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Der Traum vom Altenheim

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Lieber Thomas,

Ich hatte heute Nacht den seltsamsten Traum.

Wir beide waren alt, bestimmt 80. Und wir lebten in Altenheimen, jeder für sich. Also in verschiedenen. Tag für Tag saßen wir am Fenster in unserem Zimmer und haben hinaus gestiert. Nicht weil wir dement waren, nicht weil wir nichts Besseres zu tun gehabt hätten. Nein, weil wir es einfach nicht glauben konnten. Wir konnten nicht glauben, wie unsere Leben verlaufen waren, wir konnten nicht glauben, dass es plötzlich zu spät war. Für alles. Wo waren die Jahre hin gegangen? Wann hatten wir unsere Chance verpasst? Warum haben wir es nicht kommen sehen, das Ende, die Hilflosigkeit, die Reue?

Jetzt waren wir alleine, jeder für sich. Ohne Familie, ohne einen Lebenspartner, ohne ein erfülltes Leben, auf das wir zurückblicken hätten können. Und dieses Gefühl war niederschmetternd. Diese absolute Leere und das Wissen, dass wir die Chance gehabt hätten! Wir hatten uns gefunden! Wir hätten alles haben können! Wir beide, zusammen! Doch wir haben es nicht getan. Wir haben es immer vor uns her geschoben, aus Angst, aber auch aus Bequemlichkeit, wie mir da in meinem Rollstuhl am Fenster klar geworden ist. Wir waren jung, wir waren kräftig! Wir hatten uns! Wir hätten das durchgestanden! Doch dieses Selbstvertrauen kam zu spät. Die Jahre waren vergangen, das Leben hatte uns von einander fort gespült, wir haben uns nicht genug aneinander festgehalten. Denn wir wussten, ohne diesen entscheidenden Schritt führte unsere Beziehung ins Nichts. Ein lebenslanges Schauspiel konnten wir uns beide nicht vorstellen. Da wir die unausweichliche Wahl nicht treffen wollten, haben wir einfach gar nichts getan, und das hat uns hier her geführt. In dieses einsame, bedauernde Grübeln. Zu der Qual der zu späten Erkenntnis.

Ich bin aufgewacht. Ich hatte das Glück, aufwachen zu können. Doch ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, sich nichts mehr zu wünschen, als diese Entscheidung doch noch treffen zu können. Nichts kann schlimmer sein, als das, was diese beiden Männer in ihren Zimmern am Fenster empfunden haben. Ich bin nicht stark genug, um diese Last auszuhalten. Bitte hilf mir, dass es nie so weit kommen muss. Bitte triff mit mir zusammen diese so lange aufgeschobene Entscheidung.

In Liebe,

dein Chris

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