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Summer in Paradise - Band 1

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der neueste Band um Jordan und David.

Lese-Reihenfolge:

Along the Way

Sommer 2006

Chinese Food (nur Nebendarsteller)

Sommer – Der Boden der Tatsachen

A longer Way

Threeway

Seelendorf

Summerways

Summer in Paradise

Jordan

Es ist Zeit, Nikki wieder mehr einzubinden. Gwen und Cooper verbringen die Wochenenden im Februar bei ihr und Oliver. Und zu Gwens Geburtstag am 3.3. gibt es eine Riesen-Party mit ihrer ganzen Klasse und der ganzen Verwandtschaft. Meine Mum, Nikkis Eltern und mein Vater sind auch da. Weil David, die Zwillinge und ich am nächsten Tag nach München fliegen, und auch Nikki, Oliver und Cooper in ein paar Tagen nachkommen, herrscht Abschiedsstimmung. Meine Mum ist sehr anhänglich, Marie scheint wütend zu sein und mein Dad, den ich seit Monaten nicht gesehen habe, weiß nicht so recht, wie er ein Gespräch mit mir beginnen soll.

Gwen scheint total in ihrem Element und tanzt ausgelassen mit ihren Freundinnen. Ich hatte Angst, dass sie sich schwer tun wird, in Deutschland neu anzufangen. Aber wenn ich sie jetzt sehe, weiß ich, dass sie mit ihrer offenen Art schnell neue Freunde finden wird. Und sie wird Mona haben. Die zwei skypen regelmäßig und Gwen lernt total schnell Deutsch mit ihr. Letzte Woche haben sie sogar ein Klavier-Duett über Skype probiert. Wegen der Verzögerung hat das nicht so wirklich gut geklungen, aber sie hatten richtig viel Spaß. Ich weiß, dass es für Gwen nötig ist, die Stadt zu verlassen. Und ich weiß, dass ich David das auch schulde, nachdem er hier Jahre lang für uns da war. Aber L.A. ist meine Stadt und war es jetzt für eineinhalb Jahrzehnte. Der Strand, die Musik-Szene, die Erinnerungen.

„Jordan?“ Mein Vater hat scheinbar endlich den Mut gefunden, mit mir zu reden. „Wollen wir uns draußen zusammensetzen?“

Ich nicke und folge ihm auf Olivers Terrasse.

Wir setzen uns auf die teuren Gartenmöbel, die nach Tropenholz aussehen und er bietet mir eine Zigarette an.

„Danke, aber wenn die Kinder in der Nähe sind, rauche ich nicht. David macht mir sonst die Hölle heiß.“

Mein Vater grinst:

„Genau wie Carmen früher.“

„Ich hab wirklich nie vermutet, dass du rauchst“, grinse ich.

„Ich hab sehr vieles erfolgreich von dir und deinen Brüdern fernhalten können.“

Ich sage dazu nichts, weil ich nicht mal in die Nähe des Themas Mafia kommen möchte. Ich will darüber nicht mal Andeutungen hören, und schon gar keine Entschuldigungen oder Ausflüchte. Und ich habe auch nicht vergessen, dass Dylan und mein Vater dazu fähig gewesen wären, einen Mord in Auftrag zu geben. Bei Dylan waren es vielleicht die ersten Anzeichen seiner Krankheit. Aber mein Vater hat dafür keine Rechtfertigung.

„Deutschland also, hm?“

„Ja, die Bayerische Provinz. Kannst du dir das vorstellen? Ich in diesem Aufzug in einem kleinen Dorf? Wahrscheinlich holen die Leute ihre Kinder von der Straße, wenn sie mich sehen.“

„Du übertreibst, Jordan. Außerdem zwingt dich ja keiner, deine Haare weiter zu färben und in zerrissenen Jeans rumzulaufen. Mit Mitte 30 ...“

„Dad ...“

„Ich weiß, ich weiß. Du willst dich um keinen Preis der Welt verbiegen, um jemandem zu gefallen. Das hab ich inzwischen gelernt. Trotzdem machst du deiner Familie das Leben damit unnötig schwerer.“

Ich atme tief durch, um ihn nicht anzufahren. Dann sage ich:

„Wir sehen die Dinge sehr unterschiedlich. Für mich ist es nicht unnötig. Für mich ist es nötig, zu zeigen, wer ich bin.“

Er lächelt versöhnlich:

„Ja, ich weiß. Und ich will auch gar nicht streiten. Ich hab einfach nur das Bedürfnis, dir noch ein paar Lebensweisheiten mitzugeben, bevor du auf einen anderen Kontinent ziehst.“

„Ich komme klar, Dad. Aber ich würde mich freuen, wenn du ab und zu bei Josh und Marie vorbeischauen könntest. Mir fällt es nämlich ziemlich schwer, die beiden hier zu lassen ...“

„Das mach ich. Darauf kannst du dich verlassen. ... Jordan, ich will mich bei dir entschuldigen. Ich hätte merken müssen, dass Dylan Hilfe braucht. Und ich hätte ...“

„Stopp. Davon will ich nichts hören.“

„Aber wir müssen doch ...“

„Wir tun so, als wäre das nie passiert. Thema beendet. Und jetzt lass mich mal an deiner Kippe ziehen.“

Wir sitzen schweigend eine Weile nebeneinander. Dann scheint er Mut zu fassen, noch ein anderes Thema anzusprechen:

„Ich muss dir noch etwas sagen. … Dein Großvater liegt im Sterben. Ich hab ihn vor ein paar Tagen im Krankenhaus besucht.“

„Er ist nicht mehr im Gefängnis?“, frage ich panisch.

Anthony legt mir die Hand auf die Schulter:

„Er kann dir nicht gefährlich werden. Er liegt auf einer Palliativstation. Er hat keine Beine mehr. Diabetes. Er hatte eine Infektion, die auf den Herzmuskel übergegangen ist. Er ist kaum ansprechbar. Vermutlich wird er in den nächsten Tagen oder Wochen sterben.“

„Warum erzählst du mir das?“

„Er hat mich um Vergebung gebeten.“

„Dafür?!“, frage ich und deute auf meinen Kopf, wo die Narbe unter den rasierten Haaren noch deutlich zu sehen ist. „Und dafür?“, frage ich lauter, hebe mein Shirt hoch und zeige die zehn Zentimeter lange Narbe auf meiner Brust.

Mein Vater nickt und hat Tränen in den Augen. Er nimmt meine Hand:

„Ich hab ihm gesagt, dass er meine Vergebung niemals bekommen wird und ich hoffe, dass er in der Hölle schmort.“

Überrascht schaue ich ihn an.

„Wirklich?“

„Natürlich. Er hat auf mein Kind geschossen, was denkst du denn?“

Ich umarme ihn dankbar.

„Sagst du mir Bescheid, wenn es vorbei ist?“

„Ja. Und Jordan?“

„Hm?“

„Lass dir in Bayern von niemandem einreden, dass was mit dir nicht stimmt. Du bist gut, du bist stark und du bist ehrlich. Und ich bin sehr stolz auf dich.“

„Jetzt hör auf, sonst fang ich noch an zu heulen ...“

David tanzt mit Cooper und April auf dem Arm. Ich schaue ihm eine Zeit lang dabei zu und fühle Schmetterlinge im Bauch. Ich freue mich, dass die Kinder ihn haben. Sofort darauf habe ich wieder ein schlechtes Gewissen. Ich bin froh, einen guten Therapeuten zu haben. Noch so eine Sache. Werde ich in München jemanden finden, mit dem ich so gut reden kann? Auf Englisch?

Gegen neun werden die Zwillinge sehr müde. David und ich verabschieden uns für die nächsten Wochen von Gwen und Josh und für die nächsten paar Tage von Cooper. David muss kräftig schlucken. Er und Cooper haben eine sehr starke Verbindung. Aber jetzt wo Nikki wieder voll da ist, werden wir ihn nur noch unter der Woche nach dem Kindergarten sehen. Und in Bayern wird er bei Nikki und Oliver wohnen.

Die Zwillinge sind im Auto eingeschlafen. Wir tragen sie in ihre Betten und müssen dabei über die gepackten Koffer im Flur steigen. Morgen Früh geht unser Flug nach München. Ich setze mich noch ein bisschen mit der Gitarre auf die Couch, während David sich bettfertig macht. Ich spiele so vor mich hin und lande bei dem Song, den ich für Dylan geschrieben habe. Als ich bemerke, dass David in der Tür steht, lege ich die Gitarre bei Seite.

„Tut mir Leid ...“

David setzt sich mit ernster Miene neben mich.

„Warum hast du das Gefühl, dich bei mir entschuldigen zu müssen?“

„Weil dich das sicher verletzt, wenn ich hier Dylans Song spiele.“

„Jordan, das … natürlich ist das für mich nicht schön. Aber ich verstehe, dass du immer noch mit trauern beschäftigt bist. Ich verstehe, dass du oft an Dylan denkst. Und ich will dann für dich da sein können, wenn es dir schlecht geht.“

„Ich krieg das irgendwie immer noch nicht ganz zusammen. Wie soll es funktionieren, dich zu lieben und gleichzeitig Dylan nicht zu verdrängen? Jedes mal, wenn eines der Kinder dich Papa nennt, hab ich ein schlechtes Gewissen. In der ersten Zeit nach der Beerdigung hab ich einfach gar nichts gefühlt. Aber inzwischen fühle ich ALLES. Das Gute und das Schlechte. Ich will mit dir drüber reden, aber gleichzeitig will ich das auch von dir fern halten.“

„Ich verstehe das. Sei einfach ehrlich. Halt nichts zurück.“

„Ich finde es zum Kotzen, dass die Zwillinge ihren Vater nie kennenlernen werden. Dass sie keine Erinnerungen an ihn haben werden. Dass sie nie mit ihm Kram aus Holz bauen werden. Dass sie nie aus seinem Mund hören können, dass Menschen sich ändern können. Dass er ihnen nicht beibringen kann, dass wir selbst entscheiden, wer wir sein wollen. Ich finde es zum Kotzen, dass sie nie in dem Haus leben werden, das er für sie umgebaut hat. Ich finde es zum Kotzen, dass unsere Erinnerungen an Dylan von seiner Krankheit überschattet werden. Ich finde es zum Kotzen, dass ich ihn beerdigen musste. Ich finde es zum Kotzen, dass mein Herz sich so schnell wieder verliebt hat. Ich finde es zum Kotzen, dass … dass ich dich so sehr liebe und das nicht genießen kann. Ich finde es zum Kotzen, dass ich zwei meiner Kinder hier zurücklassen muss. Ich finde es einfach nur alles zum Kotzen.“

David schaut mich sanft an, ohne Wut oder Traurigkeit. Einfach nur offen. Aber ein klein wenig ratlos. Ich nehme seine Hand.

„Ich liebe dich, David. Und ich hab keinen Zweifel daran, dass wir zusammen gehören. Das ist es nicht. Ich hab nur das Gefühl, dass das meine Liebe zu Dylan irgendwie unwichtiger erscheinen lässt. Vergänglicher. So als hätte er gehen müssen, damit du Platz hast. So als hätte ich eigentlich immer auf dich gewartet.“

Er nickt:

„Ich verstehe das. Weil ich weiß, welches Weltbild du hast. Ein sehr romantisches. Eines, in dem alles darauf hinausläuft, den einen Seelenverwandten zu finden. Und dann für immer und ewig mit ihm glücklich zu sein. Und wenn ich dieser Seelenverwandte bin, dann kann Dylan das nicht gewesen sein ..?“

Ich nicke: „Ja, das trifft es so ziemlich.“

„Jordan, was, wenn es nicht nur einen Seelenverwandten gibt? Was, wenn deine offene und mutige Art es dir ermöglicht hat, viele Seelenverwandte zu finden? Ich meine, Max war definitiv eine verwandte Seele für mich. Und trotzdem ist das nichts im Vergleich zu unserer Verbundenheit. Weil wir beide dafür offen sind. Vielleicht geht es nicht um 'den Einen'. Vielleicht geht es im Leben darum, mit Menschen verbunden zu sein. In Freundschaft, in Liebe, in Fürsorge...?“

„Das klingt sehr weise, aber ich fühle mich trotzdem schuldig...“

„Jordan, hör auf, dich selbst zu quälen. Glaubst du, das würde Dylan für dich wollen?“

„Nein ...“

„Dann tu, was dir gut tut. Wenn du nach den drei Wochen in Bayern meinst, dass du da nicht glücklich werden kannst, dann musst du das sagen.“

„Nein, das steht außer Frage. Bayern machen wir. Ob im Paradies oder wo anders, ich werde mich dort gut zurecht finden und rausfinden, was ich dort machen kann.“

„Okay“, lächelt er.

„Eine Sache noch...“

„Hm?“

„Was soll ich mit meinen Haaren machen?“

„Was meinst du?“, fragt er arglos.

„Naja, ich treffe morgen meine zukünftigen Schwiegereltern wieder. Und ich glaube, beim ersten Besuch mit den Zwillingen damals hab ich nicht gerade einen guten Eindruck hinterlassen. Ich war damals ganz schön fertig …“

„Immerhin hattest du damals auch den Iro. Von dem her würde sie das jetzt nicht so schocken. Und überhaupt, selbst die Bayerische Provinz hat schon Punks gesehen, weißt du? Wir sind doch keine Hinterwäldler.“

„Also ist es okay, wenn ich die Haare so lasse?“

„Jordan, ich kenn dich überhaupt nicht so unsicher …“

„Tut mir Leid, ich merke nur irgendwie, dass es mir inzwischen nicht mehr ganz so egal ist, was andere von mir denken. Und dass ich vielleicht doch irgendwann … erwachsener aussehen will ...“

„Okay, aber doch nicht jetzt in einer Nacht und Nebel Aktion. Wenn wir in Kleinding gut angekommen sind, kannst du immer noch zum Friseur.“

„Okay.“

„Jordan, meine Eltern werden dich und die Kinder gut aufnehmen. Sie freuen sich schon sehr auf uns alle. Mach dir keine Gedanken ...“

„Okay.“

„Schlafen?“

„Ja, ist wohl das Vernünftigste.“

Der Wecker weckt mich um halb sieben. David ist schon auf den Beinen, bereitet Frühstück vor und Reise-Proviant. Er summt fröhlich vor sich hin. Ich schmiege meine Arme um ihn und küsse seinen Nacken.

„Guten Morgen.“

Er schaut mich etwas besorgt an.

„Guten Morgen. Konntest du gut schlafen?“

„Ja, erst konnte ich nicht einschlafen, aber dann hab ich geschlafen wie ein Stein.“

Er lächelt:

„Freut mich. Und ich hab was für dich.“

Er gibt mir einen Bilderrahmen, auf dem Dylan und ich auf unserer Hochzeit zu sehen sind.

„Ich finde, das sollten wir hier aufhängen. Und später auch in unserem neuen Haus. Ich will nicht, dass du oder die Kinder das Gefühl haben, dass an Dylan zu denken irgendwie tabu ist.“

„Das war so ein wunderschöner Tag ...“

„Ja, du hast mir danach davon geschrieben. Du hast gesagt, es war die beste Hochzeit, auf der du je warst. Und du hast gesagt, dass du das Gefühl hattest, an diesem Tag erwachsen geworden zu sein.“

„Dylan sieht sehr glücklich aus, oder?“

„Du hast ihn sehr glücklich gemacht. Er hatte ein gutes Leben mit dir. Auch wenn es viel zu kurz war.“

Ich spüre, wie mir die Tränen kommen und wische mir verstohlen über das Gesicht.

„Jordan, es ist okay, wenn du vor mir um Dylan weinst.“

David nimmt mich in den Arm.

Die Reise klappt wie am Schnürchen. Die Zwillinge wachen kurz vor sieben auf, frühstücken gut und werden noch etwas Energie los beim durch die Wohnung rennen. Tobey fährt uns um halb acht zum Flughafen, der Lufthansa-Flieger startet pünktlich um halb zehn. Wir fliegen direkt, sparen uns also das Umsteigen. Nach dem Mittagessen schlafen die Kinder fast gleichzeitig ein, fast zwei Stunden lang. Dann dürfen sie einen Film sehen und ehe wir uns versehen, ist es schon 17 Uhr in Kalifornien. In vier Stunden werden wir landen. In Deutschland wird da die Sonne schon wieder aufgehen. Die letzten zwei Stunden werden dann doch noch mal etwas anstrengend, aber wir schaffen es gut, die Kleinen bei Laune zu halten. Und die anderen Fluggäste um uns herum helfen mit, indem sie Kuckuck spielen oder einfach mal freundlich rüber lächeln.

Als die Durchsage kommt, dass wir in den Landeanflug gehen, nimmt David meine Hand.

„Bayern, Baby!“, grinst er. „Ich werd dir zeigen, warum das das schönste Land auf der Welt ist.“

Gert und Mona stehen schon am Gate bereit und winken uns von Weitem zu. April scheint sie vom Skypen zu erkennen und reißt sich sofort los, um zu ihnen zu laufen.

„Monaaaa!“, ruft sie und wedelt mit dem selbstgemalten Bild, das sie im Flugzeug gemacht hat.

David joggt ihr mit Jake auf dem Arm hinterher. Ich schiebe den Gepäckwagen und schieße unauffällig ein paar Handy-Fotos von der Familien-Umarmung. April ist schon auf Gerts Arm, Jake ist wie üblich vorsichtiger und hält sich an David fest. Gert reicht mir die Hand.

„Jordan, schön, dass du da bist. Und willkommen in der Familie.“

Mona umarmt mich herzlich:

„Willkommen.“

Gert nimmt mir den Gepäckwagen ab und setzt April oben auf den Kofferturm.

„Festhalten!“, ruft er und schiebt sie kurvenreich Richtung Ausgang.

Ich nehme Davids Hand und küsse sie. Weil mir ein Stein vom Herzen gefallen ist. Davids Familie wird uns gut aufnehmen. Mona sieht diese Geste und lächelt mich an. Dann fragt sie:

„Na, Jake, magst du mit mir hinterher laufen?“

David ist genau so erstaunt darüber wie ich, dass Jake nickt und sofort von Davids Arm auf Monas Arm will. Wir stehen etwas verdattert ohne Kinder und Gepäck in der Flughafen-Halle und sehen uns an.

„Neue Zeiten“, murmelt David.

„Mehr Zeit zum Küssen“, murmle ich zurück und ziehe ihn zu mir.

Gert hat extra einen VW-Bus geliehen, um uns alle in einem Auto abholen zu können. Und Mona hat alte Winterjacken von David und Klara dabei, um die Kinder gut warm zu halten. Bis vor ein paar Tagen lag noch Schnee, erzählt sie. Jetzt ist alles in orangenen Nebel getaucht, weil die Sonne gerade aufgeht. David saugt den Anblick in sich auf.

„Zuhause“, murmelt er und drückt meine Hand.

Die Fahrt nach Kleinding dauert nur 20 Minuten. Die Zwillinge schlafen trotzdem ein. Ist auch logisch, in Kalifornien ist es jetzt spät nachts. Ich merke, dass ich auch langsam müde werde.

Wir parken in der Einfahrt und schleppen erst mal das Gepäck in das Haus, während Mona die Zwillinge im Auto hütet. Als die Tür aufgeht, erinnere ich mich wieder an meinen ersten Besuch hier. Es riecht noch genauso, es sieht noch genauso aus. Nichts hat sich verändert. David begrüßt die Wellensittiche, die neben dem Klavier im Wohnzimmer stehen. Er wirft seine Jacke auf die Couchlehne und lässt sich in die Sofakissen sinken. Ich setze mich neben ihn.

„Alles gut?“, fragt er mich.

„Ja, alles gut.“

„Zwei Minuten hier auf der bequemsten Couch der Welt, dann können wir die Kinder hinlegen und etwas auspacken.“

Gert setzt schon mal Kaffee auf.

„Habt ihr Hunger?“, fragt er.

„Ich bin vor allem müde“, antwortet David.

„Geht mir auch so.“

„Dann auf, Koffer hoch schleppen, Kinder hinlegen und ab ins Bett“, grinst er.

Ich springe auf.

„Komm, bringen wir es hinter uns.“

David lässt sich murrend von mir auf die Beine ziehen, nimmt zwei Koffer und trägt sie in sein altes Zimmer.

Für die Zwillinge haben Gert und Mona Klaras Zimmer hergerichtet und dafür den Dachboden geplündert. Das Bett ist mit Kinderbettwäsche bezogen und die Schränke mit Spielsachen gefüllt, die David allesamt wiedererkennt. Die Kinder kriegen gar nicht mit, wie wir sie aus dem Auto holen und in das Biene-Maja-Bett legen. David stellt noch die Koffer vor die Treppe, so dass kein Kind runter fallen kann, dann ziehen wir uns um und legen uns hin.

„Jordan Bonanno liegt in meinem Bett“, lächelt er müde.

Ich küsse seine Stirn und er schläft so ziemlich augenblicklich ein. Ich liege noch kurz wach und denke an Kalifornien. Dann schlafe ich ein und werde erst munter, als Mona uns gegen Mittag zum Essen weckt. Die Zwillinge schlafen noch tief und fest. Zu Hause ist es jetzt vier Uhr früh … In drei Stunden haben wir den Termin mit Christian und Severin im Paradies.

David verschwindet nach dem Essen kurz zu seinen Großeltern, um sich die Flurpläne für sein potentielles Grundstück zeigen zu lassen. Mona fragt mich, ob ich Lust habe, mit ihr zu singen so lange die Zwillinge noch schlafen. Also schnappe ich mir ihre Gitarre und setze mich zu ihr ans Klavier. Sie schlägt ein Notenbuch auf und fragt:

„Something Stupid? Kannst du die zweite Stimme? Ich komme da immer raus.

„Ja, kann ich.“

Gert applaudiert begeistert:

„Man könnte meinen, ihr habt das seit Monaten geübt!“

„Jetzt weiß ich, wo Gwen ihr Talent her hat“, erklärt Mona bewundernd.

„Danke.“

„Wo hast du so singen gelernt? Ich meine, ich weiß, dass du das beruflich machst, aber trotzdem ist das keine Selbstverständlichkeit.“

„Ich hab früher mit meiner Großmutter sehr viel gesungen. Elvis, Sinatra und vieles mehr. Sie ist eine wunderbare Sängerin und hat immer bereut, dass sie das nie zum Beruf gemacht hat. Ich glaub, Gwen und ich haben das Talent von ihr.“

David

Ich bin richtig nervös, als wir uns auf den Weg zum Paradies machen. Die Zwillinge nehmen wir mit, auch wenn meine Eltern gern auf sie aufgepasst hätten. Die beiden haben acht Stunden lang im Haus meiner Eltern durchgeschlafen. Sie fühlen sich dort wohl. Aber wir wollen, dass die zwei das Paradies auch kennenlernen. Sicher gibt es dort Kinder, mit denen sie spielen können.

Jordan steigt aus dem Auto, streckt sich und saugt den Frühlingsduft auf. Ich schaue mich um. Das Grundstück ist riesig. Und fast nichts erinnert noch an die alte Hofstelle. Nur das Wirtshaus ist noch da. Das Wohnhaus ist verschwunden. Dafür steht da umgeben von jungen Bäumen und Hochbeeten ein schönes, hohes Holzhaus mit großen Fenstern und einem umlaufenden Balkon. Irgendwo kräht ein Hahn. Wegen des Nieselregens sind keine Leute zu sehen. Aber aus der Entfernung hört man Menschen singen.

„Hörst du das?“, fragt Jordan.

„Ja, ein Chor oder sowas?“

„Das kommt aus der Richtung.“

Wir folgen der Musik zu einer Terrasse, über die man in einen großzügigen Gemeinschaftsraum gelangt. Dort singen um die zehn Leute 'Always Look on the Bright Side of Life' und werden auf einem Klavier begleitet. Wir schauen von der Terrassentür aus zu und sind begeistert. Als das Lied vorbei ist, kommt eine Frau zu uns rüber.

„Hey, ich bin Franzi. Wollt ihr mitmachen?“

„Hi, ich bin David. Können wir auf Englisch weiterreden?“

Sie switcht problemlos um:

„Klar, kann ich euch helfen?“

„Ja, wir sind mit Severin und Christian verabredet. Wir sollen zum Büro kommen.“

„Das ist gleich da drüben.“

„Cool, danke.“

Jordan klopft leise an die Tür.

„Komm rein!“

Der Raum ist relativ vollgestopft mit einigen versetzt stehenden Schreibtischen und Regalen. Es gibt aber auch Topfpflanzen und bunte Bilder an den Wänden. Und es gibt Severin Kaiser, der freudig aufsteht und auf uns zukommt.

„Ihr müsst David und Jordan sein. Willkommen im Paradies.“

Er ist schlank, langhaarig und tätowiert. Das einzige, was er von seinem Vater hat, sind die grauen Haare.

„Hey, genau. Ich bin Jordan. Das ist David.“

„Und ihr zwei?“, fragt er und beugt sich runter zu den Zwillingen.

„Das sind Jake und April.“

„Mögt ihr euch mal umschauen? Da hinten in der Spielecke sitzt Xaver und baut Türme.“

April stürmt sofort los, Jake will lieber auf meinen Arm.

„Setzt euch. Mögt ihr Tee?“

„Danke, gern.“

Er schenkt uns aus einer großen, geblümten Kanne ein und setzt sich zu uns an den kleinen Besprechungstisch. Seine Art zu sprechen wirkt sehr … gewaltfrei. Wie jemand, der sich sehr bewusst ausdrückt.

„Gut, also wir haben noch nicht gesprochen. Ich bin Severin. Christian kommt gleich auch noch dazu. Er versucht gerade, dem Baby beim einschlafen zu helfen.“

Wir nicken verständnisvoll. Er schaut Jordan plötzlich skeptisch an.

„Sag mal, kennen wir uns? Du kommst mir so bekannt vor.“

„Nein, wir kennen uns noch nicht persönlich, aber vielleicht kennst du meine ehemalige Band, Summerskin?“

„Du bist Jordan Bonanno!“

„Genau.“

„Ach wie geil!“, freut er sich und strahlt. „Ich mag deine Musik unglaublich gern. Du bist ein Künstler mit Worten.“

„Dankeschön.“

„Und wie hat es dich nach Seelendorf verschlagen?“

„Ganz akut wegen David. Aber ursprünglich hat Nina mich hierher geschleppt. Ich hab sie vor Jahren auf einer Europa-Tour kennengelernt.“

„Also seid ihr Freunde?“

„Ja, auch wenn wir uns die letzten Jahre etwas aus den Augen verloren haben.“

„Dann ist es gut, dass du da bist. Nina kann gerade einen Freund gebrauchen. Die Entbindung ist nicht ganz so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hat.“

„Geht es ihr und dem Kleinen gut?“

„Ja, jetzt ist alles gut, aber sie knabbert noch ganz schön an den Umständen. Die zwei sind erst seit letzter Woche zu Hause.“

„Ich schau nachher bei ihr vorbei“, verspricht Jordan.

„Schön. Und, wie ist euer erster Eindruck vom Paradies?“

„Das Gelände ist nicht wiederzuerkennen“, finde ich. „Ich war oft hier in der Wirtschaft, auf Familienfeiern und so. Du hast hier was komplett neues geschaffen.“

„Ja, ich wollte nicht einfach weitermachen wie immer schon. Ich wollte etwas Neues kreieren.“

„Ich will auf jeden Fall beim Chor mitmachen“, grinst Jordan.

„Weißt du, Severin, eigentlich bin ich nicht der Typ, der aus der Hüfte raus große Entscheidungen trifft, aber das hier passt einfach. Zu mir, zu Jordan, zu unserer Familie. Wir sind sehr unterschiedlich und trotzdem könnten wir hier beide das finden, was wir brauchen. Ich bin wirklich sehr davon überzeugt, dass das hier unser Zuhause werden soll.“

Christian steckt seinen Kopf zur Tür herein.

„Ah, ihr seid schon da. Entschuldigt die Verspätung. Carolina hat sich mit dem Einschlafen schwer getan, aber jetzt hat sie es geschafft.“

Er hängt seine Jacke an einen Haken und kommt zum Hände schütteln. Im Tragetuch schläft ein winzig kleines Baby.

„Ooooh“, machen Jordan und ich gleichzeitig.

„Ja, Neugeborene. Es gibt nichts vergleichbares, oder? Das macht richtig süchtig“, findet Severin und schnuppert am Babykopf. Dann gibt er seinem Freund einen Begrüßungskuss.

„Hallo, mein Lieber.“

„Hallo“, lächelt Christian und die Verliebtheit steht ihm ins Gesicht geschrieben.

„David hat gerade erzählt, dass er sich gut vorstellen kann, dass er hier ein Zuhause findet.“

„Ja, und ich kann mir gut vorstellen, dass er hier her passt. Bei uns hat es gleich am Anfang klick gemacht. Wir verstehen uns“, erzählt Christian. „Und nach unseren vielen Telefonaten in den letzten Wochen glaube ich, das könnte auch geschäftlich funktionieren.“

Er ist ein Macher, das merkt man sofort. Er krempelt die Ärmel seines weißen Hemdes hoch und rollt einen Flurplan aus.

„Das hier ist das jetzt bebaute Grundstück. Und hier ist die Wiese deiner Großeltern. Zwei drittel davon sind im Bebauungsplan und damit im beschleunigten Verfahren zu genehmigen.“

„Ich hab mir die Pläne heute Mittag schon mit meinem Großvater angeschaut“, erzähle ich. „Nachher will ich mal rüber laufen, um ein Gefühl für die Fläche und die Lage zu bekommen. Aber das Areal ist ja fast nochmal so groß wie die bestehende Fläche.“

„Ja, das ist ein riesiges Grundstück. Man könnte da einiges auf die Beine stellen.“

„Ich hab überlegt, dass die Gastwirtschaft hier hinten am meisten Sinn machen würde. Damit man mit dem Lärmschutz keine Probleme bekommt“, fachsimple ich. „Wie hoch darf man denn da bauen? Könnte man oben drauf vielleicht einen Veranstaltungssaal machen? Sowas gibt es doch im ganzen Umkreis nicht, oder? Für Kleinkunst, Kabarett, kleine Konzerte, Bälle ...“

„Das ist echt eine gute Idee! Die Vereine am Ort beschweren sich immer, das sowas fehlt. Da könnte man sicher Förderung bekommen. Das wäre dem Bürgermeister auch recht. Und von der Höhe her gibt es da wahrscheinlich keine Probleme, weil das Gelände nach hinten hin etwas abfällt.“

„Ich dachte ursprünglich, dass man nur für ein Wohnhaus und die Gaststätte Platz hat, aber da ist ja noch die Hälfte frei.“

„Ja, da kann locker noch ein großes Gebäude drauf. Vielleicht im 90 Grad-Winkel, als Schallschutz Richtung Straße. Entweder ein Wohngebäude oder aber Ferienzimmer für Gäste. Wenn die Verwandtschaft unserer Bewohner mal kommt oder Leute, die zu Seminaren kommen. Oder auch mal Tagungsgäste. Da könnte man mittelfristig ein super Konzept erstellen.“

Severin grinst:

„Ihr zwei seid ja schon mitten in der Planung. Dabei haben David und Jordan ja noch nicht mal die Tour bekommen. Und es steht ja auch die Frage im Raum, ob ihr hier einzieht, bis auf eurem Grundstück alles steht. Letztlich entscheiden nicht wir, wer hier einzieht, sondern die Wohngemeinschaft. Ihr seid heute zum gemeinsamen Abendessen eingeladen.“

„Du hast recht, wir machen hier zu viele Schritte auf einmal“, gibt Christian zu. „Wir führen euch erstmal rum.“

„Ja, das ist wohl das Vernünftigste“, grinse ich.

Während Jordan mit den Zwillingen und Severin das Wohngebäude und die Gemeinschaftseinrichtungen besichtigt, stapfen Christian, Carolina und ich durch die Wiese auf das Grundstück meiner Großeltern. Ich schaue in die Weite. Nichts als Wiesen und Wälder.

„Ist das schön hier. Und das sollen wir wirklich zubauen?“, frage ich.

„Ich weiß, das ist schwer, wenn man die Natur hier so sieht. Aber der zu überplanende Teil ist wirklich bloß Wiese. Das Schutzgebiet fängt viel weiter hinten an. Und denk mal an die Aussicht, die die Leute haben werden, beim Essen.“

„Boah, wie dekadent“, lache ich.

Er lacht auch:

„Stimmt, aber ich bin halt Bauunternehmer. Nein, aber ernsthaft, wir schaffen hier was für die Leute am Ort und für die Leute im Paradies. Und dabei können wir trotzdem möglichst nachhaltig bauen und möglichst wenig Fläche versiegeln. Da legen wir Wert drauf.“

„Wie seid ihr zwei auf die Idee gekommen, das hier alles aufzuziehen?“

„Als Severin hier alles geerbt hat, wollte er es erst verkaufen. Dann hat er gemerkt, was ihm seine Heimat bedeutet. Und er wollte sich das nicht nehmen lassen. Also hat er sich überlegt, wie er gerne leben möchte. Er ist für die Planungen zu mir gekommen. So sind wir zusammen gekommen.“

„Ach, dann seid ihr noch gar nicht so lange zusammen?“

„Erst seit letztem Jahr. Aber mir ging es wie dir. Ich bin eigentlich auch nicht der Typ für schnelle Entscheidungen. Aber ich wusste einfach, dass ich das machen soll. Das Paradies bauen, mit Severin zusammen sein. Und wenn man eine Baufirma hat und die Ämter begeistert sind von der ausgereiften Planung, dann kann es eben auch ganz schnell gehen mit Abriss und Neubau. Wir haben echt Tag und Nacht gearbeitet und sogar eine Woche vor Plan eröffnen können. Das war der Wahnsinn. Alle Leute, die beteiligt waren, hatten einfach wahnsinnige Lust auf das Projekt.“

„Und nebenbei kam auch noch Carolina.“

„Ja, einen guten Monat nach der Eröffnung. Am Tag, an dem die Hühner eingezogen sind, kam auch unsere Carolina.“

„Du hast echt ganz schön Power. Ich find das super. Und ich finde die Vision hier super. Da drüben würde dann unser Haus stehen. … Ist das eigentlich okay für euch, wenn wir uns hier ein Einfamilienhaus rein stellen? Das passt ja eigentlich nicht wirklich ins Konzept...“

„Klar ist das okay. Das ist dein Grundstück. Und ich will auch nicht heuchlerisch sein. Meine Kinder wohnen mit ihrer Mutter auch in einem Einfamilienhaus ein paar Straßen weiter. Ich teile mir hier mit Severin ein Zimmer. Seine Tochter lebt auch hier, seine Frau nur gelegentlich.“

„Also seid ihr auch so patchwork-mäßig unterwegs?“

„Oh ja.“

„Manchmal ganz schön anstrengend, oder? Bis man überhaupt mal auf der Reihe hat, welches Kind wann wo ist. Ich hab manchmal Albträume, dass ich vergesse, Gwen von der Schule abzuholen, weil ich denke, sie ist bei ihrer Mum.“

„Ja, und noch anstrengender finde ich das ganze Konzept der offenen Ehe. Bis man sich da mal auf Regeln verständigt hat. Da ist irgendwie nichts mehr selbstverständlich, alles muss abgeklärt werden ...“

„Uh, Jordan hat bei sowas Erfahrungen, aber ich bin da total raus. Ich würde das schlicht nicht hinkriegen. Könnte ich einfach nicht. Ich bin dafür einfach viel viel viel zu spießig.“

„Ja, so geht’s mir auch. Ich würde mir das auch nicht aussuchen. Aber Severin und seine Frau haben nun mal diese Vereinbarung... seit zwanzig Jahren.“

„Und du und deine Frau?“

„Wir haben uns letztes Jahr getrennt, als es mit Severin ernst wurde. Ich bin dann auch ausgezogen. Klarer Schnitt. Wir sind inzwischen Freunde. Und wir wechseln uns mit den Kindern ab wie es grad passt. Heute ist Franzi im Chor, deshalb haben wir die Kinder.“

„Ach, Franzi ist deine Ex-Frau? Die haben wir vorhin kurz kennengelernt.“

„Ja, sie ist viel hier, wenn sie nicht arbeitet. Der Kontakt mit Erwachsenen tut ihr gut. Sie war jetzt lang nur mit Xaver daheim, während ich 60 Stunden und mehr gearbeitet hab.“

„Ja, ich kenn das Gefühl, dass das Hirn langsam zu Brei wird, weil man den ganzen Tag nur mit Leuten unter fünf redet.“

Er lacht:

„So ungefähr. Zurück zum geschäftlichen: Wie würde das laufen? Überschreiben dir deine Großeltern das Grundstück und du suchst dann Investoren für den Bau?“

„Genau. Das Haus würden wir selbst finanzieren, durch den Verkauf von Jordans Immobilien in Kalifornien. Aber das Gasthaus, dafür müssen wir einen Kredit aufnehmen und brauchen Investoren beziehungsweise Partner. Ihr gebt die Gaststätte drüben dann komplett auf?“

„Ja, da hast du dann keine Konkurrenz mehr. Hast du schon einen Geschäftspartner im Auge?“

„Es gibt da wen, mit dem ich mich schon immer selbstständig machen wollte. Aber das ist erstmal nur eine vage Idee.“

„Du siehst ja, wie schnell vage Ideen hier Realität werden können.“

Carolina wird unruhig.

„Ich bring sie mal zum Stillen zur Mama. Wir finden Severin und Jordan sicher auf dem Weg.“

„Ich bleib noch kurz hier und spinne Ideen.“

„Alles klar, du findest uns.“

Ich gehe alleine auf der Wiese herum und laufe mit großen Schritten die Fläche ab, wo unser Haus stehen wird. UNSER HAUS! Egal wie sich die Gemeinschaft entscheidet, ob wir übergangsweise hier einziehen dürfen oder nicht. Hier werden wir bauen, leben und arbeiten. Das ist mein Grundstück.

Jordan

Severin und ich schauen den Zwillingen und Xaver dabei zu, wie sie gemeinsam die Treppe erobern. Wir haben gerade die Bibliothek, das Tobe-Zimmer und die Gemeinschaftsküche besucht und ein paar Leute getroffen. Hier ist überall Holz und Licht, und das, obwohl der Himmel draußen grau ist. Was mich am meisten freut, ist, wie schnell Jake hier aufgetaut ist. Normalerweise ist er viel länger schüchtern.

„Hier ist übrigens die Speisekammer. Es gibt persönliche Regale und ein großes für alle. Jeder darf sich nehmen, jeder stellt auch mal was rein. Schokolade?“

„Das ist wirklich das Paradies“, lache ich und breche mir eine Rippe ab.

„Fühlst du dich wohl?“

„Ja, ich fühle mich hier wirklich sehr wohl. Wir haben jetzt lange Zeit zu sechst in einer viel zu kleinen Wohnung gelebt. Allein der Flur hier ist genial. Man kann in die Weite schauen ohne nach drei Metern an einer Wand zu landen. Ich mag das Holz und die großen Scheiben. Und die Leute scheinen hier alle so entspannt zu sein. Und total kontaktfreudig.Und die Tiere. Können wir unseren Kater eigentlich mitbringen?“

„Natürlich.“

„Gut, meine Tochter hängt sehr an ihm. Ohne ihn könnte sie nicht sein.“

Severin streicht seine Haare nach hinten und lächelt mich an wie … wie ein Therapeut.

„Woran liegt das, denkst du?“, fragt er.

„Du hast gerade den Therapeuten-Modus eingeschalten.“

„Entschuldige. Das war ein Reflex. Ich hab intensive Gefühle gespürt.“

„Ja, da steckt auch eine intensive Geschichte dahinter.“

„Ich bin kein approbierter Psychotherapeut. Ich bin Heilpraktiker. Aber wenn du mal reden willst ...“

„Ich glaube, ich werde etwas mehr als das brauchen. Ich brauche jemanden, der Erfahrung in der Suchtbegleitung hat. Jemand, der ein oder zwei mal die Woche für mich Zeit hat.“

„Ich kann dir ein paar Empfehlungen aufschreiben, wenn du willst?“

„Sehr gerne. Diese Art zu leben hier ist vermutlich die beste Basis für psychische Gesundheit. Ich kann nicht so sorglos leben wie andere. Ich muss auf meine Balance achten. Mit Sport und Bewegung und guter Ernährung. Und ich muss Konflikte schnell auf den Tisch packen, damit sie mich nicht lange belasten.“

„Ich weiß, wie das ist“, nickt Severin. „Meine Mutter war Bipolar. Ich spüre auch immer wieder, dass ich diese Anlage von ihr geerbt habe. Deshalb muss ich hart dafür arbeiten, im Gleichgewicht zu bleiben. Ich meditiere jeden Tag, ernähre mich gesund und reflektiere oft, was ich tue und warum. Viele meinen, ich sei der ausgeglichenste Kerl den sie kennen, weil ich so viel auf mich achte. Dabei ist es anders herum. Ich achte so stark auf mich, weil ich unausgeglichen bin.“

„Genau so ist es bei mir auch. Musik ist meine Meditation. Wenn ich Singe oder Songs schreibe, dann ist das wie ein Neustart für mein Hirn.“

„Das hört sich an, als könntest du gut mit deiner Sucht umgehen.“

„Ja, ich bin auch schon sehr lange clean. Trotzdem, hinter der Sucht steht natürlich eine ungünstige Persönlichkeitsstruktur, wie ihr Therapeuten es nennt“, grinse ich. „Und die geht nicht so einfach weg, nur weil man keine Drogen mehr nimmt. Ich bin und bleibe irgendwie kaputt.“

Er schaut kurz nach den Kindern, die inzwischen an einem bodentiefen Fenster sitzen und ganz friedlich hinaus schauen. Dann schaut er mich grübelnd an, als würde er überlegen, wie er das Gespräch jetzt weiterführen will.

„Ich hab das Gefühl, dass ich einen unfairen Vorteil habe, weil ich Sachen über dich weiß, aus den Medien. Und du weißt nichts über mich. … Aber ich weiß, dass dein Mann sich letztes Jahr das Leben genommen hat.“

„Ja, Dylan hat sich umgebracht. Er war schizophren. Er hat sich in einer Klinik erhängt.“

„Das tut mir sehr Leid.“

„Danke.“

„Meine Mutter hat sich umgebracht, als ich noch ein Kind war. Ich weiß also leider, wie das für dich und deine Kinder ist.“

Ich bin für einen Moment zu gerührt, um zu antworten. Er redet weiter:

„Hör zu, ich weiß, dass du eine schwere Zeit durchgemacht hast. Aber ich sehe auch, wie viel Freude du ausstrahlst, wenn du deine Kinder beobachtest. Und wie leidenschaftlich du über deine Musik sprichst. Und ich sehe, wie du David anschaust. Du bist nicht kaputt. Du bist ein Überlebender. Der Scheiß hat dich stark gemacht.“

„Danke, Severin.“

„Hier, willst du noch Schokolade?“

„Auf jeden Fall.“

Mein Handy surrt. David hat mir ein Selfie geschickt. Er steht strahlend mitten auf einer großen Wiese, mit Wald im Hintergrund.

„Hier wird unser Haus stehen, Jordan!!“, steht darunter.

Ich zeige das Bild Severin. Er lächelt:

„Sieht so aus, als wären wir bald Nachbarn.“

Ich lasse die Zwillinge bei Severin und Xaver im Toberaum und mache mich auf den Weg zu Ninas Zimmer.

Leise klopfe ich.

„Ja?“

Ich stecke den Kopf zur Tür rein. Sie strahlt:

„Jordan! Komm rein!“

Sie sitzt mit dem Baby auf dem Bauch auf dem Bett und schaut unglaublich müde aus.

„Wie hast du das mit zwei gleichzeitig geschafft?“

„Zeitweise dachte ich, ich überlebe das nicht. Aber irgendwie ging es dann doch.“

Ich umarme sie vorsichtig und streichle dem kleinen über den Hinterkopf.

„Der ist ja noch kleiner als Carolina.“

„Er ist ja auch zwei Wochen jünger“, lächelt sie. „Das ist übrigens Leo.“

„Hallo Leo, schön, dich kennenzulernen.“

„Willst du ihn mal halten?“

„Sehr sehr gerne.“

Ich setze mich gemütlich hin und sie gibt mir den Kleinen auf die Brust. Er kuschelt sich sofort ein.

„Ich hab echt vergessen, wie bezaubernd das ist, ein Baby zu haben.“

„Ich geh mal kurz aufs Klos. Und Zähne putzen. Und überhaupt, endlich wieder zwei Hände frei! Bin gleich wieder da.“

„Lass dir Zeit. Wir kuscheln hier so lang gemütlich.“

Ich schicke David ein Selfie:

„Hier gibt es sogar Babys zu verleihen!!“

Nina kommt nach zehn Minuten zurück.

„Oh mein Gott, was habe ich dich vermisst, mein Kleiner.“

Sie nimmt ihn mir wieder ab.

„Ist doch irre, oder? Grad war ich noch total froh, ihn mal kurz abgeben zu können, und plötzlich vermiss ich ihn und weiß, ich muss sofort und gleich wieder zu ihm zurück, sonst geht es mir total schlecht.“

„Willkommen in der wunderbaren Welt des Elterndaseins“, grinse ich. „Wie geht’s dir? Wie war die Entbindung?“

„Scheiße. Ich meine, ich bin auch selber Schuld. Obwohl man überall liest, dass man sich nicht zu sehr auf einen Plan versteifen soll, dachte ich, dass meine Entbindung perfekt laufen würde. Mit Entspannungsübungen, Musik und Wannengeburt. Statt dessen hatte ich nach 18 Stunden Wehen einen Geburtsstillstand und dann einen Notkaiserschnitt. Ich war in Narkose als er geboren wurde, hab ihn erst zwei Stunden nach der Geburt gesehen. Dann hat das Stillen lange nicht geklappt. Dann hat er auch noch Gelbsucht bekommen und wir mussten zehn Tage in der Klinik bleiben. Und jetzt sitze ich seit einer Woche hier zu Hause und muss jeden Tag heulen, weil ich so traurig und wütend darüber bin, wie das alles gelaufen ist. Und dann hab ich ein schlechtes Gewissen, weil ich doch eigentlich froh sein muss, ein gesundes Kind bekommen zu haben, egal wie. Und die Operationsnaht tut scheiße weh und die Hormone spielen verrückt und …“

Ich nehme sie in den Arm.

„Das wird alles wieder, Nina. Du bist stark, du wirst das gut verarbeiten können. Das braucht aber Zeit. So eine Geburt kann ganz schon traumatisch sein.“

„Ja, ja, du hast recht … So, und jetzt erzähl: Wie findest du es hier? Und wie findest du Severin und Christian?“

Ich erzähle ihr, wie es mir hier geht und ich erzähle ihr von dem guten Gespräch mit Severin. Dann zeige ich ihr das Foto von David auf der Wiese.

„Er schaut wahnsinnig glücklich aus. Und total gelöst und entspannt“, findet sie.

„Ja, und nach den letzten zwei Jahren hat er es wirklich verdient, dass es endlich mal gut läuft.“

„Ihr werdet also wirklich ein Haus zusammen bauen? Dir ist klar, dass du aus der Nummer dann nicht mehr raus kommst?“

Ich nicke:

„Ja, ist mir klar. Und das macht mir absolut keine Angst.“

„Cool. Uh, wie spät ist es?“

„Zehn vor sechs.“

„Dann sollten wir mal ins Esszimmer gehen und beim Aufdecken helfen.“

Sie checkt ihr Handy.

„Heute sind wir 30 Leute beim Essen, sagt die App.“

„Ihr habt eine App, die euch das sagt?“

„Ja, wir organisieren ziemlich viel so. Wir haben auch eine Kamera im Wäscheraum, so dass man nachschauen kann, ob grad eine Maschine frei ist. Ziemlich praktisch.“

„Wow! Okay, und vor diesen 30 Leuten müssen wir heute quasi vorsprechen, wegen der Zimmer, oder wie?“

„Naja, ganz so steif ist das nicht, ihr esst mit, unterhaltet euch, antwortet auf Fragen. Keine Sorge, hier sind echt alle ganz cool. Das wird schon.“

Und sie hat recht. Im Essensraum sind schon viele Leute am Werk, decken auf, bringen Töpfe und Schüsseln voll Essen aus der Küche und unterhalten sich angeregt. Auch Severin ist mit Xaver und den Zwillingen schon da. Jake läuft strahlend auf mich zu.

„Daddy!“

„Hey, mein Kleiner. Na, war es schön im Toberaum?“

„Ja“, antwortet er kurz angebunden und will sofort wieder zurück auf den Boden um mit Xaver zu spielen. Severin kommt rüber und fragt Nina mit einem Blick, ob er das Baby nehmen soll. Sie gibt es ihm und geht aufdecken.

„Wie war es mit den Kindern?“, frage ich ihn.

„Sie haben total vertieft gespielt. Vor allem Jake war total begeistert bei der Sache und hat aus den Kissen und Decken Höhlen gebaut. Und dann ist er drauf gesprungen um alles einstürzen zu lassen. Er hat sich definitiv ausgetobt.“

„Wow, ich kenn ihn so gar nicht. Er ist eigentlich total unsicher und zurückhaltend. Allein schon, dass er bei dir geblieben ist, grenzt an ein Wunder.“

Severin lächelt, dann fragt er:

„Wie geht es Nina?“

„Du hattest Recht, sie hat noch zu knabbern. Aber ich spüre, dass sie eine gute Verbindung zu Leo hat. Die zwei kriegen das hin, mit ein bisschen Unterstützung. Aber die hat sie hier ja.“

Ich streiche über Leos Rücken.

„Möchtet ihr noch mehr Kinder?“, will Severin wissen.

„Momentan nicht. Jetzt ist erstmal die Karriere dran. Ich schreibe an meiner Doktorarbeit und muss mir jobmäßig hier ein ganz neues Netzwerk aufbauen. David wird mit dem Aufbau der Gaststätte beschäftigt sein. Und ich freue mich auch schon drauf, dass die Kinder im Herbst in den Kindergarten gehen. Die letzten Jahre mit vier kleinen Kindern waren echt sehr anstrengend. Allerdings ist David noch jung. Ich kann mir gut vorstellen, dass er in ein paar Jahren noch ein Baby will, wenn unser Haus steht.“

„Und in deinen Augen sehe ich, dass du dir das vorstellen könntest.“

„Mein Ältester ist fast 19. Zu sehen, wie aus meinem Kind ein erwachsener, kluger, einfühlsamer Mensch geworden ist, der jetzt selbstständig durch die Welt geht, das ist ein unbeschreibliches Gefühl. Das gibt mir Kraft für die Kleinen. Und wenn ich dann so einen winzigen Zwerg sehe, wie Leo hier, dann meldet sich definitiv was in mir und will auch nochmal ein Baby. Aber der Kopf sagt mir halt auch, dass ich dafür auf ganz viele Freiräume wieder verzichten müsste ...“

„Meine Tochter ist 18. Ich kann das total nachvollziehen, was du sagst. So, ich stell dich jetzt mal ein paar Leuten vor.“

David

Nach meinem Ausflug zum Grundstück setze ich mich mit Christian ins Büro, um Skizzen zu zeichnen und über die Erschließung nachzudenken. Außerdem erstellen wir gemeinsam einen Zeitplan. Notartermin zum Überschreiben noch jetzt im März, Architektentermin zum Bauantrag ausarbeiten auch noch diesen Monat, im September dann Termin in der Gemeindeverwaltung, im Landratsamt, und schließlich mit Christian als Bauunternehmer zur Auftragsvergabe. Wenn alles nach Plan läuft, dann könnte der Rohbau der Gaststätte noch vor dem Winter stehen und nächstes Jahr im späten Frühling oder Frühsommer könnten wir eröffnen. Vorausgesetzt, wir kriegen das mit der Finanzierung hin. Und finden einen Partner. Ich weiß, dass da nur einer Sinn macht. Noah. Aber ich kann mich nicht dazu durchringen, den Gedanke wirklich zuzulassen. Noch nicht.

Jordan ist mit den Zwillingen schon mitten im Essensgetümmel. Nina kommt strahlend auf mich zu.

„David!“

„Hey, Nina“, freue ich mich und umarme sie.

„Wow, du siehst gut aus. So erwachsen.“

„Willst du mir sagen, dass ich alt geworden bin?“, grinse ich.

„Nein, du siehst aus wie jemand, der seinen Platz im Leben gefunden hat. Ich freu mich, dass ihr zwei endlich zueinander gefunden habt.“

„Danke. Und wo ist dein kleiner Mann?“

„Severin kuschelt ihn gerade. Aber du kriegst ihn nachher sicher auch noch zu sehen.“

Sie stellt mich einer älteren Frau vor und einer Mutter mit einem Sohn in Gwens Alter. Außerdem lebt eine Familie aus Eritrea hier. Deshalb gibt es heute auch drei verschiedene traditionell eritreische Gerichte. Das Essen ist ganz ungezwungen. Die Leute zeigen Interesse an uns, ohne uns auszufragen. Wir unterhalten uns gut.

Nach dem Essen verabschieden wir uns, um die Zwillinge bei meinen Eltern hinzulegen. Aber eigentlich wollen wir gar nicht mehr weg.

Jordan und ich sitzen mit meinen Eltern am Tisch und erzählen ihnen von unseren Eindrücken vom Paradies und von Severin und Christian.

„Ich denke, eure Pläne haben Hand und Fuß“, findet mein Vater und das beruhigt mich sehr.

Wie schnell wir in den letzten Wochen so wichtige Entscheidungen getroffen haben, war mir nicht ganz geheuer. Aber wenn mein Vater meint, dass wir das Richtige tun, dann tun wir das Richtige.

„Bleibt noch die Frage nach einem Partner für die Gaststätte. Mein Kapital fließt in unser Haus. Wir brauchen also jemanden, der investiert, der Verantwortung übernimmt, jemand, dem wir vertrauen und mit dem wir sicher langfristig zusammenarbeiten können“, fasst Jordan zusammen.

„Ja, und eigentlich gibt es da nur einen, der in Frage kommt. Noah.“

Mein Vater schüttelt den Kopf.

„Das geht nicht.“

„Er ist zuverlässig und erfahren und er legt seit Jahren Geld bei Seite, um ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Ich kann den vorderen Teil des Grundstücks an Christian verkaufen, damit er dort weiteren Wohnraum oder eine Pension bauen kann. Und mit dem Geld kann ich das Gaststättengebäude bezahlen. Noah kann die Ausstattungskosten übernehmen und wir können die Gaststätte dann als gleichberechtigte Partner bewirtschaften.“

„Mag ja sein, aber es hat seinen Grund, dass ihr euch seit Jahren nicht mehr gesehen habt!“

„Ja, Papa, aber vielleicht ist es Zeit, darüber hinwegzukommen.“

Ich schaue Jordan fragend an. Er nickt:

„Du hast recht. Wir fahren jetzt ins Flags und testen aus, ob Noah sich das vorstellen kann.“

„Was?! Nein, das …. das geht zu schnell.“

„Nein, das geht genau richtig schnell, so dass du keine Zeit hast, nervös zu werden.“

„Ich bin aber schon nervös“, murre ich.

Aber Widerstand ist zwecklos.

„Sollen wir wirklich?“, frage ich zum dritten Mal, als wir kurz vor acht vor dem Flags stehen.

„Jetzt geh schon rein, Liebling. Noah war dein bester Freund. Ihr hattet all diese Geschäftspläne. Da ist ein Faden in deinem Leben lose und heute ist es Zeit, ihn wieder aufzunehmen.“

„Wow, da hört man den Songwriter raus.“

„Lenk nicht ab. Geh da rein und hol dir diese Freundschaft zurück.“

In dem Moment, in dem ich durch die Tür trete, fühlt es sich an wie heimkommen. Hier im Flags hab ich so viele Stunden verbracht. Hier hab ich gearbeitet, bis ich nicht mehr stehen konnte. Hier hab ich meinen Unternehmergeist entdeckt, hier war ich das erste mal Chef. Hier war ich glücklich. Es riecht nach italienischen Gewürzen, Lounge-Musik läuft und die Menschen unterhalten sich angeregt. Ich liebe die Atmosphäre. Ich ziehe Jordan ganz nah an mich heran und gebe ihm einen innigen Kuss.

„Danke für den Schubs in die richtige Richtung.“

„Immer wieder gern“, grinst er. „Da ist Dayu.“

Er deutet über meine Schulter. Tatsächlich, da läuft er durch die Tischreihen und verteilt emsig Essen. Ich spüre Wut in mir aufkeimen. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Andererseits: Ich bin froh da, wo ich jetzt bin. Also schüttle ich die Wut ab und gehe auf ihn zu.

„Dayu? Hey...“

„David, was?! Und Jordan! Hey, das... ich bin überrascht, euch zu sehen.“

„Ja, ich bin auch überrascht. Ich dachte, dein Studium ist inzwischen beendet?“

„Ja, ich bin Referendar an einem Gymnasium hier in der Nähe. Aber ich springe ab und zu ein, wenn Noah zu wenig Leute hat.“

„Ist er da?“, frage ich unsicher.

„Klar, er ist eigentlich kaum woanders, seit er offiziell der Geschäftsführer ist. Er ist im Büro. Soll ich ihn holen, oder willst du hintergehen...?“

„Ich würde ihn gern überraschen.“

„Okay, du kennst ja den Weg ...“

Jordan macht es sich an der Bar gemütlich und lächelt mir bestärkend zu, Er wedelt mit den Händen und bedeutet mir, dass ich endlich zu Noah gehen soll.

Leise klopfe ich an die Bürotüre.

„Herei-hein!“, trällert eine mir so bekannte Stimme.

„Hallo, ich habe gehört, ich kann mich beim Geschäftsführer um einen Job bewerben …?“

Noah schaut irritiert vom Bildschirm auf.

„Ja, aber … David?!“

Augenblicklich schießen ihm Tränen in die Augen und er kommt auf mich zu gestürmt. Dicht vor mir bleibt er stehen und schaut mich eindringlich an, wie um sicherzugehen, dass ich es wirklich bin.

„Umarm mich schon“, grinse ich.

„Ich fass es nicht“, schluchzt er, während er mich umarmt. „Du bist wirklich hier.“

„Ja, ich bin wieder hier.“

Er wischt sich etwas verschämt die Augen und schnäuzt in ein Taschentuch. Dann schaut er mich wieder ganz eindringlich an.

„Du siehst gut aus!“

„Mir geht es auch gut.“

„Was machst du hier?“

„Wir ziehen im Herbst in die Nähe von Kleinding. Und ich bin hier, um lose Fäden wieder aufzunehmen.“

„Wir? Du und... Max?“

„Nein, das ist lange vorbei.“

„Gut für dich.“

„Ja, es war die richtige Entscheidung. Auch wenn ich sie nicht getroffen habe.“

„Max hat dich also verlassen?“

„Ja, schon ein paar Monate nach unserer Ankunft in Kalifornien. Ich hab jetzt eine Familie. Jordan und die Kinder.“

„Du bist mit Jordan Bonanno zusammen?!“

„Ganz schönes Upgrade, was?“, grinse ich.

„Und die ganze Familie zieht nach Kleinding?“

„Ja, oder in die Nähe. Die Details klären wir gerade. Jordan wartet draußen. Ich würde euch gerne mal ordentlich vorstellen. Ihr seid euch schon begegnet, aber … damals waren die Umstände andere.“

„Ja, klar, sicher, stell uns vor. Aber ich kann nicht garantieren, dass ich nicht zum Fanboy werde und anfange, um Selfies mit ihm zu betteln.“

Jordan sitzt mit einem Kaffee an der Bar und steht sofort auf, als er uns kommen sieht – halb bereit mit mir auf mein Zeichen zu fliehen, halb bereit, Noah zu begrüßen.

„Liebling, das ist Noah – Noah , das ist Jordan.“

Jordan lächelt sein charmantestes Lächeln. Ich sehe ihn ein bisschen durch Noahs Augen und bin stolz, dass dieser Kerl, der selbst in alten Jeans und Bandshirt unverschämt toll aussieht, zu mir gehört.

„Hi Noah, ich hab schon viel von dir gehört.“

„Hi Jordan, ich hab auch schon viel von dir geträumt … äh gehört, also äh... möchtest du vielleicht ein Stück Kuchen oder, ...“

„Danke, Dayu versorgt mich schon. Ich bin hier an der Bar gut aufgehoben. Sucht euch doch eine Ecke, in der ihr euch ungestört unterhalten könnt.“

„Oh, klar, ja, da hinten, wollen wir uns setzen, David?“

„Sehr gerne“, grinse ich und lache Noah ein bisschen aus.

„Hast du von meinen Eltern gehört?“, frage ich Jordan noch schnell.

„Ja, ich hab ein Foto von schlafenden Zwillingen bekommen. Wir müssen uns also nicht beeilen mit dem nach Hause fahren.“

„Sehr gut. Du meldest dich, wenn dir langweilig wird?“

„Wenn mir langweilig wird, schnappe ich mir die Gitarre da hinten an der Wand“, grinst er.

Noah hyperventiliert fast: „Oh ja, das musst du nachher unbedingt machen!“

Wir setzen uns an einen freien Tisch.

„Wow, du hast das große Los gezogen“, seufzt Noah.

„Ja, mit Jordan zusammen sein, ist ziemlich cool. Und das allerbeste ist, dass ich nicht nur ihn bekommen habe, sondern auch seine Kinder. Noah, ich sag dir, das sind die tollsten Kinder der Welt. Gwen ist das talentierteste, freundlichste und schönste Kind, dass du dir vorstellen kannst. Und die Zwillinge hab ich von klein auf mit aufgezogen. Sie nennen mich sogar Papa und lernen jeden Tag mehr deutsch. Und Josh, er ist so wahnsinnige verantwortungsbewusst und verlässlich und klug und überlegt. Ich sehe total viel von mir selbst in ihm und deshalb weiß ich auch, dass es total wichtig ist, dass er sich auch mal locker macht und wirklich Verantwortung abgibt. Du musst die Kids unbedingt alle mal kennenlernen, wenn wir hier leben.“

„Wow, wie du strahlst. Ich freu mich so, dass du glücklich bist.“

„Ja, ich bin im Privaten wirklich sehr glücklich. Aber was die Arbeit betrifft … die Karriere ist in den letzten Jahren ziemlich auf der Strecke geblieben. Ursprünglich dachte ich, ich könnte dich hier vielleicht abwerben, aber ich sehe schon, du bist der Geschäftsführer ...“

„Ja, aber zu welchen Konditionen? Ich verdiene zwar besser als früher, aber der Chef schöpft den Gewinn ab. Und bei richtungsweisenden Entscheidungen muss ich immer um Erlaubnis fragen. Von dem her bin ich schon offen für andere Angebote. Hast du was konkretes in Aussicht?“

„Ja, hab ich. Es ist noch nicht viel mehr als eine Idee. Aber eine mit Potential. Es geht um eine Landgaststätte mit Ferienwohnungen. Aber mit einem etwas alternativen Konzept. In Seelendorf, der Nachbargemeinde von Kleinding, gibt es ein Wohnprojekt, das Ende letzten Jahres eröffnet hat. Auf dem Gelände einer alten Wirtschaft mit Hofstelle. Es gibt private Bereiche, aber auch eine Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsräume. Es gibt Kunstkurse, Yoga, was man sich nur vorstellen kann. Dort leben Asylbewerber, Senioren, Familien, Studenten, bunt gemischt. Das Gasthaus existiert bisher noch. Die Küche ist aber total alt und eigentlich ist der Bedarf nach Wohnraum so groß, dass der Besitzer – Severin Kaiser – gerne auf dem ganzen Grundstück nur noch Wohnungen anbieten möchte. Wie der Zufall so will, gehört ein angrenzendes Grundstück meinen Großeltern. Und die beiden möchten, dass ihre Enkelkinder zu ihren Lebzeiten schon was davon haben. Ich hab die Option, auszuwählen, ob ich das Grundstück in Seelendorf haben möchte oder einen Baugrund in Kleinding. Und ich muss sagen, ich würde gerne das größere Grundstück nehmen und dort nicht nur Wohnraum bauen für mich, Jordan und die Kids, sondern auch ein Restaurant und langfristig auch Ferienwohnungen für Leute, die das Paradies – so heißt das Wohnprojekt nebenan – mal besuchen möchten wegen des Kursangebotes oder einfach, weil sie die Idee so toll finden. Die Finanzierung der Gebäude ist durch Jordan und mich schon gesichert. Auf das Restaurant drauf möchten wir einen Saal bauen, mit guter Veranstaltungstechnik für Bands, aber auch für Vereinsveranstaltungen und Hochzeiten. Das ist Jordans Ding. Das Restaurant ist meine Verantwortung, aber ich hätte dabei gerne einen Partner, und zwar einen gleichberechtigten. Denn ich will auch noch Zeit für die Kinder haben und ehrlich gesagt brauchen wir auch jemanden, der sich finanziell einbringt, um die Küche gut auszustatten und auch den Gastraum. Ich könnte mir dabei niemanden anderen vorstellen als dich. Ich vertrau dir voll und ganz und kann mir gut vorstellen, das mit dir zusammen aufzubauen. Aber das ist schon auch eine Verpflichtung. Wir sind dann aneinander gebunden. Dein Geld steckt dann in meiner Immobilie mit allen Rechten und Pflichten...“

„Wow, du hast dir darüber schon richtig viele Gedanken gemacht.“

„Nicht nur das. Ich brenne richtig für dieses Projekt. Weil es zwei Dinge vereint, die ich lange für unvereinbar gehalten habe: ein freies, selbstbestimmtes Leben und die Verwurzelung in bayerischen Traditionen. Das passt einfach zu mir. Und auch zu Severin und seinem Partner- dem örtlichen Bauunternehmer. Und- wenn du willst – gibt es in diesem Projekt auch einen Platz für dich. Wir können in den nächsten Wochen ein Treffen im Paradies arrangieren und dann konkreter darüber reden, was wir uns vorstellen und wie du da reinpasst.“

„Daran bin ich definitiv interessiert.“

„Das freut mich!“

„Oh, er scheint sich zu langweilen“, grinst Noah und deutet in Jordans Richtung.

Jordan nimmt die Gitarre von der Wand und fängt an, sie zu stimmen.

„Ich mach mal die Musik aus und sag ihn an.“

„Alles klar. Ich bin es gewohnt, dass er mir die Show stiehlt, keine Sorge...“

„Hey, das ist Jordan Bonanno!“

„Mir wäre es lieber, wenn er endlich Jordan Lenz wäre.“

Noah setzt sich wieder hin.

„Ihr wollt heiraten?“

„Ja, sobald wir hier gut angekommen sind. Aber er wird wohl eher nicht meinen Namen annehmen.“

„Aber dir wäre das wichtig?“

„Ja, ich merke immer mehr, dass ich es sehr schade fände, wenn mein Name ausstirbt. Aber das ist kompliziert...“

„Kannst du mit ihm darüber reden?“

„Ich kann mit ihm über alles reden. Ich weiß nur nicht, ob es mir zusteht, das zu fordern. Ich bin nicht der Vater der Kinder … aber das ist eine Diskussion für einen anderen Tag, jetzt lassen wir Jordan erst mal singen.“

Noah zaubert ein Mikrophone aus einem unscheinbaren Sideboard und stellt es für Jordan auf.

„Achtung, darf ich um eure Aufmerksamkeit bitten? Leute, seid doch mal kurz leise. Wir haben eine Berühmtheit hier. Alle etwas älteren Semester werden sich noch erinnern an Summerskin. Na, sagt euch was? Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut und ihn extra für euch einfliegen lassen, aus dem sonnigen Kalifornien. Liebe Freunde begrüßt: Jordan Bonnano!“

„Vielen Dank, Noah! Mit diesem Song möchte ich mich bei dem Mann bedanken, der mein Leben gerettet hat. David Lenz, das erste, was ich jeden Morgen sehe, ist dein Lächeln. Ich kann es nicht erwarten, deinen Ring am Finger zu tragen.

Sometimes I wonder

How I'd ever make it through,

Through this world without having you

I just wouldn't have a clue

'Cause sometimes it seems

Like this world's closing in on me,

And there's no way of breaking free

And then I see you reach for me

Sometimes I want to give up

I want to give in, I want to quit the fight

And then I see you, baby

And everything's alright, everything's alright

When I see you smile

I can face the world,

Oh oh, you know I can do anything

When I see you smile

I see a ray of light,

Oh oh, I see it shining right through the rain

When I see you smile

Oh yeah, baby when I see you smile at me

Baby there's nothing

In this world that could ever do

What a touch of your hand can do

It's like nothing that I ever knew“

 

Ich muss schlucken. Mein Bauch ist voller Schmetterlinge und meine Augen voller Tränen. Jordan lehnt seine Gitarre an den Barhocker und kommt zu mir.

„Ich liebe dich“, flüstert er.

„Ich liebe dich“, flüstere ich zurück und küsse ihn. „Ich will deinen Ring tragen. Und ich will, dass du und die Kinder meinen Nachnamen tragen.“

Überrascht schaut er mich an.

„Wirklich?“

„Ja, das ist mir sehr wichtig.“

„Dann machen wir das. Dann nehmen die Zwillinge und ich deinen Namen an.“

„Wirklich, einfach so?“

„Nicht einfach so, aber von ganzem Herzen.“

„Jordan Lenz“, murmle ich.

„David Lenz“, murmelt er zurück.

Dann küssen wir uns noch mal. Die Leute applaudieren. Jordan setzt sich wieder auf den Hocker und spielt was von den Chili Peppers. Ich setze mich wieder in die Ecke. Noah kommt zu mir.

„Wow, großes Kino.“

„Irgendwie surreal“, gebe ich zu. „Er wird meinen Namen annehmen. Die Zwillinge werden meinen Namen weitergeben.“

„Du bist so ein Spießer“, lacht Noah.

„Ja, bin ich. Das kann ich jetzt endlich akzeptieren. Ich bin ein schwuler Spießer und verlobt mit dem unkonventionellsten Menschen, den ich kenne.“

„Und du wirst mit deinem besten Freund einen Landgasthof aufmachen wie ihn die Pampa noch nie gesehen hat.“

„Ja, wirklich?“

„Auf jeden Fall oder glaubst du, ich lass mir die Chance entgehen, in diesem bayerischen Hollywood-Märchen mitzuspielen?“

Auf der Heimfahrt liegt meine Hand auf Jordans Oberschenkel, wenn ich gerade nicht schalten muss.

„Danke, dass du mich zu Noah geschleift hast. Es war vom ersten Moment an wie früher, als wir beste Freunde waren.“

„Ja, das hat man euch angemerkt. Ich muss zugeben, ich war ein bisschen eifersüchtig.“

„Wirklich?“, frage ich überrascht und suche in seinem Gesicht nach der Spur eines Scherzes.

„Ja, aber ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Ihr habt nur diese Verbundenheit ...“

„Aber die haben wir doch auch.“

„Ja, aber unsere Beziehung hat so rational begonnen, die Leidenschaft kam erst später. Wir waren so lange Freunde.“

„Jordan, du und ich sind schon lange keine Freunde mehr. Ich bin verrückt nach dir.“

„Ja, ich weiß. Und es ist total blöd. So eine Unsicherheit kenn ich sonst gar nicht von mir. Aber ich hab Angst, dass ich dir nicht reiche.“

„Jordan! Das ist total verrückt. Ich liebe dich über alles. Niemand hat mich je so glücklich gemacht, wie du!“

„Mein Kopf weiß das alles, aber du bist einfach viel zu gut für mich.“

Ich muss lachen, so richtig aus dem Bauch raus:

„Jordan, wenn überhaupt bist DU zu gut für MICH. Du bist eigentlich gar nicht in meiner Liga. Du bist ein Gott verdammter Rockstar! Also halt die Klappe und lass uns einfach genießen was wir haben. Wir sind beide einfach nur Glückspilze. Und dein neurotisches Gelaber wird daran nichts ändern. Unser Glück ist echt und von Dauer. Wir sind eine Familie, und das wird so bleiben. Dieses Mal ist es für immer, Jordan. Ich weiß, du hast das schon öfter in deinem Leben gedacht. Aber ich bin hier und ich bleibe. Und das hast du auch verdient.“

„Wow, das war eine Ansage.“

„Ja, die hast du gerade gebraucht.“

Am nächsten Tag bekomme ich gleich nach dem Frühstück eine SMS von Christian.

„Die Hausgemeinschaft war total begeistert von unseren Erweiterungsplänen und von euch. Wir laden euch deshalb herzlich ein, ab 1. September bei uns zu leben. Zwei Schlafräume sind für euch reserviert. Severin bringt nachher die Verträge vorbei. Ich freu mich auf euch!“

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