sind denn ihre Schwerpunkte?“

„Sozialpsychologie und Literatur.“

„Interessante Kombination. Und was machen sie hier bei den Politologen?“

„Meinen letzten Schein. Sonst bin ich nirgends mehr untergekommen.“

„Verstehe. Dafür müssen wir dann herhalten“, zwinkert er. „Na gut, dann will ich ihre kreativen Flüsse nicht mehr länger stören. Auf Wiedersehen und danke noch mal.“

„Ja, bye.“

Seltsamer Kerl. Irgendwie eine komische Mischung aus schmierigem Politiker und … ich weiß auch nicht, irgendwas Nettem.

Der Raum ist ziemlich klein. Die meisten scheinen sich zu kennen. Viele Hemdsträger sind dabei und ein paar Öko-Leute. Okay, soweit so schlecht. Aber natürlich reicht das noch nicht. Zu allem Überfluss kommt auch noch der Gesellschafts-Synonym-Typ herein und neben mir ist noch ein Platz frei. Mist.

Obermist!! Der Kerl packt seine Tasche vorne am Pult aus.

„Hey“, versuche ich das Mädel neben mir auf mich aufmerksam zu machen.

„Ja?“

„Ist das Myers?“

„Nein, das ist Buttler. Er hat den Kurs letzte Woche übernommen. Myers fällt das restliche Semester krankheitsbedingt aus.“

„Na toll.“

Oh, hab ich das gerade laut gesagt? Die Braunhaarige zuckt jedenfalls nur die Schultern und dreht sich wieder zu ihrer anderen Nachbarin.

Wunderbar, ich hab meinem Dozenten gerade auf die Nase gebunden, dass ich mich einen Scheißdreck für sein Fach interessiere und nur nichts Besseres gefunden habe. … Er nickt mir kurz zu, bevor er die Allgemeinheit begrüßt und dann anfängt, den Lokalpolitikteil der Tageszeitung mit uns zu besprechen. Okay, nächste Woche die Zeitung besorgen, alles klar.

Die Diskussionen dauern ewig. Hier drinnen sitzen noch mehr Leute als in anderen Kursen, die sich gerne reden hören. Danach gibt es eine kurze Pause, die die meisten für wichtige Anrufe nutzen, und dann geht es um die Entscheidungsfähigkeit des Cityboards am Beispiel eines Erlasses zum Thema Artenschutz in bebaubaren Gebieten. Scheinbar beschäftigt sich dieses Board seit fast drei Jahren mit der Frage, ob der Bau eines Parkhauses in Konflikt steht mit den Brutgewohnheiten einer seltenen Finkenart. Falls ich jemals an einer Comedyserie mitschreibe, benutz ich das. Lächerlich!

Dann werden noch ein paar neue Klauseln zum Thema Minderheitenschutz im Öffentlichen Dienst durchgesprochen. Ich muss mich sehr zusammenreißen, um nicht ständig zu gähnen. Es ist schließlich schon halb acht Uhr abends. Noch eine viertel Stunde, dann ist dieser Müll hier überstanden. Zumindest für diese Woche …

„Na schön, meine Herrschaften. Lassen sie uns diese Diskussion auf nächste Woche verschieben. Ich wünsche ihnen eine erfolgreiche Zeit im Hochschulwahlkampf. Und vergessen sie nicht am Freitagabend die Live-Übertragung der Plenumssitzung anzuschauen. Auf Wiedersehen.“

Ich packe mein Zeug zusammen und kann es kaum erwarten, aus dem stickigen Raum …

„Mister Handerson? Haben sie noch einen Moment?“

Ach verdammt.

„Sicher“, versuche ich zu lächeln.

Natürlich haben noch achtzig Prozent der Kommilitonen irgendwelche wichtigen Fragen. Buttler deutet mir an, mich noch einen Moment zu setzen. Na toll. Ich schiele auf meine Handyuhr. Gleich acht. Schon der erste Kerl in der Schlange braucht ewig. Ich packe meinen MP3-Player aus.

Jemand tippt mir auf die Schulter. Buttler. Der Raum ist ansonsten inzwischen leer. Ich war so vertieft, ich hab gar nicht mitbekommen … halb neun?! Ich ziehe die Stöpsel aus den Ohren.

„Danke fürs Warten. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Aber einige Seminarteilnehmer können einem ganz schön ein Ohr abkauen.“

„Tja, Berufsrisiko wenn man Politik unterrichtet, oder?“

„Sehr wahr“, lacht er.

„Hören sie, wegen vorhin, … es ist nicht so, dass das Seminar meine allerletzte Wahl gewesen ist …“

„Natürlich nicht. Das war vermutlich Steuerrecht, was?“, grinst er.

„Und die Geschichte des Feminismus“, gebe ich zurück.

„Haben sie sich heute sehr gelangweilt?“

Ich schaue ihn abschätzend an. Dann antworte ich:

„Ich muss wohl erst noch ein bisschen reinkommen …“

„Lokalpolitik besteht nicht nur aus Ämtern und Paragrafen und …“

„Sinnlosen Diskussionen?“, schlage ich vor.

„Genau. Wir werden schon was finden, das sie interessiert. Wie steht es mit Publicity? Rhetorik und Pressearbeit. Geht das eher in ihre Richtung?“

„Damit kann ich zumindest was anfangen, ja.“

„Okay. Hören sie, ich weiß es ist spät, aber darf ich sie um etwas bitten?“

„Ich schätze ich schulde ihnen was dafür, dass sie mich noch ins Seminar gelassen haben …“

„Die Rede, aus der ich vorhin am Telefon vorgelesen habe, soll morgen gehalten werden. Könnten sie bei einem Kaffee vielleicht mal drüberlesen? Es sind nur zwölf Seiten.“

„Sicher, so was mach ich gern.“

„Wirklich? Sehen sie, da haben wir doch schon eine Möglichkeit für sie, sich einzubringen. Kommen sie, die Cafeteria hat noch offen.“

Er gibt mir einen Kaffee aus. Er selbst trinkt Pfefferminztee. Komisch, dabei wirkt er wie der typische Kaffeejunkie. Dann holt er einen Packen Blätter aus einer Aktenmappe.

„Hinten und vorne bedruckt. Sehr umweltfreundlich“, bemerke ich.

Er lächelt nur.

„Also … wer hält denn die Rede? Sie oder …?“

„Nein, der Kandidat, den ich bei der Stadtratswahl unterstütze.“

„Also dürfen auch keine Rechtschreibfehler drin sein.“

Ich überfliege die erste Seite.

„Kommasetzung ist wohl nicht ihre Stärke, was? Darf ich da reinschmieren?“

„Sicher …“

„Wollen sie das echt so schreiben?“

Ich deute auf einen Absatz über Jugendarbeit.

Über meinem dritten Becher Kaffee kommen wir zur Hälfte.

„Wir schließen jetzt“, raunt eine fettleibige Frau mit Haarnetz und Stützstrümpfen.

Ich schaue auf mein Handy. Nach zehn.

„Müssen sie los?“, fragt er.

„Nein, daheim wartet niemand auf mich. Wenn sie also wollen, können wir das noch fertig machen.“

„Das wäre toll. Ihre Anmerkungen sind wirklich hilfreich.“

„Wann wollen sie das eigentlich alles noch ändern? Ein Notebook wäre jetzt hilfreich, was?“

„Es wird wohl mal wieder eine kurze Nacht werden. Kommen sie, ich weiß, wo wir hingehen. Das Gebäude wird jetzt dann abgeschlossen.“

Er lotst mich in eine Studentenkneipe. Keine von der lauten Sorte. Eine in der man gut arbeiten kann. Es ist nicht zu dunkel und nicht zu voll.

„Wollen wir auf Bier umsteigen?“, fragt er.

„Rootbeer für mich. Ich muss noch fahren.“

„Kommt sofort.“

Auf der vorletzten Seite brennen meine Augen schon ziemlich. Zur Entspannung lasse ich meinen Blick mal wieder durch den Raum schweifen.

Ryan!

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