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Summerways

Teil 6 - Wofür sind Freunde da?

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Inhaltsverzeichnis

 

David kommt am nächsten Tag nicht etwa mit dem Bus, sondern mit seinem Auto. Und seinem Wasserkocher, seinem Toaster und noch einiger anderer Haushaltsartikel, die er Max nicht überlassen wollte. Er wirkt weniger traurig als wütend. Während dem Mittagsschlaf der Kleinen setzen wir uns ins Wohnzimmer und reden.

„Ich dachte, bei euch liefe es besser?“

„Dachte ich auch. Dabei hatte er seit Weihnachten eine Affäre. Ich hätte nicht heimfliegen sollen. Ich wusste doch sofort, dass an der Sache was faul ist. Ich war sowas von blind.“

„Hast du ihn erwischt?“

„Nein, er hat gesagt, er wollte warten, bis er sich sicher ist. Er weiß jetzt, dass es mit dem Kerl was Ernstes ist und er hat sich für ihn entschieden. Ich soll ausziehen.“

„Was?! Einfach so? Das kann er doch nicht machen!“

„Naja, die Wohnung gehört zu seinem Stipendium. Er hat gesagt, er kommt erst mal bei dem Kerl unter, aber innerhalb der nächsten Woche soll ich bitte weg sein. Er war so gefühlskalt, Jordan. Ich kann es immer noch nicht so ganz fassen.“

„Was machst du denn jetzt? Kriegst du überhaupt einen Mietvertrag ohne Sozialversicherungsnummer und so?“

„Ich glaube nicht. Keine Ahnung. Aber selbst wenn, was soll ich denn dann machen? Ich kann ja wohl kaum am Campus studieren, wo er mir ständig über den Weg läuft. Ich weiß echt nicht, wo ich jetzt hin soll. Ich will auch nicht zurück nach Deutschland. Da war alles so … du weißt ja. Da ging es mir nicht gut.“

„Hast du hier auch Drogen genommen?“

„Nein.“

„Du weißt, dass du keine Drogen in meine Nähe bringen kannst?“

„Ich weiß. Hab ich ehrlich auch nicht vor. Vielleicht eine Flasche Wodka.“

„Glaub mir, Schokolade hilft besser über Trennungen hinweg als Alkohol. Ich hab da Erfahrung.“

„Ich will aber gar nicht über die Trennung hinweg kommen und mit meinem Leben weitermachen. Ich will die Zeit zurückdrehen und alles anders machen. Er ist doch mein Max. Das kann doch nicht einfach so vorbei sein! Wir gehören zusammen!“

„Ich weiß, dass sich das jetzt so anfühlt, als würdest du nie darüber hinwegkommen. Aber dein Leben wird weitergehen. Die Trennung wird immer ein Einschnitt in deiner Biografie bleiben, aber du wirst jemand anderen finden. Andere Sachen zu tun und zu denken. Und irgendwann wirst du gar nicht mehr so genau wissen, wie es eigentlich war, mit Max zusammen zu sein.“

„Ich will nie mehr jemanden so nah an mich ran lassen. Ab jetzt bin ich ein asexueller Einsiedler.“

„Ja, die Phase kenne ich.“

„Nein, das ist keine Phase. Das war’s für mich mit den Männern. Das lohnt nicht. Ich konzentriere mich jetzt auf meine Karriere.“

„Okay, guter Plan. Aber … welche Karriere? Was willst du machen?“

„Studieren.“

„Dann studier doch.“

„Aber wie soll ich dafür denn bezahlen? Hier in den Staaten ist das viel zu teuer. Zuhause könnte ich bei meinen Eltern wohnen und die Studiengebühren sind überschaubar … WAH! Was red ich da eigentlich?! Bei meinen Eltern wohnen?! … Was mach ich bloß?“

„Erst mal machst du gar nichts, außer dir zu überlegen, was du willst. Du kannst hier bleiben, solange du magst.“

„Danke.“

Das Babyphone schlägt an. Cooper ist schon wieder wach. Ich stöhne auf.

„Was mach ich bloß mit ihm?“

„Soll ich hoch gehen?“, fragt David.

„Klar, versuch ruhig dein Glück.“

Ich höre im Babyphone wie die Tür aufgeht und David zischende Geräusche macht:

„Shhhhhhh, shhh shhh shhh shhhhhhhhh.“

Cooper ist sofort still und scheint wirklich wieder einzuschlafen. Imposant.

David kommt mit dem Anflug eines Lächelns zurück auf die Couch.

„Du bist toll mit den Kindern“, finde ich.

Er wird wieder traurig.

„Ja, Kinder... vielleicht war das auch das Problem. Ich habe Max zu sehr gedrängt.“

„David, wenn du so einen starken Kinderwunsch hast und er sich das so überhaupt nicht vorstellen kann … vielleicht war es dann wirklich das Beste, dass ihr getrennt voneinander euer Glück sucht …?“

Er funkelt mich kurz wütend an, dann wird sein Blick wieder leer. Ich hasse es, David so zu sehen.

„Soll ich das Schokoeis holen?“, biete ich an.

„Ich geh schon. Wo ist es?“

„Die Gefriertruhe steht im Keller...“

Damit verschwindet er nach unten. Kaum ist er verschwunden, kommt Gwen die Treppe herunter.

„Mäuschen, ich dachte, du schaust oben My little Pony an?“

„Wird Mami nie wieder gesund?“

„Oh, Gwen ...“

Sie kuschelt sich auf meinen Schoß wie ein Baby.

„Mami ist sehr sehr krank. Aber sie hat die besten Ärzte. Und sie ist eine sehr starke Frau. Sie wird kämpfen, um wieder ganz gesund zu werden.“

„Ich vermisse sie so.“

„Ich weiß, Baby, ich weiß ...“

David hat wohl das Klavier im Keller entdeckt. Er spielt „My Way“. Gwen spitzt sofort die Ohren.

„Willst du runter und mitsingen?“, frage ich.

„Das ist „My Way“, oder?“

Ich nicke und bin ein bisschen stolz auf Gwen. Sie ist eine echte Sinatra-Kennerin. Und das findet man bei Siebenjährigen sicher nicht oft.

„Geh schon mal. Ich hole noch Schüsseln für's Eis, dann komm ich auch.“

Während die Babys schlafen, verbringen Gwen, David und ich unsere Zeit im Keller mit Klavier und Schokoeis. Ich bin sehr glücklich, die zwei wieder fröhlich zu sehen.

Als Gwen davongehüpft ist, um ein Liederbuch aus ihrem Zimmer zu holen, lege ich David eine Hand auf die Schulter:

„Bleib bei uns, David. Zumindest bis Nikki wieder für die Kinder da sein kann. Du tust der Familie gut. Und ich glaube, wir dir auch.“

Er schaut mich überrascht an, dann steht er auf und umarmt mich:

„Danke, Jordan. Danke, dass du dein Glück mit mir teilst.“

Abends, als Dylan von seinem Arbeitstreffen nachhause kommt, bringen er und ich die Kinder ins Bett und setzen uns dann mit David an den Esstisch, um in Ruhe zu essen und zu reden.

„Josh hat angerufen. Er will morgen vorbeikommen. Er hat den Tag mit Nikki verbracht und will jetzt Gwen und Cooper sehen“, erzählt Dylan.

„Okay, ich bin gespannt, was er Neues von Nikki zu erzählen hat... David und ich haben heute über die Zukunft gesprochen. Die nächsten paar Monate werden hart für die Kinder. Ich bin nicht sicher, ob ich es schaffe, ihnen alleine gerecht zu werden. Cooper braucht sehr viel Aufmerksamkeit. Die Babys wollen ihre neue Bewegungsfreiheit genießen und Gwen vermisst ihre Mutter ganz schrecklich ...“

„Soll ich weniger arbeiten?“, fragt Dylan sofort und ich liebe ihn dafür.

„Nein, ich weiß, dass du sehr glücklich damit bist, wie das Zentrum gerade läuft. Du sollst da weiter dran bleiben können. Ich hab David den Vorschlag gemacht, für die nächsten drei Monate hier zu bleiben. Bis Nikki wieder fitter ist. Er ist toll mit Cooper und Gwen hat ihn auch schon ins Herz geschlossen. Wir haben an eine Art Au Pair-Vertrag gedacht. Babysitten und Haushaltshilfen gegen Kost und Logie und ein bisschen Geld.“

Dylan denkt kurz nach, dann fragt er David:

„Das ist, was du jetzt willst?“

David nickt:

„Ja, ich brauche etwas Zeit, um mich neu zu sortieren. Und ich muss etwas Geld ansparen, um mir im Herbst die Uni leisten zu können. Das wäre also ideal für mich. Kannst du dir vorstellen, so lange einen Fremden im Haus zu haben, Dylan?“

„Du bist kein Fremder. Und du hast uns in einer schweren Zeit geholfen, indem du Jordan und die Babies bei dir aufgenommen hast. Fühl dich hier wie zu hause. Willkommen in der Familie, David.“

Sichtlich gerührt umarmt David meinen Mann und dann mich.

„So, und jetzt muss ich meine Eltern anrufen und ihnen alles erzählen. Sie sitzen vermutlich gerade beim Sonntags-Frühstück und ahnen nichts böses.“

Als David nach oben verschwunden ist, nimmt mein Mann meine Hand:

„Ich mag ihn.“

„Ja, ich auch.“

„Ja, ich weiß … Jordan … dir ist klar, dass du in ihn verschossen bist, oder?“

„Waaaas?!“

Dylan lächelt milde:

„Das ist kein Vorwurf. Nur eine Beobachtung.“

„Dylan, ich würde nie wieder ...“

„Ich weiß. Ich weiß, dass du mir nie wieder fremd gehen wirst. Deshalb habe ich auch zugestimmt, dass er hier einzieht. Ich will nur, dass du dir deiner Gefühle bewusst wirst, das ist alles.“

„Okay, ich … ich werde mal drauf achten. Ich meine, ich mag ihn wirklich gerne, als Freund. Und ich finde toll, wie er mit den Kindern umgeht, aber ...“

„Jordan, alles ist gut. Du musst dich nicht rechtfertigen. Mal verschossen zu sein, gehört zum Eheleben dazu. Ging mir auch schon so. Du kannst nur beeinflussen, was du tust, nicht wie du fühlst.“

„Ist das jetzt ein guter Zeitpunkt, um Xander zu erwähnen?“

Dylan lacht:

„Dafür gibt es vermutlich nie einen guten Zeitpunkt.“

„Ich hab ihn und Gaby für Mittwoch Abend eingeladen. Da hast du doch frei, oder?“

„Ja. Vielleicht sollten wir auch Vince und Ria fragen? So zur Auflockerung?“

„Gute Idee, ich schreib ihnen gleich.“

David

„Lenz“, höre ich meinen Vater etwas verschlafen ins Telefon sagen.

„Guten Morgen. Hab ich dich geweckt?“

„David? Oh. Was ist das für eine Nummer?“

„Jordans. Ich muss mit euch reden. Ist Mum auch da?“

Ich höre kurz ein Klicken, dann wird der zweite Hörer abgenommen und meine Mutter fragt besorgt:

„David? Alles okay? Um die Zeit rufst du sonst nicht an.“

„Hallo Mum.“

Ich kann nur mit Mühe meine Stimme davon abhalten, zu brechen. Ich muss schlucken, bevor ich weiterreden kann. Dann erzähle ich. Ich erzähle lange und detailreich von allem, was seit Weihnachten war. Und dann erzähle ich von Max' Heimkehr. Und dass wir uns ständig verpasst haben. Von der SMS und dann gebe ich unser Schlussmach-Gespräch fast im Wortlaut wider. Es ist mir egal, dass ich intime Details ausplaudere. Meine Eltern sollen wissen, was ihr Traum-Schwiegersohn für einer ist. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie Partei für ihn ergreifen würden. Deshalb darf ich sie nicht schonen.

„Und dann hab ich mein Auto mit allen Dingen vollgeladen, die wir von meinem Geld gekauft haben und bin nach L.A. gefahren.

„Wann kommst du nachhause?“, fragt meine Mutter.

„So ein Arschloch“, dröhnt mein Vater.

„Gert!“

„Ist doch wahr! Nach allem, was David für ihn aufgegeben hat! Wie kann er so kalt ...“

„Gert, aufregen kannst du dich später noch genug. Erst mal muss David nachhause kommen“, findet meine Mutter.

„Ich komme nicht heim, Mama.“

„Aber ...“

„Ich bleibe jetzt erst mal ein paar Monate bei Jordan und seiner Familie. Und im Herbst werde ich Gastronomie-Management studieren. Das Ziel ist, irgendwann ein eigenes Restaurant zu haben. Darauf arbeite ich jetzt hin.“

„Aber das kannst du doch auch in München!“

„Nein. Wenn ich jetzt zurückgehe, dann hab ich mich die ganze Zeit nur im Kreis gedreht. Ich kann nicht heim kommen. Ich bleibe hier, vorerst.“

„David, ich mach mir Sorgen um dich ...“

„Mum, ich werde das überleben.“

Ich weiß selbst nicht, wo ich die Gewissheit hernehme, aber ich spüre es. Ich werde das überleben.

Jordan sitzt mit seiner Gitarre im Wohnzimmer und probiert einen Song. Dylan sitzt daneben und starrt in seinen Laptop.

„Steuererklärung“, erklärt er knapp und vertieft sich dann wieder.

Jordan legt seine Gitarre weg und schaut mich fragend an.

„Mein Dad ist ziemlich sauer auf Max. Das finde ich gut. Meine Mum macht sich Sorgen.“

„Das ist ihr Job. Du siehst aus als würde es dir besser gehen.“

„Ja, das tut es tatsächlich. Ich hab jetzt einen Plan vom Leben. Und nur ich bin dafür verantwortlich, dass das klappt. Wenn ich in die Zukunft schaue, geht es mir gut. Zurückschauen … das kann ich noch nicht. Ich hab zu viel verloren. Zeit, Geld, Menschen …“

„Dann konzentrierst du dich eben auf die Zukunft. Hört sich gesund an.“

„Spielst du mir was vor?“

Jordan

Ich schaue kurz zu Dylan. Er weiß, welchen Song mir unter den Nägeln brennt. Der, den ich ihm immer vorspiele, wenn er Aufmunterung braucht. Er grinst schief und nickt. Springsteen: „The Rising“. Da kann keiner mehr auf der Couch sitzen bleiben. Die zwei tanzen durch den Raum und grinsen.

„Danke“, sagt David, immer noch etwas außer Atem. „Ich geh jetzt schlafen. Wann soll ich morgen früh aufstehen?“

„Sonntags lassen wir es ruhig angehen. Die Kleinen wachen meistens um halb 8 auf und dann wird erst mal gekuschelt. Also schlaf ruhig aus.“

„Alles klar, gute Nacht, ihr zwei.“

„Nacht, David.“

Mein Mann wartet kaum, bis David auf der Treppe ist, dann kuschelt er sich schon zwischen mich und meine Gitarre.

„Leg das Ding weg und nimm lieber mich.“

„Wenn ich dir den Springsteen mache, kannst du einfach nicht widerstehen, was?“, grinse ich und ziehe ihn auf mich.

Wir küssen uns ein paar Minuten innig, dann schiebt mich Dylan ein Stück zurück.

„Oh-oh, was ist los?“, frage ich, weil ich an seinem Blick sofort sehe, dass etwas nicht stimmt.

„Ich weiß, das Timing ist total scheiße, aber ich muss dir was sagen ...“

„Was?“

„Die Bedrohungslage im Zentrum … die Polizei meint, wir sollten Vorkehrungen treffen. Hier zuhause.“

Jetzt bin ich der Panik nahe.

„Was ist los? Wer droht dir? Sind die Kinder in Gefahr?“

„In Trevors Gang war es jetzt lange ruhig. Er hatte letzte Woche eine Anhörung. Jetzt steht fest, dass er 15 Jahre im Knast sitzen wird. Ohne die Chance auf Bewährung. In seinem Alter bedeutet das, dass er nichts mehr zu verlieren hat. Einige seiner Erzfeinde haben in den letzten Tagen nachts Besuch bekommen. Es sind Leute gestorben. Es gab auch schon Festnahmen. Aber es kann sein, dass es auch jemand auf mich abgesehen hat. Und Trevor ist bekannt dafür, dass er auch auf das Umfeld losgeht. Ich glaube nicht, dass er den Kindern was tun würde. Aber ich hab Angst um dich, Jordan. Er hat dich kennengelernt. Ich denke, das könnte dich zur Zielscheibe gemacht haben ...“

„Scheiße, das ist meine Schuld. Hätte ich dich bloß nicht zu dieser Knast-Sache überredet ...“

„Das ist nicht deine Schuld. Und ich bereue auch nicht, dass wir das gemacht haben. Sonst wären wir jetzt vielleicht nicht wieder zusammen ...“

„Was können wir also tun?“

„Morgen werde ich mit David, Gwen, Josh und dir ein paar Sicherheitsübungen machen. Ich hab für die nächsten paar Nächte Leute vor dem Haus und … und dein Vater hat auch seine Hilfe angeboten.“

„Mein Vater? Du redest mit meinem Vater über das? Und wie soll er dabei eigentlich helfen?“

„Ich weiß, du hörst das nicht gern. Aber dein Vater ist gut vernetzt in … bestimmten Kreisen. Er kennt Leute die Leute kennen ….“

„Du willst die Strukturen der Mafia nutzen?!“

„Nein, er soll sie für uns nutzen. Die meisten Infos über Trevors Aktivitäten hab ich nicht von der Polizei, sondern von deinem Vater, Jordan ...“

Ich halte mir die Ohren zu:

„Davon will ich nichts hören.“

„Tut mir Leid, Jordan. Ich würde dir das nicht erzählen, wenn es nicht nötig wäre.“

Er biegt mir sanft aber bestimmt die Hände zur Seite:

„Du musst hören, was ich dir jetzt zu sagen habe: Wenn mir jemals etwas zustößt ...“

„Nein, Dylan.“

„Doch, du musst das jetzt hören. Wenn mir jemals etwas zustößt, dann halt dich an deinen Vater. Er wird euch beschützen und er wird für euch sorgen. Er weiß, wer der Feind ist und wo man ihn treffen kann. Aber Jordan, hör mir gut zu: Wenn mir etwas passiert und dein Vater bietet dir Rache an, tu es nicht. Das würde dich deine Seele kosten. Verstehst du das? Es ist verdammt wichtig, dass du hörst, was ich sage: Wenn du mich verlierst, schau nach vorne. Lass dich auf keine Deals ein, begib dich nicht in Gefahr. Alles was dann zählt, sind die Kinder, die Zukunft. Versprich es.“

Er hält mein Gesicht fest zwischen seinen Händen und starrt mich aus ängstlich aufgerissenen Augen an.

„Versprich es, Jordan.“

„Ich verspreche es.“

Er zieht mich in eine feste Umarmung, scheint mich nie wieder loslassen zu wollen. So verängstigt hab ich ihn noch nie erlebt. Fast wünsche ich mir wieder den abgebrühten Dylan herbei, der keine Bedrohung ernst nimmt.

Beim Frühstück erklärt Dylan Gwen, dass er vorhat, uns heute zu zeigen wie man sich in einer Notsituation verhält. Bei Feuer, Sturm, Einbruch, wenn jemand krank ist … Gwen scheint das zu interessieren, deshalb muss Dylan gleich nach dem Frühstück mit ihr Notruf-Absetzen üben.

Gegen neun kommt Josh nachhause. Ich stelle ihm erst mal David vor, dann verziehen wir uns zum Gemüsegarten.

„Wie geht’s deiner Mum?“

„Beschissen. Echt beschissen. Sie ist zu schwach zum Laufen und sieht total … sie sieht aus wie eine Leiche.“

„Es muss schwer für dich sein, sie so zu sehen.“

„Es ist einfach so verdammt unfair. Jetzt, wo sie ihr Leben endlich auf die Reihe kriegt, kommt der Krebs und macht ihr alles kaputt. Wenn man sie sieht, kann man nicht glauben, dass sie die Chance hat, wieder die Alte zu werden.“

„Was sagen die Ärzte?“

„Sie sagen, es ist zu früh um was zu sagen.“

„Können wir ihr irgendwie helfen? Oder Oliver?“

„Nein, ich glaube ihr tut schon das Beste: Auf Gwen und Cooper aufpassen. Alles andere müssen die zwei alleine schaffen. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich es schaffe, sie so bald wieder zu besuchen. Die Bilder brennen sich einfach zu sehr ein.“

„Verstehe ich. Und ich bin sicher, deine Mum versteht es auch.“

„Braucht ihr mich hier?“

„Warum? Brauchst du einen Grund, um seltener in Chicago zu sein? Alles okay bei dir?“

„Klar. Kate ist nur sehr mit ihren Kursen beschäftigt. Wir leben grad in zwei unterschiedlichen Welten... Ich kann es gar nicht erwarten, endlich meinen Abschluss zu haben. Mir reicht's mit Highschool.“

„Hast du schon Freunde gefunden?“

„Nicht wirklich, aber ich bin ja noch nicht lange dort.“

„Ich weiß aus Erfahrung, dass es schwer ist, in bestehende Cliquen-Strukturen reinzukommen.“

„Ja, du hast im letzten Jahr gewechselt, oder?“

„Genau, und Sean kennengelernt.“

„Lässt du mich jetzt endlich mal dein Buch lesen?“

„Du bist zu jung.“

„Ich bin 17. So alt wie Sean, als ihr zusammengekommen seid.“

Ich schnaube, finde aber kein wirklich gutes Argument.

„Mal sehen … vielleicht wenn hier alles ruhiger ist. Dann geb ich dir mal ein paar ausgewählte Seiten ...“

„Ach Dad, in meinem Alter hast du ...“

„Josh, ich war nie in deinem Alter. Ich war erst ein Kind und dann ein Junky. Eine normale Pubertät hatte ich nie.“

Er nickt weil er merkt, dass er keine Chance hat.

„Ich fände es jedenfalls gut, wenn du in den nächsten Wochen möglichst wenig Zeit hier verbringen würdest.“

Josh schaut mich fragen an. Ich erzähle ihm von den Drohungen gegen Dylan und der bevorstehenden Sicherheitsübung. Dann bittet Dylan uns auch schon alle ins Wohnzimmer.

Fast eine Stunde lang werden wir durch Haus und Garten geführt. Wir erfahren, wie Rauchmelder funktionieren, wo Kameras versteckt sind, welche Fluchtwege es gibt – vor Feuer und bösen Menschen. Dylan hat sogar eine der großen, langen Zaunlatten des Sichtschutzzauns hinter dem Haus losgeschraubt, so dass man über das Nachbargrundstück fliehen kann. Er hat in der Gartenhütte Rucksäcke deponiert mit Geld, Kleidung, Wickelsachen und allem, was man für eine Woche im Hotel sonst so braucht. Er zeigt mir noch, wo unsere wichtigsten Dokumente liegen. Dann scheint er zufrieden zu sein.

„Jetzt seid ihr gut vorbereitet.“

Ich mache mir etwas Sorgen um Gwen, aber sie grinst und scheint das Ganze für ein Spiel zu halten. David und Josh hingegen, sehen blass aus. Ich nehme David beiseite:

„Wenn du unter diesen Umständen nicht hier leben willst, verstehe ich das...“

„Nein! Nein, auf keinen Fall. Ich will hier sein. Stell dir vor, du bist allein mit vier Kindern und irgendwer … irgendwer kommt.“

Ich schlucke.

„Am liebsten würde ich Dylan und die Kinder einpacken und wieder nach Deutschland fliegen ...“, gebe ich zu.

„Aber?“

„Aber Dylan würde das Zentrum nicht für lange verlassen, Cooper kann ich nicht so einfach ohne einen Elternteil auf einen anderen Kontinent bringen, Gwen muss in die Schule … und wir können uns auch nicht ewig verstecken, also … müssen wir es uns hier so sicher wie möglich machen.“

Am nächsten Vormittag installiert eine Sicherheitsfirma eine Alarmanlage und Fenstersicherungen im ganzen Haus. Wir nutzen die Gelegenheit gleich, um zu sechst das Klavier aus dem Keller hoch ins Wohnzimmer zu tragen. Jetzt muss es bloß noch neu gestimmt werden. Das kann Tobey. Er wird im Lauf der Woche mal vorbeischauen.

Dylan fährt Gwen zur Schule und holt sie wieder ab, bevor er um zwei ins Zentrum fährt. Den Nachmittag verbringen David und ich mit den Kindern in einem Park sehr weit weg von zuhause. Sicher ist sicher. Wir entspannen uns beide erst, als die Kinder im Bett sind und Dylan kurz nach neun nachhause kommt. Soll das jetzt jeden Tag so sein?

Wir überlegen, ob wir überhaupt noch fremde Menschen zu uns nachhause einladen können, oder ob es hier zu gefährlich ist, für Gwens Spieldates, die schwangere Gaby, Tobey mit Baby? Dylan beruhigt uns und erklärt, dass die größte Gefahr nach Einbruch der Dunkelheit besteht, wenn im Haus alles ruhig wird. Viele Menschen sind gut, wir sollen immer dafür sorgen, dass was los ist.

Also kommt Tobey mit der kleinen Josephine vorbei und stimmt das Klavier, spielt danach mit Gwen im Duett den Flohwalzer, singt mit David Sinatra und mit mir ein paar unserer alten Songs. Die Kleinkinder sind total begeistert und tanzen fast eine Stunde lang durchs Wohnzimmer und Gwen bittet David, ihr das Klavierspielen beizubringen. Gitarre ist abgeschrieben.

„Wow, in Tobey könnte man sich verlieben“, seufzt Gwen, nachdem die Haustür zu ist.

„Jaaaaa,“ findet David.

Ich spüre Eifersucht in mir aufkeimen. Gwen soll gefälligst mich am allertollsten finden, und niemanden sonst.

David

Jordan bringt die müden Kinder ins Bett, während ich schon mal anfange, das Abendessen für die Erwachsenen vorzubereiten. Er ist nervös, weil er Xander wiedersehen wird. Ich bin nervös, weil Ria und Vince auch da sein werden und ich es hasse, Geheimnisse zu bewahren. Ria überlegt, mit Vince Schluss zu machen, und wahrscheinlich hat Max auch mit ihr darüber gesprochen, mit mir Schluss zu machen. Sie wusste vermutlich schon seid der Ausstellungseröffnung damals, was auf mich zukommt. Und wahrscheinlich berichtet sie nach heute Abend Max haarklein darüber, wie es mir geht. Ich beschließe also, mich herauszuputzen und bester Stimmung zu sein.

„Wow, gut siehst du aus“, findet Dylan, als er nachhause kommt.

„Vielen Dank“, lächle ich. „Jordan bringt grad die Kinder ins Bett. Sie waren zu müde, er konnte nicht mehr auf dich warten.“

„Schade … Kann ich dir was helfen?“

„Gerne. Die Suppe kocht schon, Reis kochen steht an. Und Salat putzen.“

„Wird gemacht.“

„Dylan?“

„Hm?“

„Wie geht’s dir mit heute Abend?“

Er zuckt die Schultern:

„Mit allem, was momentan los ist, hatte ich gar keine Gelegenheit, mir darüber Gedanken zu machen. Ich bin jedenfalls nicht eifersüchtig, aber … die Vorstellung, dass der kleine Junge vielleicht Jordans Erbgut trägt und bei mir fast fremden Leuten aufwächst, … das passt mir nicht so wirklich.“

„Findest du, Jordan und du solltest euch an der Erziehung beteiligen, wenn das Kind von ihm ist?“

„Keine Ahnung, ich weiß nur, wenn es meines wäre, würde ich es nicht aushalten, nur Pate zu sein. Ich würde Vater sein wollen. Aber vielleicht ist mein Urteilsvermögen auch getrübt. Ich hab grad einfach den starken Wunsch, noch ein Baby zu bekommen. Aber Jordan kann sich das noch nicht vorstellen, und er hat natürlich recht. Das Haus ist voll, die Zwillinge und Cooper brauchen noch viel Aufmerksamkeit und ich arbeite zu viel …“

Ich nicke verständnisvoll, kann aber nichts weiter dazu sagen, weil ich nur zu gut weiß, wie sich das anfühlt.

Jordan kommt erst die Treppe herunter, als das Essen schon fast fertig ist und es schon an der Tür klingelt.

„Jake konnte einfach nicht ohne mich einschlafen. Und wenn ich da fast eine Stunde liege, dann würde ich am liebsten auch gar nicht mehr aufstehen. Vor allem, weil ich weiß, dass er in zwei Stunden sowieso wieder aufwacht und das Spiel von vorne los geht. Bin ich froh, wenn die Zwillinge groß sind.“

Ich sehe richtig, wie der Satz Dylan einen Stich ins Herz versetzt, aber er lässt sich weiter nichts anmerken, sondern geht zur Tür und lässt Vince und Ria herein.

„Wow“, macht er und „Wow“, machen gleich darauf auch Jordan und ich.

„Ria, bist du das?“, fragt Jordan und schaut sie an, als wäre sie ein seltenes Insekt, das er gerade entdeckt hat.

„Hey Großer“, lacht sie. Oder er?

Ria trägt Männerkleidung, ihre Haare hat sie zu einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden und – das ist die gravierendste Veränderung – sie trägt kein Make-Up.

„Wie kommt's?“, will Jordan wissen und wirft Vince einen seltsamen Blick zu.

„Mir war danach. In letzter Zeit ist mir öfter danach … aber … wollen wir uns vielleicht erst mal setzen?“

Dylan führt die Truppe zum gedeckten Esstisch. Jordan mustert Ria immer noch unverhohlen.

„Überlegst du, die Hormontherapie zu machen?“

„Ja.“

„Und das Geld dafür?“

Ria wirft Vince einen Blick zu, der erklärt:

„Ich hab eine Stiftung gegründet, die es Menschen ermöglicht, ihr Geschlecht anzupassen, auch wenn sie nicht die Kohle für die teuren Therapien und Operationen haben.“

„Wie praktisch“, findet Jordan und fängt sich dafür von Vince einen ärgerlichen Blick ein.

Ob Ria deshalb immer noch mit Vince zusammen ist? Weil sie hinter seinem Geld her ist?

Es klingelt wieder. Jordan will aufstehen, aber Dylan bedeutet ihm, dass er das macht. Kurz darauf kommt er mit einem Gesichtsausdruck zurück ins Esszimmer, der uns sagt, wir sollen uns auf was gefasst machen.

Zuerst kommt eine ziemlich schwangere Gaby herein. Jordan begrüßt sie freudig und streichelt ihren Bauch anerkennend.

Dann - nach einer Spannungspause – schreitet Xander herein. Auch wenn er schon immer androgyn unterwegs war, jetzt sieht er definitiv weiblich aus. Er trägt hohe Absätze, ein Spaghettiträger-Top und dunkelroten Lippenstift. Jordan macht ein seltsames Geräusch.

„Hi, Jordan“, haucht Xander.

„Äh, hallo“, macht Jordan blöde und steht auf, um Xander mit einer Umarmung zu begrüßen.

„Du riechst ganz anders“, sagt er halblaut.

Xander kichert „Und sonst fällt dir nichts auf?“

Jordan bringt es nicht fertig, darüber zu lächeln. Er schaut ehrlich geschockt aus. Gaby tätschelt seine Schulter:

„Ich hab auch eine Weile gebraucht, um mich daran zu gewöhnen ...“

„Ich schlage vor, wir essen erst mal die Suppe.“

Dylans Vorschlag finden alle gut, das Tischgespräch kommt nur sehr stockend in Gang. Zum Glück kann man sich bei Jordan drauf verlassen, dass er nicht um den heißen Brei herumredet:

„Und ihr beide wollt jetzt quasi Geschlecht tauschen, oder wie?“

„Wir wollen beide auch nach Außen zeigen, welchem inneren Geschlecht wir uns zuordnen“, erklärt Xander oberlehrerhaft.

„Oh bitte, erspar mir das politisch korrekte Gelaber. Wie weit willst du damit gehen, Xander? Willst du dich operieren lassen?“

„Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, aber ja, das ist das Ziel.“

„Und wofür das Ganze?“

„Wofür? Damit ich endlich ein Ganzes bin, als Person. Damit mein Äußeres endlich zu meinem Inneren passt.“

„Ganz ehrlich, Xander? Ich glaub nicht, dass dein Geschlecht dein Problem ist.“

„Ganz ehrlich, Jordan? Das kannst DU nicht für mich beurteilen. Und nenn mich bitte Sina.“

„Du hast deinen Namen geändert?“

„Ja, bitte respektiere diesen Akt der Selbstbestimmtheit.“

Jordan verdreht die Augen, verschränkt die Arme und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Das macht klar, dass er nicht mehr an der Diskussion teilnehmen will.

Vince versucht es, mit versöhnlichem Ton:

„Also ich finde es sehr mutig, dass ihr beide das angeht. Und ich finde, dass es ganz allein eure Entscheidung ist, wie ihr euren Körper gestaltet.“

Jordan meldet sich doch noch mal zu Wort:

„Klar, aber gestalten ist das eine, eine medizinisch total unnötige OP mit großen Risiken ist das andere. Und Ria, ich rede hier nicht von dir. Ich verstehe total, dass du zwei Herzen in deiner Brust hast, und dass es ein langer Weg wird, herauszufinden, ob und wie du dich entscheidest. Aber Xander, Verzeihung, Sina … du rennst mal wieder vor deinen eigentlichen Konflikten davon und versuchst, ein Problem zu beheben, das eigentlich gar nicht existiert.“

„Das ist mal echt anmaßend, selbst für dich. Ich hatte wirklich gehofft, dass du wenigstens ein klein bisschen Verständnis für mich aufbringen kannst. Oder wenigsten den Anstand hättest, so zu tun.“

„Sorry, Anstand ist nicht mein Fachgebiet“, blökt Jordan und lehnt sich wieder demonstrativ zurück.

Das Babyphone schlägt an und Jordan ist sofort auf den Beinen und verschwindet nach oben.

Wir anderen schauen uns betreten an. Mann, Jordan weiß echt, wie man Konflikte auf den Tisch packt. Dylan entschuldigt sich und geht ebenfalls nach oben.

Jordan

„Schatz“, flüstert mein Mann im Flur. „Braucht er ne Flasche?“

„Nein, ich glaub er ist schon wieder im Land der Träume.“

Dylan kommt rein und legt seine Arme um mich und das Kind auf meinem Arm.

„War ich zu hart zu ihm?“

Dylan deutet mir an, das Kind wieder ins Bett zu legen und mit raus zu kommen.

Als ich die Kinderzimmertür leise zugezogen habe, antwortet er:

„Warum warst du so hart zu ihm?“

„Ich hab keinen Schimmer. Keine Ahnung, warum das Thema mich so in Rage bringt.“

„Ich hab da ne Theorie“, erklärt mein Mann.

„Ja?“

„Du denkst nicht wie die meisten anderen Menschen. In deinem Kopf sind die Geschlechter nicht so geteilt, wie bei uns Normalsterblichen. Es macht für dich keinen großen Unterschied, ob jemand eine Frau, ein Mann oder irgendwas dazwischen ist. Das seh ich jeden Tag, wenn du mit den Kindern spielst. Du gibst nicht automatisch April die Puppe und Jake den Ball. Und man sieht das auch daran, dass du dir Liebespartner nicht nach Geschlecht aussuchst. Deshalb muss es dir vorkommen, wie totale Kinkerlitzchen, wenn jemand sagt, er sei im falschen Körper. Wenn du als Frau geboren wärst, dann wärst du vermutlich genau so wie jetzt als Mann. Gesellschaftliche Normen und die Rollen, die dadurch aufgezwungen werden, spürst du einfach nicht. Xander aber schon. Für ihn ist eine Geschlechtsumwandlung eine Möglichkeit, zu kontrollieren, welche Erwartungen an ihn gestellt werden. Und vielleicht passen da die weiblichen Erwartungen einfach besser.“

Ich muss seine Worte erst mal sacken lassen. Dann muss ich ihn küssen:

„Du bist so schrecklich weise.“

„Und du bist so schrecklich geradlinig. Du solltest dich entschuldigen.“

Ich verdrehe die Augen, weiß aber, dass er Recht hat.

Also setze ich mich unter wieder an meinen Platz und reiche Xander die Hand:

„Es tut mir Leid, ich war zu schroff. Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich brauch nur Zeit, das alles einzuordnen.“

„Für mich war das schwerste, zu verstehen, warum Xander den Körper, den ich so liebe, nicht genau so lieben kann, wie ich“, erklärt Gaby.

„Ja, da ist was dran“, finde ich, werfe Dylan aber gleich danach einen entschuldigenden Blick zu.

Er nimmt meine Hand und signalisiert, dass er versteht, wie es mir geht.

„Also, wie geht es dem Baby im Bauch?“, will ich wissen.

Gaby lächelt verzückt:

„Ihm geht es blendend. Er ist gesund und munter und ...“

„Und er ist nicht von dir“, fällt ihr Xander ins Wort.“

„Woher …?“

„Wir haben einen Gentest machen lassen, um Erbkrankheiten auszuschließen. In Gabys Familie gibt es eine Veranlagung. Und dabei kam raus, dass er mein Sohn ist.“

„Ich dachte, pränatale Vaterschaftstests sind illegal?“, wirft Dylan ein.

„Wir haben den Test im Ausland durchführen lassen.“

„Ganz schöner Aufwand dafür, dass ihr doch behauptet habt, euch sei egal, wer der Vater ist“, finde ich.

„Uns war es wichtig, herauszufinden, ob er gesund ist, oder ob er besondere Aufmerksamkeit brauchen wird.“

„Und den Vaterschaftstest hat das Labor dann einfach gleich mit gemacht?“, hake ich nach.

„Nein, den haben wir auch beauftragt.“

„Und warum?“

„Um Gewissheit zu haben.“

„Obwohl es egal ist, wer der Vater ist? Klar ...“

Dylan tätschelt meine Hand, um mir zu verstehen zu geben, dass ich mich nicht hineinsteigern soll. Er hat ja recht. Ich bin plötzlich sehr sehr froh, dass die beiden nicht mein Kind aufziehen werden.

Gleich nach dem Hauptgang behauptet Gaby, sie sei sehr müde. Auch Ria und Vince verbreiten Aufbruchstimmung. So verabschieden sich alle um kurz nach neun.

„Ich hab das Gefühl, du wirst nicht der Pate von dem Baby“, grinst David.

„Und ich bin froh, dass er nicht von dir ist“, seufzt Dylan.

„Und ich bin froh, dass ich jetzt nur noch mit euch beiden das Dessert teilen muss.“

David

Wir sitzen zu dritt am Esstisch und jeder löffelt versonnen Zabaione-Creme in sich hinein.

„Was geht euch durch den Kopf?“, fragt Jordan.

Weder Dylan, noch ich sind scharf drauf, unsere Gedanken zu teilen.

„Na kommt schon! Erzählt es mir. Ich bin doch so ein verständnisvoller Zuhörer.“

Dylan und ich prusten los. Jordan zieht eine Schnute und seinen Mann in eine Umarmung.

Dann schaut er aber wieder ernsthaft in meine Richtung.

„Was ist los?“

„Ich kenne ein Geheimnis, hab aber Max versprochen, es nicht weiter zu sagen.“

Dylan fragt:

„Soll ich euch lieber allein lassen?“

„Nein, das ist okay. Ich … ich bin ja auch Max wirklich nichts mehr schuldig. Also gut: Ich weiß, dass Ria schon sehr lange überlegt, mit Vince Schluss zu machen. Sie kommt nicht gut mit der Tatsache klar, dass er Vater ist. Und jetzt frag ich mich, ob sie nur des Geldes wegen bei Vince bleibt.“

„Definitiv“, nickt Jordan. „Aber Vince ist nicht blöd, er weiß, worauf er sich einlässt.“

„Du wusstest davon?“

„Ria hat schon immer ein Problem mit dem Altersunterschied. Aber grad ist es für beide einfach am bequemsten, zusammenzubleiben. Ich glaube, keiner der beiden geht davon aus, dass es die große Liebe ist.“

„Und für Vince ist es okay, ihr trotzdem die Behandlung zu bezahlen?“

„Vince weiß überhaupt nicht, wohin mit seiner Kohle, von dem her ist das wohl ne ganz sinnvolle Investition. So, Dylan, und was ist bei dir los?“

Er wirft mir einen kurzen Blick zu, deshalb verabschiede ich mich und gehe mit meiner Schüssel hoch in mein Zimmer. Aber ich weiß, dass es gleich um die Frage gehen wird, ob und wann hier noch ein Baby großwerden soll.

Als ich an meinem Laptop sitze, denke ich daran zurück, wie Max und ich beschlossen haben, uns zu verloben. Ich denke an seine Worte und fange an, alles aufzuschreiben und höre die halbe Nacht nicht damit auf. Bevor ich meine Zukunft beginnen kann, muss ich erst meine Vergangenheit ordnen und abschließen. Als ich dann endlich schlafe, habe ich einen leicht verstörenden Traum, in dem ich mit Dylan ein Baby habe.

Am Morgen bleibe ich noch etwas länger im Bett und rufe Paul an, um ihm zu erzählen, was passiert ist. Gegen neun muss ich aber aufstehen, weil ich höre, wie Cooper schreit und tobt und weiß, dass Jordan und Dylan gerade mit den Zwillingen beschäftigt sind. Noch ein Baby ist hier gerade wirklich keine Option. Ich hoffe, Jordan konnte das Dylan gestern schonend beibringen.

„Hey Cooper, kann ich dir helfen?“, frage ich und er wirft mir die Brotbox hin, die er nicht aufbekommt. Ich öffne sie und gebe ihn ein paar der Salzstangen heraus.

„Na, Snackfrühstück für dich heute, hm? Komm, wir schauen mal, warum Jake so weint.“

Jordan wickelt gerade April und Dylan versucht, Jake zu beruhigen. Ohne Erfolg.

„Ob er Schmerzen hat?“, mutmaßt Jordan.

„Ich glaube nicht, er ist nur sehr sehr müde, weil er heute Nacht nicht gut geschlafen hat“, vermutet Dylan.

„Guten Morgen. Soll ich ihn mir ins Tragetuch binden? Du musst nachher los, oder Jordan?“

„Oh Fuck, das hab ich ja total vergessen! Ich muss ja diesen Club anschauen! Wie lange bist du noch daheim, Dylan?“

„Ich hole Gwen um 12 von der Schule, bringe sie heim zum Essen und fahre dann los ins Zentrum. Mein Auto muss in die Inspektion. Ich nehm also den Bus. Jemand von der Werkstatt holt das Auto im Lauf des Nachmittags ab.“

„Okay, ich glaube aber nicht, dass ich zuhause bin, bevor du los musst. David, kann ich dich mit den vier Kids alleine lassen? Oder soll ich die Zwillinge lieber mit nehmen?“

„Zu deinem Termin? Quatsch, das ist doch nur Stress für alle Beteiligten. Ich schaff das schon, ist ja nicht für lange. Und am Vormittag ist Dylan ja auch noch da. Das geht schon.“

Jordan verabschiedet sich also eine halbe Stunde später von den Kindern und – mitten in Coopers Trotzanfall – auch von Dylan.

„Wir sehn uns heute Abend. Kannst du den Müll mit raus nehmen? Ich hab die Hände voll.“

„Mach ich“, schreit Dylan, um Cooper zu übertönen und winkt Jordan hinterher.

„So, was machen wir jetzt mit der Meute?“, will er von mir wissen.

„Du nimmst Jake, der braucht dich. Bei mir gefällt es ihm nicht sonderlich gut im Tragetuch. Und ich gehe eine Runde mit Cooper und April um den Block.“

Ich bleibe mit den beiden eine ganze Weile auf dem Spielplatz und gehe erst nach Hause, als es Zeit für's Mittagessen ist. Cooper scheint ganz ausgeglichen zu sein, Jake nicht. Das kann ein spannender Nachmittag werden...

Langsam bin ich mit meiner Weisheit am Ende. Jake will nicht schlafen, will nicht essen, ist sauber und gesund. Trotzdem ist er knatschig und anhänglich. Das einzige, das ihn beruhigt, ist, auf meinem Arm aus dem Fenster zu schauen und darauf zu warten, dass endlich mal wieder ein Auto vorbeifährt. Dylan hat vor zwanzig Minuten, als er zur Arbeit im Zentrum aufgebrochen ist, schon über Muskelkater gejammert, weil er Jake den ganzen Vormittag spazierentragen durfte. Und jetzt bin ich wohl dran. Hoffentlich kommt Jordan bald von seinem Termin nachhause. Dann kann er immerhin Cooper und die Mädels bespaßen.

Ich habe gerade einen Streit zwischen April und Cooper geschlichtet und bin mit Jake zurück ans Fenster, als gleich drei Autos vor dem Haus parken.

„Na jetzt gibt’s was zu kucken, hm? Wer …“

Ich sehe die Gesichter. Skins. Grimmige Skins. Da schalte ich auf Notprogramm.

„Gwen! Komm sofort her!“

Ich packe mir die Zwillinge unter die Arme.

„Cooper, komm mit.“

Er gehorcht zum Glück ausnahmsweise sofort. Gwen steht in der Zimmertür und schaut erst fragend, dann alarmiert.

„Wir müssen wegrennen. Nimm Coopers Hand und lauf zur Hintertür“, zische ich und renne mit den Zwillingen so schnell ich kann.

Innerhalb von Sekunden sind wir alle fünf im hinteren Garten, so wie Dylan es mit uns geübt hat.

„Zur Lücke im Zaun“, rufe ich und renne.

Gwen und Cooper weinen. Aber sie funktionieren. Hoffentlich jage ich die Kinder nicht umsonst rum, schießt es mir durch den Kopf. Vielleicht sind es ja Freunde von Dylan aus dem Zentrum? Wir hören Stan bellen. Dann hören wir Stan schreien, in Todesangst. Ich habe noch nie solche Geräusche gehört. Dann ist er still. Wir rennen noch schneller, durch den Nachbarsgarten, über eine Straße, zu einem weißen Haus. Ich drücke die Klingel und bete, dass uns jemand reinlässt. Das muss ein Albtraum sein! Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnet eine ältere Dame.

„Ja, bitte?“

„Wir sind Nachbarn, in unserem Haus sind Männer. Rufen sie die Polizei.“

Die Dame holt ein Handy hervor, das sie in einer Bauchtasche aufbewahrt und lässt uns rein. In dem Moment, in dem die Tür hinter uns zu geht, fühle ich mich wieder sicher. Ich sehe mich um, bemerke, dass die Zwillinge lauthals weinen. Ich setze sie ab, nehme sie in den Arm. Gwen und Cooper sind bleich und still. Und darüber bin ich froh. Ich muss doch meine Gedanken hören! Was ist zu tun? Ich muss Dylan anrufen. Mein Handy steckt in meiner Hosentasche. Ich drücke auf sein Foto im Adressbuch. Sein Handy ist aus. Sein Handy war noch nie aus. Da stimmt was nicht. Ich rufe Jordan an. Er weißt mich ab. Er ist wohl noch bei seinem Termin. Ich rufe noch mal an. Er geht sofort dran, weiß, dass es etwas Wichtiges sein muss.

„Was gibt’s?“, fragt er.

„Skins in unserem Haus. Ich glaube, sie haben den Hund umgebracht.“

„Wo sind die Kinder?!“

„Bei mir, in Sicherheit.“

„Und Dylan?“

„Vor 20 Minuten los. Sein Handy ist aus.“

„Sein Handy ist nie aus.“

„Die Polizei ist alarmiert. Bring du dich in Sicherheit, Jordan.“

„Wo seid ihr?“

„Durch den Garten geflohen. Wir sind … wo sind wir?“, frage ich die alte Dame.

„407 Ranunculus Ave“, sagt sie schnell.

„407 Ranunculus Ave“, wiederhole ich ins Telefon.

„Ich komme.“

„Aber was wenn dir jemand auflauert?“

„Ich bin hier in einem Club und habe ein Meeting mit den Security-Leuten wegen einem Konzert. Ich bitte sie, mich zum Auto zu bringen. Ich bin in zwanzig Minuten bei euch. Versuch noch mal, Dylan zu erreichen. Wenn du ihn nicht erreichst, schick die Polizei zum Zentrum. Ich rufe meine Mum und Nikki an. Und die WG. Wer weiß, auf wen sie es sonst noch abgesehen haben.“

„Okay. Okay, mach ich.“

„David?“

„Ja?“

„Danke, dass du meine Kinder gerettet hast.“

Ich weiß nichts zu sagen. Deshalb lege ich auf und wähle noch einmal Dylans Nummer. Nichts. Im Zentrum ist er noch nicht angekommen, erfahre ich von seiner Kollegin. Sie wollen zur Bushaltestelle und dort auf ihn warten. Mit Polizeischutz. Doch er hätte längst dort sein müssen. Ich hoffe, es geht ihm gut.

Ich schaue aus dem Fenster, warte nur darauf, die Skins kommen zu sehen. Stattdessen sehe ich ein Polizeiauto, das vor dem Haus parkt. Ich renne sofort zur Tür.

„Sie sind da drüben“, rufe ich den Polizisten entgegen.

Aber die bedeuten mir, die Hände hoch zu nehmen. Ich gehorche. Sie kommen ins Haus. Einer der Polizisten tastet mich kurz ab, dann darf ich die Hände wieder runternehmen und weiterreden.

„Wir leben in der Papaver Ave 639. Dort sind Männer eingedrungen. Ich glaube, sie haben den Hund getötet.“

„Stan?“, fragt Gwen plötzlich.

„Tut mir Leid, Gwen …“

„Ich gehe mit ihr ins Nebenzimmer“, bietet die Dame an, aber Gwen schüttelt energisch den Kopf.

Ich nehme sie in den Arm.

„Wieviele Eindringlinge haben sie gesehen?“

„Drei Autos voll.“

Einer der Polizisten fordert über Funk Verstärkung an. Ich muss alles erzählen, was ich über Dylan, seine Vergangenheit, die Drohungen, das Zentrum weiß. Sie erfahren von der Zentrale, dass zwei Streifenwagen inzwischen an der Bushaltestelle sind, an der Dylan aussteigen hätte sollen. Augenzeugen werden befragt. Aber sie haben ihn noch nicht gefunden. Das kann nur bedeuten, dass die ihn haben. Wir hören Sirenen aus unserer Straße. Anscheinend ist die Verstärkung eingetroffen und durchsucht unser Haus. Jordans Auto hält vor dem Haus der Dame. Ein Polizist nimmt ihn gleich in Empfang, tastet ihn ab und geleitet ihn herein. Alle vier Kinder wollen gleichzeitig auf seinen Arm. Er setzt sich auf den Boden und tut sein Bestes, für alle da zu sein.

„Dylan?“, fragt er mich.

Ich schüttle den Kopf: „Keine Spur von ihm. Meinst du, er hat sich irgendwo versteckt?“

„Nein, dann hätte er sich gemeldet. Die haben ihn.“

„Und was machen wir jetzt?“

Jordan zuckt ratlos mit den Schultern:

„Hoffen, dass Dylan einen Plan hat. Wir haben Überwachungskameras im Haus und Garten“, erklärt er, an die Polizisten gerichtet. „Ich kann von meinem Handy aus drauf zugreifen. Und vom Laptop im Haus aus.“

Der Polizist gibt das über Funk durch. Jordan tippt auf seinem Handy rum und wird blass.

„Stan ...“, flüstert er.

Gwen fängt an, laut zu weinen.

Über Funk kommt die Meldung, dass das Haus verlassen ist, es aber aus Sicherheitsgründen nicht betreten werden kann.

Jordan starrt immer noch auf sein Handy.

„Die haben in den Schubladen Sachen versteckt. Ich sehe nicht, was es ist. Aber sie verstecken etwas.“

Der Polizist gibt das gleich über Funk durch.

„Sprengstoff-Hundestaffel angefordert“, dröhnt es aus dem Funkgerät.

„Die haben Sprengstoff in unserem Haus versteckt?!“

Dann hören wir einen lauten Knall. Jordan springt auf und läuft aus dem Haus. Ich halte die Kinder fest. Denn ich weiß, was sie da draußen sehen würden. Jordan sinkt auf der Veranda zusammen.

„Officer down“, dröhnt es aus dem Funkgerät.

Ich sehe eine schwarze Rauchwolke durch die offene Tür.

„Stan“, wimmert Gwen.

„Laurel“, hören wir Jordan draußen überrascht.

Die Familienkatze kommt über die Straße gelaufen und flüchtet sich sofort auf Jordans Schoß. Er bringt sie rein zu Gwen. Die zwei sind von da an unzertrennlich.

Sirenen scheinen aus allen Richtungen zu kommen. Der Rauch färbt sich jetzt weiß. Es zischt und dampft.

„Gibt es was Neues von meinem Mann?“

Ein Polizist fragt über Funk nach. Aber Dylan wurde noch nicht gefunden. Die Videos der Überwachungskamera liefern gute Täter-Bilder. Es wird eine Großfahndung gestartet.

Die Kinder, die Katze und ich werden von der Polizei in ein Hotel gebracht. Jordan bittet einen Polizisten, uns die Notfallrucksäcke und Dokumente aus dem Gartenschuppen zu holen. Auf den Videos sieht man, dass dort niemand eingedrungen ist. Gut, dass Dylan das so vorbereitet hat.

Jordan kommt nicht mit uns. Er will zusammen mit der Polizei Dylan suchen.

Carol, Jordans Mutter, und ihre Töchter kommen zu uns ins Hotel und helfen mir mit den Kindern. Wir können nichts tun als zu warten.

Jordan

Es gibt einen John Doe, auf den Dylans Beschreibung passt. Ruhig wie noch nie in meinem Leben gehe ich den Krankenhausflur entlang. Dylan kann das nicht sein. Dylan kann auf sich aufpassen.

Die Schwester, die mich empfängt, ist sehr wortkarg. Ich frage sie auf dem Weg ins Zimmer, wie es dem Mann geht, was ihm passiert ist, wie seine Chancen sind. Doch sie will erst, dass ich ihn identifiziere. Vorher könne sie mir nichts sagen. Aber ich bin mir sicher, dass es nicht Dylan sein kann. Dylan kann auf sich aufpassen. Vermutlich haben die ihn nur verschleppt und ihn irgendwo in der Wüste rausgeschmissen. Er muss jetzt nur zum nächsten Telefon laufen, deshalb hat er sich noch nicht gemeldet.

Zügig öffnet die Schwester die Tür zum Krankenzimmer. Ein Körper liegt in dem Bett.

Dylan.

Seine Augen starren ins Leere. Er sieht mich nicht an. Sein Gesicht ist unversehrt. Mehr sehe ich nicht von ihm. Eigentlich sollte ich erleichtert sein, aber das bin ich nicht. Ich spüre, dass etwas Schreckliches mit ihm geschehen ist. Sein Körper ist eine leere Hülle. Er reagiert nicht auf meine Berührung, nicht auf meine Stimme.

„Was ist mit ihm?“, frage ich die Schwester.

„Er steht unter Schock.“

„Ist er verletzt?“

„Ein Arzt wird gleich zu Ihnen kommen.“

Sie verlässt kurz den Raum. Dylan bewegt sich nicht. Ich habe große Angst. Ich schüttle ihn. Er reagiert nicht. Er ist da nicht drin, in dieser Hülle. Dass ich keine Verletzungen sehe, macht mir noch mehr Angst. Weil ich nicht begreife, warum er dann da liegt und nicht ansprechbar ist. Ein Arzt betritt den Raum.

„Guten Tag. Können Sie behilflich sein bei der Identifizierung?“

„Ja, das ist mein Mann, Dylan Handerson. Was ist mit ihm passiert?“

„Er wurde nahe dem Highway aufgefunden, verwirrt und unter Drogeneinfluss. Hat er ein Sucht-Problem?“

„Nein! Nein, er wurde heute entführt. Unser Haus wurde angegriffen, unser Hund getötet und Sprengstoff in unserem Haus versteckt.“

Der Arzt sieht mich an, als wolle er überprüfen, ob ich auch unter Drogen stehe. Ich zeige ihm die Aufnahmen auf meinem Handy und eine Kopie des vorläufigen Polizeiberichts.

„Dann muss ich hier auch die Polizei einschalten.“

„Die Durchwahl steht auf dem Bericht. Wurde Dylan untersucht? Hat er Verletzungen?

„Er hat ein paar blaue Flecken, aber sonst ist er unversehrt.“

„Und dieser Zustand? Sind das die Drogen?“

„Vermutlich, aber eine Psychiaterin wurde auch hinzugezogen. Wir müssen sehen, was die nächsten Stunden bringen. Sie können gerne hier bleiben.“

„Ja. Und … ist es hier sicher? Was, wenn die Angreifer zurückkommen?“

„Ich gebe dem Sicherheitsdienst Bescheid.“

Ich gebe noch Nikki, David und meiner Mum Bescheid, dann lege ich mich in Dylans Arme und warte. Aber er kommt die ganze Nacht nicht zu sich.

Am nächsten Morgen streichelt er mir sanft über die Wange. Sofort schlage ich die Augen auf und sehe sein trauriges, aber lebendiges Gesicht.

„Es tut mir so Leid...“, flüstert er.

„Nein, jetzt wird alles wieder gut. Ich dachte, ich sehe dich nie wieder. Aber jetzt wird alles wieder gut.“

„Nichts wird je wieder gut“ erklärt er und schaut mich mit einer Mischung aus Abscheu und Verwirrtheit an, die ich mir nicht erklären kann.

„Aber Dylan, alles ist ersetzbar. Wir bekommen das hin.“

„Wie willst du … Jordan, wovon redest du? Von einem neuen Baby?!“

Ich lache auf:

„Nein, natürlich nicht. Wieso sollte ich …?“

„Jake und April sind tot“, flüstert er und bricht in Tränen aus.

„Dylan … wovon redest du? Die Kinder sind bei David im Hotel. Er ist mit allen vier Kindern durch das Loch im Zaun geflohen. Ihnen geht es gut.“

„Nein, ich hab doch gesehen, wie die ins Haus gelaufen sind. Ich hab gesehen, wie sie Sprengstoff versteckt haben, im Laufstall, überall. Die haben gesagt, sie haben den Babies die Kehlen durchgeschnitten. Ich hab das Blut gesehen ...“

Während er erzählt, hab ich die Fotos, die David aus dem Hotel geschickt hat, geöffnet. Ich halte Dylan mein Handy hin.

„Schau, da sind die beiden. Ihnen geht es gut.“

„Aber auf den Bildern, die die mir gezeigt haben, war so viel Blut ...“

„Ja, sie haben Stan getötet. Aber die Kinder haben sie nicht erwischt. David hat sie gerettet.“

Dylan bricht völlig fassungslos in meinem Arm zusammen und weint. Ich weine mit. Nach einigen Minuten nimmt er mein Handy. Er atmet kurz durch, dann sucht er sich eine Nummer aus meinem Telefonbuch.

„Was machst du?“

Er bedeutet mir, still zu sein. Dann höre ich, wie mein Vater am anderen Ende der Leitung sagt:

„Jordan, was kann ich tun?“

„Ich bin's. Es ist Zeit.“

„Alles klar. Ich kümmer mich drum.“

Damit legt Dylan auf.

„Was hast du getan?“ , frage ich, obwohl ich die Antwort kenne.

„Der, der hierfür verantwortlich ist, wird bezahlen.“

„Und wer ist verantwortlich? Trevor?“

„Nein. Aber je weniger du weißt, umso besser. Also frag nicht mehr nach.“

„Dylan, hast du gerade einen Mord in Auftrag gegeben?“

„Jordan, stell keine Fragen.“

„Nein. Gib mir mein Handy.“

Ich reiße ihm das Telefon aus der Hand und stehe auf. Er versucht, ebenfalls aus dem Bett zu kommen, scheint aber Probleme mit dem Kreislauf zu haben. Das verschafft mir den nötigen Vorsprung. Ich gehe auf den Flur, immer weiter Richtung Ausgang. Gleichzeitig wähle ich die Nummer meines Vaters.

„Ja?“

„Dad? Tu es nicht. Egal was du vor hast, ich verbiete es dir.“

„Jordan, halt dich raus.“

„Nein, hör mir jetzt gut zu: Wenn du das tust, siehst du mich und deine Enkelkinder nie wieder. Das schwöre ich.“

„Nicht am Telefon. Ich komm zu dir. Wo bist du?“

Ich gebe ihm Name und Adresse des Krankenhauses und Dylans Zimmernummer.

Dylan steht an der Tür und klammert sich an die Klinke. Ich lege meinen Arm um ihn und bringe ihn zurück ins Bett.

„Dylan, ich weiß du meinst, du musst uns beschützen. Aber wir klären das jetzt auf meine Art. Nicht auf die kriminelle. Du machst eine Aussage bei der Polizei und ...“

Er lacht höhnisch auf:

„Jordan, du weißt nicht, wovon du da redest. Wir sind alle immer noch in Gefahr und solange der Mensch atmet, ...“

„Ich werde nicht zum Mörder. Auf keinen Fall. Und du auch nicht. Und die Beziehung zu meinem Vater gebe ich deshalb auch nicht auf. Wir müssen es schaffen, uns mit legalen Mitteln zu schützen. Wir können umziehen, wir haben Geld. Wir haben Optionen. Mord ist keine davon.“

„Wenn die unsere Kinder zu fassen bekommen, töten sie sie.“

„Dann bekommen sie sie eben nicht zu fassen. Und keine Alleingänge mehr. Du erzählst mir ab sofort alles und wir entscheiden alles gemeinsam. Wenn ich herausfinde, dass du mich hintergehst, lass ich dich höchst persönlich wieder einsperren. Ich bin nicht wie mein Großvater und ich werde es auch nie. Koste es, was es wolle.“

„Auch wenn es das Leben deiner Kinder kostet?“

„Wird es nicht, solange ich lebe.“

Ich wähle die Nummer des Detectivs, den ich am Vormittag kennengelernt habe und bitte ihn, ins Krankenhaus zu kommen. Mein Dad kommt gleichzeitig mit ihm an und ist alles andere als begeistert, die Polizei zu sehen.

„Detectiv, danke dass Sie gekommen sind. Mein Mann und mein Vater möchten mit Ihnen alle Informationen teilen, die sie über die Täter haben.“

„Dann schießen Sie los.“

„Nur wenn mein Sohn den Raum verlässt. Er hat nichts damit zu tun.“

Ich will protestieren, aber Dylan springt meinem Vater sofort zur Seite:

„Jordan, wir können nur reden, wenn wir wissen, dass du in Sicherheit bist. Und du bist nur in Sicherheit, wenn du nichts über diese Leute weißt, das gegen sie verwendet werden kann.“

Ich gehe, weil ich ihnen glaube.

Noch am selben Abend werden alle Skins festgenommen, die in unser Haus eingedrungen sind. Den Drahtzieher erwischt man nicht. Es handelt sich um den Kopf einer Organisation, die Waffen und Drogen verkauft. Er wird ab sofort per Haftbefehl gesucht, bleibt aber unentdeckt.

Dylan darf das Krankenhaus verlassen und wir fahren direkt zu unserem Haus. Acht Mienen waren darin versteckt gewesen, unter anderem im Laufstall und in Gwens Unterwäsche-Schublade. Wir dürfen noch nicht rein, aber eine Polizistin in Schutzkleidung holt uns wichtige Dokumente aus dem Büro und ein paar Kuscheltiere für die Kinder. Alles im unteren Stockwerk ist zerstört. Die Statik des Hauses muss untersucht werden. In den nächsten Monaten werden wir hier nicht mehr wohnen können. Ich stehe in unserem Vorgarten und weine. Dylan nimmt mich in den Arm.

„Wenn ich diesen Kerl in die Finger bekomme, erschieße ich ihn, das versprech ich dir.“

„Dylan! Nein! Keine Rache hast du gesagt. Das würde uns kaputt machen.“

„Nein, dich würde es kaputt machen. Mir würde es Frieden geben.“

„Dylan, wie redest du?“

„Ich habe gedacht, die Kinder sind tot. Ich dachte, ich sehe ihr Blut! Begreifst du das? Begreifst du, was der mir angetan hat? Und warum? Weil ich im Knast höher gestellt war als er! Und weil ich ein paar seiner jugendlichen Drogenkuriere aus der Szene geholt habe? Deshalb zerstört er mein Heim, tötet meinen Hund und versteckt Sprengstoff, der meine Kinder zerfetzen soll? Der Mann hat den Tod verdient. Und ich werde erst wieder ruhig schlafen, wenn er bekommen hat, was er verdient.“

Entsetzt reiße ich mich los und schau ihn angewidert an. Ich weiß, dass er das ernst meint. Die Rachsucht steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er würde diesen Menschen eigenhändig töten, wenn er die Chance dazu hätte.

Ich gehe weg. Zum Spielplatz die Straße runter, setze mich auf die Schaukel und drehe mich ein. Dylan ist nicht mehr Dylan. Oder vielleicht ist er jetzt ja wieder Dylan? Vielleicht war er es immer? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich den Boden unter den Füßen verliere.

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