zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Summerways

Teil 3 - David - Selbst ist der Mann

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Ich will mein Leben wieder in die Hand nehmen. Also kündige ich meinen Kantinen-Job und frage in Restaurants abseits des Campus nach einem neuen. Mitte Dezember werde ich tatsächlich fündig. In einem Delikatessenrestaurant 25 Fahrminuten von unserer Wohnung entfernt gibt es französisches Weißbrot, belgische Waffeln, schweizer Trinkschokolade und einen schwulen Chef, der einen kurzen Blick auf meinen Lebenslauf wirft und mich sofort einstellt. Endlich habe ich wieder was zu tun, das halbwegs anspruchsvoll ist. Und endlich habe ich wieder Kollegen mit denen ich reden kann! Leute, die ich jeden Tag treffe. Na gut, drei mal die Woche für einige Stunden. Vielleicht kann man die Schichten im neuen Jahr etwas ausdehnen. Und vielleicht hat jemand Lust, mal mit mir das Nachtleben zu erkunden. Oder was trinken zu gehen. Mann, ich bin echt verzweifelt und muss mich sehr zurückhalten, nicht zu Stalker-mäßig rüberzukommen.

Der Chef, Henry, ist Mitte 40, rundlich, tuckig und immer witzig.

Dann gibt es Matt, ein Hornbrillenträger Ende 20, der immer wieder betont, dass der Job nur übergangsweise ist, bis er wieder eine Stelle als Historiker findet.

Und dann gibt es die drei Mädels. Anne, Samira und Kimmy. Die drei Engel für Henry, wie sie sich selbst nennen. Alle drei sind Psychologie-Studentinnen, was dafür sorgt, dass wir gleich viele gemeinsame Themen haben. Außerdem sind sie große Disney-Fans. Deshalb heißen sie bei den Kollegen auch Merida, Tiana und Mulan. Und diesen Filmheldinnen sehen sie tatsächlich sehr ähnlich.

Bei uns zuhause gibt es fortan dreimal die Woche richtig gutes Essen aus dem Restaurant. Ich übernehme meistens die Mittagsschichten, so dass die Abende nur mir und Max gehören. Ich merke deutlich, wie sich unsere Beziehung über die nächsten Wochen entspannt, jetzt, wo ich nicht mehr den ganzen Tag darauf warte, dass er endlich heim kommt, sondern ein eigenes Leben habe. Fast bereue ich es ein bisschen, dass am 22. Dezember mein Flug nach Hause geht und ich Max und meine Kollegen über zwei Wochen nicht sehen werde.

Am Flughafen halten wir die Abschiedsszene kurz. Max parkt in der Kurzhaltezone, hilft mir, mein Gepäck aus dem Auto zu heben, küsst mich und wünscht mir viel Vergnügen in der alten Heimat. Dann stehe ich allein in der Abfertigungshalle und habe ein mulmiges Gefühl. So lange von Max getrennt. Ich vermisse ihn schon während des Fluges. Keine Schulter zum anlehnen, niemand, mit dem ich über das Essen nörgeln kann. Ich bin nicht gern alleine. Zum Glück ist der Transatlantik-Flug ein Nachtflug.

Meine Eltern stehen beide in der Ankunftshalle des Münchner Flughafens und winken fröhlich durch die Glasscheibe. Neben ihnen steht Paul. Uff. Am liebsten würde ich freiwillig noch mal durch die Zollkontrolle gehen, nur um die Begegnung mit ihm noch weiter rauszuzögern. Aber es nutzt nichts. Ich muss da jetzt durch.

Meine Eltern ziehen mich erst mal in eine innige Familienumarmung.

„Hallo“, sage ich überrascht.

„Hi“, erwidert Paul verlegen.

„Er hat tagelang unser Haus belagert um rauszufinden, wann wir dich abholen“, erklärt mein Vater.

„Woher wusstest du überhaupt, dass ich komme?“

„Dorftratsch. Meine Mutter hat’s beim Einkaufen aufgeschnappt.“

„Und was willst du hier?“

„Ich will mich bei dir entschuldigen.“

„Hast du schon.“

„Ja, aber dieses Mal kann ich dir sagen, dass ich nicht mehr bei Jacques und Lenny wohne. Ich hab jetzt eine eigene Bude. Und einen festen Job.“

„Können wir vielleicht wann anders reden? Ich bin grad erst angekommen.“

„Ich kann dich heute Abend abholen. Wir können was trinken gehen, oder ins Kino, oder einfach nur reden.“

„Okay. Ab acht.“

Er nickt dankbar, umarmt mich kurz und verschwindet.

„Seltsamer Kerl“, findet mein Vater.

„Also ich mag ihn“, entgegnet meine Mutter.

Ich schüttle nur den Kopf und bitte darum, dass wir jetzt endlich heim fahren. Hoffentlich war es das mit den Überraschungen. Ich würde mich über besinnliche Weihnachten wirklich sehr freuen.

Mein altes Zimmer dient meinen Eltern inzwischen als Fitnessraum. Mein Bett steht jetzt also zwischen einer Hantelbank und einem Laufband. Vielleicht trainiere ich ja auch mal ein bisschen und überrasche meinen Verlobten mit dem Ansatz von Bauchmuskeln? Ich packe erst mal ein paar Sachen in die Kommode, klappe meinen Laptop auf und sehe nach, ob Max online ist.

Er ist aber scheinbar schon im Bett. Jordan wohl auch, zumindest wird er nicht als online angezeigt. In der neuen Heimat ist es auch schon nach Mitternacht. Das Jetlag packt mich und ich lege mich noch ein bisschen auf’s Ohr, bis meine Mum mich zum Mittagessen ruft. Knödel mit Schwammerlsoße, Mann, hab ich Mamas Essen vermisst! Die Wellensittiche stehen inzwischen neben dem Küchentisch und werden von meinen Eltern mit Leckereien und lustigen Geräuschen bespaßt. Es scheint den Vögeln gut zu gehen. Sie setzen sich sogar auf die Hand und lassen sich von meinem Vater Mund zu Mund füttern. Brrrrrrr… Mich beschleicht das Gefühl, dass die beiden jetzt für immer hier wohnen werden.

Nach einem Besuch bei meinen Großeltern bin ich randvoll mit Kuchen und Kaffee und auf dem neuesten Stand, was den Familienklatsch über meinen Onkel und seine Zwillinge betrifft. Beide haben inzwischen auf ihren ererbten Grundstücken ein Häuschen gebaut und geheiratet natürlich auch. Alles, wie es sich gehört. Meine Großmutter vermutet, bald Uri zu werden und hat sicherheitshalber schon mal Babymützchen und Schuhe gehäkelt. Inzwischen versetzt es mir nur noch einen ganz kleinen Stich ins Herz, meine Großeltern so stolz auf ihre anderen – verheirateten – Enkel zu sehen. Wer weiß, vielleicht gibt es in ein paar Jahren ja schon das Adoptionsrecht für schwule Paare. Dann kann ich auch noch ein paar Urenkel beisteuern.

Was mach ich nur mit Paul? Ich vermisse es, mit ihm zu reden. Aber ich verstehe nicht, wie er sich mit solchen Leuten abgeben kann. Homophoben Kiffern, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen.

Er holt mich kurz nach acht (also für seine Verhältnisse super-pünktlich) mit einem alten Golf ab. In dem Wagen riecht es nach Zigaretten. Ich will sofort eine rauchen. Als könne er Gedanken lesen, greift Paul vor mir ins Handschuhfach und reicht mir eine halbvolle Packung. Ich zelebriere es, mir die Kippe anzustecken und nehme die ersten zwei Züge.

„Also, Paul … wie läuft’s bei dir?“, frage ich schließlich.

„Ich bin ganz schön bürgerlich unterwegs, momentan. Ich arbeite von neun bis fünf bei einem Reiseführer-Verlag, hab seit Monaten meinen Wohnsitz nicht gewechselt und hab sowas wie eine Freundin.“

„Echt jetzt?“, mache ich ehrlich überrascht.

„Sie ist 21, studiert Germanistik auf Lehramt und hat einen guten Musikgeschmack. Was will man mehr?“

„Wann lern ich sie kennen?“

„Schwierig, sie ist die nächsten zwei Wochen bei ihren Eltern in Freiburg. Und danach entschwindest du ja wieder in die Staaten. Wie ist es da drüben für euch?“

„Max hat sich gut eingelebt. Er arbeitet viel, hat nette Kollegen … wir sehen uns nur morgens und abends. Ihm geht’s gut.“

„Und dir?“

„Auch gut.“

„Ohoh“, macht Paul und fährt bei der nächsten Gelegenheit von der Schnellstraße ab um am Rand zu halten.

„Was ist los?“, will er schließlich wissen.

„Wir haben irgendwie den Kontakt zueinander verloren. Und ich hab nichts und niemanden da drüben, außer Max. Das ist ganz schön viel Druck für ihn. Und ich vermisse mein Leben hier. Ich wünschte, ich könnte irgendwie beides gleichzeitig haben. Mit Max die Welt erobern und mein Zuhause immer dabei haben.“

„Wie eine Schnecke?“, grinst Paul.

„Genau …“

„David, darf ich ehrlich sein?“

„Was kommt denn jetzt?!“, frage ich erschrocken.

„Du warst schon immer ein Mensch der starke Wurzeln braucht. Ich weiß nicht, ob dir das Max allein geben kann. Ich mach mir Sorgen um dich …“

„Das wird schon. Ich muss eben neue Wurzeln schlagen.“

„Hast du Freunde da drüben?“

„Naja, Jordan halt, aber der ist weit weg. Und ich hab ein paar neue Kollegen, die ich immer besser kennenlerne.“

„Okay … du musst mir aber versprechen, dass du nicht zu sehr hinter Max zurücksteckst, ja?“

„Ich bemühe mich. Aber er ist mir nun mal sehr wichtig.“

„Ja, ich weiß. Ich bin froh, dass wir wieder reden.“

„Ich auch“, gebe ich zu.

Paul wird Silvester also auch dabei sein. Und meine liebe kleine Schwester wird vermutlich auch noch ein paar ihrer Freunde einladen wollen. Am Morgen des 24. kommt Klara mit dem Zug aus Regensburg an, wo sie inzwischen Zahnmedizin studiert. Meine kleine Schwester wird Zahnärztin … Irgendwie nervt mich das. Sie, das Sorgenkind, weiß plötzlich ganz genau was sie will und zieht es durch. Und ich? Ich kellnere.

Mein Freund ist nicht zu erreichen. Weder telefonisch, noch per Mail oder Skype. Klar, die Zeitverschiebung … aber wenn er wirklich wollte, könnte er doch abends gegen Mitternacht mal anrufen, dann ist hier gerade Aufstehzeit. Ich beschäftige mich mit den Beilagen für das Vier-Gänge-Menü am Abend, das Mum und ich vorbereiten. Maronensuppe, Mangoldsalat, Lammkotletts mit selbstgemachten Spätzle, Creme Caramel. Wir übertreffen uns wirklich selbst. Die ganze Familie ist begeistert. Zur Bescherung spielen Mum und ich wie jedes Jahr ein paar Weihnachtslieder auf dem Klavier. Dann packen alle ihre Geschenke aus. Ich bekomme vor allem Bargeld. Wollsocken und Schals braucht man in Kalifornien eben nicht. Klara schenkt mir ein Summerskin-Fanshirt mir Jordans Gesicht drauf und lacht sich scheckig. Meine Großeltern freuen sich über ihren Reisegutschein. In letzter Zeit sind sie in ganz Deutschland unterwegs gewesen und haben vor, als nächstes die Benelux-Länder zu erkunden. Sie haben sich sogar eine Digitalkamera zugelegt und überraschen uns mit einer Urlaubsfoto-Präsentation am PC. Ich wusste nicht mal, dass die zwei Wissen, wie man so ein Ding einschaltet.

Klara und ich verbringen die Feiertage zusammen mit Paul in meinem alten Zimmer. Wir reden, lachen, rauchen heimlich Gras. Wie in alten Zeiten. Mit Max telefoniere ich zwischendurch kurz, aber er hat nicht viel zu erzählen. Ich besuche meine Großmutter in den Bergen und auch Sonia. Orlando will mich gar nicht mehr gehen lassen. Ich vermisse den kleinen Scheißer. Und überhaupt: Ich will ein Kind in meinem Leben haben. Und ich will nicht noch drei Jahre damit warten, bis wir wieder zurück nach Deutschland kommen. Ein Kind würde meinem Leben Sinn geben. Ich hätte was zu tun. Hätte eine Perspektive. Darüber muss ich mit Max reden, wenn ich wieder in den Staaten bin. In meinem Leben geht sonst nichts vorwärts!

Am 29. feiert Chrissy ihren Geburtstag in ihrem Elternhaus in Kleinding. Flo und sie wohnen inzwischen in Nürnberg, wo sie als Logopädin arbeitet und er als Software-Entwickler. Sie verdienen wohl ziemlich gut und sind in eine Eigentumswohnung mit Garten umgezogen, die sie zwar die nächsten 20 Jahre abzahlen werden müssen, aber ich bin trotzdem total neidisch. Chrissy trinkt entgegen ihrer alten Gewohnheiten keinen Alkohol, fällt mir auf. Also ist sie vermutlich schwanger. Ich hasse es. Alle meine Freunde sind erwachsen geworden. Sogar Jana, meine Ex-Freundin und ehemals beste Freundin, mit der ich seit Ewigkeiten nicht mehr geredet habe. Sie ist zwar Single, dafür hat sie eine Festanstellung in einer großen Zeitungsredaktion und tut jeden Tag das was sie liebt: Schreiben. Und dafür wird sie auch noch super bezahlt! Geldsorgen scheinen meine Freunde allesamt nicht mehr zu haben. Das merkt man an dem teuren Schnaps und dem vielen Gras. Wieso haben es meine Chaotenfreunde geschafft, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen und Saubermann-David ist ein Loser ohne Perspektive?

Kurz nach Mitternacht singe ich ziemlich besoffen Karaoke, als jemand eine Line Kokain zieht. Mitten auf dem Wohnzimmertisch, in einem Raum voller Leute. Er scheint meinen Blick zu bemerken und winkt mich heran. Ich kenne den Kerl nicht. Aber ich setze mich zu ihm.

„Willst du mal?“, fragt er und hält mir ein kleines Röllchen hin.

„Ist das Koks?“, frage ich naiv.

Er lacht:

„Klar, was sonst?“

Er streut etwas auf den kleinen Teller und schiebt es mit einer Rasierklinge zusammen. Dann deutet er mir an, dass ich jetzt kann. Es ist ein bisschen wie in einem Film. Ich schaue mich um. Niemand scheint uns zu bemerken. Ich tu es. Und nichts passiert. Außer, dass meine Nasenschleimhaut weh tut. Der Kerl grinst breit. Er scheint zu wissen, warum ich so enttäuscht schaue.

„In ein paar Minuten fühlst du dich wie Gott“, behauptet er.

Er packt die Sachen in eine Umhängetasche und steht auf.

„Komm mit raus.“

Ich folge ihm. Er setzt sich auf einen Terrassenstuhl und lehnt sich zurück, seufzt. Ich setze mich ihm gegenüber und warte. Ich sehe mir die Sterne an, versinke in diesem Anblick. Minutenlang. Als ich wieder zu dem Kerl schaue, bemerke ich, dass er mich mustert. Er steht auf, kommt zu mir rüber und geht in die Knie. Er macht meine Hose auf. Ich wehre mich kurz, aber ich spüre diese Euphorie. Diese Vorfreude. So intensiv … Ich lehne mich zurück und warte darauf, seinen Mund zu spüren …

„Okay, das reicht“, höre ich plötzlich Pauls Stimme. „Verschwinde!“

Und schwupps ist der Kerl weg und ich sitze mit offener Hose vor meinem besten Freund.

„Tja, jetzt musst du wohl ran“, höre ich mich sagen.

Paul verzieht keine Miene. Er nimmt meine Hand und zieht mich ein bisschen unsanft auf die Beine. Ich mache meine Hose wieder zu. Ich weiß, dass ich sauer sein sollte, aber ich bin einfach zu gut drauf.

„Kann ich jemanden für dich anrufen?“, will Paul wissen.

Ich schaue ihn irritiert an.

„Bist du in einer Suchtgruppe oder sowas?“, fragt er.

„Wie, Suchtgruppe?“

Erst da fällt mir das Koks wieder ein. Ach, deshalb fühle ich mich so gut!

„Lass uns laufen gehen“, schlage ich vor und renne los.

Ich renne, springe, Tanze. Paul kommt mir kaum hinterher. Das Leben ist schön! Bis es das plötzlich nicht mehr ist. Ich stoße mir den Zeh an einem großen Stein und falle hin. Ich bleibe liegen, weil ich plötzlich die Last der Welt auf mir spüre. Mein Leben stinkt. Ich bin unglücklich. Max ist unglücklich. Ich tue den ganzen Tag nichts sinnvolles, bin nicht der Mann, der ich sein will. Ich will ein Kind. Und ich will ein Restaurant. Und ich will Liebe.

„Ich will doch nur geliebt werden“, schluchze ich in Pauls Armen und küsse ihn.

Er hat seine liebe Not, mich abzuwehren. Ich bin echt total am Arsch! Und ich friere. Was hab ich mir eigentlich dabei gedacht, im T-Shirt durch den deutschen Winter zu rennen? Paul bringt mich zurück ins Haus.

Ich wache in einem fremden Bett auf. Es ist fast Mittag, wenn man der Wanduhr glauben darf. Ich hab Muskelkater. Und Kopfschmerzen. Mir ist übel. Alles tut mir weh. Ich rufe Max an, aber er geht nicht dran. Da fällt mir die Zeitverschiebung wieder ein und ich lege schnell auf. Als ich das nächste Mal aufwache, wird es gerade schon wieder dunkel und ich habe drei Anrufe von meinen Eltern, zwei von Paul und einen von Max auf dem Handy. Ich rufe Paul an.

„Hey David. Wie geht’s dir?“

„Ich glaub nicht, dass ich aufstehen kann.“

„Bin in zehn Minuten bei dir. Bleib einfach, wo du bist. Ich schick dir Flo und Chrissy rein.“

„Bin ich noch in Chrissys Haus?“

„Jo.“

„Danke, Paul.“

„Kein Ding.“

Ich mag gar nicht an gestern denken. Aber ich bin Paul sehr sehr dankbar. Und ich vermisse Max. Ich will nach Hause. Denn Zuhause ist da, wo er ist.

Meine Freunde fragen nicht viel nach. Sie bringen mich nur nachhause. Ich will nur noch mit Max telefonieren und dann schlafen. Meine Eltern stellen viele Fragen, aber Paul übernimmt das für mich, erzählt was von einem verlorenen Saufspiel und sehr viel Wodka. Sie sind zwar nicht begeistert, aber besser sie denken, ich hätte einen Vollrausch zum ausbaden, als die Wahrheit.

Max ist nicht erreichbar. Er ist vermutlich in der Arbeit. Es ist ja schließlich mitten am Tag in Kalifornien. Um zwei Uhr früh wache ich auf, weil mein Magen wehtut wie die Hölle. Ich krümme mich vor Schmerzen, der Schweiß steht mir auf der Stirn. Ich glaub, ich muss sterben. Ich wähle Max‘ Nummer. Aber wieder ist er nicht zu erreichen, obwohl er jetzt längst Feierabend haben müsste. Ich knalle mein Handy gegen die Wand und versuche, wieder zu schlafen.

Am nächsten Morgen bin ich total gerädert, aber hellwach. Es ist Silvester. Klara und ich bereiten die Party vor und meine Eltern verziehen sich zu ihren Bekannten, bei denen sie heute Nacht Silvester feiern werden. Ich will noch schnell meine Wäsche machen, da finde ich einen Zettel in meiner Hosentasche. Die Nummer dieses Kerls. „Freddy, der Schneemann“ steht da, und dahinter ein Smiley. Bevor ich darüber nachdenken kann, rufe ich an und lade ihn für den Abend ein. Er sagt sofort zu.

Gegen acht trudeln die ersten Leute ein. Das Fondue ist schon angeheizt. Wir essen im engen Kreis, aber ab zehn wird die Bude richtig voll. Ich sehe Leute wieder, die ich seit der Schule komplett aus den Augen verloren habe. Irgendwer zwingt mich dazu, mir einen Facebook-Account zu erstellen. Ich bin zwar schon ziemlich dicht, kriege es aber grad so noch hin. Dann ist es Zeit für den Countdown. Jana ist plötzlich neben mir, gerade als ich anfangen will, Max zu vermissen. Wir zählen alle gemeinsam. Und dann beginnt das Jahr 2010 mit einem Neujahrskuss meiner Exfreundin und so vielen Leuten aus meiner Vergangenheit um mich rum. Jetzt geht die Party erst richtig los. Die Musik wird wild, die Leute tanzen, der Schneemann winkt mir zu. Wir gehen nach draußen und schauen dem Feuerwerk zu. Wir sind allein.

„Wie viel willst du?“

„Keine Ahnung, wie viel war das neulich?“

„Für zwei Gramm nehm ich nen Hunni.“

Ich schaue in meinen Geldbeutel.

„Ich hab 75 Dollar und zehn Euro.“

„Na, gut, weil du’s bist. Dann musst du mir aber was abgeben“, grinst er.

Während die Raketen über uns den Himmel erleuchten, ziehen wir auf dem Terrassentisch meiner Eltern zwei Lines.

„Eines noch:“, bitte ich, bevor ich meinen Anteil schnupfe. „Ich bin vergeben. Also kein Sex.“

„Ich tu nichts, was du nicht auch willst“, grinst Freddy und atmet das Zeug ein.

Er wartet, bis ich auch soweit bin, räumt alles wieder in seine Tasche und zieht mich mit sich weiter weg vom Haus, weiter Weg von allen Leuten. Wir haben eine super Aussicht auf das Feuerwerk. Hypnotisierend. Als ich wieder zu Freddy rübersehe, bemerke ich, dass er sich einen runterholt. Er sieht aus, als hätte er den besten Sex seines Lebens. Ich beschließe, dass Sex mit mir selbst okay ist und mache es ihm nach.

„Scheiße, ist das geil“, rufe ich, kurz bevor ich komme.

Ich glaube, mein Orgasmus dauert minutenlang. Ich lasse mich ins Gras fallen, laut lachend. Freddy fällt neben mich und kriegt sich auch gar nicht mehr ein.

„Ruf mich an, wenn du mehr willst“, flüstert er mir ins Ohr, nachdem wir uns beruhigt haben.

Dann drückt er mir einen Kuss auf die Wange und verschwindet.

Ich liege alleine in der Dunkelheit. Das Feuerwerk ist zu Ende. Mein Hochgefühl auch. Was mache ich da eigentlich?! Es fängt an zu schneien. Ich rufe Max an. Er geht nicht dran. Also rufe ich Jordan an. Ich weiß nicht, wieso.

„Hey, David!“, macht er freudig, schon nach dem ersten Klingeln.

„Hi“, gebe ich zurück und fange augenblicklich an zu weinen.

„Was ist los?“, fragt er alamiert.

„Ich bin high.“

„Wo bist du?“

„Im Garten meiner Eltern.“

„Bist du allein?“

„Ja.“

„Was hast du genommen?“

„Kokain. Und davor hab ich Gras geraucht. Und viel Alkohol getrunken. Und Leute geküsst. Und mir mit einem Dealer einen runtergeholt“, schniefe ich.

„Wow, stille Wasser“, lacht Jordan.

„Das ist nicht lustig“, fahre ich ihn an.

„Okay, hör mir gut zu. Du hast grad ein Koks-Tief. Das ist normal und geht vorbei. Ist irgendwer in deiner Nähe, dem du vertrauen kannst?“

„Paul.“

„Dann geh und such Paul. Lass dich von ihm trösten, trink viel Wasser und versuch zu schlafen. Morgen wirst du völlig fertig sein. Aber übermorgen ist die Welt wieder in Ordnung. Mach sowas einfach nie wieder.“

„Das war schon das zweite Mal.“

Jetzt scheint er beunruhigt zu sein:

„Du hast zuvor schon gekokst?“

„Vorgestern auf einer anderen Party…“

„David, es könnte sein, dass du ein Problem hast.“

„Ich hab ganz sicher ein Problem.“

„Scheiße, ich bin zu weit weg. Ich kann dir nicht helfen. Ich wünschte, du wärst hier bei mir.“

Mir wird irgendwie warm. Ich mag Jordan.

„Wünschte ich auch. Hier ist es so kalt“, schluchze ich.

„Geh zu Paul. Ich bleibe solange am Telefon.“

Ich stapfe durch den dunklen Garten zurück auf die Party. Ich komme an meiner Schwester vorbei, die mit einem Kerl rummacht und an Jana, die mit einer Freundin tanz. Dann sehe ich Paul. Er hat einen Dübel in der Hand und unterhält sich mit Flo und den Jungs. Ich gehe rüber und gebe ihm das Handy.

„Kannst du mit Jordan reden?“, bitte ich ihn.

„Was, warum?“, fragt er. Dann nimmt er das Handy ans Ohr und hört eine Weile schweigend zu. Er sieht mich ganz seltsam an. Dann sagt er irgendwas, das ich nicht verstehe und legt auf.

„Komm, wir gehen hoch.“

Er bringt mich in mein Zimmer, zu den Fitnessgeräten. Ich setze mich auf mein Bett.

„David, ich bleibe heute Nacht bei dir, okay?“

Ich nicke und lege mich hin. Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn ich habe einen Albtraum. Ich sehe mich allein in einer Bar, als alten Mann. Es ist mein 70. Geburtstag und keiner feiert mit mir. Ich habe keine Kinder und Enkel. Ich habe nur das Glas Whiskey vor mir. Schweißgebadet wache ich auf. Und weinend.

„Ich will ein Baby“, schluchze ich.

Paul liegt neben mir und muss erst mal richtig wach werden. Irritiert schaut er mich an:

„Was?“

„Ich will ein Baby. Und ich will heiraten. Und ich will mir was aufbauen, das bleibt.“

„David, leg dich hin und schlaf weiter.“

Ich gehorche.

Am nächsten Tag ist das Haus plötzlich sauber. Alle Partyspuren sind beseitigt. Das muss Klara gewesen sein. Es ist kurz nach eins. Ich habe eine SMS von Max.

„Happy new Year! Ich hoffe, du hattest eine gute Party. Meine war lahm.“

Ich antworte ihm, dass meine zu gut war und ich Kopfschmerzen habe. Und dass ich ihn liebe und küssen will. Dann schreibe ich Jordan noch eine Dankeschön-Nachricht. Und dann werfe ich die Nummer vom Schneemann in den Abfalleimer, in den ich wenig später auch kotze. Ich will sterben. Mein Magen dreht völlig durch. Die nächsten paar Stunden sind die schlimmsten meines Lebens. Paul ist da, bringt mir kühle Lappen für die Stirn und Wärmflaschen für den Bauch. Nie wieder Drogen!

Meine Schwester geht wohl davon aus, dass ich einen Kater habe. Genau wie meine Eltern, die am Abend zurückkommen. Sie lassen mich in Ruhe vor mich hin dämmern.

Nachts um drei bin ich plötzlich hellwach. Ich rufe Max an. Bei ihm ist es jetzt sechs Uhr Abends an einem Feiertag. Er muss also zuhause sein. Er nimmt tatsächlich ab. Wir begrüßen uns nur kurz und wechseln zu Skype.

„Du siehst aber mitgenommen aus“, findet er.

„Mir geht’s echt total beschissen.“

„Du hast doch nicht etwa Gras geraucht, oder?“

„Glaub mir, von Gras geht’s einem nicht so übel am nächsten Tag“, antworte ich ausweichend und bin froh, dass er nicht weiter nachfragt.

Er erzählt von der Party bei einem seiner Kollegen und von der Arbeit. Ich berichte, dass ich jetzt einen Facebook-Account habe und dass Paul eine Freundin hat. Max fragt nach Claudi und Thorsten. Die sind gestern gar nicht aufgetaucht. Komisch. Aber vielleicht hatten sie was Besseres vor. Party in der großen Stadt. Dann kann ich es nicht mehr für mich behalten:

„Ich will ein Baby. Jetzt.“

„Ehm … okay … wie stellst du dir DAS denn vor?“, fragt Max.

„Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie. Ich weiß nur, dass ich das will.“

„David, wir sind noch jung. Wir leben in einer Einzimmerwohnung …“

„Und wenn wir das Geld von deinen Eltern annehmen?“

„Das wolltest du doch nie …“

„Für ein Kind würde ich dieses Opfer schon bringen.“

„Aber David, Kinder wachsen nicht auf Bäumen …“

„Wir brauchen halt eine Leihmutter. Oder wir adoptieren. Oder wir tun uns mit nem Lesbenpaar zusammen, oder …“

„David, du redest wirres Zeug“, erklärt Max bestimmt. „Schlaf erst mal eine Runde. Wir reden darüber, wenn du wieder da bist, okay? Ich muss jetzt los ins Fitnessstudio.“

„Ich glaube, du willst gar keine Kinder. Deshalb redest du alles schlecht, was ich vorschlage“, behaupte ich aggressiv.

„Ich will nicht streiten. Gute Nacht, David.“

Damit legt er auf und ich werfe den nächstbesten Gegenstand gegen die Wand. Die Hantel hinterlässt eine Delle in der Rigipswand. Scheiße!

Am Nachmittag des zweiten Januars fühle ich mich wieder normal. Bis ich bei Facebook eine Freundschaftsanfrage von Noah bekomme. Fuck. Ich hätte die Seite vom Flags wohl doch nicht liken sollen. Jetzt hat er mich gefunden. Was denkt der sich eigentlich?! Ich rufe ihn an.

„Hallo David!“, höre ich seine überraschte Stimme.

„Was denkst du eigentlich? Dass wir einfach weiter Freunde sein können?“

„Ich verstehe, dass du wütend auf mich bist, aber …“

„Nein, Noah. Du verstehst gar nichts! Ich wollte ihn für dich verlassen! Ich war gerade auf dem Weg zu dir, um es dir zu sagen. Nur um zu sehen, wie du deine Zunge irgendeinem dahergelaufenen …“

„Dayu ist nicht irgendwer. Wir sind immer noch zusammen.“

Mir ist, als würde mich ein Pferd in den Magen treten. Ich kriege nichts mehr heraus, sondern lege einfach auf. Dann tue ich etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich gehe zur Mülltonne, fische den Müllbeutel aus meinem Zimmer heraus und fange an, in meiner eigenen Kotze nach der Nummer vom Schneemann zu wühlen. Ich finde den fleckigen Zettel genau in dem Moment, in dem mein Handy klingelt. Jordan.

„Guten Morgen!“, trällert er fröhlich.

„Ich hab grad in einer Mülltonne gewühlt, um die Nummer des Dealers wiederzufinden.“

„Okay, jetzt hast du definitiv ein Problem.“

„Meinst du?“, frage ich sarkastisch.

„Zerreiß die Nummer, schmeiß sie zurück in die Tonne und geh zu deinen Eltern. Erzähl ihnen, was mit dir los ist. Gib ihnen meine Nummer.“

„Spinnst du?! Ich kann meinen Eltern doch nicht erzählen, dass ich gekokst hab!“

„David, glaub mir, wenn du nicht reinen Tisch machst und dafür sorgst, dass sie auf dich aufpassen, dann landest du schnell so tief in der Sucht, dass du da nicht mehr allein rauskommst.“

„Die Drogen sind nicht mein Problem.“

Er lacht, fasst sich aber schnell wieder und sagt dann:

„Die Drogen sind nie das Problem. Aber die Drogen machen die Probleme so groß, dass du sie nicht mehr in den Griff bekommst. David, bitte vertrau mir da. Du musst radikal sein, sonst wird es richtig gefährlich.“

„Meinst du nicht, dass du überreagierst? Ich meine, was du damals genommen hast, war eine ganz andere Kategorie.“

„Ich hab auch nicht gleich beim ersten Mal Heroin gespritzt. Gras und Koks waren okay, solange es mir einigermaßen ging. Aber wenn ich irgendwelche Probleme hatte, dann hat das Koks alles nur schlimmer aussehen lassen. So schlimm, dass ich irgendwann so verzweifelt war, dass ich dachte, nichts mehr zu verlieren zu haben. Und du hast Probleme, David.“

„Ich kann meinen Eltern nichts davon sagen. Sie wären so enttäuscht von mir.“

„Stell dir vor, wie enttäuscht sie sein werden, wenn du dein ganzes Geld für Drogen ausgegeben hast und zu ihnen kommst, um sie anzupumpen.“

„Kann ich nicht mit Paul reden?“

„Nein, das habe wir versucht. Trotzdem wühlst du im Müll rum. Hast du den Zettel weggeschmissen?“

„Ja, hab ihn zerrissen und in die Kotze gesteckt.“

„Sehr gut, und jetzt geh zu deinen Eltern und gib ihnen meine Nummer. Ich warte hier auf ihren Anruf.“

„Du bist grausam.“

„Dafür sind Freunde da“, lacht er und legt auf.

Warum ist der eigentlich so gut drauf? Vielleicht sollte ich ihn mal wieder fragen, was bei ihm so los ist.

Mein Dad und Jordan telefonieren ein paar Minuten im Nebenraum, während meine Mum und ich schweigend über unserem Kaffee sitzen. Mein Vater kommt mit undurchdringlicher Miene in das Zimmer. Meine Mutter platzt hervor:

„Es sind Drogen, oder?“

Mein Vater nickt.

„Ich hab’s ja gewusst!“, behauptet Mum.

Ich rolle genervt die Augen, nehme mir aber vor, keine Diskussionen anzufangen.

„David, wie können wir dir helfen?“, will mein Vater wissen.

„Zuerst mal solltet ihr die Sache nicht so aufblasen. Ich hab zwei Mal mit Koks experimentiert, das war alles.“

„Das ist zwei Mal zu oft“, findet mein Vater und tätschelt die Hand meiner Mutter zur Beruhigung.

„Ist es, weil du unsere Trennung nicht verkraftet hast?“, fragt Mum vorsichtig.

Ich muss lachen: „Nein, mit euch hat das wirklich nichts zu tun.“

„Bist du nicht glücklich mit Max?“, fragt mein Vater.

Ich zucke die Schultern: „Doch, klar … es ist nur … wir sehen uns so selten und ich … ich komme mit meinem Leben irgendwie nicht weiter, versteht ihr?“

„So ging es mir damals auch, als dein Vater studiert hat und ich ständig wechselnde Jobs hatte, um uns finanziell über Wasser zu halten. Aber du bist doch noch jung, David. Du findest deinen Weg schon noch.“

„Meinst du? Aber alle um mich rum wissen so genau, wo sie hin wollen, und ich rudere nur so rum und schau, wie ich die Zeit rumbekomme …“

„Die Drogen werden das nicht besser machen, Sohn“, erklärt mein Vater ernst.

„Ich weiß“, schnaube ich. „Ich war in den letzten Tagen nicht ich selbst. Ich vermisse Max und meine alten Freunde so erwachsen zu sehen, das hat mich irgendwie fertig gemacht. Das wird sicher besser, wenn ich in ein paar Tagen wieder in den Staaten bin …“

„Du willst wieder zurück?!“, empört sich meine Mutter. „Kommt ja gar nicht in Frage! Ich lass dich in diesem Zustand doch nicht auf einen anderen Kontinent ziehen!“

„In DIESEM Zustand? Und was für ein Zustand soll das bitte sein?“

„Depressiv. Und süchtig“, erklärt sie sehr von sich selbst überzeugt.

Ich lache höhnisch und stehe auf.

„Setz dich wieder hin“, fordert mein Vater in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldet.

Ich gehorche.

„Mona, du dramatisierst die Situation. Aber David, du nimmst das auf die leichte Schulter. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Fakt ist, dass es dir nicht gut geht. Und Fakt ist, dass sich daran was ändern muss. Also nutze deine Zeit hier, um dir zu überlegen, was du willst und wie du es bekommst. Und jetzt ab auf dein Zimmer.“

Mum und ich sind zu baff um die widersprechen. Ich verziehe mich also, höre Musik, denke nach und mache Listen mit Sachen, die mir Spaß machen und Dingen die ich erreichen will. Die letzten Tage bei meinen Eltern werden zum absoluten Selbstfindungstrip.

Als Max mich am siebten Januar vom Flughafen abholt, weiß ich, was ich will und habe einen Plan.

Lesemodus deaktivieren (?)