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Summer in Paradise 3
Teil 8
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Informationen
- Story: Summer in Paradise 3
- Autor: ID
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Lovestory
Max
Okay, dann kann es jetzt losgehen. Ich jage über die Autobahn, um auch wirklich pünktlich da zu sein. Eine halbe Stunde vor der Vorstellung parke ich am Quartier. Das rot-gelbe Zelt ist riesig. Und es ist schon gut was los. Ich sehe bestimmt 40 Wohnwägen und eine kleine Siedlung aus Mini-Häusern. Die Schlangen an den drei Kassen sind noch nicht lang, aber es parken immer mehr Autos ein und Menschen aus dem Ort strömen zu Fuß herbei. Aus den Lautsprechern kommt Zirkusmusik wie man sie sich vorstellt. Es riecht nach Popcorn und Tieren. Ich stelle mich an der mittleren Kasse an, so wie es mir aufgetragen wurde. Eine junge Frau, die Carlos sehr ähnlich sieht, sitzt in dem Kassenhäuschen und lächelt unverbindlich, bis ich sage:
“Hey, ich bin Max.”
Sofort strahlt sie und springt auf, um aus ihrem Häuschen zu kommen. Sie steht vor mir, mustert mich kurz und umarmt mich dann freudig.
“Es ist so schön, dich kennenzulernen.”
“Gleichfalls. Du siehst deinem Bruder sehr ähnlich.”
“Und du”, sie mustert mich noch mal, “du wirst meinen Eltern sehr imponieren.”
Ich schwinge den BMW-Schlüssel und grinse:
“Ich hab mich bemüht.”
Sie lächelt:
“Er hat einen guten Geschmack, das muss man ihm lassen. Hier ist deine Eintrittskarte. Wir treffen uns nach der Show bei Frieda. Du wirst sie im Streichelzoo finden.”
“Alles klar.”
“Carlos kann vor der Vorstellung nicht zu dir kommen, er muss das Trapez überprüfen und sich um die Technik kümmern. Aber danach. Er freut sich schon.”
“Ich freu mich auch schon wahnsinnig, ihn endlich wieder zu sehen.”
Ich hole mir Cola und Popcorn und setze mich auf meinen Logen-Platz. Ich beobachte die Menschen um mich herum. Die Familien im Publikum, aber auch die Leute, die im Zirkus arbeiten. Das Orchester aus Blechbläsern und Trommeln ist der Hammer. Die ganze Licht- und Soundtechnik im Zelt muss ein Vermögen wert sein. Ich weiß von Carlos, dass drei Großfamilien der Kern des Zirkusses sind, inklusive angeheirateter Artisten. Es gibt niemanden, der hier arbeitet, der nicht auch wenigstens für eine kurze Nummer in der Manege ist. Das ist die Regel.
Die Show wird von Carlos` Schwester Sarah mit ihren Hunden und Ziegen eröffnet. Ich weiß, dass sie Diabetes hat und deshalb keine gefährlichen Dinge tut. Sie hat sich schon früh auf Tier-Dressur spezialisiert, schon als Jugendliche. Und sie wirkt wirklich professionell. Die Hunde springen über Hindernisse und über die Ziegen, rennen durch ihre Beine und freuen sich offensichtlich dabei. Dann begrüßt sie zusammen mit anderen Leuten aus den anderen beiden Zirkusfamilien das Publikum.
Bei der dritten Nummer sehe ich ihn endlich. Er und seine Schwestern winden sich durch Reifen und schlagen synchron Räder und Flickflacks. Er ist anmutig und wendig, wie ich ihn kenne.
Ein paar Nummern später erkenne ich ihn unter den jonglierenden Clowns, die das Publikum zum Lachen bringen. Und dann, nach der Umbau-Pause, kommt der Hochseil-Akt in acht Metern Höhe ohne Netz. In Nachtblauen Trikots mit silbernen Sprenkeln balancieren Marianna Marino, drei ihrer Töchter und Carlos über den Draht. Maria steht dabei auf seinen Schultern. Trommelwirbel. Er wirft sie hoch, sie schlägt einen Salto und landet wieder auf seinen Schultern. Das Publikum ist begeistert. Ich versuche, genau so begeistert zu sein, aber ich habe Angst um Carlos da oben. Auch wenn er absolut professionell und ausbalanciert da steht. Das ist schon hoch, ohne Netz …
Aber der Hochseil-Akt war nichts im Vergleich zum Trapez. Mit einer Mischung aus Stolz und nackter Angst schaue ich den fliegenden Marinos dabei zu, wie sie tun, was sie am besten können. Es ist der Hammer, ohne Übertreibung! Ich verstehe, warum kein Ersatz für Carlos gefunden werden konnte. Alle müssen tausend prozentig aufeinander abgestimmt im selben Takt arbeiten und Carlos und sein Vater halten als Fänger das Leben der Frauen buchstäblich in ihren Händen. Eine falsche Bewegung würde reichen und die Tragödie würde eintreten. Aber alles geht gut. Der Beifall ist gigantisch. Zum Finale kommen noch mal alle Artistinnen und Artisten und alle Tiere in die Manege. Dann gibt es Pony-Reiten, man kann Fotos mit Schlangen und Frieda, dem ältesten Trampeltier Deutschlands machen oder den Streichelzoo besuchen.
Ich hole mir noch eine Cola und gehe in den Streichelzoo, wo ich Sarah Marino mit ihren Hunden sehe, die Kindern erklärt, wie sie den Tieren Tricks beibringt. Auch Frau Marino ist dort und führt Frieda herum. Ich streichle ein paar Ziegen und versuche, keine Nervosität aufkommen zu lassen. Nach zwanzig Minuten wird es leerer im Streichelzoo. Ich gehe zu Sarah.
“Streicheln Sie sie ruhig. Das ist Senna.”
Ich streichle den Terrier. Sie scheint es zu mögen.
“Lust, einen Trick mit ihr zu machen?”
“Gern.”
Sie zeigt mir das Kommando, mit dem Senna bei jedem Schritt, den ich mache, durch meine Beine Slalom läuft.
“Sie sind ein Naturtalent”, grinst sie.
“Danke. Ich bin übrigens Max. Ein Freund von Maria.”
“Ach! Sie hat gesagt, dass ein Freund von ihr kommt. Schön, dich kennenzulernen. Sie ist sicher bald da.”
“Ja, kein Stress.”
“Ah, da kommt sie schon.”
Sarah deutet hinter mich. Ich drehe mich um. Da kommt sie tatsächlich. Und sie ist nicht allein. Neben ihr geht Carlos. Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Alles um mich herum ist vergessen. Er strahlt mich an, kommt quälend langsam auf mich zu. Maria umarmt mich.
“Max, es ist so schön, dass du da bist. Du hast Sarah schon kennengelernt?”
“Ja, sie hat mir attestiert, dass ich Talent beim Hundetraining hab”, grinse ich und zwinge mich, meinen Blick von Carlos loszureißen.
“Du kennst ja meinen Bruder Carlos”, sagt sie.
Er strahlt mich an:
“Schön, dass du da bist, Max.”
Er umarmt mich kurz. Ich spüre, wie zittrig er ist. Er ist nervös. Frau Marino führt Frieda herbei. Ich werde vorgestellt:
“Mama, das ist Max Weller. Ein guter Freund von Carlos und mir”, erklärt Maria.
Frau Marino mustert mich unverhohlen und scheint zufrieden.
“Schön, Sie kennenzulernen.”
“Bitte, nennen Sie mich Max.”
“Gerne. Also Max, was machst du beruflich?”
“Ich bin Physiker und arbeite für einen großen Halbleiter-Konzern.”
“Interessant. Und woher kennst du meine Kinder?”, fragt sie.
Maria antwortet sofort:
“Wir haben uns kennengelernt, als ich Zirkus-Pause gemacht habe. Wir kennen uns also schon eine Weile und ich wollte Max endlich mal den Zirkus zeigen.”
“Die Vorstellung war wirklich großartig. Es war ein Vergnügen, zuzuschauen. Und wenn ich mich jetzt noch irgendwie nützlich machen kann, gerne.”
"Na, wir wollen doch nicht, dass der gute Anzug schmutzig wird”, erklärt Frau Marino.
“Kein Problem, Carlos hat sicher noch andere Kleidung, die er mir leihen könnte, oder? Der Aufzug tut mir leid, ich komme direkt von einem Arbeitstermin”, erkläre ich entschuldigend, nehme betont beiläufig den BMW-Schlüssel und die teure Sonnenbrille aus der Sakko-Tasche und ziehe es aus.
“Ich helfe gern mit”, lächle ich.
Frau Marino ist sichtlich angetan und Maria grinst mich an.
“Ich geb dir was zum Umziehen, dann kannst du mir beim Abbau helfen”, sagt Carlos. “Komm mit.”
Er führt mich weg von den Leuten zu einem kleinen Häuschen, bedeutet mir, dass wir noch nicht alleine sind und macht eine Türe auf. Ein junger Mann zieht sich gerade um.
“Hey, ich hole nur schnell was zum Umziehen.”
“Bin schon fertig”, sagt der Kerl und mustert mich kurz.
“Das ist Max. Ein Freund von Maria”, erklärt Carlos.
“Soso.”
Dann sind wir allein. Wir stehen einen Meter voneinander entfernt in dem kleinen Schlafzimmer mit Stockbetten und schauen uns an.
“Ist es jetzt sicher?”, frage ich leise.
“Stell dich direkt an die Tür, dann kann niemand rein”, flüstert Carlos.
Ich gehorche. Er kommt auf mich zu, wir umarmen uns. Ich sauge seinen vertrauten Geruch ein, versinke darin, halte ihn einfach nur fest. Ich bin im Himmel. Mein Herz hämmert wie wild in meiner Brust. Ich will ihn nie wieder loslassen.
“Max … mein Max”, seine Stimme bricht.
Ich nehme sein Gesicht in meine Hände, sehe ihn an. Er weint. Die pure Verzweiflung ist ihm ins Gesicht geschrieben.
“Ich kann nicht nochmal so lange von dir getrennt sein”, schluchzt er. “Es geht einfach nicht.”
Ich küsse ihn, schmecke seinen salzigen Lippen, wünsche mir nichts mehr, als ihm seine Traurigkeit abnehmen zu können, ihn fröhlich zu sehen.
“Carlos, es tut mir so leid. Es tut mir leid, dass du so traurig bist. Wie kann ich dir helfen? Lass mich dir helfen”, bitte ich und spüre, wie mir selbst die Tränen kommen.
“Komm mit mir. Komm mit mir auf Tour. Ich weiß nicht wie, aber ich muss dich bei mir haben. Ich kann dich nicht Monate lang verlassen. Die letzten Wochen waren eine Quälerei. Ich kann das nicht noch mal machen.”
“Wir finden eine Lösung”, verspreche ich und küsse ihn wieder.
Er atmet tief durch:
“Ich muss mich jetzt um den Abbau kümmern.”
“Ich helfe dir.”
Er gibt mir ein Shirt, das nach ihm riecht und eine Arbeitshose und Handschuhe. Ich ziehe mich um.
“Du hast trainiert”, grinst er.
“Ich muss doch mithalten können. Gefällt’s dir?”, frage ich unschuldig und spanne die Brustmuskeln an.
“Mh-hm”, macht er. “Sehr.”
Wir küssen uns noch mal kurz, bevor wir die Tür aufmachen.
So ein Trapez abzubauen, ist tatsächlich schwere körperliche Arbeit. Die Drahtseile sind schwer, die Metallpfosten sowieso. Herr Marino schwitzt sichtlich und ist froh, dass wir kommen, um zu helfen.
“Papa, das ist ein Freund von mir. Max Weller. Er hilft heute mit.”
“Freut mich”, sagt er und reicht mir die Hand.
Während dem Abbau fragt er mich nach der Arbeit, danach, welches Auto ich fahre, nach der Familie und nach Zukunftsplänen. Er scheint mit meinen Antworten zufrieden zu sein und erwähnt, dass er noch vier unverheiratete Töchter hat, die er mir gern vorstellt.
Ich grinse: “Ihre Familie gefällt mir sehr. Ich mag das freie Leben. Ich bin gerne in der Welt unterwegs.”
Nach dem Abbau ziehe ich wieder meine eigenen Klamotten an. Carlos nimmt mein vollgeschwitztes Shirt und versteckt es unter seinem Kissen.
“Das wird mir wunderbare Träume bescheren”, grinst er. “Du warst übrigens toll mit meinem Papa. Ein Traum-Schwiegersohn. Was leider nicht viel bringen wird, wenn er erfährt, welches seiner Kinder zu dir gehört.”
“Was ist jetzt weiter der Plan?”
“Lagerfeuer, Eintopf, … und wenn alle ins Bett gehen, seilen wir uns ab in dein Hotel. Der Anzug steht dir übrigens verdammt gut. Ich freu mich schon drauf, ihn dir nachher auszuziehen”, flüstert er.
An mehreren Lagerfeuern sitzen junge und alte Leute beieinander. Kinder rennen umher, Babys schlafen in den Armen ihrer Eltern. Es riecht nach Eintopf und Würstchen, die im Feuer gegrillt werden. Frau Marino drückt jedem eine Schüssel Eintopf mit Kartoffeln und Bohnen in die Hand.
“Vielen Dank”, sage ich. “Das riecht aber gut.”
Ich werde dem ältesten Bruder Alessio, seiner Frau und seiner kleinen Tochter vorgestellt. Außerdem lerne ich die Frau von Benito kennen, dem gestürzten Bruder, der gerade auf Reha ist. Mit ihr unterhalte ich mich länger. Sie ist schwanger mit dem ersten Kind und macht sich große Sorgen um die Zukunft. Antonella, die älteste Schwester, ist mir nicht sehr sympathisch. Sie wirkt sehr konservativ und irgendwie unfreundlich. Auch wie sie mit ihren beiden Jungs spricht, gefällt mir nicht. Sie bellt Anweisungen. Sarah hingegen, die mit ihren Hunden am Feuer sitzt, ist mir sehr sympathisch. Sie fragt sehr interessiert nach, woher ich komme und was ich mache und scheint ehrliches Interesse an mir zu haben. Carlos’ beide Teeny-Schwestern sind nur kurz da und gehen dann zum Feiern ins Dorf. Und Ronalda, die mit Maria zusammen der Star des Trapez war, ist schon ins Bett gegangen. Ansonsten unterhalte ich mich mit vielen verschiedenen Leuten, wobei mir nicht immer klar ist, wer zu wem gehört und wer im Zirkus arbeitet und wer nur zu Besuch hier ist. Auf alle Fälle fühle ich mich sehr wohl. Ich könnte mir gut vorstellen, ein paar Wochen mit auf Tour zu gehen. Ich hab noch viel Jahresurlaub übrig und auch massenhaft Überstunden aus der Zeit in Dubai.
Herr Marino fragt mich grinsend, welche seiner Töchter ich mir denn nun ausgesucht hätte. Ich erkläre genauso grinsend, dass die Auswahl bei so viel Schönheit sehr schwer falle.
Sarah fragt mich, ob ich bei einer Ziegengeburt dabei sein möchte.
“Jetzt?”, frage ich.
Sie nickt: “Ja, Milly ist gerade in den Wehen, es wird nicht mehr lange dauern.”
“Okay, ja, das würde ich gerne mal miterleben.”
Wir setzen uns zu den Ziegen ins Stroh und streicheln Milly. Sie blökt immer wieder vor Schmerzen. Plötzlich sieht man die Vorderbeine des Ziegenbabies. Und kurz darauf fällt das kleine, blutige Bündel herunter. Wir schauen dabei zu, wie es seinen ersten Atemzug macht und von seiner Mutter geleckt wird, bis es aufsteht und nach Milch sucht.
“Plötzlich wird aus einem leblosen Bündel ein Lebewesen. Das war krass mitanzuschauen”, sage ich leise.
“Ja, das Wunder des Lebens.”
“Wir mussten nichts tun.”
“Nein, meistens schafft die Natur es selbst. Aber ich bin gerne von Anfang an dabei. Ich arbeite mit den Tieren von Klein auf. Es ist wichtig, eine gute Beziehung zu ihnen zu haben.”
“Danke, dass du mir das gezeigt hast.”
“Gern. … Also, bist du Marias Freund?”
Sie erwischt mich kalt. Ich stammle:
“Wie kommst du darauf?”
“Naja, du schmeichelst dich ganz schön bei unseren Eltern ein …”
“War es zu viel?”, frage ich.
“Nein, es hat funktioniert. Du hast sie beeindruckt.”
“Gut.”
“Es stimmt also? Du bist Marias Freund?”
Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Aber ich muss nicht antworten, denn Carlos kommt durch die Stalltür.
“Er ist nicht Marias Freund”, sagt er. “Er ist mein Freund.”
Sie schaut zwischen uns beiden hin und her. Carlos kommt zu mir, nimmt meine Hand und gibt mir einen Kuss auf die Wange.
“Ach”, sagt sie. “Das erklärt einiges.”
“Bitte sag es nicht weiter. Ich suche gerade nach einem Weg, um es Mama und Papa zu erklären.”
“Das wird nicht leicht.”
“Nein, aber ich kann es nicht mehr lange geheim halten.”
Sie umarmt ihn:
“Ich wünsche dir viel Glück dabei, kleiner Bruder.”
Carlos und ich gehen wieder zurück zum Lagerfeuer. Viele Leute sind schon ins Bett gegangen, aber Herr und Frau Marino sitzen immer noch da. Herr Marino fragt:
“Hast du was getrunken, Max?”
“Nur Cola. Ich muss ja nachher noch ins Hotel fahren.”
“Quatsch, wir finden auch hier ein Bett für dich!”
“Das ist sehr freundlich, aber das Zimmer ist schon bezahlt. Ich will wirklich keine Umstände machen.”
“Wie wäre es mit einer Spritztour in deinem Auto?”, fragt Herr Marino.
“Klar, gerne.”
“Alessio, Carlos, kommt. Max zeigt uns seinen BMW.”
Wir steigen alle vier in den frisch gewaschenen Fünfer.
“Leasing?”, fragt Alessio.
“Nein, der gehört mir”, grinse ich.
“Nicht schlecht”, sagt er beeindruckt.
Ich fahre mit den dreien auf die A9, die um die Uhrzeit ziemlich frei ist und gebe ordentlich Gas. Herr Marino freut sich wie ein Kind. Ich fahre bis runter nach Denkendorf, dort fahre ich ab und lasse Carlos ans Steuer. Er bringt uns in Rekordzeit zurück zum Zirkus, er braucht kaum 20 Minuten. Die Männer sind sichtlich begeistert. Ich denke daran, was Carlos über seine Kindheit erzählt hat. Sicher hatten sie noch nicht oft die Gelegenheit, in so einem Auto zu sitzen.
Als wir zurückkommen, ist nicht mehr viel los. Die meisten sind ins Bett gegangen.
“Ich muss mich jetzt verabschieden. Der Nachtportier macht um eins Schluss. Ich bekomme meinen Schlüssel sonst nicht mehr.”
“War schön, dich kennenzulernen, Max”, sagt Alessio und geht.
Herr Marino bleibt noch stehen.
“Ich komme morgen Vormittag gern noch mal vorbei, falls ich da nicht im Weg bin”, biete ich an.
“Wir werden morgen den ganzen Tag mit Abbau beschäftigt sein. Am Abend fährt der Konvoi los Richtung Heidelberg. Dort sind wir ab Übermorgen für zwölf Vorstellungen.”
“Ich hab nichts dagegen, mich morgen wieder nützlich zu machen.”
“Du warst beim Abbau heute wirklich eine Hilfe”, sagt Carlos.
“Na dann sehen wir uns morgen”, freut sich Herr Marino und verabschiedet sich.
Carlos begleitet ihn, bedeutet mir aber noch, dass ich mein Handy checken soll.
Ich setze mich ins Auto und bekomme wenig später eine Nachricht:
“Ich pack noch ein paar Sachen und bin dann gleich bei dir. Ich freu mich so! :-*”
Ich höre zwei Songs im Radio, dann öffnet sich auch schon die Beifahrertür und Carlos steigt ein.
“Fahr los, damit ich dich möglichst schnell küssen kann.”
Ich fahre los.
“Wir müssen nicht bis nach Nürnberg rein, oder?”
“Nein, ich hab in einem Vorort gebucht. Zehn Minuten von hier.”
“Perfekt.”
Er legt seine Hand auf meinen Oberschenkel.
“Das ist wirklich gut gelaufen, heute.”
“Ja, ich glaube, dein Vater mag mich. Und die Show heute war absolut fantastisch. Du hast nicht zufällig dieses Nachtblaue Trikot eingepackt, oder?”, grinse ich.
“So, das hat dir gefallen, was?”
“Joha, damit würde ich dich nicht von der Bettkante stoßen …”
“Ich glaube, du wirst mich heute überhaupt nicht von der Bettkante stoßen”, grinst er und schiebt seine Hand höher.
Ich fahre ein bisschen schneller.
Wir parken in der Tiefgarage des Hotels. Carlos hakt sich bei mir unter. Der Nachtportier empfängt uns freundlich. Im Lift hängt Carlos schon an meinem Hals. Ich beeile mich, das Zimmer aufzusperren. Kaum ist die Tür hinter uns verriegelt, gibt es kein Halten mehr. Carlos küsst mich wild und schiebt mich mit dem Rücken gegen die Wand.
“Zieh dich aus”, fordert er. “Ich komme gleich wieder. ”
Er verschwindet kurz im Bad. Ich ziehe mich aus und hänge Hemd, Jackett und Hose ordentlich auf. Ich mache das große Licht aus und die Nachttischlampe an.
Carlos kommt aus dem Bad und hat tatsächlich sein nachtblaues Trikot an.
Ich lache laut los:
“Woher in Gottes Namen wusstest du das?”
“Ich kenn dich halt”, grinst er.
“Ich liebe dich, Carlos.”
“Schau, hier ist was, das das Publikum nie zu Gesicht bekommt.”
Er schlüpft aus der nachtblauen Radlerhose.
“Das ist gar kein Einteiler!”, freue ich mich. “Das ist eine Radlerhose und ein Body!”
“Praktisch, nicht wahr?”, fragt er.
“Allerdings”, grinse ich und gehe vor ihm auf die Knie.
Ich streife den Body beiseite und nehme seinen Schwanz in den Mund.
“Zieh mich aus”, bittet er nach einer Weile.
Ich schäle ihn aus seinem Trikot. Er stellt sich im Vierfüßer-Stand auf das Bett.
“Ich will deine Zunge in mir haben. Und danach vielleicht deine Finger. Und dann … falls sich das gut anfühlt, dann könnten wir es auch mal mit deinem Schwanz versuchen.”
“Sicher?”, frage ich. “Du kannst deine Meinung jederzeit ändern.”
“Ich weiß. Und ich vertrau dir voll und ganz.”
Meine Zunge scheint ihn schier um den Verstand zu bringen. Er drückt sich mir entgegen, er stöhnt, lacht begeistert, lässt seine Hüften kreisen. Ich nehme seinen Schwanz in die Hand, während ich lecke.
“Versuch einen Finger”, bittet er außer Atem.
Ich verteile Gleitgel und lasse meinen Finger versinken.
“Mmmmhm”, macht er zittrig. “Blas mir einen dabei”, bittet er.
Das mache ich gerne. Er weiß gar nicht, wie ihm geschieht, so schnell ist er am Höhepunkt.
Er zittert am ganzen Körper, als er kommt und sackt zusammen.
“Fuck, das war … Max, ich wusste nicht, dass mein Körper sich so anfühlen kann.”
Wir schlafen in dieser Nacht kaum. Trotzdem klingelt um halb acht der Wecker erbarmungslos. Carlos springt sofort auf und geht duschen. Ich brauche ein paar Minuten. Wir frühstücken an einem gigantischen Buffet. Carlos ist völlig erschlagen von der Auswahl.
Um kurz vor neun kommen wir wieder im Quartier an. Hier herrscht schon reges Treiben. Niemandem fällt auf, dass Carlos aus meinem Auto steigt.
Ich melde mich bei Herrn Marino zum Dienst. Er ist dabei, das Soundsystem zu demontieren. Carlos stößt ein paar Minuten später zu uns.
“Sorry, verschlafen”, murmelt er.
Seine Vater schimpft kurz über seine Unzuverlässigkeit, teilt ihm dann sofort eine Aufgabe zu und fragt mich dann, wie ich geschlafen habe und wie das Frühstück im Hotel war.
Wir arbeiten den ganzen Vormittag durch. Zu Mittag gibt es einen großen Pott Chilli mit Weißbrot für alle. Sarah und Maria sitzen neben mir und erzählen von ihrer Schulzeit. Die Stimmung ist gut. Ich mag es hier wirklich.
Nach dem Essen geht es weiter mit zwei Stunden schwerer Arbeit. Aber wir sind gut im Zeitplan, versichert Herr Marino, der mir inzwischen das Du angeboten hat.
“Alberto?”
“Ja?”
“Ich habe jetzt zwei Wochen Urlaub. Könnte ich die beim Zirkus verbringen?”
Er klettert von der kleinen Leiter zu mir runter und schaut mich ernst an.
“Max, ich mag dich. Du bist mir sympathisch. Aber ich kenne deine Absichten nicht. Was ist dein Ziel? Warum willst du mit uns reisen?”
Mit dieser Frage habe ich gerechnet:
“Ich bin sehr einsam, seit meine Eltern gestorben sind. Ich genieße die Zeit in deiner Großfamilie sehr. Ich mag auch die körperliche Arbeit als Ausgleich zu meinem Job. Der Zirkus tut mir gut. Ich verspreche, dass ich nicht im Weg rumstehen werde, sondern mich nützlich mache.”
Er nickt:
“Ich werde darüber nachdenken.”
Um Punkt 18 Uhr ist alles fertig. Es gibt Abendessen für alle. Alberto bedeutet mir, dass ich bei ihm sitzen soll. Er reicht mir einen Teller Suppe und wünscht mir guten Appetit. Dann sagt er:
“Normalerweise reisen keine Fremden mit uns. Denn wir müssen uns einhundert Prozent alle aufeinander verlassen können. Unser Leben hängt davon ab.”
Ich nicke. Denn Carlos hat mir sehr genau erklärt, dass nicht nur in der Vorstellung jeder Handgriff sitzen muss. Sondern auch beim Aufbau.
“Aber mehrere meiner Kinder legen ihre Hand für dich ins Feuer. Carlos hat zugesagt, deine Arbeit zu überwachen. Und Sarah wird dich mit in die Manege nehmen.”
Ich bin kurz überrascht, aber natürlich, die Regel gilt auch für mich: In diesem Zirkus arbeitet niemand, der nicht auch in der Manege steht.
“Für die nächsten zwei Wochen gehörst du zur Familie, Max”, erklärt er und reicht mir freudig die Hand.
Ich freuen mich sehr über die Herzlichkeit. Gleichzeitig habe ich ein schlechtes Gewissen. Das große Vertrauen, das er mir entgegenbringt, quittiere ich mit Unehrlichkeit. Sarah, Maria und Carlos haben wohl sehr genau zugehört, denn sie springen auf, umarmen erst ihren Vater und dann mich.
“Willkommen in der Familie”, sagt Maria und mein Herz macht einen Sprung.
Ich fahre nach Hause, packe Sachen für zwei Wochen zusammen und suche mir einen Wohnwagen-Verleih in der Nähe von Heidelberg. Früh am nächsten Morgen fahre ich los und komme um kurz nach zehn mit meinem kleinen Wohnwagen am Zirkusplatz an. Der Aufbau ist schon in vollem Gange. Um neunzehn Uhr beginnt die Vorstellung. Bis dahin muss alles stehen. Das Stresslevel ist bei allen Beteiligten hoch. Aber unter Stress funktioniere ich am besten. Carlos gibt mir kurze, präzise Anweisungen. Und ich befolge sie. Außerdem weist Sarah mich in der Manege ein und sagt mir, was ich bei der Hundenummer zu tun habe. Es geht alles Schlag auf Schlag. Frau Marino gibt mir eine dunkelrote Zirkusuniform mit tiefem V-Ausschnitt. Das Publikum kommt, ich helfe beim Popcornverkauf, gehe dann hinter die Bühne, absolviere mit Sarah meinen Auftritt, helfe im Fundus bei der Ausgabe der Reifen, Bälle und Co, habe eine genaue Liste, wann ich wo zu sein habe und funktioniere einfach. Ich komme kaum zum Verschnaufen, dann ist auch schon Umbaupause. Der Hochseilakt wird vorbereitet. Jetzt muss jeder Handgriff sitzen. Carlos und seine Schwestern reden nicht mehr, schauen sehr konzentriert. Ich habe keine Zeit, ihren Auftritt anzuschauen, denn ich muss Requisiten für den Feuerschlucker herbeischaffen. Auch hierfür gibt es eine genaue Liste, die im Requisitenwagen hängt. Ich nehme mir vor, Carlos mal zu fragen, ob das nicht auch alles digital gehen würde. Dann würde man sich Laufwege sparen, um nachzulesen, was noch fehlt.
Die fliegenden Marinos sammeln sich vor der Nummer hinter dem Vorhang. Sie sind still und konzentriert und scheinen die ganze Welt auszublenden. Frau Marino spricht ein Gebet. Sarah kommt zu mir, während ich das beobachte.
“Ich habe auch jeden Abend Angst um die fünf”, flüstert sie.
“Hat man mir die Sorge so angesehen?”, frage ich.
“Ja, aber das ist schon okay. Es ist eine gefährliche Sache. Angst ist die natürliche Reaktion darauf.”
“Wie hältst du das zwölf Mal pro Woche aus?”, frage ich.
“Jahrelange Übung”, zuckt sie die Schultern. “Ich kann es nicht ändern, also akzeptiere ich es.”
Ich beschließe, nicht zuzuschauen, sondern draußen schon mal ein bisschen beim Aufräumen zu helfen. Ich sammle Popcorntüten ein, die auf dem Boden liegen und versuche auszublenden, dass mein Freund gerade viele Meter über dem Boden ist.
Nach der Show darf ich Frieda herumführen und den Kindern erzählen, was sie gerne frisst und was es sonst noch Wichtiges über sie zu erfahren gibt. Ich bin schon ziemlich müde und sehne mich nach meinem Bett im Wohnwagen.
Beim Abendessen schlafe ich fast ein. Alberto lacht:
“Das Leben im Zirkus ist anstrengend, was?”
Ich nicke müde:
“Es hat Spaß gemacht. Aber jetzt muss ich dringend ins Bett.”
Ich verabschiede mich, falle in meinen Klamotten auf das Bett und schlafe sofort ein. Als ich in der Dämmerung aufwache, liegt Carlos neben mir. Ich schmiege mich an ihn und stecke meine Nase in seine Haare.
“Ich liebe dich”, flüstere ich.
“Mmmh”, macht er. “Schlaf mit mir.”
“Ja?”
“Ja”, nickt er und zieht sich aus.
Wir sind sehr leise und vorsichtig, halten uns eng umschlungen, kommen gleichzeitig, machen unterdrückte Geräusche dabei, küssen uns.
“So könnte jeder Tag für den Rest meines Lebens beginnen”, flüstert Carlos.
“Ja, dann wäre ich ein glücklicher Mann”, pflichte ich ihm bei.
Er schleicht sich kurz vor sechs raus in sein eigenes Bett. Wir sehen uns beim Frühstück wieder.
“Heute haben wir nur eine Vorstellung”, erklärt mir Alberto. “Das heißt, du hast heute Zeit, mit Sarah deinen Auftritt zu trainieren. Maria und Carlos werden den Vormittag am Trapez verbringen. Die müssen die Übergänge perfektionieren.”
Ich habe keine Ahnung was das heißt, nicke aber und suche nach dem Essen Sarah.
Ich finde sie im Streichelzoo bei den Ziegen
“Morgen”, mache ich.
“Morgen Max”, lächelt sie. “Gut geschlafen im Wohnwagen?”
“Ich war so müde, ich hätte wahrscheinlich auch auf dem Boden gut geschlafen.”
“Du wirst dich dran gewöhnen. Und heute lassen wir es eh ruhiger angehen. Zumindest wir Normalsterblichen. Die fliegenden Marinos müssen natürlich trainieren.”
“Und was hast du vor? Dein Vater meinte, ich soll mit dir trainieren.”
“Ja. Und du wirst heute trainieren, eine Beziehung mit den Hunden aufzubauen. Bei einem sehr langen Spaziergang durch Heidelberg. Hast du Lust?”
“Das hört sich sehr gut an.”
Wir fahren mit der S-Bahn in die Altstadt. Die Hunde gehorchen nicht nur aufs Wort, sie lesen auch Sarahs Körpersprache. Es ist wie eine Symbiose. Wir gehen am Neckar entlang durch einen Park. Dort bleiben wir eine Weile und trainieren. Schnell haben wir ein Publikum und führen eine kleine Show auf. Die Hunde haben Spaß dabei. Dann besorgen wir uns was zu trinken und laufen dabei an einem Schild vorbei:
“Physikalisches Institut 200 Meter”, lese ich vor. “Da unterrichtet ein ehemaliger Professor von mir.”
“Willst du vorbeischauen? Wir haben Zeit.”
“Ja, total gerne!”
Ich checke das Online-Vorlesungsverzeichnis und stelle fest, dass Erhard Wagensonner gerade eine Quanten-Optik-Vorlesung gibt.
Wir betreten also kurze Zeit später mit den fünf Hunden einen großen Hörsaal und setzen uns in die letzte Reihe.
“Wow”, macht Sarah. “Das ist ja riesig.”
Professor Wagensonner scheint auf den letzten Folien seiner Präsentation zu sein. Er hat uns bemerkt und winkt. Ich winke zurück.
“Meine Damen, meine Herren. Vielen von Ihnen dürfte meine Experimentreihe zur Magneto-optischen Falle ein Begriff sein. Sie war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Nutzung der Laserkühlung in der Industrie. Mein Co-Autor, Herr Max Weller, hat soeben den Saal betreten. Vielleicht hat Herr Weller ja Lust, Ihnen das Gedankenexperiment “Schrödingers Katze” zu erklären? Komm runter, Max.”
Ich darf spontan den letzten Teil der Vorlesung übernehmen und freue mich sehr, endlich mal wieder unterrichten zu dürfen. Ich klicke mich durch die Folien und erkläre mit ein paar anschaulichen Beispielen. Am Ende ernte ich sogar Applaus. Der Lehrsaal leert sich schnell. Sarah und die Hunde kommen nach vorne und ich stelle sie dem Professor als Mitglied der Zirkusfamilie Marino vor.
“Du bist also mit einem Zirkus auf Tour?”, fragt er grinsend. “Wie ist das passiert?”
“Der Liebe wegen”, grinse ich. “Ich bin mit Sarahs Bruder zusammen.”
“Ich verstehe. Falls du je genug vom Zirkus hast und einen Job in der Forschung suchst, ich setze alle Hebel in Bewegung, um dich an meinen Lehrstuhl zu holen.”
“Danke, aber gerade könnte ich höchstens was machen mit 100% Homeoffice.”
“Beziehungsweise Zirkus-Office, was? Ich überlege mal, ob wir da irgendwie zusammenkommen könnten. Deine Handynummer stimmt noch?”
“Ja oder einfach per Mail. Hier ist meine Karte.”
“Ich melde mich”, verspricht er.
“Und falls Sie Lust auf Zirkus haben, kommen Sie vorbei. Ich hinterlege an der Kasse Freikarten auf Ihren Namen”, bietet Sarah an.
“Danke schön, meine Töchter würden sich sicher freuen!”
“Du bist ein hervorragender Dozent”, findet Sarah, als wir wieder draußen sind.
“Danke schön”, lächle ich. “Ich hatte es ganz schön vermisst.”
“Versprich mir, dass du diese Karriere weiterverfolgst.”
“Irgendwann bestimmt. Aber erstmal muss sich das mit Carlos alles fügen.”
“Wie ernst ist es euch miteinander?”, fragt sie.
“So ernst, dass ich darüber nachdenke, ihm einen Antrag zu machen”, sage ich und erschrecke selbst darüber, das laut ausgesprochen zu haben.
“Wow, wirklich?”, fragt sie.
“Ich bin total hin und hergerissen. Auf der einen Seite sagt mir mein Kopf, dass ich es langsam angehen lassen sollte. Wir kennen uns erst seit ein paar Monaten und durch den Tod meiner Mutter bin ich sowieso emotional noch nicht wieder im Normalzustand. Aber mein Herz sagt mir, dass ich für den Rest meines Lebens neben ihm aufwachen will. Ich liebe ihn sehr und die Zeit, in der wir uns nicht sehen konnten, war pure Folter. Jeder Tag, jede Stunde, jede Minute. Er ist meine Familie.”
Sie nickt:
“Hört sich nach wahrer Liebe an. Ich wünsche euch wirklich, dass ihr einen Weg findet, meine Eltern auf eure Seite zu holen.”
“Danke …”
Um halb fünf müssen wir zurück sein und die Show vorbereiten. Die Hunde sind voller Tatendrang, die Ziegen werden auch schon nervös und Carlos und sein Vater überprüfen gerade das Hochseil und das Trapez. Es beginnt ein Auftritts-Marathon. Freitag 19 Uhr, Samstag 10 Uhr, 15 Uhr, 20 Uhr, Sonntag 10 Uhr, 14 Uhr, 19 Uhr. Carlos kommt zwar jede Nacht in meinen Wohnwagen, aber wir schlafen nur, zu mehr sind wir nicht mehr fähig. Tagsüber funktionieren wir inzwischen wie ein Uhrwerk. Es macht unglaublichen Spaß, mit Carlos und seinem Vater zusammenzuarbeiten. Ich mag Alberto und rede sehr offen mit ihm über alles, außer über Carlos. Ich erzähle ihm meine Familiengeschichte mit der Adoption und dem reichen Elternhaus. Ich erzähle von der Schule und davon, wie wichtig mir meine Karriere ist. Und dass nicht jeder in meinem Leben gut damit umgehen konnte. Ich erzähle davon, wie es war, meinen Vater so schnell so krank werden zu sehen und beide Eltern so kurz hintereinander zu verlieren. Und er erzählt von seiner spanischen Mutter, seinem italienischen Vater, der Armut, als er ein Kind war, dem harten Zirkusleben früher und wie es sich heute verändert hat. Er erzählt mir davon, dass alle seine Kinder von klein auf mit einem Metronom eingeschlafen sind, das immer den gleichen Takt vorgibt und nach dem sich die fliegenden Marinos seit Generationen bei ihren Nummern richten. Er erzählt mir von den Sorgen, die er sich um Benitos Zukunft macht, wegen dessen Verletzung. Er ist sehr offen zu mir. Und ich bin so offen wie es geht zu ihm.
Erst am Montag ist mal wieder Zeit zu verschnaufen. Maria überzeugt ihren Vater, dass wir alle ein paar freie Stunden brauchen und so fahre ich mit Carlos, Maria und Sarah mit der S-Bahn in die Innenstadt. Wir setzen uns in ein Café für ein zweites Frühstück, beobachten Leute und gehen ein bisschen einkaufen. Carlos nimmt in der Fußgängerzone meine Hand und wir erzählen seinen Schwestern, wie wir zusammengekommen sind. Alles ist sehr entspannt. Bis es das nicht mehr ist. Denn Alessio kommt uns entgegen. Er und seine Familie hatten wohl dieselbe Idee, sie sind bepackt mit Einkaufstaschen. Auch wenn Carlos meine Hand sofort loslässt, Alessios Blick nach zu urteilen, ist es zu spät. Er gibt seiner Frau die Einkaufstüte, die er trägt und kommt schnellen Schrittes auf uns zu.
“Merda”, macht Carlos.
Alessio geht nicht auf ihn los, sondern auf mich.
“Fottuto frocio! Hände weg!”, bellt er.
“Denk an deine Schulter”, brüllt Sarah.
Der Schlag in den Magen sitzt. Der zweite Schlag trifft Carlos, der sich zwischen uns drängt. Die Brüder rangeln. Alessio schreit auf vor Schmerz. Maria versucht, die beiden auseinanderzubringen und bekommt dabei einen Ellbogen ab.
“Ihr verdammten Idioten!”, schreit sie und hält ihre Nase.
Alessios Frau schreit auf Italienisch. Das scheint zu wirken. Zumindest treten Carlos und Alessio ein paar Schritte auseinander.
Alessio deutet drohend auf mich:
“Lass dich im Zirkus nicht mehr sehen, du gottverdammte deutsche Schwuchtel!”
Er dreht sich um und nimmt seine weinende Tochter hoch, dann geht er, ohne sich nochmal umzudrehen.
“Max, alles in Ordnung?”, fragt Maria. “Lass mal sehen.”
Sie zieht mein Shirt hoch und betrachtet den blauen Fleck, der sich gerade bildet.
“Deine Nase blutet”, sage ich.
“Halb so schlimm”, sagt sie und stopft sich ein Taschentuch ins Nasenloch.
“Carlos?”, frage ich.
Er starrt Alessio hinterher, reagiert nicht.
“Liebling?”
“Wir müssen zurück”, sagt er plötzlich.
“Was?”
“Wir müssen jetzt zurück, bevor Alessio die Gelegenheit hat, etwas auszuplaudern. Ich muss mit Papa reden. Er muss es von mir erfahren.”
Sarah nickt:
“Du hast Recht. Er darf es nicht von Alessio hören.”
“Was kann ich tun?”, frage ich.
“Ich weiß nicht. Ich glaube, da muss ich alleine durch.”
“Was? Nein. Wir machen das zusammen.”
“Max, ich hab keine Ahnung, wie er reagiert. Es könnte sein, dass er handgreiflich wird, wie Alessio.”
“Dann lasse ich dich erst recht nicht allein.”
“Dann los jetzt!”
Er joggt los Richtung S-Bahn-Haltestelle. Wir laufen ihm hinterher. Ein Zug fährt gerade ein. Alessio ist nicht zu sehen, also fährt er wohl nicht direkt zum Zirkus zurück. Wir haben Zeit.
Die S-Bahn ist recht voll. Eine Gruppe Jugendlicher spielt mit dem Handy Musik. Wir bleiben bei der Tür stehen. Es sind nur zwei Stationen.
“Carlos, bist du wütend?”, frage ich, weil er so still ist.
“Nein. Ich wusste, dass das irgendwann passiert. Ich hätte mir gewünscht, dass wir noch etwas mehr Zeit haben, aber es ist, wie es ist. Es ist nicht mehr in unseren Händen, es kommt jetzt drauf an, was meine Eltern draus machen.”
“Egal was kommt, wir stehen das gemeinsam durch.”
“Ich weiß”, sagt er ganz selbstverständlich und es rührt mich unglaublich, dass er sich so sicher ist.
In diesem Moment weiß ich plötzlich ganz sicher, was ich will.
“Was machst du?”, fragt Carlos, als ich mich vor ihn kniee und mich mit einer Hand an der Haltestange festhalte.
Ich hole den Ehering meines Vaters aus meinem Geldbeutel.
“Carlos Marino, ich liebe dich über alles. Ich liebe dich, weil du mir applaudierst, wenn mir die Ketchupflasche aus dem Kühlschrank fällt und ich sie im letzten Moment fange. Ich liebe dich, weil du immer dran denkst, Sonnencreme für mich einzupacken, die du selbst überhaupt nicht brauchst. Ich liebe dich, weil du der talentierteste Mensch bist, den ich kenne. Und ich liebe dich, weil du meine Familie bist. Ich will jeden Tag meines Lebens neben dir aufwachen. Deshalb bitte ich dich: Bitte, heirate mich.”
Die Musik aus dem Handy der Jugendlichen ändert sich, es läuft “Marry you” von Bruno Mars.
Carlos schaut mich erst fassungslos an, dann realisiert er, dass das mein Ernst ist und er fängt an, gleichzeitig zu lachen und in Tränen auszubrechen. Er zieht mich zu sich hoch und nickt:
“Natürlich! Natürlich heirate ich dich!”
Applaus bricht los. Erst da wird mir bewusst, dass das ganze Abteil zugeschaut hat. Ich stecke Carlos den Ring an den Finger und umarme ihn.
“Ich liebe dich so sehr.”
“Ich liebe dich, du verrückter Idiot”, lacht er.
Maria und Sarah umarmen uns. Dann müssen wir auch schon aussteigen, haben noch 500 Meter zu gehen.
“Du solltest den Antrag heute Abend beim Finale wiederholen”, sagt Maria plötzlich.
“Was? Warum?”
“Die Lokalpresse ist da. Denkt mal nach, die würden sicher darüber berichten, sogar überregional. Es wäre sehr viel schwieriger, Carlos aus dem Zirkus zu werfen, wenn alle wüssten, dass es ist, weil er schwul ist. Könnt ihr euch den Shitstorm vorstellen? Ich bin sicher, keiner ist scharf auf diese Art von Presse.”
Ich schaue Carlos fragend an.
“Die Idee könnte gut sein”, findet er. “Wenn Alessio uns da keinen Strich durch die Rechnung macht, weil er Papa schon vorher alles sagt und ich gar nicht mehr auftreten kann.
“Ich werde mit ihm reden”, erklärt Sarah. “Ich werde ihm sagen, dass er bis nach der Vorstellung warten muss, um Papas Konzentration nicht zu gefährden. Man geht nicht im Streit auf das Trapez, das ist doch die Regel.”
“Stimmt, du könntest ihn vermutlich überzeugen, zu warten."
“Wenn du eine Frau wärst, würde ich bei deinem Vater um deine Hand bitten. Das würde er erwarten, oder?”, frage ich.
“So haben es die Männer meiner Schwestern gemacht, ja.”
“Dann sollte ich das auch tun. Aus Respekt vor ihm.”
“Wie willst du das anstellen? Du kannst ihm nichts von uns erzählen bis zum Finale.”
“Ich hab eine Idee. Lass mich mal machen.”
“Okay, Sarah, du rufst Alessio an. Max, du redest mit meinem Vater. Und Maria und ich kümmern uns jetzt um das Hochseil und das Trapez und bereiten uns auf die Show vor. Lasst uns versuchen, das Chaos erst nach der Vorstellung losbrechen zu lassen.”
Wir nicken und teilen uns auf. Ich ziehe mein Zirkus-Outfit an, sodass ich jederzeit für meinen Auftritt mit Sarah und den Hunden bereit bin. Dann suche ich Alberto und finde ihn am Mischpult beim Soundcheck.
“Alberto?”, frage ich.
“Max! Hör dir die neue Einstellung an. Das klingt viel besser.”
“Stimmt, es klingt runder”, finde ich. “Kann ich kurz mit dir sprechen?”
“Natürlich.”
“Draußen, unter vier Augen?”
Er nickt und folgt mir nach draußen hinter das Zelt. Er schaut mich gespannt an.
“Ich habe viel nachgedacht. Ich bin bereit, einen Antrag zu machen und möchte dich als zukünftigen Schwiegervater um deinen Segen bitten, bevor ich dein Kind frage.”
Er schaut mich ernst an:
“Bist du dir ganz sicher, Max?”
“Ja, ich hab meine Familie gefunden. Ich war noch nie im Leben so verliebt. Und ich werde alles tun, um ein guter Ehemann zu sein. Der Beste. Versprochen.”
Er nickt:
“Ich würde mich freuen, wenn du mein Schwiegersohn wirst. Du bist finanziell unabhängig und hast ein gutes Herz.”
“Danke, Alberto”, sage ich und wende mich zum Gehen um.
Er ruft mir hinterher:
“Welches meiner Kinder wirst du eigentlich fragen?”
“Das schönste!”, grinse ich und jogge davon.
Sarah hat Alessio inzwischen überzeugt, bis nach der Vorstellung zu warten, um die Bombe platzen zu lassen. Ich gehe ihm großräumig aus dem Weg. Sarah hat außerdem irgendwas mit der Musik gedeichselt, um dem Antrag den richtigen Rahmen zu geben. Und eine halbe Stunde vor der Show stellt sie mir drei Lokalreporter vor, die für verschiedenen Tageszeitungen über den Zirkus berichten.
“Das ist Max Weller. Er hat heute große Pläne für das Finale. Es lohnt sich also, bis ganz zum Schluss zu bleiben.”
“Was hast du vor, Max?”
“Lasst euch überraschen”, grinse ich.
Kurz vor der Show steckt mir Carlos den Ring wieder zu.
“Den wirst du nachher brauchen, amore mio”, wispert er.
Ich helfe beim Popcornverkauf und sehe Professor Wagensonner mit seinen Töchtern.
“Unfassbar”, sagt er, als er mich in Zirkusuniform sieht. “Das nenn ich mal überqualifiziert.”
“Und unterbezahlt”, grinse ich und begrüße ihn mit einem Handschlag.
“Ich bin gespannt drauf, den Mann kennenzulernen, wegen dem du das alles machst.”
“Ihr habt euch die perfekte Vorstellung ausgesucht. Wenn alles gut läuft, stell ich ihn euch nach der Vorstellung als meinen Verlobten vor.”
Ich hole verstohlen den Ring aus meiner Tasche und lasse sie einen kurzen Blick drauf werfen.
“Max, gratuliere! Das ist ja fantastisch!”, freut sich der Professor und umarmt mich.
“Was macht dein Freund eigentlich?”, fragt die Ältere der beiden.
“Erst ist er bei den Clowns dabei und nach dem Umbau dann auf dem Hochseil und am Trapez.”
Alle drei machen große Augen:
“Wirklich?”
Ich nicke.
“So, ich muss los. Ich hab gleich am Anfang einen kleinen Auftritt als Assistent der Hundetrainerin.”
“Hals- und Beinbruch”, wünschen die drei.
Ich laufe noch mal einem der Lokalreporter über den Weg. Dem, bei dem mein Gaydar ausgeschlagen hat.
“Sorry, darf ich dich noch mal kurz sprechen?”, frage ich und halte extra langen Blickkontakt.
“Sicher”, lächelt er auf eindeutige Art.
“Die Überraschung nachher ist, dass ich meinem Freund einen Antrag machen werde.”
“Oh, wow, glücklicher Mann.”
“Mein Freund ist Carlos Marino. Und seine Familie weiß bisher nichts von unserer Beziehung.”
“Moment, du willst ihn doch damit nicht outen, oder?”
“Nein, natürlich nicht. Das ist mit ihm abgesprochen. Er hat meinen Antrag schon angenommen. Der öffentliche ist so eine Art Versicherung. Damit die drei Familien ihn nicht ohne Weiteres aus dem Zirkus schmeißen können, weil er schwul ist.”
“Verstehe”, nickt er. “Es wäre also gut, wenn der Antrag überregional aufschlagen würde.”
“Genau. Meinst du, du kannst da helfen?”
“Ich schaue, was ich tun kann. Aber die Geschichte hat schon Potential.”
“Danke dir”, lächle ich.
Ich absolviere meine Nummer mit Sarah und den Hunden und mache mich dann wie immer hinter den Kulissen nützlich. Alberto lächelt mich zwischendurch aufmunternd an. Wenn der wüsste … Nach der Umbaupause werde ich sehr nervös. Ich hoffe, Carlos geht es nicht genauso, hoch oben auf dem Hochseil. Die Show zieht sich heute unglaublich lange und ich hangele mich so durch meine Aufgaben, bis endlich die Trapeznummer dran ist, die letzte Nummer der Vorstellung. Es wird ernst. Der Beifall flacht ab, Zeit für das Finale. Alle kommen in die Manege. Sarah, die heute die Abschiedsworte spricht, bedankt sich beim Publikum und strahlt dann:
“Bevor ihr alle geht, noch was in eigener Sache. Diese Show heute wird in der Familie Marino unvergessen bleiben. Lieber Max, komm ans Mikro.”
Ich komme zu ihr, streichle kurz die Hunde, die wie immer neben ihr sind und nehme das Mikro.
“Liebe Familie Marino, vor allem lieber Alberto. Ihr habt mich in den letzten Wochen hier im Zirkus willkommen geheißen, als wäre ich ein Mitglied eurer Familie. Ich möchte mich bei euch dafür bedanken. … Lieber Alberto, ich habe dich heute ganz offiziell um deinen Segen gebeten, als dein Schwiegersohn in die Familie aufgenommen zu werden. Du hast mir deinen Segen gegeben. Jetzt muss ich aber noch jemanden fragen."
Aus den Lautsprechern kommen die ersten Takte von “Marry you” von Bruno Mars, so wie heute in der S-Bahn. Die Fliegenden Marinos stehen alle beisammen. Ich knie mich vor ihnen hin und hole den Ring hervor. Das Publikum jubelt. Ich schaue Carlos an, sehe all seine Aufregung und die Freude und werde überschwemmt vor Rührung.
“Carlos Marino”, sage ich und ein Raunen geht durch die Manege “ich liebe dich von ganzem Herzen und ich möchte in meinem Leben keinen Tag mehr ohne dich sein. Deshalb bitte ich dich, bitte heirate mich.”
Sein Strahlen nimmt mich komplett ein. Ich merke nicht mehr, was um uns herum passiert. Er kniet sich zu mir und nickt und küsst mich. Ich drücke ihn fest an mich.
“Ich liebe dich so wahnsinnig”, flüstert er.
Ich stecke ihm den Ring an den Finger. Wir stehen auf und winken in das applaudierende Publikum. Maria umarmt mich, dann Sarah und dann auch Ronalda. Die Presse kommt in die Manege und macht Fotos. Carlos hält mich im Arm. Alessio schaut mich an, als würde er mich am liebsten verprügeln. Alberto lächelt sein Bühnenlächeln, aber seine Augen lächeln nicht mit. Aber das ist jetzt alles egal. Es ist nicht zu ändern.
Wir machen die Manege frei für das Ponyreiten. Alberto kommt hinter dem Vorhang auf mich zu. Kurz denke ich, er wird mich schlagen. Aber dann bleibt er doch vor mir stehen, spuckt mir vor die Füße und sagt in verächtlichem Ton:
“Du hast mich an der Nase herumgeführt.”
“Alberto, du bist ein Mann, der für seine Familie sorgt und sie verteidigt. Dein Sohn ist meine Familie. Und ich werde für ihn sorgen und ihn verteidigen. Das habe ich heute getan. Ich habe getan, was nötig ist, um ihn zu beschützen. Ich hoffe, du kannst das respektieren.”
Die Oberhaupte der anderen beiden Zirkusfamilie stürmen wütend auf Alberto zu, fragen ihn, ob er wirklich seinen Segen dafür gegeben hat. Carlos nimmt meine Hand:
“Wir sollten fahren und morgen wieder kommen.”
Ich nicke. Carlos’ Mutter stellt sich uns in den Weg.
“Was machst du nur, Junge?”, fragt sie verzweifelt.
“Ich liebe ihn, Mama. Und ich werde ihn heiraten. Ich hoffe, ihr könnt das akzeptieren. Wir kommen morgen pünktlich zur Schulvorführung wieder. Ich hoffe, ihr lasst mich weiter mit euch auftreten. Aber das müsst ihr entscheiden.”
Alessio taucht hinter Carlos auf.
“Wir sollten jetzt wirklich gehen”, sage ich.
Draußen treffen wir den Professor und seine Töchter.
“Max! Carlos!”, winkt er. “Herzlichen Glückwunsch!”, strahlt er.
“Danke schön.”
“Ich hab alles auf Video. Ich schicke es dir, sobald ich zuhause wieder im WLAN bin.”
“Danke schön.”
“Alles in Ordnung?”, fragt er.
“Wir müssen erstmal weg, bis sich die Aufregung gelegt hat.”
“Verstehe. Ich hab ein Gästezimmer.”
“Danke, aber wir haben einen Wohnwagen.”
“Und ich hab einen Stellplatz vor dem Haus. Ich will mich nicht aufdrängen, aber ihr beiden seid herzlich willkommen.”
Ich schaue mich um. Alessio steht ein paar Meter entfernt und lauert.
“Wir nehmen das Angebot gerne an, vielen Dank.”
“Ich schreibe dir die Adresse.”
Carlos und ich gehen schnellen Schrittes zum Wohnwagen. Wir kuppeln ihn an den BMW an. Alessio ist nicht mehr zu sehen.
“Steig ein und verriegele die Tür”, sagt Carlos und tut das Gleiche auf der Beifahrerseite.
Wir verlassen das Zirkusgelände. Niemand hält uns auf.
“Wie geht es dir?”, frage ich Carlos.
“Das weiß ich morgen, wenn ich erfahre, ob sie mich weiter mit auftreten lassen.”
Ich nicke. Es gibt nichts Tröstliches, was ich ihm sagen könnte. Ich weiß, der Zirkus ist ein großer Teil seines Lebens. Und auch wenn er als Pflegekraft zufrieden sein wird, und als mein Mann sogar glücklich, es wird immer etwas fehlen, wenn er kein Teil der fliegenden Marinos mehr sein darf. Ich kann nur hoffen, dass seine Familie ihm das nicht nimmt.
Erhard Wagensonner, seine Frau Angelika und seine Töchter nehmen uns gut auf. Wir bekommen Abendessen und Erhard schneidet das Video, das er während der Vorstellung und dem Finale gemacht hat. Heraus kommt ein drei-Minuten-Video, das mich mit den Hunden zeigt, Carlos auf dem Hochseil und dann meine Ansprache, die zugegeben nicht schlecht war, und den Antrag. Hinterlegt mit dem Song von Bruno Mars.
“Wow, das wirkt ja fast professionell. Und du hast das so schnell hinbekommen!”
“Sowas macht er auch von jeder unserer Schulaufführungen”, sagt eine der Töchter.
“Und jedem Geburtstag”, grinst Angelika etwas genervt.
Ich lade das Video in meinen Youtube-Kanal hoch, in dem ich normalerweise nur Physik-Erklärvideos habe. Aber immerhin ein paar hundert Abonnenten. Außerdem teile ich es auf Facebook, genau wie Carlos.
Der Lokalreporter ruft an, er hat meine Nummer von Maria bekommen. Er will ein Telefoninterview für den überregionalen Teil. Ich weise ihn auch auf das Video hin.
Kurz nach Mitternacht legen wir uns im Wohnwagen hin. Carlos liegt still in meinem Arm. Ich döse ein. Irgendwas weckt mich, ich kann nicht sagen, wie spät es ist und es dauert ein paar Sekunden, bis ich merke, was mich geweckt hat: Carlos liegt nicht mehr neben mir. Ich mache ein kleines Licht an. Er ist nicht mehr im Wohnwagen. Sofort bin ich hellwach. Ich finde ihn auf dem Gehsteig vor dem Wohnwagen. Er sitzt da, an den Gartenzaun gelehnt.
“Carlos?”
Er atmet tief durch.
“Sorry, ich konnte nicht schlafen.”
Ich setze mich neben ihn. Im Schein der Straßenlampe sehe ich, dass er geweint hat. Ich nehme ihn in den Arm.
“Ich brauche nur mal kurz Zeit, um zu verarbeiten, was in den letzten Monaten passiert ist. Alles ging so schnell.”
Ich nicke:
“Verstehe.”
Ich nehme seine Hand und sitze still neben ihm, nicke sogar zwischendurch ein. Bis er mich weckt:
“Lass uns wieder ins Bett gehen.”
Ich küsse ihn, merke aber, dass er gedanklich noch ganz weit weg ist.
“Carlos, wenn dir das mit dem Heiraten zu schnell geht, ist es völlig okay. Wir können warten, wir müssen noch keine Hochzeit planen.”
“Es ist nicht nur das. Es gibt Seiten an mir, die du noch nicht kennst. Es gibt so viele Dinge, die du von mir nicht weißt. Bisher haben wir in unserer kleinen, heimlichen Welt gelebt.”
Ich verstehe ihn gut.
“Ja, andersrum ist es genauso. Du kennst mich noch nicht als Workaholic, der alles um sich herum vergisst und nur noch im Labor ist. Du kennst mich auch nicht, wenn ich meine tussigen Phasen habe und unzufrieden bin mit meinen Klamotten und den halben Kleiderschrank ausräume. Du kennst bisher nur die besten Seiten an mir.”
Er lacht ein bisschen verächtlich:
“Du lebst in so einer verdammt heilen Welt, Max, wenn das deine schlimmsten Charaktereigenschaften sind.”
“Okay, Carlos. Dann pack aus. Was sind deine Leichen im Keller?”
“Ich werde dir das nicht einfach so hinknallen.”
“Wieso nicht? Irgendwann muss ich es erfahren.”
“Ich steh auf Schmerzen. Das ist eine Berufskrankheit. Ich spüre mich erst richtig, wenn es weh tut. Ich bin erst zufrieden, wenn meine Muskeln brennen und ich weiß, ich bin jetzt wirklich an meine Grenzen gegangen.”
“Okay, ist das … ist das etwas, das du auch im Bett haben möchtest, oder geht es dabei ums Training?”
“Beides.”
Ich schlucke.
“Okay … ich weiß grad nicht … ich weiß grad nicht, ob ich dir das geben kann. Die Vorstellung, dir weh zu tun, ist keine gute Vorstellung für mich.”
“Die Vorstellung, mir zu geben, was ich will, ist aber doch gut, oder?”
“Klar, aber ich hab grad keine Ahnung, was du dir da genau wünscht.”
“Wir können das zusammen ausprobieren, unsere Grenzen austesten…”
“Okay, hört sich machbar an.”
“Ich wollte dir das nicht einfach so hinknallen, aber du hast drauf bestanden.”
“Ich weiß. Was noch? Raus damit.”
“Ich hab ein paar Vorstrafen. Diebstahl vor allem.”
“Uff. Was … was ist da passiert?”
“Ich könnte jetzt behaupten, ich hatte als Jugendlicher die falschen Freunde. Aber das allein war es nicht. Ich war wütend ohne Ende. Weil die Reichen so viel haben und die Armen so wenig. Ich will mich nicht als Robin Hood darstellen. Ich hab das meiste Zeug selbst behalten oder vertickt und das Geld ausgegeben.”
“Wie alt warst du da?”
“Zwischen sechzehn und achtzehn.”
“Verstehe…”
“Ich brauche viel Zeit alleine. Das wird sich auch nicht ändern, wenn wir verheiratet sind. Ich brauche Zeit, um meinen Gedanken nachzuhängen. Und einfach mal Ruhe.”
“Das ist für mich absolut kein Problem.”
“Du hast mich in einer absoluten Ausnahmesituation kennengelernt, Max. Das letzte Jahr ohne den Zirkus musste ich mir schwer erkämpfen bei meiner Familie. Sie haben nur zugestimmt, weil es mir wirklich schlecht ging. Ich musste raus aus diesem Hamsterrad und raus aus diesem Käfig der ständigen Überwachung. Endlich frei sein. Und ich will jetzt nicht gleich in den nächsten …”
“Käfig?”, frage ich, weil er nicht weiterspricht.
“Ich wollte es nicht so krass formulieren.”
“Heißt das, du willst mit anderen schlafen, oder was bedeutet das?”
“Nein! Nein, überhaupt nicht. Danach hab ich überhaupt kein Verlangen. Du?”
Ich schüttle den Kopf:
“Nein, dazu bin ich nicht der Typ. Aber was heißt es dann für dich, frei zu sein?”
“Mich nach niemanden richten zu müssen. Ich will leben, wo ich will und wie ich will. Das kann im Wohnwagen sein auf Tour durch Europa, das kann in Kleinding in meiner Wohnung sein, das kann beim Zirkus sein … ich weiß noch nicht, was ich nächstes Jahr will. Aber ich will, dass es allein meine Entscheidung ist.”
“Naja, so funktioniert das aber nicht. Denn ich hab meine Karriere und ich hab auch meine Vorstellungen, wie und wo ich leben will. Aber vor allem will ich nicht lange von dir getrennt sein. Ich will meinen Alltag mit dir teilen.”
“Das will ich auch.”
“Dann müssen wir das miteinander aushandeln, Kompromisse finden …”
Er verdreht die Augen:
“Ich weiß.”
Wir müssen beide lachen.
“Noch mehr Leichen im Keller?”, frage ich grinsend.
“Ich glaub, das war’s erst mal”, grinst er zurück. “Wobei, eine Sache ist da noch.”
“Ja?”
“Es gibt für mich einen Deal-Breaker. Deshalb musst du mir das ehrlich sagen; Willst du Kinder?”
Uff, ich fühle mich sofort zurückversetzt in meine Beziehung mit David und die ständigen Konflikte über dieses Thema.
“Ich bin da ein gebranntes Kind”, sage ich ehrlich. “Meine Beziehung zu David ist vor allem auch daran gescheitert, dass er am liebsten sofort Kinder wollte und ich dazu noch absolut nicht bereit war. Ich hätte ihm das ehrlich sagen sollen, hab aber immer Ausflüchte gesucht.”
“Also willst du keine Kinder?”
“So klar kann ich das nicht sagen. Ich will jetzt keine Kinder. Und ich glaube, dass ich auch ein glückliches Leben führen könnte, ganz ohne Kinder. Aber andererseits … andererseits kann ich mir vorstellen, dass irgendwann eine Zeit kommt, wo ich mir Kinder wünsche. Ich bin nicht so der Onkel-Typ. Kinder anderer Leute interessieren mich nicht wirklich. Aber ein eigenes Kind mit dem ich Sachen bauen kann, Gemeinsamkeiten entdecken kann und Unterschiede …”
“Meinst du damit ein genetisch eigenes Kind? Ist dir das wichtig?”
“Nein, ich meine ein Kind, das ich erzogen habe. Das in meiner Welt aufwächst. … Aber wenn du sagst, das Thema ist für dich ein Dealbreaker, dann hast du wohl eine klare Vorstellung, was du willst, oder?”
“Ja, die habe ich und da wird nicht viel Raum für Kompromisse sein.”
“Okay, rück raus.”
“Ohne Kinder kann ich mir mein Leben nicht vorstellen. Ich kenne mich. Ich bin ein Familienmensch, auch wenn ich meine Familie manchmal hasse. Ich will mindestens zwei, besser drei Kinder. Und ich möchte die nicht selbst in die Welt setzen, denn in Bulgarien hab ich so viele Kinder gesehen, die dringend Eltern brauchen. Die Waisenhäuser dort sind voll. Es wird der Zeitpunkt in meinem Leben kommen, noch nicht morgen. Aber auch nicht erst wenn ich 40 bin. Und du musst dir überlegen, ob du dich darauf einlässt oder nicht.”
“Ich lasse mich drauf ein.”
“Du musst das nicht jetzt sofort entscheiden.”
“Nein, ich weiß. Aber ich liebe die Idee. Für irgendwann, nicht für morgen. Und ich weiß, dass wir uns als Eltern total gut ergänzen würden. Wir würden das gut hinbekommen, irgendwann. Ich finde die Vorstellung schön, dass wir mit unseren Kindern in meinem Elternhaus in Kleinding leben, mit ihnen im Pool toben und Lego-Roboter bauen und einfach glücklich sind.”
“Max, ich hab gerade Gänsehaut am ganzen Körper. Danke.”
Ich nehme ihn in den Arm.
“Lass uns reingehen und noch ein paar Stunden schlafen, hm?”
Der Wecker klingelt um sieben. Wir gehen ins Haus zum Frühstücken. Erhard fragt mich aufgebracht:
“Hast du schon auf dein Handy geschaut?”
“Nein, warum?”
“Das Video ist viral gegangen. Die BILD-Zeitung hat was darüber gebracht.”
“Ernsthaft?”
Ich schalte mein Handy an und habe dutzende neue Benachrichtigungen auf allen Kanälen. Es hört gar nicht mehr auf zu vibrieren.
“Hunderttausend Klicks?! Was ist denn da passiert?”
Carlos schaut über meine Schulter:
“Nachrichten in 48 Whats-App-Chats. Mach die mal auf.”
Ich scrolle drüber. Ehemalige Kommilitonen, Arbeitskollegen, Freunde und Familie. Alle gratulieren zur Verlobung.
“Da ist eine Nachricht von Maria.”
Ich lese vor:
“Guten Morgen. Papa sagt, Carlos soll zur Vormittagsvorstellung kommen. Du sollst nicht dabei sein.”
Carlos schüttelt entschlossen den Kopf:
“Entweder wir kommen beide oder keiner.”
Ich tippe das. Sie antwortet sofort:
“Ich dachte mir schon, dass ihr das sagt. Ich rede mit ihm. Das Video ist so genial! Hier haben schon früh morgens Reporter angerufen.”
Eine Stunde vor Vorstellungsbeginn ruft Maria an.
“Ihr sollt beide kommen. Hier ist eine Horde Reporter, sogar mit Kameras.”
Als wir am Zirkus ankommen, sind nicht nur die Reporter dort, sondern auch massenhaft Leute. Die Vorstellung, die eigentlich nur für die Grundschulen der Umgebung gedacht ist, ist ausverkauft. Und draußen stehen immer noch Menschen. Wir parken den Wohnwagen und steigen aus. Sofort sind wir umringt… Uns werden Mikros vors Gesicht gehalten und Fragen gestellt. Ich weiß nicht, wo er herkommt, aber plötzlich steht Jordan vor uns. Er sagt freundlich, aber bestimmt auf Englisch, dass Interviews erst nach der Vorstellung gegeben werden. Jetzt müssen sich die Artisten konzentrieren. Jemand schiebt uns durch die Menge. Ich sehe Severin Kaiser und frage mich, ob ich träume. Ich schaue über die Schulter zurück und sehe, dass Jordan und ein Mann, den ich nicht kenne, weiter mit den Reportern sprechen. Carlos hält meine Hand fest:
“Das ist ja alles völlig irre.”
Ich nicke zustimmend. Wir gehen in den Wohnwagenpark. Die Leute bleiben zurück. Im Bürowagen sitzen Carlos’ Eltern und die Oberhäupter der anderen Familien, Antonia Bianco und Marco DiRossi. Außerdem sitzt da David. Er steht auf, umarmt Carlos und umarmt mich.
“Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung, euch beiden.”
“Was machst du hier?”, frage ich ungläubig.
“Jordan, Severin, Scott und ich sind gekommen, als klar war, dass das Video so explodiert. Jordan hatte ein schlechtes Gewissen, weil er es geteilt hat und dadurch seine ganzen Pressekontakte aufgescheucht wurden.”
“Deswegen geht das Video so ab?”, frage ich.
“Die Abendzeitung und die BILD sind dadurch draufgekommen und haben einen Online-Artikel dazu gemacht. Jordans Presseagentur wurde die ganze Nacht mit Anrufen bombardiert. Da traf es sich gut, dass sein Agent gerade hier ist wegen der Hochzeit am Samstag.”
Jordan und sein Agent kommen herein und umarmen und gratulieren uns. Carlos setzt sich zu seinen Eltern und Antonia und Marco.
“Guten Morgen.”
“Guten Morgen, Carlos”, sagt Antonia. “Ein ganz schönes Chaos hast du da losgetreten.”
“Das tut mir leid. Was machen wir mit der Vorstellung?”
“Du wirst auftreten, was sonst?”, bellt sein Vater. “Das wäre sonst ein gefundenes Fressen für die Medien.”
“Ma il tuo tedesco gay non è il benvenuto qui”, erklärt Marco DiRossi.
“Wir beide oder keiner von uns, Marco. Das ist der Deal.”
Marco haut mit der Faust auf den Tisch, dass es laut knallt. Carlos lässt sich davon nicht beeindrucken.
“Beide oder keiner”, wiederholt er noch mal.
“In Ordnung”, nickt Antonia. “Dann beide. Macht euch fertig. Wir sprechen uns nach der Vorstellung.”
Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Carlos geht zu Maria, um sich mit ihr zusammen auf die Show vorzubereiten. Ich gehe zu Sarah und den Tieren. Jordan, David und die anderen halten die Medien in Schach.
Nach meinem Auftritt merke ich recht schnell, dass hinter den Kulissen niemand meine Hilfe haben will. Mir werden Requisiten verweigert, Silvana, die Popcorn macht, gibt mir keine Bauchlade und keine Snacks zum Verkaufen, ich stehe die ganze Vorstellung über nutzlos herum. Und das trifft mich. Das sind alles Menschen, mit denen ich gestern noch wie ein Uhrwerk zusammengearbeitet habe, die mir Komplimente für meinen Fleiß und meine Zuverlässigkeit gemacht haben und die mich in Rekordzeit im Zirkus aufgenommen haben. Und jetzt behandeln sie mich plötzlich wie Abschaum, wie einen Verbrecher. Mir ist übel, ich habe einen Kloß im Hals, ich könnte losheulen oder irgendwas kaputtschlagen.
In der Umbaupause helfe ich den Fliegenden Marinos, das Hochseil und das Trapez zu installieren. Carlos fragt mich besorgt, wie es mir geht.
“Gut”, lüge ich, weil ich weiß, dass er jetzt keine Ablenkungen gebrauchen kann.
Er küsst mich kurz, und das hilft tatsächlich.
“Ich liebe dich”, flüstere ich.
“Ich liebe dich, amore mio”, sagt er so laut, dass auch seine Eltern es hören.
Für den zweiten Teil der Vorstellung sitzen David und die anderen auf dem Boden vor der ersten Reihe. Ich setze mich dazu und freue mich, wie begeistert die vier von der Show und von Carlos auf dem Hochseil und am Trapez sind. Den Rest blende ich aus, so gut es geht. Beim Finale gehe ich in die Manege. Die Presse will Fotos machen. Der ganze Zirkus macht gute Miene. Aber das ist alles nur Show. Sobald die Scheinwerfer aus sind, werden sie ihren Hass wieder zeigen.
Es ist Zeit, Interviews zu geben. Scott hat mich gut vorbereitet. Kurze Sätze, nicht verzetteln, nichts zu Persönliches erzählen, ein paar Floskeln parat haben. Wir kriegen das ganz gut hin. Bis jemand die Fotografen ruft, weil er etwas entdeckt hat. Mein Auto und der Wohnwagen wurden in roten Lettern beschmiert:
“Frocio di merda”, steht da, nicht nur einmal. Sondern auf jeder Seite des Wohnwagens, quer über die Motorhaube und auf den Seiten des BMWs.
“Was bedeutet das?”, fragt einer der Reporter.
“Scheiß Schwuchtel!”, schreit jemand.
Ich sehe Männer aus dem Zirkus grinsen. Auch Marco DiRossi lacht verächtlich.
Kameras sind auf mich gerichtet. Ich atme tief durch. Hass, wie ich ihn in diversen Augen der Anwesenden sehe, habe ich noch nie erlebt.
“Was sagt der Zirkus zu diesem Hassverbrechen?”, fragt eine Reporterin und hält Marco das Mikro hin.
Er zögert, sagt etwas auf Italienisch, Antonia schüttelt vehement den Kopf und nimmt sich das Mikro.
“Im Zirkus ist Zusammenhalt das Wichtigste. Ich schäme mich dafür, wie einer von uns hier behandelt wird. Carlos ist in diesem Zirkus groß geworden! Er ist in der Manege, seit er acht Jahre alt war. So behandelt man niemanden, schon gar nicht die eigenen Leute! Ihr solltet euch schämen. Wenn ich mitbekomme, dass jemand in unserer Zirkusfamilie Unfrieden stiftet, werde ich persönlich dafür sorgen, dass es ihm sehr leid tut. Und jetzt genug mit diesem Rummel hier! Meine Artisten müssen sich auf die Abendvorstellung vorbereiten. Ich bitte alle, die keine Karten für die Vorstellung haben, das Gelände jetzt zu verlassen.”
Carlos muss jetzt mit den fliegenden Marinos alles überprüfen und zur Ruhe kommen. Ich hingegen werde nicht gebraucht, deshalb mache ich mit David einen Spaziergang, während Jordan und Scott sich weiter um die Presse kümmern und Severin das Auto und den Wohnwagen in die Waschanlage bringt.
Ich gehe also neben David her, hänge meinen Gedanken nach und werde mir bewusst, was in den letzten 24 Stunden alles passiert ist. Ich bin jetzt verlobt. Carlos ist out. Wir müssen uns nicht mehr verstecken. Und wir können uns auch gar nicht mehr verstecken, weil alle Welt jetzt unsere Geschichte kennt. Mein Handy vibriert durchgehend, weil irgendwer mein Video liket, teilt oder kommentiert und mir Glückwünsche schickt. Und dieser Hass. Nicht nur im Zirkus, auch viele Kommentare in den Sozialen Medien. Ich hatte nicht gedacht, dass jemand mich so hassen könnte. Vielleicht war das naiv. Aber ich kann es nicht fassen. Dann Carlos’ Geständnisse. Die Lust auf Schmerz, die Vorstrafen, der Kinderwunsch. Wiederholt sich vielleicht alles? Hab ich mich wieder zu schnell auf was eingelassen, wie bei David damals? Schlittere ich wieder in eine Beziehung, die mich zu sehr einengt? Wird wieder alles den Bach runter gehen?
“Ich bin verlobt”, sage ich.
David lächelt: “Ja, das weiß jetzt ganz Deutschland.”
“Es ging so schnell.”
“Hast du Zweifel?”
“Die hatte ich bei uns damals auch nicht. Und trotzdem hat es so geendet.”
“Das kannst du nicht vergleichen, Max. Du hast grad nur kalte Füße, das ist normal.”
“Du heiratest am Samstag!”, fällt mir ein.
“Ja, das ist mir sehr bewusst”, grinst er.
“Wie geht’s dir damit?”
“Ich hatte auch eine kurze Phase von kalten Füßen. Die hab ich aber schnell überwunden, nach einem Gespräch mit meinem Dad. Jetzt freu ich mich einfach nur auf die Feier.”
“Dein Dad ist grandios bei sowas, das kann ich mir vorstellen. Ich wünschte, mein Dad hätte Carlos noch kennengelernt.”
“Deine Mutter mochte ihn sehr.”
“Ja, das tat sie …”
“Ich mag ihn auch. Er passt sehr gut zu dir.”
“Danke, David. Das bedeutet mir viel, dass du das sagst.”
“Und jetzt brüte ruhig weiter über deinen Gedanken. Ich kenn das ja, ich laufe einfach neben dir her und warte, bis du zu Ende gegrübelt hast.”
“Du kennst mich echt verdammt gut …”
Ich trete abends mit Sarah auf, im Anschluss hole ich mir wieder überall nur Absagen, als ich versuche, hinter den Kulissen mitzuhelfen. Dieses Mal setze ich mich nicht ins Publikum, sondern stelle Jordan und den anderen Frieda das Trampeltier und die anderen Tiere im Streichelzoo vor. Deshalb bin ich beim Umbau nicht dabei. Und auch nicht bei der Hochseil-Nummer. Wir hören also nur von Weitem den Knall, wie von einer riesigen Peitsche, die durch die Luft schnalzt. Dann hören wir Rufe und Kreischen. Wir sehen Leute, die schnell mit ihren Kindern das Zelt verlassen und laufen hinein. Jemand spricht ins Mikrofon, dass alle auf ihren Plätzen bleiben sollen, die Show geht sofort weiter. Musik wird gespielt, die Clowns kommen in die Manege. Ich sehe ein gerissenes Drahtseil. Wo sind die Marinos? Ich laufe nach draußen und um das Zelt herum zum Manegeneingang. Ich sehe Carlos, weiß wie ein Blatt Papier. Ich sehe Frau Marino mit blutigen Händen. Ich sehe Alberto, der etwas hält. Eine Hand. Nur eine Hand. Ich sehe Maria, auf dem Boden. Ihr gehört die Hand, die Alberto hält. Er steht zwei Meter von ihr entfernt. Ich sehe Severin, der seinen Gürtel abnimmt und ihn Maria um den blutenden Arm wickelt. Ich stehe vor Carlos, der nicht ansprechbar ist. Ihm steht Schweiß auf der Stirn. Er ist aschfahl. Ich taste ihn ab.
“Bist du verletzt? Carlos! Bist du verletzt?!”
“Der Draht.”
“Hast du Schmerzen?”
“Der Draht ist einfach so durch sie hindurch geschnalzt.”
Ich gehe um ihn herum, sehe Blut auf dem Trikot, auf der linken Schulter. Ich schaue nach. Das Blut kommt nicht von ihm.
“Der Draht ist einfach so gerissen. Er ist einfach durch sie durch.”
Zwei Krankenwagen kommen. Und ein Notarzt. Die Marinos werden alle untersucht. Ein Helikopter landet und nimmt Maria mit, ihre Mutter begleitet sie. Die Polizei beendet die Show und nimmt die Namen von allen Besucherinnen und allen Menschen im Zirkus auf. Sie machen Fotos vom gerissenen Draht. Carlos ist vom Hochseil gefallen, sagt er, als eine Ärztin ihn fragt, wo er war als der Unfall passiert ist. Ein Krankenwagen nimmt ihn mit, sein Vater fährt mit. Die Polizei fragt mich, ob die Familie Feinde hat. Ich erzähle ihnen von meinem beschmierten Auto. Ich will zu Carlos. Seine Schwester Ronalda steht neben mir. Sie will auch ins Krankenhaus. Wir steigen in Davids Auto, er fährt, Jordan sitzt neben ihm und legt seine Hand auf Davids Oberschenkel.
“Was genau ist passiert?", fragt er Ronalda. “Du warst dabei, oder?”
“Einer der Drähte, die das Seil spannen, ist gerissen. Einer der neuen Drähte. Ich stand gerade auf der Plattform. Carlos war mitten auf dem Seil, Maria stand auf seinen Schultern. Sie ist plötzlich zusammengesackt. Er hat versucht, ihren Sturz aufzuhalten, hat sich auf das Seil geschmissen und sie gehalten, ein paar Sekunden lang. Dann sind sie beide gefallen. Sie ist gefallen wie eine Puppe. Er konnte sich abrollen. Dann war da das ganze Blut und Papa hat die Hand gefunden. Sie lag am Rand der Manege. Der Draht hat sie abgetrennt. Der neue Draht. Wir haben ihn vor der Vorstellung überprüft. Wie konnte das passieren? Wie konnte er reißen?”
“Jemand hat ihn angeschnitten. Ich hab das einen Polizisten sagen hören. Das war kein Unfall. Das war Sabotage”, sagt David.
“Dann war das wegen Carlos und mir”, sage ich.
“Nein, sowas würde doch niemand tun”, flüstert Ronalda.
David nimmt Jordans Hand.
“Doch, aus Hass tun Menschen sowas”, sagt Jordan.
Maria wurde in ein anderes Krankenhaus geflogen, eine Spezialklinik und es dauert lange, bis Ronalda und ich zu Carlos dürfen. Er wurde durchleuchtet und muss zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben. Aber ihm geht es bis auf ein paar blaue Flecken gut. Sein Vater sitzt bei ihm am Bett. Er fragt Ronalda sofort:
“Weißt du was von Maria?”
“Sie wird immer noch operiert. Mama ruft an, wenn es was Neues gibt.”
“Wie konnte das nur passieren? Wir haben doch alles überprüft.”
Ich habe beschlossen, nichts dazu zu sagen. Die Polizei wird Carlos und seinen Vater bald informieren, wenn sie es genau wissen. Ich will hierfür nicht der Bote sein. Ronalda sagt auch nichts. Carlos liegt ruhig da, starrt an die Wand.
“Carlos?”
Er dreht seinen Kopf zu mir, ist sichtlich müde und immer noch etwas blass. Ich küsse seine Stirn.
“Kann ich dir irgendwas bringen? Kann ich dir irgendwie helfen? Hast du Schmerzen?”
Er schüttelt langsam den Kopf:
“Ich will einfach nur schlafen und aufwachen und das war alles ein böser Traum.”
Es klopft und zwei Polizisten kommen herein. Sie wollen mit Carlos reden und mit seinem Vater, getrennt voneinander.
Inzwischen ist es dunkel draußen. Jordan und David sitzen im Wartebereich.
“Ihr müsst bestimmt bald nach Hause, oder?”
“Morgen früh.”
“Ihr könnt fahren. Carlos geht es körperlich gut. Er muss nur zur Beobachtung hierbleiben.”
“Wir bleiben hier, solange du hier bist. Severin holt dein Auto und den Wohnwagen her. Er müsste bald da sein.”
Ronaldas Handy klingelt. Sie telefoniert kurz, dann legt sie auf und sagt:
“Sie ist aus dem OP. Die Hand konnte angenäht werden. Sie hatte eine leichte Hirnblutung, die von selbst wieder aufgehört hat. Ansonsten hat sie durch den Sturz keine schweren Verletzungen. Sie wird wieder gesund.”
Jordan, David und Severin verabschieden sich und nehmen mir das Versprechen ab, am Samstag auf jeden Fall zur Hochzeit zu kommen. Ronalda und ich schlafen im Wohnwagen auf dem Krankenhausparkplatz. Am nächsten Vormittag wird Carlos entlassen. Und die Polizei ermittelt jetzt offiziell wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Der Zirkus wird festgesetzt, darf vorerst nicht weiterziehen, bis alle Spuren gesichert sind. Carlos will nicht mehr dorthin zurück. Ronalda holt seine restlichen Sachen. Ich setze Carlos bei Maria in der Unfallklinik ab. Sie will eigentlich niemanden sehen, aber Carlos lässt sie zu sich, zumindest für einen kurzen Besuch. Danach bringen wir den geliehenen Wohnwagen zurück und fahren nach München in meine Wohnung.
Er sitzt am nächsten Morgen auf meinem Sofa, in Trainingsleggins und engem Shirt, als wäre er gerade vom Hochseiltraining zurück. Das sieht so unpassend aus, in meiner Wohnung. Als würde er nicht hierhergehören. Er gehört in den Zirkus, schießt es mir durch den Kopf. Aber dorthin will er nie wieder zurück, sagt er.
Am Nachmittag klingelt es. Carlos’ Eltern und Sarah stehen vor der Tür. Ich bin froh, sie zu sehen. Denn Carlos lag den ganzen Tag auf dem Sofa und hat vor sich hingestarrt. Er wollte nicht raus gehen, kein Yoga machen, nichts essen. Er kann normalerweise keine halbe Stunde stillsitzen. Und jetzt liegt er da seit Stunden. Das macht mir Angst. Sie reden alle drei auf Italienisch auf ihn ein. Er winkt ab, schüttelt vehement den Kopf.
“Hey, bitte beruhigt euch erst mal”, sage ich.
“Halt dich raus, das ist eine Familiensachen!”. blökt Frau Marino.
“Und das hier ist meine Wohnung. Also gelten hier meine Regeln. Ab sofort wird nur noch Deutsch gesprochen und einer nach dem anderen.”
Es funktioniert, sie lassen sich tatsächlich darauf ein.
“Carlos, du kennst die Regel. Nach einem Unfall muss man sofort wieder weitermachen. Sonst geht man nie wieder hoch! Wir müssen nicht weit fahren. Zwanzig Minuten. Unsere Freunde helfen uns, sie lassen uns ihr Hochseil benutzen. Aber wir müssen jetzt los. Sofort.”
“Ich gehe garantiert auf kein Hochseil! Wer weiß, wer dieses Mal am Seil gesägt hat! Ich bin doch nicht lebensmüde!”
Die Drei fangen wieder an, auf ihn einzureden. Ich drängle mich an ihnen vorbei, setze mich neben ihn, nehme seine Hand und sage leise:
“Liebling? Ich glaub, sie haben Recht. Du musst sofort wieder ins kalte Wasser springen.”
Er schaut mich an, als hätte ich Hochverrat begangen, aber ich bleibe dabei:
“Ich sage nicht, dass du zurück in den Zirkus sollst. Aber du musst deine Angst sofort bezwingen, damit du die freie Wahl hast, ob du wieder auftrittst oder nicht. Die Entscheidung triffst du, nicht die Angst. Verstehst du?”
“Meinst du wirklich, tesoro?”
“Ja. Wenn du willst, komme ich mit. Ich kontrolliere mit dir die komplette Anlage, bevor du hoch gehst. Aber du musst wieder hoch.”
Zwanzig Minuten später kontrollieren Alberto und ich die Trainingsanlage einer Münchner Zirkusfamilie, während Carlos und seine Mutter sich aufwärmen und Sarah die befreundete Familie auf den neuesten Stand bringt, was Marias Zustand und die polizeilichen Ermittlungen betrifft. Die Tochter der Zirkus-Chefin kommt zu Alberto und mir.
“Max?”
“Ja?”, frage ich.
“Ich bin Anita. Ich hab das Antragsvideo gesehen und fand es so schön, endlich mal zu sehen, dass der Zirkus genau so bunt ist wie die echte Welt. Ich glaube, es gibt viele von uns. Aber wir werden nicht oft gesehen … meine Freundin hatte auch einen schweren Start, als ich sie offiziell vorgestellt habe. Aber jetzt, nach zwei Jahren, haben sich alle dran gewöhnt und wir werden nicht mehr seltsam behandelt. Ich wollte nur, dass du weißt, dass ihr nicht alleine seid, Carlos und du.”
“Danke schön”, sage ich gerührt und umarme sie kurz.
Alberto beäugt das Ganze kritisch. Man sieht richtig, wie es in seinem Kopf rattert und sein heterosexuelles Weltbild ins Wanken gerät.
Die Überprüfung ist abgeschlossen. Carlos und seine Mutter machen sich bereit, hochzuklettern. Ich sehe, dass seine Bewegungen nicht so geschmeidig sind wie sonst. Das Seil ist wesentlich höher als die acht Meter im Zirkus Italiani. Gut zwölf Meter, schätze ich. Ein Netz gibt es nicht. Ich verspanne mich.
“Ist okay, Max. Er macht das. Er ist Profi”, flüstert mir Sarah zu.
Carlos kommt oben an, seine Mutter wenige Sekunden später auf der anderen Plattform. Ohne zu zögern, nimmt er die Gleichgewichtsstange und balanciert los.
“Er ist gut”, sagt Anita anerkennend. “Sehr gute Balance, sehr gute Haltung.”
Carlos ist in der Mitte des Seils. Er bleibt stehen, wirft seiner Mutter die Stange zu, beugt sich vornüber und macht einen Handstand.
“Wow, das ist krass”, findet Anita. “Warum ist er nicht euer Star?”, fragt sie Sarah.
“Weil er das nicht sein will. Er war fast ein Jahr weg vom Zirkus. Er will nicht die tragende Rolle haben. Maria ist unser Star. Oder war es bis zu ihrem Unfall …”
“Eure Familie hat in den letzten Monaten viel durchgemacht. Alessios Schulter, dann Benitos Sturz und jetzt Sabotage …”
“Und wir stehen ohne Arrangement da. Der Zirkus Italiani wird uns jedenfalls nicht mehr sehen.”
“Meldet euch bei meiner Mutter deswegen. In der Show brauchen wir immer gute Akrobaten.”
“Danke!”
Sarah geht zu ihrem Vater. Anita tuschelt mir zu:
“Carlos würde ich vom Fleck weg für das Varietétheater hier in München engagieren. Wenn du das Gefühl hast, er ist bereit, das zu hören, sag es ihm, ja?”
“Okay.”
“Und ihr beide müsst dringend mal zu einer der Varietéshows kommen. Es gibt ein Fünf-Gänge Menü und grandiose Artisten, mit ein klein bisschen nackter Haut, um die Fantasie anzuregen. Bringt gern Freunde mit.”
Nach zwanzig Minuten kommt Carlos strahlend herunter.
“Danke, dass ihr mich dazu gezwungen habt”, grinst er.
Wir bleiben, um uns die Show anzusehen. Sarah ist hin und weg von den vielen Tieren in der Manege. Die Akrobaten in diesem Zirkus sind laut Alberto technisch bei Weitem nicht auf dem Level des Zirkus Italiani, aber die Showeffekte sind wesentlich pompöser.
“Könntest du dir vorstellen, hier zu arbeiten?”, frage ich Carlos am Ende der Vorstellung.
“Wenn es meinen Eltern und Ronalda hilft, dann ja.”
“Aber WILLST du hier arbeiten?”
“Ich will den ganzen Tag mit dir im Bett liegen und nicht mehr an den Zirkus denken”, flüstert er.
Ich küsse ihn und sage dann:
“Das bist aber nicht du, mein Liebling. Du bist ein Fliegender Marino. Du bist Akrobat und ein Star auf dem Hochseil. Ich verstehe, dass du gerade einfach nur aus dem Zirkus fliehen willst. Aber dann würde ein wichtiger Teil von dir auf der Strecke bleiben. Du kannst den Zirkus nicht verlassen.”
Ich fange einen Blick von Alberto ein, der neben Carlos sitzt. Er hat scheinbar gehört, was ich gesagt habe und scheint mir zuzustimmen;
“Ascolta Max, figliolo. Ascolta il tuo fidanzato”, tuschelt er Carlos zu.
“Papa”, sagt Carlos überrascht. “Du hast ihn meinen Verlobten genannt.”
Alberto starrt in die Manege, ohne das weiter zu kommentieren. Aber Carlos grinst glücklich.
Wir setzen die drei auf einem Zeltplatz am Stadtrand ab. Dort haben sie drei Wohnwägen und einen Gerätewagen abgestellt.
“Wo sind eigentlich die Tiere?”, frage ich Sarah.
“Die Hunde sind hier. Larissa und Ramona kümmern sich um sie. Frieda und die Ziegen sind noch im Zirkus Italiani. Ich habe heute mit Anita und ihrer Mutter vereinbart, dass ich sie morgen hole und bei ihnen unterstelle.”
“Sag Bescheid, wenn du Unterstützung brauchst. Oder einen anderen Platz. In Kleinding, meiner Heimatgemeinde, gibt es noch ein paar aktive Landwirte, die ich fragen könnte.”
“Danke, Max. Vielleicht brauche ich im Winter tatsächlich deine Unterstützung.”
Sarah, Alberto und ich holen am nächsten Tag zusammen die restliche Ausrüstung und die Tiere aus Heidelberg ab. Der restliche Zirkus ist inzwischen weitergezogen. Alessio und seine Frau haben schon das meiste gepackt. Ich gehe auf ihn zu:
“Alessio, ich bin hier und ich gehe nicht mehr weg. Ich werde der Familie helfen, so gut ich kann. Aber wir beide müssen irgendwie miteinander auskommen. Wenn du mich dazu verprügeln oder beschimpfen musst, bring es hinter dich. Damit wir danach in Ruhe unsere Arbeit machen können.”
Sarah und Alessios Frau Andrea kommen dazu. Er starrt mich wütend an. Es kann gut sein, dass ich gleich eine Faust im Gesicht habe.
“Jungs, Schluss jetzt! Macht eure Arbeit!”, bellt Alberto.
Alessio dreht sich abrupt um und lädt Tierfutter in den Transporter. Er bleibt auf Abstand, keine bösen Blicke, nichts. Wir machen einfach unsere Arbeit.
Zwei Stunden später setzt sich die Kolonne aus zwei Geräteanhängern, einem Tiertransporter und Alessios Wohnwagen in Bewegung Richtung München. Es ist ein Glück, dass die Münchner Zirkusfamilie die Marinos aufnimmt, ohne Wenn und Aber. Und ich habe das Gefühl, ausschlaggebend dafür ist auch, dass Anita ein gutes Wort für uns eingelegt hat. Carlos telefoniert viel mit Maria. Er fühlt sich schuldig, weil der Anschlag vermutlich eigentlich ihm gegolten hat. Die Polizei hat weder Fingerabdrücke noch DNA-Spuren am Drahtseil gefunden. Auch die Zeugenvernehmungen bleiben ohne Ergebnis. Wir werden vermutlich niemals rausfinden, was genau passiert ist.
Einen Vorteil hat die ganze Sache: Carlos hat jetzt Zeit, am Samstag mit mir auf Davids Hochzeit zu kommen.
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