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Summer in Paradise 3

Teil 4

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Inhaltsverzeichnis

Jordan

Sean steht als nächster auf meiner Abschieds-Liste. Und das bedeutet, ich muss nach Glendale. Sean hat mich in seinen Golfclub eingeladen. Als er das vorgeschlagen hat, habe ich ihn ausgelacht. Aber es war sein Ernst:

“Du willst mich wirklich in einem Golf-Club treffen?!”

“Nicht in irgendeinem Golf-Club. In DEM Golf-Club. Der, in dem mein Vater und Klaus ihre Wochenenden verbracht haben. Der, in dem ich jede Woche Tennis spielen musste, bis ich 16 war. Der, in dem mein Vater all seine Geschäfte abgewickelt hat. Mit all seinen Alte-weiße-Männer- Freunden.”

“Und warum willst du das?”

“Weil das jetzt mein Territorium ist.”

Er verbringt scheinbar tatsächlich einen nicht unerheblichen Teil seiner Freizeit in diesem Golfclub.

Ich parke also am Samstagnachmittag mein Auto neben protzigen BMWs, Geländewägen, die noch nie einen Tropfen Matsch abbekommen zu haben scheinen und Cabrios der teuersten Marken. Deshalb erwarte ich schon fast, dass man mich an der Pforte sofort abweist, in meinen löchrigen Jeans und dem Bandshirt. Der Kerl hinter der Glasscheibe lächelt aber freundlich:

“Mr. Handerson? Mr. Whitmore erwartet Sie schon. Bitte folgen Sie mir.”

Er führt mich vorbei an Palmen und Golf-Caddys in ein Restaurant mit großem Wintergarten, in dem sich Pflanzen ohne Ende aus Ampeln ranken. Sean sitzt an einem Tisch mit fünf oder sechs anderen Männern gemischten Alters, allesamt in hellen Sommeranzügen. Sean sieht mich und sein Gesicht leuchtet sofort vor Freude auf. Ich erinnere mich, das hat es früher schon immer getan. Die Herren in ihren Anzügen sind vergessen, als Sean strahlend aufsteht und auf mich zukommt. Er umarmt mich herzlich und ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange.

“Es ist so schön, dich zu sehen”, sagt er halblaut.

Dann stellt er mich reihum vor und verkündet, dass wir beide jetzt eine Runde durch den Club drehen. Sean hakt sich bei mir unter und strahlt:

“Ist es nicht fantastisch, dass wir hier zusammen entlang spazieren können und keinen stört es?”

“Vor allem ist es schön zu sehen, dass du dich so wohl damit fühlst.”

“Ein paar meiner schlimmsten Erinnerungen an meinen Vater haben sich hier abgespielt. Ich kann dir gar nicht sagen, was es mir bedeutet, dir das alles zeigen zu können. Du hast damals nur diese verängstigte Variante von mir kennengelernt.”

“Ich liebe die neue Variante. Du wirkst sehr glücklich.”

“Ich bin auch sehr glücklich. Brian auch. Und Maddy. Wir sind alle sehr glücklich. Wie geht es dir?”

“Gleichfalls sehr glücklich, zumindest im Vergleich zum letzten Jahr.”

Ich erzähle ihm von den neuesten Plänen aus dem Paradies, von allem, was wir in Deutschland angehen wollen, davon, wie sehr ich mich freue, dass auch Mum und Marie in der Nähe sein werden. Ich erzähle ihm auch davon, wie oft David mich an ihn erinnert. Und dann erzähle ich von Vince. Er ist davon sichtlich schockiert.

“Ich dachte, er hätte den Verlust damals gut überwunden. Ihr wart so schnell zusammen, nachdem David gestorben war.”

“Ja, aber auch wenn wir sehr verliebt ineinander waren, eigentlich war Vince nicht mit dem ganzen Herzen dabei. David war immer der Eine für ihn.”

“Geht es dir mit Dylan auch so?”, fragt Sean vorsichtig.

“Nein, das ist anders. Ich glaube, für mich gibt es nicht den Einen. Es hätte mehrere Menschen gegeben, mit denen ich mein Leben hätte verbringen können. Du bist einer davon. Wenn wir uns zehn Jahre später begegnet wären …”

“Ja, dann wäre ich vielleicht schon für dich bereit gewesen. … Wie kann man Vince helfen?”

“Ich weiß es nicht. Ich meine, sicher, die Klinik und die Medikamente werden ihn stabilisieren. Aber ich hatte den Eindruck, dass er seit Jahren leidet und es sich nicht hat anmerken lassen. Manche Dinge kann man nicht mit Pillen beheben …”

“Nein, aber meinst du nicht, dass er die Dinge vielleicht weniger pessimistisch sieht, wenn sein Hirnstoffwechsel wieder im Gleichgewicht ist?”

“Ärzte, ey.”

“Sorry. Ich weiß, das Problem lässt sich nicht rein medizinisch lösen.Okay, was machen wir jetzt? Hast du Lust auf Golfen? Oder Tennis?”

“Haha, der war gut.”

“Sandwich?”

“Das hört sich gut an!”

Über den Sandwiches erzähle ich von Xander und der Tatsache, dass er jetzt Sina genannt werden möchte. Sean wäscht mir den Kopf, weil ich versuche, das Ganze ein bisschen ins Lächerliche zu ziehen. Er klärt mich über die medizinischen Fakten auf, nennt mir die Selbstmordquoten bei Trans-Menschen, erzählt von Patient:innen, die er in den verschiedenen Kliniken erlebt hat, in denen er gearbeitet hat. Er überzeugt mich, dass viele von Xanders Problemen tatsächlich im Kern daher kommen könnten, dass sein … dass ihr inneres Geschlecht nicht mit dem körperlichen übereinstimmt.

“Okay, ich seh es ja ein. Ich rufe Sina demnächst mal an …”

“Wie geht es Tobey?”, fragt er.

Ich bringe ihn also auch hier auf den neuesten Stand. Wir unterhalten uns fast drei Stunden lang. Dann fahre ich zu Vince’ Eltern, um dort zu übernachten und ihnen zu erzählen, was ich über Vince’ aktuellen Zustand weiß. Am nächsten Morgen geht es zurück nach L.A., mit einem Abstecher in Gladis’ Diner, auf ein Stück Apfelkuchen und einen kurzen Plausch.

David und ich entscheiden Anfang Mai, dass es Zeit für David ist, nach Deutschland zu fliegen. Er kann nicht mehr alles über das Internet regeln, sondern muss vor Ort sein. Das bedeutet, dass auch die Zwillinge für die nächsten zwei oder drei Monate bei ihm sein werden und nicht bei mir. Es hilft nichts. Ich muss meine Doktorarbeit verteidigen und meine Immobilien verkaufen. Außerdem habe ich noch ein paar offene Aufträge bei Scott und Marie braucht mich auch dringend noch hier. Ende Juli werde ich nachkommen, aber so lange bin ich alleine. Meine freie Zeit verbringe ich mit Gwen und Cooper, mit Marie oder mit Vince in der Klinik. Und eine Sache steht definitiv auch noch an: Ein Treffen mit Sina.

David

Ich ziehe Ende Mai wieder bei meinen Eltern ein. Auch wenn wir schon ein Zimmer im Paradies haben könnten, so ist es mit den Kindern einfach praktischer. Und meine Mutter hat ohnehin darauf bestanden. Sie hat in ihrem Betrieb Altersteilzeit beantragt und baut Überstunden ab, so dass sie fast immer für die Zwillinge da sein kann. Sie bietet sogar an, die beiden auch im September jeden Tag zu nehmen. Aber der Kindergarten tut ihnen sicher gut. Oma kann gleichaltrige Spielgefährten nicht ersetzen, egal wie sehr sie es versucht.

Christian sehe ich fast jeden Tag, Severin nur ab und an. Beide zusammen sehe ich nie. Als Christian und ich nach einem Termin in München gemeinsam Abendessen, spreche ich das an.

“Severin und ich sind nicht mehr zusammen.”

“Was?!”

“Es geht einfach nicht. Ich kann das nicht mit der offenen Beziehung. Und er kann das nicht mit dem Monogam-Sein.”

“Aber wie soll das klappen?”

“Geschäftlich, meinst du?”

“Sorry, das war jetzt herzlos von mir, dass ich zuerst ans Geschäft denke …”

“Ich versteh das schon. Du investierst alles, was du hast in dieses Projekt. Für dich steht viel auf dem Spiel. Aber du kennst Severin. Er lässt keinen Konflikt unangepackt. Sofort nach unserem Trennungsgespräch hat er einen Termin festgelegt, bei dem wir uns strikt geschäftlich getroffen haben. Er hat sofort darauf bestanden, dass wir ins kalte Wasser springen. Es ändert sich nichts, außer, dass ich nicht mehr im Paradies wohne, sondern in der Einliegerwohnung in meinem Elternhaus. Dort, wo auch mein Büro ist. Die Mieterin hat ein Zimmer im Paradies bekommen, bis sie was Neues findet.”

“Und ist das final? Ich meine …”

“Ja, das ist final. Es wird sich nichts ändern, Severin ist wie er ist. Und ich bin wie ich bin. Es hat gedauert, bis ich das akzeptiert habe, aber jetzt ist es so.”

“An dieser Stelle sagt man wohl immer: Andere Mütter haben auch schöne Söhne.”

“Ja, aber ich glaube, da brauche ich noch ein paar Monate … oder Jahre, bis ich das noch mal angehe. Erst mal stehen jetzt die Kinder und das Geschäft im Vordergrund.”

“Ja, die Phase hatten Jordan und ich auch mal, als er frisch von Dylan getrennt war und ich schon eine Weile von Max … Das war in dieser Zeit auch richtig so. Aber ich bin jetzt trotzdem froh, dass diese Phase auch ein Ende hatte.”

“Ihr wart lange nur Freunde, oder?”

“Von 2006 bis letztes Jahr.”

“Das ist auch schlauer. Severin und ich sind Hals über Kopf zusammengekommen. Vielleicht hätten wir uns erstmal besser kennenlernen sollen. Dann hätten wir gemerkt, dass es nicht passt …”

“War bei Max und mir damals ähnlich. Aber Liebe steuert man halt nicht mit dem Kopf.”

“Nein, hilft nichts …”

Er wechselt das Thema wieder zu beruflichen Fragen. Das war ohnehin das längste private Gespräch, das er je mit mir geführt hat. Aber das ist schon okay. So ist Christian halt.

Max’ Mutter Isa wohnt inzwischen im Paradies. Ich besuche sie regelmäßig, auch mal mit den Kindern. Nicht, weil ich mich verpflichtet fühle, sondern weil es gut passt und weil ich gerne im Paradies bin. Oft frühstücken wir zusammen, wenn die Kinder mal wieder früh aufgestanden sind. Isa kann ab fünf Uhr nicht mehr schlafen. Ziemlich schnell schließen die Kinder und ich Freundschaft mit Carlos und Agatha vom Pflegedienst. Carlos ist Anfang 20, Agatha Mitte 50 und beide nehmen sich immer Zeit, um mit den Zwillingen zu schäkern. Isa kann zwar nicht sprechen, aber sie kommuniziert über ihre Gestik und Mimik und freut sich immer sichtlich über den Besuch.

Max

Ich habe einen neuen Job in München angenommen, bei einer Halbleiter-Firma. Einen Job, bei dem ich nicht so viel Verantwortung trage, sondern gut ersetzbar bin und der mir trotzdem Spaß macht. Außerdem finde ich dort viele Projekte, die ich im Rahmen einer Promotion vertiefen könnte. Ich habe mir eine kleine Wohnung in München gemietet. So kann ich fast jeden Tag bei meiner Mutter vorbeischauen. Dort sehe ich ständig neue Gesichter, jedes Mal, wenn der Pflegedienst morgens gleichzeitig mit mir da ist. Ich muss dringend mit dem Pflege-Unternehmen telefonieren. Es muss doch möglich sein, dass jeder Patient nicht mehr als drei feste Bezugspersonen hat. Immerhin helfen diese wildfremden Menschen bei sehr intimen Dingen. Meine Mutter beschwert sich nie. Das muss also ich für sie übernehmen. Allerdings ist der Anruf ernüchternd. Personalmangel. Ich kann mich gerne umsehen, ob es bei anderen Pflegediensten besser aussieht. Das tue ich und bekomme überall die gleiche Antwort:

“Wir haben keine Kapazitäten für neue Patienten. Personalmangel.”

Also wechseln die Pflegekräfte weiter. Kaum jemand spricht gut Deutsch. Ich versuche nach einiger Zeit also gar nicht mehr, Gespräche anzufangen, wenn ich morgens vorbeischaue. Ich lese meiner Mutter die Zeitung vor und fahre ins Büro nach München. Selten komme ich dort vor 20 Uhr raus. Manchmal arbeite ich wesentlich länger. Warum auch nicht? Zuhause wartet niemand auf mich.

Der Anruf kommt kurz nach zehn Uhr am Vormittag, ich kenne die Nummer nicht. Das Meeting ist in vollem Gange. Natürlich gehe ich also nicht dran. Beim ersten Mal. Aber die Nummer ruft gleich noch mal an. Das universelle Zeichen für: Es ist dringend, also geh gefälligst dran! Ich schleiche aus dem Raum - unter den wenig begeisterten Blicken der Kollegen - und flüstere im Flur:

“Ja bitte?”

“Spreche ich mit Maximilian Weller?”

“Ja?”

“Ihre Mutter wurde mit akuter Atemnot ins St. Marien- Krankenhaus eingeliefert. Sie sind als Notfallkontakt vermerkt.”

Sofort übernimmt das Adrenalin. Ich kann mich kaum erinnern, meine Aktentasche gepackt zu haben und in die Tiefgarage gegangen zu sein. Im Auto verfolgen mich Bruchstücke des Gesagten: Atemnot, Intensivstation, Intubieren … Hört dieser verdammte Albtraum denn eigentlich nie auf?! Ich erinnere mich an die Nacht damals, als ich ins Krankenhaus gerufen wurde, weil meine Mutter mit der Hirnblutung eingeliefert worden war. Die Nacht, die meine Eltern und mich wieder zusammengebracht hat, wenn auch sonst nur Leid und Unheil die Folgen dieser Nacht waren.

Am Empfangstresen sitzt eine Frau und starrt in ihren Bildschirm. Ich belle den Namen meiner Mutter, bestätige, dass ich zur Familie gehöre.

“Ein Arzt wird gleich zu Ihnen kommen, bitte setzen Sie sich.”

“Was? Nein, ich will jetzt sofort wissen, wie es meiner Mutter geht!”

“Herr Weller, ich habe leider keine Informationen dazu, aber ich suche so schnell wie möglich jemanden, der Ihnen sagen kann, wie es Ihrer Mutter geht. Bitte setzen Sie sich.”

Sie deutet auf eine Warteecke mit orangen Plastik-Stühlen. Ich setze mich widerwillig und starre auf mein Handy, gehe Arbeitsmails durch, um mich abzulenken. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ein Mann im Kittel in die Runde fragt:

“Herr Weller?”

“Das bin ich.”

Er erklärt mir, dass meine Mutter eine neurologisch bedingte Schluckstörung hat und dass die Atemnot wohl daher kommt. Denn so ist Flüssigkeit in die Lunge gelangt. Außerdem hat sie eine beginnende Lungenentzündung. Momentan ist sie intubiert und unter Narkose. Man müsse sehen, wie ihre Atmung sich weiter entwickelt wenn die Antibiotika angeschlagen haben. Jemand legt seinen Arm um meine Schultern.

“David….”

“Severin hat mir Bescheid gegeben…”

Ich lasse mich von ihm in den Arm nehmen. Nur ein paar Sekunden gönne ich mir, dann wende ich mich wieder dem Arzt zu:

“Könnte sie in München besser versorgt werden? Sind alle Experten, die sie braucht, hier?”

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie David zu jemandem hinter mir geht und auch ihn umarmt. Erstaunt drehe ich mich um. Ich kenne den jungen Mann, aber ich kann nicht sagen, woher. Der Arzt versichert mir, dass meine Mutter hier so gut versorgt ist wie nur möglich, dass ich aber gerade nicht zu ihr kann. Eventuell in ein paar Stunden. Aber auf der Intensivstation ist gerade zu viel los. Personalmangel, so wie überall. Er verabschiedet sich zügig. Ich drehe mich nach David um. Er sitzt neben dem Kerl und legt ihm eine Hand auf die Schulter. Ich setze mich neben die beiden.

“Was soll ich jetzt machen? Warten? Heimfahren? In die Arbeit gehen?”

David schüttelt den Kopf:

“Du kannst jetzt auf keinen Fall arbeiten. Hier warten bringt auch nichts. Ich kann euch mit ins Paradies nehmen, wir können ein paar Sachen zusammenpacken und später wiederkommen.”

“UNS mitnehmen?”

Ich schaue fragend zwischen David und dem Kerl hin und her. David scheint zu begreifen und sieht kurz … enttäuscht … aus. Dann erklärt er:

“Carlos ist eine der Pflegekräfte deiner Mutter. Er war bei ihr, als sie den Erstickungsanfall hatte. Er hat ihr das Leben gerettet.”

“Oh, sorry, ich glaube, wir haben uns noch nicht kennengelernt. Vielen Dank!”

“Eigentlich haben wir uns schon einige Male getroffen. Und es gibt nichts zu danken, ich habe nur meinen Job gemacht”, antwortet er mit leichtem südländischen Akzent und etwas säuerlich.

“Sorry, in letzter Zeit gab es so viele Wechsel beim Pflegedienst, ich komme nicht mehr so ganz hinterher. Jedenfalls finde ich deinen Vorschlag gut, David. Wenn ich ein paar Sachen zusammenpacke, hab ich wenigstens das Gefühl, etwas Nützliches zu tun. Danke, David. Auch dafür, dass du gekommen bist.”

“Ist doch klar.”

Ich sitze auf dem Beifahrersitz neben David in seinem alten Golf. Genau wie damals, in der Nacht als meine Mutter das erste Mal im Krankenhaus war. Damals, als ich frisch mit dem Studium fertig war. Damals, als ich ihn gebeten habe, mit mir nach Kalifornien zu gehen. Es kommt mir vor, als wäre es ein Jahrzehnt her. Weil so viel passiert ist, seitdem. Aber es sind nicht mal drei Jahre, kann das sein? Ich wünsche mir in diesem Moment nichts mehr, als dass David seine Hand auf meinen Oberschenkel legt, so wie damals. Dass er mich anlächelt, so wie damals. Dass er mich zurücknimmt, so wie damals. Aber das wird er nicht. Falls meine Mutter stirbt, bin ich ganz allein auf der Welt.

David

Max sitzt still und bleich neben mir. Ich drehe mich kurz um und sehe Carlos an. Er ist auch sichtlich mitgenommen. Vermutlich muss er zum Glück nicht oft Wiederbelebungsmaßnahmen durchführen. Er bemüht sich kurz, mich anzulächeln, als er meinen Blick bemerkt. Ich parke direkt neben dem Auto vom Pflegedienst.

“Musst du gleich weiter?”, frage ich Carlos.

“Nein, eine Kollegin hat übernommen. Ich habe den restlichen Tag frei. Wenn ihr also noch Hilfe braucht beim Packen …”

Er schaut fragend zu Max. Der schüttelt den Kopf:

“Danke, wir kommen klar.”

Sein alter Reflex, keine Hilfe anzunehmen …

“Wirklich?”, frage ich. “Kennst du alle Medikamente? Weißt du, wo die Stützstrümpfe sind? Ich denke, wir sollten das dem Profi überlassen.”

“Na schön”, antwortet Max untypisch gleichgültig.

Ich will ihm gerade sagen, dass ich mir wirklich Sorgen um ihn mache, als sein Handy klingelt.

“Das Krankenhaus?”

“Arbeit”, antwortet er und geht ein paar Schritte weg um den Anruf entgegenzunehmen.

Carlos und ich schauen uns an.

“Er braucht die Kontrolle, er braucht was zu tun, sonst dreht er durch”, sage ich entschuldigend.

Carlos nickt:

“Ja, aber gesund ist das nicht.”

“Ich weiß. Und er weiß es vermutlich auch …”

Ich gehe zu Max, tippe ihm auf die Schulter:

“Max, deine Mutter liegt auf der Intensivstation. Du solltest jetzt nicht arbeiten.”

Er gestikuliert, dass es wichtig ist und er noch zwei Minuten braucht. Wir sollen schon mal reingehen.

Aus den zwei Minuten werden zehn. Carlos und ich haben im Wesentlichen schon alles gepackt, als Max das Zimmer betritt.

“Sorry, das war wichtig …”

“Ja, wir sind hier auch fast schon fertig. Carlos hilft dir noch mit dem Rest und fährt dich zurück ins Krankenhaus. Ich muss los, ich habe einen Termin beim Anwalt.”

“Du gehst?”, fragt er erschrocken.

“Ich muss. Den Termin kann ich nicht verschieben. Meld dich, wenn es was Neues gibt.”

Ich umarme ihn kurz, dann gehe ich, ohne mich nochmal umzudrehen. Es tut gut, dass ich es dieses Mal schaffe, nicht die Verantwortung für Max’ Leben zu übernehmen. Sondern meinen eigenen Weg zu gehen. Auch wenn mein schlechtes Gewissen sich meldet. Aber nicht besonders laut. Ich schaue auf die Uhr. Es ist noch zu früh, um Jordan in Kalifornien anzurufen. Ich tu es trotzdem und er geht schon nach dem zweiten Klingeln dran, verschlafen aber erfreut:

“Hey David. Alles okay?”

“Mit uns schon, aber Max’ Mutter ist im Krankenhaus. Kann ich dir das alles kurz erzählen?”

“Natürlich, jederzeit. Das weißt du doch.”

“Ich liebe dich, Jordan.”

Ich höre ihn lächeln, dann streckt er sich und gähnt:

“Ich liebe dich auch, David. So sehr, dass ich die ganze Nacht ein Kissen gekuschelt habe, um dich nicht ganz so sehr zu vermissen.”

“Oh Gott, bist du niedlich! Hat’s geholfen?”

“Nein, aber jetzt deine Stimme zu hören, hilft. Erzähl, was ist passiert?”

Max

Ich kann es nicht fassen, dass David mich tatsächlich allein lässt. Irritiert schaue ich mich im Raum um. Carlos packt noch ein paar Dinge ein, dann fragt er:

“Bereit?”

“Haben wir alles, was sie brauchen könnte?”

“Ja, vorerst schon. Für ungefähr drei Tage.”

“Okay, dann können wir fahren.”

Sein Auto ist eng und klein. Ich stelle den Sitz möglichst weit zurück, mache das Radio an und suche einen guten Sender, finde einen aushaltbaren und lehne mich zurück.

“Haben Sie heute schon was gegessen?”, fragt er.

Ich denke kurz nach:

“Nein. Aber ich glaube nicht, dass ich was runterbekomme…”

Kommentarlos parkt er vor dem Bäcker und lässt mich im Auto sitzen. Ein paar Minuten später kommt er mit Croissants, Brezen und zwei Bechern Kaffee zurück.

“Regel Nummer eins in der Pflege: Die Selbstfürsorge nicht vernachlässigen. Essen Sie. Sonst klappen Sie zusammen. Dann sind Sie Ihrer Mutter auch keine Hilfe.”

“Na schön. Aber nenn mich bitte Max.”

Er nickt und reißt sich ein Stück von seiner Breze ab, bevor er den Motor wieder anlässt.

Es dauert eine halbe Stunde, bis ein Arzt für uns Zeit hat und uns die Erlaubnis geben kann, meine Mutter zu sehen. Sie liegt mit Schläuchen im Mund in einem Bett, umzingelt von Technik. Geschockt bleibe ich in der Tür stehen. Carlos geht zu ihr und nimmt ihre Hand. Er redet mit ihr, als wäre sie wach. Er sagt ihr, dass sie im Krankenhaus ist, dass sie Antibiotika bekommt und dass es ihr bald besser gehen wird. Dann sagt er:

“Ihr Sohn ist hier. Max? Nimm ihre Hand.”

Er zieht mir einen Hocker neben das Bett. Ich setze mich, halte die Hand meiner Mutter und weine still vor mich hin. Dann spüre ich Carlos‘ Hand auf der Schulter. Ich schluchze, kann es nicht mehr zurückhalten.

“Möchtest du?”, fragt Carlos und öffnet seine Arme.

Ich möchte. Deshalb stehe ich auf und lasse mich in die Arme nehmen. In erstaunlich starke Arme. Unter dem unförmigen Pulli, den er trägt, ist es mir nicht aufgefallen, aber er ist komplett durchtrainiert. Ich verdränge den unpassenden Gedanken.

“Entschuldigung ...”, flüstere ich.

“No Problemo”, lächelt er und bietet mir ein Taschentuch an.

“Ich komme jetzt klar, wenn du fahren willst …”

“Ich habe deine Mutter in den letzten Wochen fast jeden Tag gesehen, ich möchte noch bleiben.”

“Okay …”

“Sie ist sehr stolz auf dich. Ich musste dich mehrmals für sie googeln und ihr aus deinen Forschungsarbeiten vorlesen. Wir haben beide nicht viel verstanden, aber es hat ihr sehr gefallen.”

“Wirklich?”

“Ja, und sie hat eine Menge Fotos von dir und deinem Vater. Sie liebt euch beide sehr.”

“Wenn sie stirbt, habe ich niemanden mehr.”

“Keine Frau?”, fragt er.

“Keinen Mann. Ich bin schwul.”

Sein Blick ist eindeutig überrascht. Ich sage:

“Verstehe, das hat sie also nicht erzählt. Darauf ist sie nicht so besonders stolz.”

Er schüttelt den Kopf, wirkt plötzlich reserviert. Das kenne ich. Das passiert immer mal wieder, wenn ich mich vor neuen Leuten oute. Schade, ich hatte ihn für einen netten Kerl gehalten. Ich packe mein Croissant aus und beiße hinein. Er steht mitten im Raum, wie bestellt und nicht abgeholt.

“Carlos?”

“Hm?”

“Es ist okay, wenn du jetzt lieber gehst.”

Er schüttelt den Kopf:

“Ich hab nur noch nie jemanden getroffen, der … der schwul ist. Ich dachte … ich dachte, ich würde das merken.”

Ich lache:

“Ernsthaft? Dir ist klar, dass David mein Exfreund ist, oder?”

“Was? Aber … aber die Kinder …”

“Gehören zu ihm und seinem Verlobten. Und Severin und Christian musst du doch auch kennen, wenn du im Paradies ein - und ausgehst.”

Seine Augen treten aus den Höhlen:

“Wirklich, die beiden sind …”

“Auch schwul. Oder bi. So genau hab ich das noch nicht durchstiegen.”

Er schüttelt den Kopf:

“Wenn mein Vater das hören würde …”

“Was würde er dann tun?”

“Wenn einer seiner Söhne zu ihm käme und sagen würde, dass er schwul ist, würde er den totprügeln, glaube ich.”

“Woher kommt deine Familie?”

“Wir haben italienische, spanische und bulgarische Wurzeln. Aber eine richtige Heimat haben wir nicht. Seit fünfzehn Jahren sind wir in Deutschland.”

“Und streng katholisch, nehme ich an?”

“Ja.”

“Verstehe … Naja, ich schätze mal, es gibt auch in deinem familiären Umfeld schwule Männer. Sie sind aber gezwungen, es geheim zu halten.”

Er schüttelt den Kopf:

“Unvorstellbar. Das ist bei uns anders als bei Deutschen.

“So anders war es bei mir gar nicht. Ich hatte mit meinen Eltern auch jahrelang keinen Kontakt. Bis meine Mutter ihre Hirnblutung hatte.”

“Du hast deine Familie aufgegeben?”, fragt er geschockt.

Ich lache hämisch auf:

“Nein, sie haben mich aufgegeben.”

“Aber hättest du nicht einfach … normal leben können? Oder es zumindest heimlich tun?”

“Nein, das hab ich versucht. Aber ich hab David sehr geliebt. Ich hätte das nicht auf Dauer verheimlichen können.”

“Verstehe …”

“Und du, hast du eine Freundin?”

“Ich? Nein, ich hab kein Glück bei den Frauen.”

“Wirklich, hätte ich gar nicht gedacht, du siehst doch gut aus.”

Bescheiden winkt er ab:

“Nein, ich … ich bin einfach nicht der Typ für eine Beziehung. Ich bin gerne alleine. Ich mag meinen Job, aber davon könnte ich keine Familie ernähren. Es ist gut, wie es ist.”

“Ja, Pflegekräfte werden definitiv unterbezahlt. Ich bin wirklich sehr dankbar, dass es Menschen wie dich gibt. Ich wüsste mir nicht zu helfen, wenn ich meine Mutter selbst pflegen müsste. Ich hätte viel zu viel Angst, etwas falsch zu machen.”

“Wenn du möchtest, kann ich dir ein paar Dinge beibringen …”

“Das wäre toll, sobald es ihr wieder besser geht.”

“Sie ist noch nicht fertig mit dem Leben. Sie wird sich durchkämpfen.”

“Meinst du? Der Tod meines Vaters hat sie ganz schön mitgenommen…”

“Ja, aber der Umzug ins Paradies war eine gute Entscheidung. Jeder Mensch sollte so leben können. Umsorgt von vielen Leuten. Ich hoffe, sie kann wieder dorthin zurück und braucht keine 24-Stunden-Pflege …”

“Das hoffe ich auch. Ich glaube, jeder Mensch ist glücklicher im Paradies.”

“Naja, ich genieße meine eigene Küche. Und wie gesagt, ich bin gerne auch mal alleine. Würdest du gerne im Paradies leben?”, fragt er.

“Das Konzept wäre für mich ideal. Aber dass David und Jordan bald dort einziehen, macht es für mich zu kompliziert. Deshalb könnte ich nicht dort wohnen.”

“Wo wohnst du gerade?”

“Ich habe mir eine Ein-Zimmer-Wohnung gemietet, in München. Gerade erst vor ein paar Wochen. Ich habe nicht weit ins Büro und nicht weit zu meiner Mutter. Und du?”

“Eine Ein-Zimmer-Wohnung in Kleinding. München könnte ich mir nicht leisten.”

“Ich nutze es auch nicht wirklich aus, dass ich in München bin. Ich könnte genauso gut in Kleinding wohnen. Aber da gab es zu viele schmerzliche Erinnerungen.”

“An deinen Vater?”

“Ja, und an David.”

“Also … hat er sich damals von dir getrennt?”

“Nein, das war ich Idiot selbst. Ich bereue das ziemlich.”

“Die eigenen Fehler sind die schlimmsten. Da kann man auf niemanden wütend sein, keinem die Schuld geben.”

“Ja. Aber ich weiß auch, dass es für ihn so am besten war. Er ist mit Jordan und den Kindern sehr glücklich. Das hätte ich ihm nicht geben können. Aber ich vermisse ihn.”

“Das tut mir Leid … Es ist fast fünf. Deine Mutter wird nicht aufwachen, solange sie intubiert ist. Wir sollten langsam fahren.”

“Aber was, wenn sich etwas ändert, während ich nicht hier bin?”

“Die Besuchszeit endet sowieso. Du kannst nicht die ganze Nacht hier bleiben. Schlaf dich aus und komm morgen früh möglichst erholt zurück. Vielleicht wirkt das Antibiotikum morgen ja schon …”

Ich gebe mich geschlagen. Zuhause setzte ich mich für ein paar Stunden an den Laptop, um noch die wichtigsten Dinge aus der Arbeit zu erledigen. Aber um zehn Uhr zwinge ich mich, ins Bett zu gehen.

Am nächsten Tag sitze ich von acht bis 16 Uhr alleine am Bett meiner Mutter. Ich rede und rede und erzähle ihr alles, was mir gerade einfällt. Von meiner frühesten Kindheitserinnerung bis zur Trennung von David. Kurz nach vier klopft es und Carlos streckt seinen Kopf zur Tür herein:

“Darf ich?”

“Natürlich. Komm rein.”

Er geht direkt zu meiner Mutter und nimmt ihre Hand, fühlt ihre Stirn.

“Kaum noch Fieber”, murmelt er. “Und Farbe haben Sie auch schon wieder. Frau Weller, das wird schon wieder.”

Er dreht sich zu mir:

“Brauchst du was? Hast du gegessen? Wie lange sitzt du schon hier?”

“Eine Weile …”

“Geh in die Cafeteria und hol dir was. Ich bleibe so lange hier.”

Sein Ton lässt keinen Widerspruch zu, also gehe ich. Und es tut tatsächlich gut, mich ein bisschen zu bewegen. Ich esse mein Sandwich in der kleinen Parkanlage des Krankenhauses. Nach zwanzig Minuten komme ich zurück ins Zimmer, wo Carlos meiner Mutter gerade die Beine eincremt.

“Ihre Sättigung ist gut, denke ich. Zumindest sind ihre Beine rosig. Hier, mach weiter, ich massiere so lange ihre Hände.”

Er reicht mir eine Tube Salbe und macht sich ans Werk. Na schön.

Nach einer Weile fragt er:

“Wie lange warst du mit David zusammen?”

“Wir sind kurz nach meinem Abi 2006 zusammengekommen. Anfang 2010 haben wir uns getrennt.”

“Wow, über drei Jahre, das ist eine lange Zeit. Und du bist gar nicht viel älter als ich.”

“Ich werde im Sommer 26.”

“Ich bin 23.”

“Dann bist du mit acht nach Deutschland gekommen?”, rechne ich aus, weil er gestern erzählt hat, dass er seit 15 Jahren hier ist.

“Ja, aber ich tat mich schwer damit, die Sprache zu lernen. Ich hatte nicht viel Kontakt zu Deutschen. Und sogar das Fernsehprogramm war italienisch. Deshalb hat die Schule nicht gut geklappt.”

“Verstehe.”

“Ich muss leider los. Ich komme morgen wieder.”

“Danke, Carlos.”

Ich bleibe nicht mehr allzu lange, mir fallen immer wieder die Augen zu. Ich fühle mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen, dabei bin ich den ganzen Tag nur rumgesessen, auf einem furchtbar unbequemen Stuhl. David schreibt kurz, ob es was Neues gibt,

“Alles unverändert”, tippe ich.

“Ich kann morgen Nachmittag ins Krankenhaus kommen, wenn du willst?”

“Alles gut, Carlos kommt vorbei”, tippe ich, aber schicke es nicht ab. Ich lösche den Text und schreibe stattdessen:

“Klar, gerne, aber fühl dich nicht verpflichtet …”

“Okay, ich muss die Kids ins Bett bringen. Gute Nacht. :)”

Zuhause warten 68 Mails auf mich. Ich schaffe 20, dann falle ich ins Bett. Nur um am nächsten Morgen festzustellen, dass ich mit den Mails mehr Chaos als Nutzen angestellt habe und dass ich dringend ins Büro muss, um das auszubaden.

Ich komme also erst kurz nach Mittag bei meiner Mutter an und stelle fest, dass ihr Zimmer leer ist. Drei lange, panikerfüllte Minuten brauche ich, um eine Schwester zu finden:

“Ihre Mutter konnte heute Morgen extubiert werden. Sie konnte verlegt werden.”

“Ist sie wach?”

“Sie war schon kurz bei Bewusstsein.”

“Und ich war nicht da …”

Meine Mutter liegt in einem normalen Bett, immer noch mit einigen Geräten um sie herum und einem Sauerstoff-Schlauch unter der Nase. Aber es wirkt, als würde sie entspannt schlafen. Carlos sitzt bei ihr.

“Carlos! Gut, dass du da warst. Ich wurde in der Arbeit aufgehalten …”

“Sie hat nach dir gefragt. Ich hab ihr gesagt, dass du bald kommst. Aber sie konnte sich nicht wach halten.”

“Das tut mir so Leid …”

Ich fange an zu weinen, weil ich so müde bin. Und weil ich sie mal wieder enttäuscht habe. Und weil ich immer alles falsch mache. Carlos steht auf und kommt zu mir rüber. Er fragt mit einem Blick um Erlaubnis, dann nimmt er mich in den Arm. Ich sauge seinen Geruch ein. Er riecht nach Kaffee und nach irgendeinem Gewürz, das ich nicht zuordnen kann. Geduldig wartet er, bis ich genug geweint habe. Dann reicht er mir wieder ein Taschentuch, wie beim letzten Mal. Und ich entschuldige mich, wie beim letzten Mal.

“No Problemo”, grinst er und bringt mich damit zum Lachen.

“Hast du schon mit einem Arzt reden können?”, frage ich.

“Nein, aber mit einer Schwester. Das Antibiotikum schlägt an, die Blutwerte sehen gut aus und die Sättigung hält sich. Es sieht alles sehr gut aus. Das einzige Problem ist, dass noch nicht klar ist, woher diese Schluckstörung kam und ob deine Mutter noch selbstständig essen kann oder eine Magensonde braucht.”

“Geht das auch im Paradies?”

“Ja, wenn die Sonde mal gelegt ist, kann sie wieder zurück.”

Die nächste Woche über geht es meiner Mutter jeden Tag besser. Die Sonde wird in einer kleinen OP gelegt. Auch das übersteht sie gut. Es ist Sonntag, ich schiebe sie im Rollstuhl durch den Garten. Carlos kommt uns entgegen. Er hat diese Woche jeden Tag vorbeigeschaut, mal kürzer, mal länger.

“Hey, schön, dass du meine Mutter sogar am Sonntag besuchst …”

“Eigentlich haben Isa und ich gestern gemeinsam entschieden, dass es heute mal nicht um sie gehen soll.”

Meine Mutter lächelt verschwörerisch.

“Was habt ihr vor?”, frage ich argwöhnisch.

“Wir bringen deine Mutter jetzt zurück in ihr Zimmer und dann kommst du mit mir an den See. Es ist Zeit, dass du mal wieder etwas rauskommst. Dringende mütterliche Anweisung.”

“Aber …”

“Kein Aber. Ich habe alles im Auto, was wir brauchen. Du musst dich um nichts kümmern.”

“Na dann …”

Zwanzig Minuten später parken wir an einem großen Kiesweiher, der bekannt dafür ist, sehr tief und sehr kalt zu sein. Carlos holt ein zusammengerolltes Ding aus dem Kofferraum, und ein Paddel.

“Was ist das? “

“Mein Stand-Up-Board. Hier, trag das. Und die blaue Tasche.”

“Uh, bossy. Mag ich.”

Er rollt die Augen, aber grinst.

Der Weiher ist gigantisch und die Sonne glitzert auf der Wasseroberfläche. Weil es nicht so richtig heiß ist, sind nicht viele Menschen hier. Wir müssen also nicht lange suchen, um eine ruhige Ecke mit flachem Ufereinstieg zu finden.

Carlos deutet auf die Tasche:

“Roll mal zwei Handtücher aus, ich kümmere mich um’s Board. Eine Badehose findest du im vorderen Fach.”

Ich ziehe mich um, während er mit der Pumpe beschäftigt ist und strecke meinen großen Zeh ins Wasser.

“Ist das kalt!”

“Na dann fall besser nicht vom Board”, grinst er und lässt das lange Teil zu Wasser.

“Darf ich?”, frage ich.

“Sicher. Einfach drauf”, sagt er und zieht sein Shirt aus.

“Alter!”, entfährt es mir. “Okay, du musst mir definitiv sagen, wie du trainierst. Ist ja unfassbar!”

Er verschränkt verlegen die Arme vor der Brust.

“Sorry, das sollte keine Anmache sein, ich bin nur echt neidisch. Ich trainiere jeden Tag, aber so werde ich nie aussehen.”

“Ach komm, du brauchst dich auch nicht zu verstecken …”

“Was ist dein Geheimnis?”

“Keine Ahnung … gute Gene, von klein auf viel Sport, der Job ist körperlich auch anstrengend. Und ich bin nicht der Typ, der gern auf dem Sofa sitzt. Ich bin eigentlich immer in Bewegung.”

“Okay, dann hab ich also den falschen Job. Tja, kann man nichts machen”, grinse ich.

“Ich würde auf jeden Fall tauschen. Dein Gehalt ist vermutlich das vierfache von meinem …”

“Eigentlich unfair, oder? Ich sitze nur vor dem PC oder im Labor, während du dich um schwer kranke Menschen kümmerst …”

Er lächelt:

“Ich bin froh, dass du anders bist, als ich dachte.”

“Was hast du gedacht?”

“Naja, du hast am Anfang durch mich durch geschaut. Das machen manche Menschen. Solche, die es gewöhnt sind, Personal zu haben.”

“Hab ich dir echt den Eindruck vermittelt?”

“Im Krankenhaus hast du mich ignoriert, bis David dich darauf angesprochen hat.”

“Ja, weil ich dich nicht erkannt habe …”

“Wir hatten uns zuvor schon bestimmt fünf oder sechs mal bei deiner Mutter gesehen.”

Ich widerstehe dem Reflex, mich weiter zu rechtfertigen und sage stattdessen:

“Du hast Recht, es tut mir Leid. Ich hab durch dich durchgeschaut.”

Er grinst:

“Vielleicht hätte ich mein Shirt damals schon ausziehen sollen, das hätte sicher geholfen.”

Ich muss lachen, weil ich mit so einem Spruch von ihm wirklich nicht gerechnet habe.

“So, jetzt ab auf’s Board”, befiehlt er.

“Einfach drauf?”

“Beine hüftbreit und das Gleichgewicht finden. Das Paddel hilft dir dabei.”

Das klappt erstaunlich gut. Ich rudere ein paar Züge, dann ruft Carlos:

“Nicht schlecht, für den Anfang. Und jetzt: Füße zusammen. Finde die Mitte. Lass dir Zeit.”

Auch das geht besser als ich gedacht hätte. Das Board ist ziemlich stabil.

“Voll gut, ich brauch auch so eins”, rufe ich, ohne mich umzudrehen.

“Dein Rumpf ist starr. Du verkrampfst dich. Versuche, den Kopf zu drehen. Langsam, von einer Seite zur anderen."

Okay, das ist gar nicht so leicht … Das Board wackelt. Mit dem Paddel versuche ich, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

“Du hast gute Reflexe”, findet Carlos.

“Da - da -da- danke, puh, das war knapp.”

“Geh in die Hocke, dann findest du dein Gleichgewicht leichter wieder.”

“Ah, das ist entspannt.”

“Mach es dir nicht zu gemütlich, eine Übung hätte ich noch.”

“Und danach zeigst du mir mal, was du kannst?”

“Mal schauen.”

Ich muss also noch eine Ruderübung machen, um den Rumpf zu lockern. Und Zack, liege ich im Wasser. Carlos lacht sich kringelig.

“Okay, jetzt musst du definitiv zeigen, was du drauf hast”, rufe ich, während ich das Paddel wieder einsammle und mit dem Board im Schlepptau zum Ufer schwimme.

Als ich aus dem Wasser komme, wirft er mir ein flauschiges Handtuch zu.

“Ich mache gern meine Yoga-Übungen auf dem Board. Da bin ich gezwungen, konzentriert zu bleiben”, erklärt er und stellt sich auf das Brett, als wäre es fester Boden.

Er bewegt sich ganz natürlich, dreht sich sogar um, um zu mir zu schauen. Dann geht er in den herabschauenden Hund, den ich von meinen wenigen Yoga-Erfahrungen wiedererkenne. Ich wickle mich in ein Handtuch ein, während er sich dehnt. Dann macht er einen großen Schritt nach vorne, macht den Krieger. Seine Füße müssen genau in der Mitte sein, sonst hätte er das Board nicht so unter Kontrolle. Krass. Ich fasse es nicht. Er macht einen Kopfstand, kerzengerade, und lächelt mich an.

“Du bist ja völlig irre!”, lache ich.

“Wart es ab”, lacht er zurück.

Er stellt sich hin, lässt sich rückwärts in eine Brücke fallen, bleibt so ein paar Sekunden, bis das Board wieder genau im Gleichgewicht ist, dann windet er seine Beine nach hinten und ist plötzlich im Handstand. Er bleibt ein paar Sekunden einfach so stehen. Dann streckt er einen Arm zu Seite, hält das wieder ein paar Sekunden und lässt sich dann mit einer Rolle ins Wasser fallen. Er lässt das Board einfach treiben und schwimmt zurück zu unserem Platz. Ich bin absolut sprachlos, schaue ihn nur ungläubig an.

“Wo hast du das gelernt?!”

“Yoga? Bei Youtube.”

“Aber so?! Is ja völlig krass.”

Er zuckt die Schulter:

“Ich komme aus einer sportlichen Familie …”

“Dafür könntest du Eintritt verlangen!”

“Ja, also … wollen wir mal um die Insel rumpaddeln oder so?”

“Ja, gern … ehm … du hast nicht zufällig Sonnencreme dabei, oder?”

“Doch, natürlich. Bei deinem Hauttyp ist mit der Sonne nicht zu spaßen …”

Er sucht mir die Flasche aus der blauen Tasche und gibt sie mir. Ich creme meine Arme, meine Beine und meine Brust ein. Die Schultern gehen auch gut, dann versuche ich umständlich, an meinen Rücken zu kommen.

“Ehm, Carlos …?”, frage ich.

“Hm?”

“Auch das soll keine Anmache sein, aber … könntest du mir den Rücken eincremen?”

Er rollt die Augen:

“Warum betonst du das immer so?”

“Soll ich nicht? Ich will nur nicht, dass du dich unwohl fühlst …”

“Wenn ich mich unwohl fühlen würde, würde ich nicht meinen freien Tag mit dir verbringen, Max. Gib schon her.”

Er schnappt sich die Flasche, cremt professionell meine Schultern und den Rücken ein. Dann tippt er mit einem Klecks Creme auf meine Nase:

“Verteil das.”

Der Kerl ist mir ein Rätsel. Ich weiß eigentlich nicht mal, warum er überhaupt Zeit mit mir verbringt …

“Setz dich vorne drauf, ich paddle.”

“Okay …”

Erstaunlich schnell erreichen wir mit dem Board die erste von zwei Inseln im Weiher. Vorbei an Gänsen, Blässhühnern und Stockenten paddeln wir halb um die Insel herum und auf die zweite, größere zu.

“David und ich sind immer auf die Insel im Kleindinger Weiher geschwommen, als wir noch nicht out waren. Da waren wir unbeobachtet.”

“Du redest viel über ihn. Liebst du ihn noch?”

Ich sauge Luft ein:

“Schwierige Frage. Fakt ist, er ist für mich nicht mehr erreichbar. Er ist so gut wie verheiratet. Mit einem Rockstar.”

“Wirklich? Mit wem?”

“Jordan Bonanno, von …”

“Summerskin?!”

“Genau der.”

“Okay, der ist heiß.”

“Das musst du mir nicht sagen … David war schon mit ihm befreundet, als wir noch zusammen waren. War mir damals schon ein Dorn im Auge …”

“Bist du eher so der eifersüchtige Typ?”

“Ich befürchte schon, auch wenn ich nicht stolz drauf bin …”

“Ich verstehe das. Wenn man sein Herz verschenkt, braucht man Sicherheit.”

“Klingt nicht sonderlich romantisch für jemanden mit italienisch-spanischen Wurzeln …”

“Wie gesagt, ich bin nicht so der Beziehungstyp. Genau aus solchen Gründen. Ich glaube, ich wäre wahnsinnig eifersüchtig. Das würde nicht gut gehen.”

“Also hattest du noch nie eine ernsthafte Beziehung?”

“Ich habe noch nie mit jemandem eine Zukunft geplant oder zusammengelebt oder sowas, nein. Aber ich habe auch nichts vermisst. Ich komme aus einer großen Familie. Ich weiß es wirklich zu schätzen, auch mal alleine zu sein. Ich hatte nie ein eigenes Zimmer, immer gab es irgendein Drama …”

“Verstehe. Ich bin als Einzelkind aufgewachsen. Das war einsam …”

“Vermutlich will man immer das, was man nicht haben kann.”

Wir legen an, ich bemühe mich, möglichst trocken ans Insel-Ufer zu kommen. Das klappt nur mittelgut und sieht scheinbar ziemlich witzig aus, denn Carlos lacht mich aus. Er selbst steigt erhaben und elegant vom Board direkt auf einen kleinen Vorsprung.

Ich sehe mich um:

“Was hier in den Büschen wohl alles lebt?”

“Die Insel ist ziemlich groß. Ich hab hier sogar schon mal eine Maus gesehen. Frag mich nicht, wie die hier her gekommen ist …”

“Auf einem Stand-Up-Paddel-Board?”

Er lächelt schief und legt sich ins Gras, atmet tief durch und schaut in den Himmel. Ich lege mich neben ihn und stelle sofort fest:

“Gänse gibt es hier scheinbar auch, hm?”

Er schaut mich fragend an. Ich hebe meine Hand, mit der ich gerade in Gänsekacke gefasst habe. Er schüttelt ungläubig den Kopf:

“Seit Monaten komme ich hierher, aber das ist mir noch nie passiert!”

Ich gehe zum steilen Ufer und schrubbe in der Hocke meine Hand sauber. Plötzlich ein Stoß und ich bin im Weiher.

“Hey!”, mache ich, aber Carlos springt schon hinterher, mit einem eleganten Hecht.

Er taucht ein paar Meter vor mir wieder auf und grinst. Ich schwimme zu ihm:

“Na warte!”

Ich versuche, ihn zu tauchen, aber er kriegt es irgendwie hin, dass stattdessen ich untergehe und mich erst wieder an die Wasseroberfläche kämpfen muss. Er schwimmt gemütlich auf dem Rücken davon. Ich kraule hinterher. Bei ihm angekommen, hält mich irgendwas davon ab, ihn anzugreifen. Ich schwimme einfach nur neben ihm her.

“Das hier ist mein Lieblingsort”, flüstert er.

“Warum flüsterst du?”, flüstere ich zurück.

“Damit du ganz nah kommst, um mich gut zu hören.”

“Warum soll ich ganz nah kommen?”, frage ich und erwarte, dass er mich gleich taucht.

Aber Carlos taucht mich nicht. Er schaut mich an, ein paar Sekunden lang. Dann schwimmt er an mir vorbei zurück zum Ufer. Was war das denn?!

Ich setze mich neben ihn ins Gras. Wir schweigen eine Weile vor uns hin.

“Ich bin nicht gut in sowas”, sagt Carlos plötzlich.

“Nicht gut in was?”

Er nimmt meine Hand und ich falle aus allen Wolken. Das sieht man mir anscheinend an.

“Tut mir Leid”, sagt er schnell und zieht seine Hand zurück.

“Nein, das muss es nicht. Aber ich glaube, du musst mir das erklären. Ich dachte, … ich dachte, du bist katholisch und konservativ und deine Familie …”

“Meine Familie weiß es nicht. Deshalb lebe ich nicht mehr bei ihnen. Deshalb bin ich nicht mehr im Familienunternehmen, sondern habe meine Pflege-Schulung gemacht …”

“Und deshalb hattest du noch nie eine richtige Beziehung …?”

Er nickt. Ich nehme seine Hand und lächle ihn an. Er lehnt seine Schulter an meine und wir sitzen einfach eine Weile lang so da. Ich spüre, wie nervös er ist. Mein Kopf sagt mir, dass Carlos noch einen langen Weg vor sich hat und dass ich mich nicht drauf einlassen sollte, in dieser Phase was mit ihm anzufangen. Aber mein Bauch ist anderer Meinung. Er kribbelt, wie er es schon lange nicht mehr getan hat. Wir legen uns ins Gras und beobachten die Wolken und die Vögel über uns, seine Hand immer noch in meiner.

“Wir sollten zurückpaddeln”, sagt er irgendwann, steht auf und zieht mich auf die Beine.

Wir stehen voreinander. Ich möchte ihn küssen, aber ich bin nicht sicher, ob er das schon möchte. Er schaut mich ein bisschen ratlos an, weiß wohl auch nicht, was er will. Oder traut sich nicht, das zu tun, was er möchte.

“Ist okay”, flüstere ich. “Lass dir Zeit.”

Er lächelt mich dankbar an, streicht kurz über meine Wange und dreht sich um, um das Board zu Wasser zu lassen.

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