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Summerways
Teil 9 - Loslassen
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Informationen
- Story: Summerways
- Autor: ID
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Ab jetzt gibt es Überschneidungen mit der Kurzgeschichte Seelendorf.
Jordan
Meine Erinnerung an die Wochen nach Dylans Beerdigung sind praktisch nicht vorhanden. Ich kann mich nicht erinnern, was ich gefühlt habe, ich weiß auch nicht mehr, wie ich es geschafft habe, jeden Morgen aufzustehen und ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, bis Gwen endlich um Dylan weinen konnte. Ich weiß nicht, wie ich das erste Weihnachten ohne ihn überstanden habe. Ich weiß nur, dass ich an meinem 34. Geburtstag im Januar 2012 morgens aufwache, mich umdrehe, David sehe und weiß, dass alles gut wird. Er lächelt mich an und es ist, als würde mein Herz plötzlich entscheiden, dass die Zeit der Trauer jetzt vorbei ist. Dass es Zeit ist, nach vorne zu schauen.
„Happy Birthday“, flüstert er.
Ich küsse ihn, und auch wenn wir darin schon Übung haben, fühlt es sich für mich an, wie ein erster Kuss. Ich fühle mich wieder wie ich selbst. Es ist das erste mal, dass ICH David küsse, und nicht der wandelnde Zombie, der jetzt monatelang in meinem Körper gewohnt hat.
„Du lächelst“, flüstert David.
Ich nehme ihn fest in den Arm.
„Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken kann, David. Du hast mir das Leben gerettet.“
„Danke es mir, indem du mich den Rest meines Lebens bei euch bleiben lässt.“
„Du willst juristische Sicherheit, oder?“
„Das müssen wir nicht jetzt besprechen. Jetzt feiern wir erst mal deinen Geburtstag. Unten hab ich schon Geräusche aus der Küche gehört.“
„Ich will nicht mehr in dieser Wohnung bleiben. Ich will wieder ein Haus.“
„Seid wann machst du wieder Pläne für die Zukunft, Jordan?“
„Heute ist der erste Tag vom Rest unseres Lebens, David. Klingt kitschig, ist aber so.“
Er lächelt und küsst mich.
„Ich will jetzt mit dir duschen, dann will ich das Frühstück essen, das die Kinder fabrizieren, danach werden wir wohl erst mal die Küche aufräumen müssen und dann will ich mich mit dir zusammen setzen und Pläne schmieden. Ich will endlich wieder Entscheidungen treffen und ich will rausfinden, was wir wollen, wie wir zusammen leben wollen und ...“
David vergräbt sein Gesicht an meinem Hals. Ich glaube, er weint. Ich hoffe, vor Glück. Vermutlich auch vor Erleichterung. Und wahrscheinlich auch, weil er weiß, dass er für mich ab jetzt nicht mehr ganz so stark sein muss.
Meine Gwen hat Rührei gemacht, Cooper hat den Tisch gedeckt und die Zwillinge sitzen an ihrem Kindertisch und essen Cornflakes. Josh und Kate sind nicht zu sehen.
„Hast du das alles alleine organisiert, Gwen? Die Kleinen aus den Betten geholt, versorgt und dann auch noch Eier gemacht?“
„Dad, ich bin kein Baby mehr. Ich kann das.“
„Das sehe ich. Das ist … wann bist du eigentlich so groß geworden?“
„Während du damit beschäftigt warst, um Dylan zu trauern. Dr. Kelly sagt, irgendwann wird das auch wieder anders und du wirst wieder spüren, dass du uns liebst. Und ...“
Gwen kann gar nicht so schnell reagieren, wie ich sie hochhebe und mich mit ihr drehe.
„Gwen, ab heute wird alles anders. Ich spüre es wieder. Ich spüre, wie sehr ich euch alle liebe.“
„Geburtstagszauber“, flüstert Cooper.
David und ich verbringen den Vormittag mit den drei kleinen auf einem Spielplatz. Während sie spielen, sitzen wir uns auf der Picknickdecke gegenüber und reden. Reden WIRKLICH.
„Die Zwillinge sind bald reif für den Kindergarten. Dann ist wieder viel mehr Zeit für uns. Ich weiß nur nicht, wie genau ich die nutzen will“, gibt er zu.
„Du würdest gerne endlich was karriere-technisch in Angriff nehmen, oder?“
„Naja, das lag die letzten Jahre ganz schön brach. Die paar Kollegekurse nebenher sind ein Anfang, aber ich will endlich Geld verdienen.“
„Was wäre dein Traum?“
„Mein Traum war schon immer und wird immer ein eigenes Restaurant sein. Aber das wird sich nicht mit der Familien vereinbaren lassen.“
„Warum nicht?“
„Weil ich da viel zu viel arbeiten muss, und zwar zu Zeiten, wo kein Kindergarten offen hat.“
„Wollen wir heiraten?“, frage ich sachlich.
„Was?!“
„Wollen wir heiraten? Damit du hier eine Aufenthaltsgenehmigung bekommst und damit du auch juristisch eine feste Rolle im Leben der Kinder hast, und damit das mit der Krankenversicherung besser klappt...“
„Nein“, sagt er bestimmt.
„Okay ...“
„Jordan, ich will dich nicht aus diesen Gründen heiraten. Das ist mir zu pragmatisch.“
„Es würde aber einige Probleme lösen.“
„Stimmt, aber – nenn mich einen Romantiker – aber ich will heiraten, weil ...“
Er redet nicht weiter. Ich übernehme das für ihn:
„Du willst heiraten weil du unsterblich verliebt bist und nicht ohne mich leben kannst und so weiter?“
„Genau“, antwortet er etwas frostig. Ich grinse:
„Ich bin das falsch angegangen. Tut mir Leid. Mit dem Teil hätte ich anfangen sollen. Aber ich bin grad sachlich drauf. Mein Kopf leitet das Gespräch. Ich will den Kindern Stabilität bieten. Ich will auch dich absichern. Und nicht zuletzt mich. Ich weiß, dass es dir gegenüber nicht fair ist. Du machst das alles zum ersten Mal. Ich war schon verheiratet und hab das alles schon durch. Deshalb fühlt es sich für dich anders an als für mich, ich … nein, das ist auch Quatsch. Ich liebe dich, nicht nur, weil du zur Familie gehörst. Ich liebe auch dich, als Mann. Auch wenn ich keine Kinder hätte, würde ich dich an mich binden wollen. Ach scheiße, ich krieg es nicht hin, über meine Gefühle zu sprechen. Ich hab sie einfach zu lange vergraben. Vielleicht sollten wir das Gespräch verschieben ...“
Er rollt mit den Augen: „Ja, glaub ich auch.“
Ich nehme seine Hand und küsse sie.
„Es tut mir Leid ...“
„Schon gut, Jordan. Momentan bin ich einfach nur froh, dass du überhaupt optimistisch in die Zukunft schaust. Der Rest kommt schon noch.“
„Ich danke dem Universum jeden Tag, dass es dich zu mir und den Kindern geschickt hat.“
„Naja, da musst du wohl eher Max danken, dass er mich damals abserviert hat“, grinst David und fügt hinzu: „Und im Übrigen sollten wir Nikki und Oliver auch in unsere Planungen einbeziehen. Nikki wird Cooper und Gwen bald wieder öfter sehen wollen, wenn sie sich von der letzten OP erholt hat.“
„Ja, das stimmt. Wir sollten die zwei zum Abendessen einladen.“
Sie haben tatsächlich spontan Zeit und Lust, am Abend zum Essen vorbei zu kommen. Natürlich erst, als die kleinen Kinder schon im Bett sind. Heute ist nicht der richtige Tag für das große Wiedersehen. Ich öffne die Tür und bin auf alles vorbereitet, aber Nikki sieht gut aus. Das sag ich ihr auch.
„Du auch“, findet sie.
„Ja, ich glaub, ich hab die Kurve gekriegt“, grinse ich.
„Das freut mich. Ich glaub, ich auch. Happy Birthday!“
Während Josh und Kate die Bewirtung übernehmen, können David und ich uns drauf konzentrieren, mit Nikki und Oliver zu sprechen.
„Wie ist deine Prognose?“, frage ich Nikki.
„Alle bisherigen Ergebnisse deuten drauf hin, dass der Krebs weg ist. Natürlich ist da immer noch das Risiko, dass er wieder kommt, aber es ist so gut gelaufen, wie es nur laufen konnte.“
„Also bist du bald wieder ganz gesund?“, will David wissen.
„Ja, sieht so aus.“
Josh lässt am Herd alles stehen und liegen und umarmt seine Mum.
„Ich brauch noch ein paar Wochen, um wieder richtig zu Kräften zu kommen. Die Rekonstruktions-OPs hat mich ganz schön mitgenommen. Aber dann bin ich voll einsatzbereit. Ich würde das gerne nächste Woche mit Gwen und Cooper besprechen. Vor allem Cooper wird sicher eine Art Eingewöhnung bei uns brauchen, nach so langer Zeit. Ich hatte nicht gedacht, dass es so lange dauert…“
„Kriegen wir hin“, verspreche ich.
„Da ist noch was ...“, murmelt Oliver.
„Ja …?“
Nikki verspannt sich merklich. Jetzt bin ich gespannt.
„Also, ich hab das Gefühl, dass ihr beide gerade auch eure Zukunft plant, und deshalb ist jetzt glaub ich der richtige Zeitpunkt, um das anzusprechen... David, du bist aus der Nähe von München, richtig?“
„Ja, Kleinding, warum?“
Oliver holt tief Luft. Er ist sichtlich nervös.
„Die Verlagsgruppe, die mein Magazin besitzt, wurde verkauft und aufgespalten. Ich hab jetzt die Wahl zwischen Barcelona und München. Also … natürlich ziehe ich ohne die Kinder nirgendwo hin und natürlich ziehen die Kinder ohne dich, Jordan, nirgendwo hin, aber … wenn ich nicht umziehe, verliere ich das Magazin und damit alles, was ich mir beruflich in den letzten 20 Jahren aufgebaut habe, deshalb … deshalb wollte ich – völlig ohne Druck – mal die Idee in den Raum stellen, ob wir nicht … alle … nach München ziehen könnten?“
Ich will gerade lospoltern, was das soll, die Kinder aus ihrem Umfeld zu reißen und wie Josh, Kate und ich das mit der Uni hinkriegen sollen, als ich Davids Augen sehe. Sie strahlen. Er hat Heimweh und das ist seine Chance …
Josh schaut irritiert zwischen Kate und seiner Mutter hin und her und muss sich offensichtlich auch erst mal sortieren. Genau wie ich.
„Wir … okay, wir müssen da denk ich alle mal drüber nachdenken und uns besprechen ...“
„Klar, sicher. Wie gesagt, ohne euch geh ich nirgends hin. Ich akzeptiere jede Entscheidung, die ihr trefft.“
Wir essen relativ still, danach verabschieden Nikki und Oliver sich und David kann es offensichtlich kaum erwarten, sich mit mir in unser Schlafzimmer zu verziehen und zu reden.
„Was meinst du?“, fragt er aufgekratzt.
„Ich sehe, dass du begeistert bist, aber ich bin skeptisch. Ich kann die Sprache doch gar nicht. Und was soll ich da eigentlich machen?“
„Eine Uni gibt es da auch. Du könntest dort weiter machen mit der Doktorarbeit. Und Eventmanagement-Jobs gibt es da auch. Du müsstest dir natürlich ein neues Netzwerk aufbauen, aber Summerskin kannte man in Deutschland auch. Das würde dir sicher einige Türen öffnen. Und wir könnten in der Nähe meiner Eltern leben. Die zwei würden sicher gerne als Babysitter einspringen, wenn wir mal beide abends arbeiten müssen. Das würde uns viel flexibler machen und ...“
„Und du wärst wieder zurück bei deinen Wurzeln.“
„Ja. Ich weiß, die Interessen der Kinder kommen zuerst, aber für mich … für mich wäre das ideal.“
„Und Oliver sollte sein Magazin wirklich nicht verlieren. Nach allem, was er und Nikki durchgemacht haben … Aber was ist mit meiner Mum und Marie? Ich würde die zwei noch seltener sehen ...“
„Stimmt, aber … du siehst sie hier eigentlich auch nur Thanksgiving und Weihnachten und vielleicht mal im Sommer. Vielleicht könnten sie über Weihnachten zu uns fliegen und du kannst ja auch mal hier her zurück ...“
„Wow, ja, mein Kopf sagt, dass es viele Argumente für München gibt, aber plötzlich meldet mein Bauch sich auch zu Wort und hat ganz schön Angst vor dem Unbekannten...“
„Und wenn wir das erst mal versuchsweise machen? Ein Schuljahr lang oder so? Es dauert noch eine Weile, bis Cooper und die Zwillinge eingeschult werden und Gwen … vielleicht die Internationale Schule? Wir könnten das schon hinbekommen.“
„Nein, zwei Mal reiße ich sie nicht raus. Wenn ich gehe, dann für immer. Deshalb muss ich das auch wirklich erst mal durchdenken.“
„Das verstehe ich und ich will dich mit meiner Euphorie auch gar nicht unter Druck setzen. Es ist einfach ein Traum, den ich schon längst aufgegeben hatte: Ein normales Familienleben in der Nähe meiner Eltern mit dem Mann den ich liebe in unserem Haus mit Garten.“
„Ich sehe das, David. Und ich denke auch ernsthaft drüber nach. Aber ich kann noch keine Versprechungen machen.“
„Wir brauchen ein neues Zuhause, so oder so. Ob in den Staaten oder in Deutschland. Es wird sich also so wie so was ändern. Wir haben es jetzt in der Hand, zu entscheiden, wo es hingehen soll. Ich will aber nicht, dass du etwas nur mir zuliebe machst. Ich will nicht, dass es dir so geht wie mir mit Max damals, und du dich da drüben selbst verlierst, weil du hinter mir zurück steckst. Ich will, dass du dich entfaltest, dass du du selbst bist ...“
„Ich will wieder meinen grünen Iro.“
David verdreht die Augen:
„Ich hab mich schon gefragt, wann du damit kommen würdest.“
„Ich weiß, das ist nicht so dein Ding …“
„Muss es auch nicht sein. Ich weiß, dass die Frisur für dich eine Art Rückbesinnung ist, darauf, wer du bist. Von dem her ist es jetzt wirklich Zeit dafür.“
Ich wuschle durch Davids Locken:
„Ein bisschen Farbe würde dir auch nicht schaden. Und vielleicht ein Tattoo hier am Nacken ...“
„Im Leben nicht“, ruft er aus und zieht mich an sich um mich zu küssen.
„Weißt du, was ich mit einem Zungenpiercing alles anstellen könnte?“, schnurre ich ihm ins Ohr.
Er bekommt rote Flecken auf den Wangen:
„Du bringst mich auch ohne schon um den Verstand, wenn du mich küsst.“
„Ich liebe dich, David Sebastian Lenz. Und ich will jetzt sofort mit dir schlafen.“
„Mh, Geburtstagssex. Wie hättest du es denn gerne?“
„Fick mich. Aber ganz langsam.“
Bevor ich mich umdrehe, sehe ich wieder rote Flecken auf seinen Wangen auftauchen. Ich liebe es, ihn verlegen zu machen. Ich liebe ihn. Er ist mein bester Freund, meine Familie und wow, kann der Kerl ficken.
Ich wache am Samstag Morgen auf, als die ersten Sonnenstrahlen zum Fenster herein scheinen. Kein Kind hat sich gemeldet, alle haben durchgeschlafen. Das passiert jetzt immer öfter. Die Kinder werden groß. Cooper und Gwen werden wieder mehr Zeit bei Nikki verbringen, Josh und Kate leben ihr eigenes Leben. Ich kann mehr an meiner Doktorarbeit schreiben, kann auf Tagungen gehen, kann mich auf Dozentenstellen bewerben. Oder ich gehe in die Politik-Beratung. Oder ich mache wieder mehr Musik. Alle Wege stehen mir offen. Ich stehe auf und fange an, an einem Song über offene Türen zu schreiben. Als ich das nächste Mal die Headphones abnehme und auf die Uhr schaue, ist es halb 9 und alle sitzen schon am Frühstückstisch. Ich setze mich dazu und werde angeschaut wie ein Alien.
„Alles klar?“
„Du warst grad in einer völlig anderen Welt, oder?“, fragt David und küsst mich auf die Wange.
„Hab ich was verpasst?“
„Nur ein paar Trotzanfälle, eine zerbrochene Tasse und das übliche Morgenchaos. Hast du an einem Song geschrieben?“
„Ja, kam so über mich.“
Josh umarmt mich ziemlich überraschend:
„Ich bin froh, dass du wieder der Alte bist.“
„Noch nicht ganz“, grinst David. „Da fehlt noch die Frisur.“
„Der grüne Iro? Bist du dafür inzwischen nicht zu alt?“, grinst Josh.
Ich bewerfe ihn dafür mit einem Stück Rührei, was die Zwillinge zum schreien komisch finden.
„Ich hab mit Janet vereinbart, dass du heute Vormittag vorbei kommst. Sie freut sich schon“, grinst David.
„Ernsthaft? Danke!“
„Am Abend würden Kate und ich uns gerne mit euch über Deutschland unterhalten“, erklärt Josh.
„Okay, ich schätze, ich brauch nicht länger als drei Stunden. Kommst du so lange klar mit den Kleinen, David?“
„Lass dir Zeit, Liebling. Mach dich hübsch“, grinst er schief.
Ich jogge mit ein paar Klamotten über dem Arm die Treppe runter und will aus Gewohnheit fast an Janets alter Tür klopfen, aber dort wohnt ja jetzt Joe. Janet, Tobey und Josefine haben die größere Wohnung über dem Plattenladen bekommen. Ich war schon seit Monaten nicht mehr bei ihnen. Tobey steht im Laden und sortiert eine Lieferung ein.
„Hey.“
„Jordan, hey! Janet ist oben. Joe ist mit der Kleinen unterwegs. Ihr habt also Ruhe für deine große Umwandlung.“
David
Es ist, also würde da eine andere Person die Türe aufsperren. Eine, die ich kennen, aber nur von Postern und CD-Covern. Die Zwillinge kommen sofort zu mir gelaufen, so als stünde da ein Fremder vor ihnen.
„Hey, meine Süßen“, winkt Jordan.
Die beiden sind total irritiert, dass der Fremde mit der Stimme ihres Vaters spricht.
„Hey David...“
Er küsst mich. Jordan Bonanno küsst mich. Der von den Postern. Der Rockstar.
„Du siehst 10 Jahre jünger aus“, finde ich. „Ist das da... du hast dich piercen lassen?“
„Nur die Augenbraue. Die Zunge hab ich mich nicht getraut, wenn du nicht drauf stehst.“
„Ich … ich finde dich abartig gutaussehend. Wirklich. Nur irgendwie … unerreichbar gut. Ich werde gleich schon mal vorsorglich eifersüchtig, weil ich weiß, dass die Kerle nur so auf dich fliegen werden, in der Aufmachung.“
„Ach Schatz...“
Das ist das erste Mal, dass er mich so nennt. Ich schmelze. Das sieht er mir auch an und nutzt die Gelegenheit, um sich noch einen Kuss zu stehlen.
„Ich glaube, ich hatte mal ein Poster an meiner Wand, auf dem du so ausgesehen hast wie gerade.“
„Das ist ja gruslig. Ich wusste überhaupt nicht, dass du Poster von mir besessen hast.“
Ich spüre genau, wie ich rote Flecken auf den Backen bekomme und schmiege mich an Jordans Hals.
„Das vergisst du jetzt am besten auch ganz schnell wieder.“
Die Zwillinge spielen wieder entspannt vor sich hin. Die haben sich wohl deutlich schneller an den neuen Look ihres Vaters gewöhnt, als ich.
„Du wirst mich noch ne Weile seltsam anstarren, oder?“, grinst er.
„Sorry, ich … du … ich gewöhne mich bestimmt bald dran. Bist du zufrieden?“
„Sehr. Das ist gleich ein ganz anderes Gefühl, so die Straße entlang zu laufen.“
„Du stehst halt drauf, Aufmerksamkeit zu erregen.“
„Ich hab das Gefühl, so nichts erklären zu müssen. Man sieht, wer ich bin.“
„Ich kenne dich anders.“
„Sicher, zuhause. Aber auf der Bühne, in der Öffentlichkeit, als erster Eindruck ...“
„Hauptsache, du fühlst dich wohl. Ich komm schon noch drauf klar, dass du jetzt plötzlich wieder aussiehst wie Jordan Bonanno.“
„Ja, der Name … Ich meine, ich will nicht wieder so heißen, aber ich frag mich, ob es richtig ist, Dylans Namen weiter zu tragen ...“
„Natürlich ist es das. Es ist auch der Name der Zwillinge. Und Jordan Lenz hört sich nun wirklich blöde an.“
„Du denkst ernsthaft über's heiraten nach, hm? Trotz meines bescheuerten Antrags?“
Ich werde ihm nicht sagen, dass ich an nichts anderes mehr denken kann, deshalb pikse ich ihn in die Rippen und küsse ihn.
Als die Kleinen am Abend schlafen, zerren uns Josh, Kate und Gwen auf die Couch.
„Wir wollen über Deutschland reden“, verkündet Gwen.
Jordan wird etwas blass um die Nase.
„Hört mal, niemand wird etwas gegen euren Willen entscheiden. Wenn ihr das nicht wollt, dann...“
„Doch, Dad. Wir wollen das“, nickt Gwen eifrig. „Wir wollen nach Deutschland ziehen. Ich will ganz oft Mona besuchen. Sie ist eine tolle Oma. Und ich kann auch schon ein paar Worte auf deutsch. Ich hab heute viel geübt. Ich fühl mich da viel wohler als hier in der Stadt. Die Spielplätze sind auch schöner, und der Zoo. Und außerdem … außerdem erinnert mich hier alles an Dylan, und … das will ich nicht.“
Jordan legt ihr die Hand auf den Rücken.
„Mir geht es auch so, Gwen. Manchmal freue ich mich über die Erinnerungen, aber manchmal tun sie auch ganz schön weh. Ich weiß nur nicht, ob weglaufen da die Lösung ist.“
Josh schüttelt den Kopf:
„Wir laufen nicht weg, Dad. Wir gestalten selbst unsere Zukunft. Kate und ich haben geredet, und wir wollen, dass ihr das macht. Wir glauben, dass das für die Kleinen, für dich David, aber auch für dich, Dad, das Richtige ist.“
„Und ihr?“
„Wir werden wieder nach Chicago ziehen, so wie es vor Mums und Dylans Erkrankung war. Wir haben uns da sehr wohl gefühlt. Und wer weiß? Vielleicht machen wir auch mal ein Auslandsjahr in Deutschland...“
„Ich soll ohne euch auf einen anderen Kontinent ziehen?“
Jordan scheint über dem Gedanken ehrlich erschrocken zu sein.
„Es gibt doch Skype, Dad. Und wir besuchen euch. Versprochen. Auf unserer Rucksacktour durch Europa.“
„Jordan, ich glaube wirklich, dass wir in Deutschland glücklich werden können. Du hast dich bei meinen Eltern doch auch wohl gefühlt. Ich sag das nicht nur, weil ich gerne wieder nachhause ziehen will. Ich glaube wirklich, dass wir einen Tapetenwechsel brauchen. Wir alle.“
Jordan nickt:
„Ich werde darüber nachdenken.“
Jordan
Alle scheinen absolut begeistert von der Idee, auf einen anderen Kontinent zu ziehen. Wenn im Raum stünde, in einen anderen Staat zu ziehen, oder sogar nach Kanada, würde ich da total mitziehen. Aber Deutschland? Wie soll ich mich da zurecht finden? Wie soll ich einen Job finden?
Gwen besteht drauf, dass David mit ihr und den Kleinen ab sofort nur noch Deutsch spricht.
„Was bedeutet Dad eigentlich auf deutsch?“, fragt sie.
„Papa, wieso?“, fragt David.
„Nur so“, grinst sie.
Kurz darauf fragt sie auf deutsch:
„Kannst du mir Chips aus der Küche mitbringen, Papa?“, und meint damit nicht mich, sondern David.
Er kommt mit einer Packung Chips zurück und schaut irritiert:
„Hast du … hat sie … mich gerade Papa genannt?“
„Ist das okay?“, fragt Gwen.
David schaut mich an. Ich nicke. Er umarmt sie. Ich denke an Dylan, und daran, wie glücklich er war, als Gwen ihn das erste Mal Daddy genannt hat. Mein Gewissen meldet sich. Haben wir Dylan zu schnell ersetzt? Zu schnell verdrängt, was passiert ist? Oder würde er wollen, dass wir glücklich sind? Die Zwillinge werden sich nicht an ihren Vater erinnern. Und Gwen tut ihr möglichstes, sich ebenfalls nicht erinnern zu müssen. Ich bin der Einzige, der an Dylan fest hält. An dieser Wohnung, dieser Stadt, in der wir geheiratet haben. In der wir glücklich waren.
Ich kann nicht schlafen und beschließe, Nina anzurufen. In München müsste es jetzt zehn Uhr morgens sein. Hoffentlich funktioniert Skype noch, ich hab es ewig nicht mehr geöffnet. Zum Glück hab ich seit Jahren den selben Laptop. Ich fasse es nicht: Nina ist online!
„Jordan?!“, macht es aus dem Lautsprecher, noch bevor sich das Bild aufbaut. „Mit dir hab ich im Leben nicht mehr gerechnet. Woooow, du trägst wieder deinen Iro! Boah, gut schaust du aus! Warum wirst du eigentlich nicht älter?“
„Die Kamera hat so eine schlechte Auflösung, dass man die Falten nicht sieht“, grinse ich. „Du hast dich aber auch nicht wirklich verändert“, finde ich.
Sie lacht auf: „Optisch vielleicht nicht, aber sonst ist nichts mehr wie es mal war.“
Sie steht auf und hält einen dicken Baby-Bauch in die Kamera.
„Oh-meine-Gott!“
„Ja, da drin sitzt mein kleiner Mann für's Leben. Meine Tage als einsame Wölfin sind gezählt“, grinst sie.
„Du würdest im Leben niemals aus versehen schwanger werden. Ich erinner mich, wie verbissen du auf lückenlose Verhütung geachtet hast.“
Sie nickt: „Ja, das war Absicht.“
„Also bist du jetzt unter der Haube?“
„Nein, niemals! Der Kindsvater hält es da wie ich: Beziehungen sind auf Dauer nicht seins. Er hat eine eigene Wohnung in der Stadt. Ich bin gerade auf's Land gezogen. Nach Seelendorf. Ist nicht weit weg von Kleinding.“
„Krass, dass aus dir mal ein Landei wird!“
„Ich hab hier ein Wohnkonzept gefunden, das mir gefällt. Das Paradies.“
„Oh-kay...?“
„So eine Art Kommune, alle leben hier zusammen, haben aber trotzdem eigene Zimmer und hier gibt es Tiere und Yoga und irgendwer kocht immer. Und es gibt Leute aus der ganzen Welt und Einheimische und Kinder und alte Leute. Einfach der perfekte Ort, um den kleinen Scheißer aufzuziehen. Aber um es wirklich zu verstehen, muss man es sehen.“
„Wow, klingt spannend.“
„Ist es, aber ...warum rufst du eigentlich an?“
„Ich frag mich gerade, ob es sowas wie Schicksal vielleicht doch gibt?“
„Häh?“
„Ich hab angerufen, weil wir überlegen, in die Nähe von München zu ziehen.“
„Waaaaas? Warte, wer ist wir? … Ich … ich hab das mit deinem Mann gehört und … es tut mir sehr Leid.“
„Danke ...“
„Ich wollte mich melden, aber dann wusste ich nicht, ob das nicht irgendwie seltsam ist, nach Jahren plötzlich zu schreiben … Jetzt merk ich aber, dass es immer noch genau so ist wie früher, zwischen uns. Tut mir Leid, dass ich mich nicht gemeldet habe.“
„Da ist okay. In den letzten Monaten hat eigentlich niemand helfen können. Ich musste da alleine durch. Auch wenn David wichtig war, weil er die Dinge am laufen gehalten hat. Trauern musste ich alleine.“
„David ist also immer noch in den Staaten? Ich hab Max auf einer Familienfeier getroffen. Er sah ziemlich fertig aus.“
„Dass die beiden schon lange nicht mehr zusammen sind, weißt du?“
„Ja, das hat sich damals in der Familie rumgesprochen.“
„David und ich sind jetzt zusammen.“
„Ach, endlich.“
„Häh?“
„Die einzigen, die nicht gemerkt haben, wie verschossen ihr zwei ineinander seid, wart ihr zwei. Ihr hattet schon immer ne gute Chemie. Aber ihr hattet nur Max und Dylan im Kopf.“
„Dylan und ich waren die letzten Monate nicht mehr zusammen. Es ist also nicht so, dass ich direkt nach Dylans Tod weitergezogen bin. Es war schon vorher vorbei zwischen uns.“
„Das hört sich an als hättest du ein schlechtes Gewissen …?“
„Nein, also … vielleicht ein bisschen. Ich hab Dylan wirklich sehr geliebt und ich will nicht, dass das jetzt auf einmal nichts mehr wert ist. Ich denke manchmal, je mehr Gefühle ich für David zu lasse, umso weniger Platz bleibt für Dylan.“
„Ich verstehe. Es ist Quatsch, aber ich versteh es. Hier leben übrigens auch zwei sehr gute Therapeuten ...“
„Glaubst du, dass ich in Deutschland gut klar käme? So ohne die Sprache zu sprechen und ohne einen Bekanntenkreis und ohne Job? Und wie ist das an der Uni …?“
„Ah, okay, jetzt verstehe ich. David will wieder zurück nach Hause.“
„Nicht nur das. Oliver und Nikki möchten auch nach München. Sonst hat das berufliche Nachteile für sie.“
„Na dann kommt doch! Ich glaube nicht, dass du große Schwierigkeiten haben wirst, Jordan. Du wirst die Sprache hier schnell lernen und selbst wenn nicht, hier spricht fast jeder Englisch. An der Uni kannst du Arbeiten bei den meisten Profs auch auf Englisch schreiben. Du könntest hier im Paradies Gitarrenunterricht geben und ich bin sicher, dass du dich mit Severin, der das Paradies gegründet hat, gut verstehen würdest. Ihr könntet hier einziehen, bis ihr was eigenes habt.“
„Irgendwie fügt sich das alles immer mehr zusammen.“
„Jordan, deine Kinder und mein Kind könnten hier zusammen im Sandkasten sitzen. Wäre das nicht total irre? Frag David, ob er Severin Kaiser vom Kaiserwirt kennt. Das Arial hier drum herum ist wirklich groß und schön und … okay, ich merke selbst, dass ich ne fixe Idee hab und das alles viel zu schnell geht, aber es fühlt sich total richtig an ...“
„Ich muss das jetzt erst mal sacken lassen. Ich ruf dich wieder an.“
„Okay. Umarm David von mir. Bye.“
David liegt im Bett und scheint zu schlafen. Er hat die Nachttischlampe für mich angelassen. Als ich mich neben ihn lege, dreht er sich sofort zu mir und kuschelt sich in meinen Arm.
„Kennst du den Kaiser-Wirt in Seelendorf?“, flüstere ich.
Er macht die Augen auf und stützt sich auf den Ellbogen.
„Natürlich. In dem Wirtshaus hat mein Großvater damals seinen 70. gefeiert. Ich hab mich dort vor ihm geoutet.“
„Da gibt es jetzt so eine Art Kommune ..“
David lacht: „Naja, das ist übertrieben. Der junge Kaiserwirt hat ein Wohnprojekt gestartet, das kurz vor Weihnachten eröffnet wurde. Meine Mum hat mir den Zeitungsbericht geschickt, weil der Kaiser das mit seinem Freund, dem örtlichen Bauunternehmer gemacht hat. Sie wollte mir zeigen, dass es noch andere Schwule in der Gegend gibt ...“
„Nina wohnt jetzt in diesem Wohnprojekt und sie ist total begeistert davon.“
„Wirklich? Cool ...“
„Ich will da hin und mir das ansehen.“
„Weil du überlegst, da einzuziehen?“, fragt David freudig.
„Zum ankommen wäre so eine Gemeinschaft sicher gut. Bis wir was eigenes haben ...“
„Jordan ...“
David fängt ohne Vorwarnung an zu weinen. Ich nehme ihn fest in den Arm.
„Bis gerade eben hab ich verdrängt, wie viel Heimweh ich hab. Ich wünsch mir das so sehr, mit dir ein Haus bauen, die Kinder in Kleinding großzuziehen und mit 70 dann im Kaiser-Wirt mein Leben zu feiern, und zu feiern, dass wir es auf unsere Art gelebt haben.“
„Ich liebe dich, David. Ich glaub, ich lieb dich schon viel länger, als ich es eigentlich weiß. Und ich vertraue dir. Wenn du sagst, wir werden in Deutschland glücklich, dann ziehe ich mit dir nach Deutschland.“
„Du könntest mich wirklich nicht noch glücklicher machen. Außer, wenn du mich heiratest.“
Jetzt fange ich auch an zu weinen.
David
Jordan ist am nächsten Morgen sehr still und nachdenklich. Mir ist klar, dass ich ziemlich viel Druck auf ihn ausgeübt habe. Ich hab seine Entscheidung fast schon erzwungen. Aber nicht, weil ich egoistisch bin und meinen Willen durchsetzen will. Sondern weil ich spüre, dass er hier weg muss. Raus aus dieser Wohnung, raus aus dieser Stadt, weg von den Erinnerungen, die ihn viel öfter quälen als ihm gut tun. Und vor allem dränge ich so auf Deutschland, weil Gwen dort geborgen sein wird. Sie wird dort viele verlässliche Bezugspersonen haben. Sie wird dort eine heile Welt haben, so wie sie jedes Kind verdient.
Die nächsten Tage gehen Jordan und ich immer wenn die Kinder schlafen zusammen ins Internet, um uns 'das Paradies' anzusehen, uns zu informieren, was man braucht, um in Deutschland als Amerikaner leben und arbeiten zu dürfen und was man sonst beim Auswandern beachten muss. Außerdem telefonieren wir mit Nikki und Oliver und buchen Flüge, um für einige Wochen nach Bayern zu fliegen und uns nach einem geeigneten Zuhause umzuschauen. Jordan telefoniert mit Josh und Kate und bittet sie, in der Zeit bei Gwen zu bleiben, die ja in die Schule muss.
Es wird Zeit, uns bei meiner Familie anzukündigen. Als erstes rufe ich meinen Großvater an. Er geht schon nach dem zweiten Klingeln dran.
„Lenz.“
„Auch Lenz. Servus, Opa.“
„David, das ist aber schön, dass du anrufst. Ist das nicht zu teuer, aus den Staaten?“
„Passt schon. Ich muss mit dir reden. Es hat sich was neues ergeben.“
„Was ist los?“
„Ich will zurück nach Kleinding. Mit der ganzen Familie.“
„Dein Amerikaner und seine Kinder kommen mit?“
„Ja, und die Mutter von Gwen mit ihrem Mann. Das Magazin, bei dem sie arbeitet, zieht nach München.“
„Ist das dann nur vorübergehend, oder …?“
„Nein, wir planen, in Deutschland zu bleiben. Wir wollen nicht, dass die Kinder zwei Mal entwurzelt werden.“
„Und wie bist du dann abgesichert? Du kümmerst dich um fremde Kinder...“
„Ich verstehe, dass du das so siehst, aber für mich sind die Kinder nicht fremd. Ich wohne jetzt schon so lange bei ihnen und kümmer mich, als wären es meine. Das heißt aber nicht, dass ich naiv an die Sache ran gehe. Ich weiß, wenn es hart auf hart kommt, hab ich keine Rechte. Das muss alles geklärt werden. Auch, wie wir unsere Finanzen aufteilen. Da ist Jordan aber auch total dahinter. Ich freu mich schon drauf, ihn dir vorzustellen. Ich weiß, aus der Entfernung wirkt er und sein Leben sehr … anders als alles, was man in Kleinding kennt. Aber er ist gar nicht so anders. Ihm ist die Familie wichtiger als alles andere. Und er versucht, seinen Überzeugungen zu folgen. Ich weiß , dass er es in Kleinding nicht immer leicht haben wird, aber ich hoffe, ihr nehmt ihn gut auf.“
„Wann kommt ihr?“
„Wir haben grad Flüge gebucht, wir sind erst mal von 4. bis 24. März drüben. Da werden wir dann alles weitere planen und vorbereiten. Wenn alles gut läuft, sind wir ab August dauerhaft in Deutschland.“
„Und wo wohnt ihr in der Zeit?“
„Nikki und Oliver bekommen ein Apartment von ihrer Verlagsgruppe gestellt. Und ich werde Mum und Dad fragen, ob wir die 3 Wochen mit den Zwillingen in meinem alten Zimmer bleiben können. Ab August finden wir dann hoffentlich eine Wohnung für den Übergang. Wir haben überlegt, mal beim Kaiser-Wirt anzufragen.“
„Im Paradies?“
„Genau, das Konzept finden wir ganz spannend. Mal schauen, ob wir da Glück haben. Und mittelfristig dann was eigenes. Jordan hat Schadensersatz für sein Haus bekommen und hat hier noch eine Eigentumswohnung, die er verkauft, wenn klar ist, dass wir wirklich in Deutschland Fuß fassen können.“
„Das klingt, als würdet ihr es ernst meinen.“
„Ja, ich will das unbedingt. Weil ich weiß, dass wir in Kleinding oder der Umgebung alle ein gutes Leben haben werden. Und weil ich festgestellt hab, dass ich es auf Dauer nicht so weit weg von daheim aushalte.“
„Du weißt, dass wir für alle vier Enkel einen Baugrund haben?“
„Ja, das hat Dad gesagt. Aber ich hab das Geld noch nicht, um da selbst zu bauen. Und ich glaub auch nicht, dass ich es in den nächsten Jahren zusammenbekomme. Erst mal muss ich mir beruflich was aufbauen. Aber da schwimm ich noch total.“
„Wie willst du das dann machen mit deinem Amerikaner?“
„Ich weiß es nicht. Entweder, ich lasse Jordan alles alleine finanzieren auf einem fremden Baugrund, oder ich verkaufe ihm meinen Baugrund, oder er steckt sein Geld in ein Haus auf einem Baugrund, der mir gehört. Letztendlich geht es um die Frage, ob wir unsere Finanzen in einen Topf werfen oder nicht. Wenn das Geld erst mal in einem gemeinsamen Haus steckt, dann hängen wir für immer zusammen und sind auch für immer an Kleinding gebunden. Ich hab damit ehrlich gesagt aber kein großes Problem.“
„Ich weiß nicht, was ich dir da raten soll, David. Bei deiner Cousine Kirsten hab ich mich da leicht getan. Sie ist seit fast 10 Jahren mit dem Steffen zusammen, beide haben gute Jobs und beide wollen das Gleiche: Ein Haus, Kinder, ein ganz normales Leben. Da war es logisch, dass Kirsten den Baugrund mitbringt und sie das Haus gemeinsam finanzieren. Natürlich kann es trotzdem auseinandergehen. Aber wie das bei dir und deinem Amerik...“
„Kannst du ihn bitte Jordan nennen?“
Mein Großvater räuspert sich, dann fängt er noch mal an:
„Wie es bei dir und Jordan ist, ob man sich drauf verlassen kann, dass er bleibt, ...“
„Man kann sich drauf verlassen, dass er bleibt. Wir werden auch heiraten, sobald wir in Deutschland gut angekommen sind. Aber das musst du mir nicht glauben. Du wirst Jordan kennenlernen und kannst dir dein eigenes Bild machen.“
„So oder so, es steht mir nicht zu, über euch zu urteilen. Du bist mein Enkel, du bekommst einen Baugrund. Den Rest musst du selbst wissen.“
„Ich hab echt Glück mit dir als Opa. Andere Männer aus deiner Generation hätten damit wahrscheinlich mehr Probleme.“
„Ich will dich nicht anlügen, ich musste es damals schon erst mal verdauen, als du mir erzählt hast, dass du mit einem Mann zusammen bist. Aber ich kenn dich und weiß, dass du ein anständiger und gescheiter Kerl bist. Genau wie der Christian Berger. Mit dem war ich schon oft am Stammtisch gesessen, beim Kaiserwirt. Der stellt da jetzt wirklich was auf die Beine, was für die ganze Gemeinde gut ist. Viele meiden ihn jetzt, weil sie es unanständig finden, dass er mit dem Kaiser zusammenlebt. Zumal der Kaiser ja auch eine Frau und ein Kind hat. Und der Berger hat sogar zwei Kinder. Das sind schon Verhältnisse, die es normalerweise bei uns hier nicht gibt, aber auf der anderen Seite gibt es sicher auch in meiner Generation viele Männer, die ihr Leben gern anders gelebt hätten, aber nicht konnten oder sich nicht getraut haben. Da ist es schon gescheiter, dass du dein Glück suchst.“
Ich bin echt gerührt und muss erst mal schlucken.
„Danke, Opa. Danke, dass du mich verstehst.“
„Wennst du dann jetzt wieder öfter da bist, dann musst du mir helfen, den Golf wieder zum laufen zu bringen.“
„Den gibt's noch?“
Wir fachsimpeln eine Zeit lang über den alten VW, dann verabschieden wir uns.
Gestärkt durch das Gespräch nehme ich das Telefon gleich wieder in die Hand und rufe die Mobilnummer vom Baugeschäft Bergner in Seelendorf an.
„Christian Bergner, hallo?“
„David Lenz, Kleinding. Servus.“
„Ach, servus. Bist du der Enkel vom Vinzenz?“
„Genau. Und ich rufe an wegen deinem Paradies.“
„Ah, ja. Dann verzähl mal.“
„Ich lebe mit meinem Lebensgefährten und seinen Kindern in Kalifornien. Wir haben grad mit der Familie eine schwere Zeit durchgemacht. Jetzt hat es sich ergeben, dass wir die Chance haben, hier die Zelte abzubrechen und nach Kleinding zu ziehen. Das wäre wahrscheinlich richtig gut für uns alle, aber wir brauchen mit den Kinder ein Zuhause zum Ankommen. Langfristig werden wir uns was bauen, aber erst mal suchen wir nicht nur was, das übergangsweise ein Dach bietet, sondern auch einen Ort zum Eingewöhnen. Mein Freund ist Ami, und er ist auch eher unkonventionell unterwegs, so dass die bayerische Provinz erst mal einen harten Aufschlag für ihn bedeutet. Und jetzt haben uns schon so viele Leute vom Paradies vorgeschwärmt. Mein Opa, die Nina ...“
„Unsere Nina?“
„Ja, mein Freund und sie sind befreundet. Über ihre Familie hab ich ihn damals kennengelernt und letztens hat sie erzählt, dass sie jetzt bei euch wohnt und auf ihren Nachwuchs wartet. Wir haben uns jetzt erst mal die Homepage angeschaut. Und das Konzept gefällt uns wirklich gut. Ich find es total gut, dass ihr so viel auf einmal schafft's. Generationen und Nationen verbinden. Alternative Lebenskonzepte, Nachhaltigkeit. Ich bin total traditionell aufgewachsen und weil ich schwul bin, hab ich mich immer irgendwie fehl am Platz gefühlt. Jetzt seh ich, dass es auch beides geht. Werte und Tradition verbunden mit Freiheit und Selbstbestimmung. Ich glaub, wir würden gut zu euch passen.“
„Hört sich echt an, als hätten wir einiges gemeinsam. Schad, dass wir uns früher nicht gekannt haben. Ich dacht manchmal, dass ich der einzige Schwule in der ganzen Gegend sein muss.“
„Ja, ging mir schon auch so.“
„Also, bei uns ist es so, dass wir viel mehr Anfragen haben als freie Plätze. Wir überlegen grad, wie wir auswählen, wer ein Zimmer bekommt. Wir wollen halt nicht irgendwelche Quoten festlegen oder so. Es soll eher insgesamt einfach passen. Deshalb machen wir es so, dass ich die Daten erfasse, also ab wann und zu wie vielt, wie lange usw. Und aber auch aufschreibe, was eure Erwartungen sind und was ihr einbringen könntet, für die Gemeinschaft. Ich schreib das dann zamm und schick das per Mail an alle Bewohner. Und da wo wir meinen, dass es passen könnte, die laden wir dann ein, dass sie mal zum Gemeinschaftsessen vorbeikommen. Und dann wird demokratisch entschieden, wer einziehen darf.“
„Okay, klingt ganz fair. Aber bei so einem großen Projekt dann auch logistisch gesehen herausfordernd.“
„Stimmt. So, David, jetzt erzähl mal.“
„Okay, also, wir sind eine Patchwork-Familie. Vier Erwachsene – die Ex von meinem Freund und ihr neuer Mann werden in München wohnen. Es gibt einen großen Sohn, der mit seiner Freundin in den Staaten bleibt. Außerdem haben sie gemeinsam eine 9-jährige Tochter, die dann meistens bei ihrer Mama in München wohnen wird aber am Wochenende und in den Ferien auch da sein wird. Oft auch mit ihrem Halbbruder, der bald 4 wird. Und wir haben Zwillinge, die bald drei werden und immer bei uns sind. Die brauchen also ein eigenes Zimmer. Vermutlich brauchen wir also 2-3 Schlafzimmer. Mein Freund ist Musiker. Er kann sich also da sicher gut einbringen. Mit Gitarrenunterricht und mit Auftritten auf Festen und so. Er hat auch schon ab und zu junge Bands gecoached. Und er kennt sich mit Veranstaltungstechnik aus, wenn ihr da mal was braucht.“
„Okay, das hört sich gut an. Und was kannst du einbringen?“
Ich schnaufe.
„Bei mir besteht der Tag momentan eigentlich ausschließlich aus 'für die Kinder da sein'. Grad leben alle vier bei uns. Ich bin also ziemlich gut als Babysitter.“
„Und beruflich?“
„Schwierig. Ich hab mein Psychologiestudium abgebrochen. Ansonsten hab ich eigentlich immer nur gekellnert. In der Gastro fühl ich mich zuhause. Das ist mein Ding. Und wenn die Kinder jetzt dann im Kindergarten sind, dann würd ich gern in die Richtung weitermachen. Also, wenn ihr jemanden sucht, der ein Restaurant schmeißen kann, dann bin ich euer Mann.“
„Suchen wir tatsächlich. Schick doch mal deinen Lebenslauf.“
„Echt jetzt? Langsam glaub ich echt ans Schicksal.“
„Ab wann braucht ihr ein Zuhause?“
„August. Und wahrscheinlich nicht für ewig. Vielleicht für ein Jahr oder so.“
„Okay, also David, ich sag sowas nicht leichtfertig, aber ich hab echt das Gefühl, als würdest du hier gut herpassen. Und da ist noch was. Ich weiß nicht, ob dir das bewusst ist, aber deinen Großeltern gehört hier ein angrenzendes Grundstück, das im Bebauungsplan drin ist und auf dem man eine Erweiterung vom Paradies bauen könnte. Oder eine neue Gaststätte. Die alte muss eh abgerissen werden. Das wäre für deinen Opa ein gutes Geschäft und du könntest dich vielleicht beruflich weiterentwickeln … also jetzt ganz eine spontane Idee. Lass dir doch mal die Pläne zeigen. Und vor allem kommt vorbei, sobald ihr in Kleinding seid, damit wir uns einfach mal kennenlernen können.“
„Klingt gut. Wir kommen im März, haben schon die Tickets. Wenn du willst, können wir gleich einen Termin ausmachen.“
Ich gehe grinsend zu Jordan und erzähle ihm von den beiden guten Gespräche, die ich gerade geführt habe.
„Ich freu mich, dich so glücklich zu sehen“, lächelt er.
„Und ich freue mich, dass du plötzlich wieder da bist. Du warst die letzten Monate so tief drin in der Trauer. Das war manchmal ganz schön einsam. Das ist kein Vorwurf, ...“
Er lächelt verständnisvoll und nickt:
„Ich weiß, wie du das meinst, David. Und mir ist auch klar, dass du in den letzten Monaten … nein, eigentlich in den letzten Jahren, in denen du hier gewohnt hast und alles abgepuffert hast – mir ist klar, dass du in der Zeit sehr selbstlos warst und dass du keine Zeit hattest, alles, das du erlebt hast, aufzuarbeiten. Ich meine, du warst damals allein mit den Kindern, als die Skins kamen. Du hast miterlebt, wie Dylan sich verändert hat, wie er immer kränker wurde. Du hast erlebt, wie die Kinder darunter gelitten haben. Und ich konnte euch nicht unterstützen, weil ich kaum aus dem Bett kam. Du hast zugesehen, wie ich mich von Dylan getrennt habe, wie ich mich emotional von allem abgeschottet habe. Du warst damals schon in mich verliebt und ich hab dich weggestoßen. Du hast zugeschaut, wie ich auf Studentenparties ging, One-Night-Stands hatte … das hast du alles still ertragen … hast das Schlafzimmer mit mir geteilt, hast dich um die Kinder gekümmert, hast einfach immer weiter funktioniert. Mir ist klar, dass dich diese Zeit irgendwann einholen wird, dass du das alles irgendwann auch noch verarbeiten musst. Und ich bin froh, dass du das dort machen kannst, wo du verwurzelt bist.“
Er spricht mir aus der Seele. So gesehen und verstanden zu werden, berührt mich bis ins Innerste.
„Jordan, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie glücklich du mich machst.“
„Und ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, dass du bei mir bist.“
Ich telefoniere mit meinen Eltern, die total aufgekratzt sind und sich wirklich sehr über die Neuigkeiten freuen.
„Wir werden Großeltern“, sagt meine Mutter. „Das sind ab jetzt unsere Enkel.“
Ich höre, dass sie sehr gerührt ist. Und auch mein Vater seufzt erleichtert:
„Das ist eine gute Entscheidung. Du gehörst hier her. Hier kannst du dir was aufbauen. Zusammen mit den Kindern und Jordan und mit der Hilfe deiner Großeltern. Ich freu mich.“
Als Jordan in dieser Nacht neben mir liegt, flüstere ich ihm ins Ohr:
„Das ist unser Weg, Liebling. Das spür ich einfach.“
Er lächelt mich selig an und schmiegt sich in meinen Arm.
„Wo du bist, bin ich zuhause, David.“
- Ende des Summer-Bandes -
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