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Threeway

Teil 2

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„Was?!“
„Es tut mir leid, aber ich schaff das einfach nicht mehr. Dieser Abschied auf Raten tut mir zu sehr weh. Ich hoffe und bete und suche in deinen Augen nach Anzeichen dafür, dass wir vielleicht doch noch eine Chance haben, nur um dann wieder einen Schlag in die Fresse zu bekommen, wenn du etwas von Xander erzählst! Ich kann das einfach nicht mehr, okay?!“
Er steht auf dem Gehsteig, keinen Meter von mir entfernt und brüllt mir verzweifelt ins Gesicht, wie ein angeschossener Löwe kurz bevor die Panik Überhand nimmt. Und ich fühle mich, als hätte mir gerade jemand das Herz aus der Brust gerissen, bei lebendigem Leib.

Mein Kopf versucht, mich zu beruhigen, dass dieser Moment früher oder später hatte kommen müssen. Aber mein Ringfinger pocht vor sich hin und erinnert mich an das Versprechen, das ich vor dreieinhalb Jahren gegeben habe und das ich niemals hatte brechen wollen. Egal was kommt, wir werden immer einander haben, so war es gedacht. Und das wird mir jetzt einfach so genommen. Es geht dabei nicht um Sex oder Treue oder diesen ganzen Scheiß! Es geht um Familie, darum, in Dylan für immer einen Vertrauten zu haben, zu wissen, dass er da ist, wenn es wirklich hart auf hart kommt. Er ist mein Netz! Ohne ihn knalle ich auf den Beton, wenn irgendwas schiefgeht. So etwas Wichtiges hört nicht auf, nur weil man nicht mehr miteinander ins Bett geht! Die Verbindung, die wir zueinander haben, das Wissen darum, wie es dem anderen wirklich geht, nichts erklären zu müssen …

„Bitte nimm mir das nicht weg, Dylan.“
„Es tut mir leid.“
„Nein, bitte … ich brauche dich.“
Er schüttelt den Kopf.

„Glaub mir, so ist es besser. Wir müssen das endlich klären.“
„Warum kann ich nicht euch beide haben?“
Er lacht auf:
„Weil das so eben nicht läuft. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Man muss Entscheidungen treffen und verliert auf dem Weg Menschen. Ich hol die Babies und fahre ein paar Tage mit ihnen weg.“
„Was?! Wohin denn?“
„Zu meiner Tante auf ihre Farm. Ich muss wenigstens das letzte Stück Familie retten, das ich noch habe.“
„Ich weiß überhaupt nichts von einer Tante und jetzt willst du die Zwillinge da hinschleppen?!“
„Ich hab sie dich mit nach Deutschland nehmen lassen. Du schuldest mir ein bisschen Vertrauen.“
Und damit geht er weg.

Ich setze mich wieder ins geparkte Auto, drehe die Musik so laut es geht auf, versuche, meine Gedanken irgendwie klar zu kriegen. Was bedeutet das jetzt? Will er mich überhaupt nicht mehr sehen? Wie soll das mit den Kindern funktionieren?

„Jordan, ich liebe dich. Aber du musst jetzt aussteigen.“
Dylan hat die Zwillinge inzwischen von oben geholt und sie in ihre Sitze auf der Rückbank gesetzt. Er hält meine Tür auf und bedeutet mir, was er von mir erwartet. Für Widerstand habe ich weder die Kraft noch habe ich das Recht dazu.

Ria sitzt im Wohnzimmer und weiß scheinbar schon, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist.

„Was ist passiert?“
„Dylan will die Scheidung.“
Kommentarlos nimmt sie mich in den Arm.

„Er ist doch meine Familie.“

„Xander ist jetzt deine Familie“, versucht sie mich zu trösten.
Ich lache bitter auf:

„Er ist mein Freund, mehr nicht. Und nicht mal meiner alleine. Ich bin schrecklich in ihn verliebt, aber er könnte nie das für mich sein, was Dylan ist. Warum war ich gezwungen, mich zwischen ihnen zu entscheiden? Warum kann ich nicht beide haben?“
„Weil Dylan sich dann so fühlen müsste wie du dich gefühlt hast, als du von Gaby erfahren hast.“
„So etwas würde man niemandem antun, den man liebt.“
„Xander liebt dich.“

„Warum tut er mir das dann an? Und warum lässt Dylan mich alleine?“
Sie weiß darauf scheinbar auch keine Antwort.

„Ich hab das Gefühl, dass mir mein ganzes Leben entgleitet, Ria. Alles, wofür ich je gekämpft habe, alles, was ich aufgegeben habe … alles umsonst.“

„Das stimmt doch nicht.“
„Ich habe Josh verloren, Gwen enttäuscht, die Familie der Zwillinge zerstört, Dylans Herz gebrochen und Xander fast in den Selbstmord getrieben. Ich wünschte, ich könnte mich einfach in Luft auflösen.“

„Sag sowas nicht, Jordan. Du machst mir Angst.“

„Ich muss allein sein.“
„Jordan …?“
„Ich gehe nur nach oben, okay?“, schnappe ich gereizt und verschwinde.

Familie. Warum spüre ich nur diesen Drang in mir, unbedingt eine zu wollen? Hab ich aus all dem Schmerz denn nichts gelernt? Dafür, dass ich mich gerne als so modern und alternativ darstelle, bin ich in der Beziehung doch recht konservativ, oder? Ich sollte aufhören, ständig einer Bilderbuchfamilie hinterherzulaufen, und nehmen, was ich kriegen kann. Und das werde ich jetzt tun.

„Wo gehst du hin?“, ruft mir Ria hinterher, aber sie bekommt keine Antwort.

Kurz vor zwölf parke ich vor Xanders Apartmenthaus. Ich weiß, dass er vermutlich noch bei seiner Familie zu Hause ist, aber ob ich in meiner Wohnung rumsitze oder hier, ist mir egal. Ich klingle. Nichts. Tyler ist wohl auch nicht zu Hause. Vielleicht holt sie ihn gerade vom Flughafen ab? Sein Handy ist aus. Das ist ein gutes Zeichen. Er ist auf dem Weg, ganz sicher. Das Klingelschild verrät mir, wo ich suchen muss: Vierter Stock, das ist ganz oben. Jetzt muss ich nur noch drauf warten, dass jemand rauskommt und ich rein kann. Das klappt innerhalb von zehn Minuten.

Oben klopfe ich zur Sicherheit noch mal an die Wohnungstür, aber es kommt wieder keine Reaktion. Da drinnen hat Xander versucht, sich das Leben zu nehmen. Hoffentlich werde ich es schaffen, das zu verdrängen. Okay, Zeit, es mir hier bequem zu machen. Es kann ja schließlich noch eine Weile dauern, bis die Hausherren zurückkommen. Ich packe meinen Block und den Player aus dem schnell gepackten Rucksack und beginne zu schreiben. „Love at third sight“ wird wohl der Titel werden, und um was es geht, dürfte nicht schwer zu erraten sein. Die Melodie hab ich vor ein paar Tagen schon aufgenommen, und der Text purzelt nur so auf’s Papier.

 

„Jordan?! Was machst du denn hier?“, dröhnt es gedämpft durch meine Headphones.

Xander und Tyler stehen vor mir, beide tragen eine große Tasche. Verstehe. Xander war gar nicht alleine zu Hause, er hatte seine Freundin dabei. Ich habe mir vorgenommen, nicht zu zögern. Darum stehe ich auf und küsse Xander, statt zu antworten. Dann ziehe ich die überraschte Tyler an mich und küsse auch sie.

„Kann ich reinkommen?“, frage ich und versuche zu grinsen.

Die beiden werfen sich einen kurzen Blick zu. Sie sind ein Paar, das merkt man. Und ich muss versuchen, irgendwie einen Platz in dieser Beziehung zu finden. Für Xander. Und für mich, weil er das Einzige ist, was ich noch habe.


Tyler schließt die Wohnungstür auf, während Xander mich nochmal küsst.

„Ich hab dich vermisst“, flüstert er.

„Ich dich auch.“

Er zieht mich in die Wohnung und stellt seine Tasche direkt neben der Tür ab.

„Magst du was trinken?“
„Ich will euer Schlafzimmer sehen.“

Wieder schaut er zu Tyler. Sie sieht etwas ängstlich aus.

„Liebes? Bist du okay?“

„Ich weiß nicht …“, gibt sie zu.

Er geht zu ihr rüber und küsst sie. Ich kann nicht behaupten, dass mich dieser Anblick kalt lässt, aber besser ich gewöhne mich schnell daran. Schnell ist ein gutes Stichwort. Ich will möglichst bald mein Hirn ausschalten können, deshalb entledige ich mich meines Shirts und suche die Gummis und die Gleitcreme aus meinem Rucksack. Wenn ich erst mal mit Xander schlafe, wird es mir egal sein, was drum herum passiert.

„Du hast’s echt eilig, was?“, fragt Xander zwar grinsend, aber mit besorgtem Unterton und immer noch Tyler umarmend.

„Ich will mit dir schlafen, und mein Anstand verbietet es, das vor deiner Freundin zu machen, ohne dass sie dabei auch ihren Spaß hat.“

Jetzt prustet er doch los:
„Spinner!“

Ich trete zu den beiden rüber. Tyler klammert sich an Xander, aber er löst einen Arm und legt ihn um meine Hüfte.

„Wisst ihr, wie lange ich davon geträumt habe?“, fragt er uns selig und hat es plötzlich selbst sehr eilig, ins Schlafzimmer zu kommen.

Wie ich prophezeit habe, spüre ich Tylers Anwesenheit kaum noch, als ich erst mal auf Xander liege und mich in gleichmäßigem, langsamem Rhythmus bewege. Ich glaube, er leckt gleichzeitig seine Freundin, aber das ist mir egal. Meine Hände fahren über seine samtige Rückenhaut, ich sauge seinen Duft in mich ein und werde schneller. Ich nehme wahr, dass er aufkeucht und sich mir immer mehr entgegendrückt, alles andere ist unwichtig.

„Bist du gekommen?“, fragt er Tyler, als wir schwer atmend aufeinander liegen.

„Jaaaah“, seufzt sie in ein Kissen und er nimmt sie in den Arm.

Mich braucht er das nicht zu fragen, vermutlich weiß der ganze Block, dass ich gerade gekommen bin, aber so eine Umarmung wäre jetzt schon nicht schlecht…

„Jordan?“

„Hm?“
„Komm her.“
Er bietet mir seinen zweiten Arm an, ich krieche zu ihm.

„Ich liebe euch“, flüstert er.

Weil ich es komisch fände, „Wir dich auch“ zu sagen, drücke ich ihm einfach einen Kuss auf die Lippen. Er schmeckt nach Tyler. Ich kann sie nicht ewig ausblenden. Wir liegen hier nun mal zu dritt im Bett.

„Wie war’s zu Hause?“, frage ich und stütze mich auf die Ellbogen.

Tyler zieht sich die Decke bis unters Kinn und weicht meinem Blick aus.

„Meine Nichte ist bildhübsch! Ihr Name ist Dalia, kurz Lia und sie hat nach meiner Nase gegriffen, genau wie Gwen früher immer.“

Xander erzählt stolz weiter, während Tyler immer ruhiger wird.

„Und wie verstehst du dich inzwischen mit Cloe, Gaby?“, frage ich, um sie irgendwie miteinzubeziehen.

„Ich muss hier weg“, erklärt sie, statt zu antworten und zerrt die Decke mit sich fort.

„Hab ich was Falsches gesagt?“, frage ich Xander, der schon hinter ihr herläuft.

„Ich erklär‘s dir später.“

Und damit lassen sie mich allein in dem großen Bett zurück. Ich suche meine Klamotten zusammen und komme mir plötzlich vor wie nach einem One-Night-Stand. Mein Bauch rät mir mich rauszuschleichen. Vorsichtig schaue ich ins Wohnzimmer. Niemand zu sehen, der Weg zur Wohnungstür wäre frei. Ich schaue mich kurz um. Der Couchtisch, schwarz, wie die meisten Einrichtungsstücke hier, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Darauf lagen Xanders abgeschnittene Haare, das hat Tyler erwähnt, als sie in meiner Wohnung gewesen ist. An der lilafarbenen Wand hinter der dunklen Ledercouch hängt ein riesiges Blechschild mit einer alten Milchwerbung drauf. Gegenüber steht eine teure Soundanlage. Durch die Badezimmertür dringen Stimmen. Da drinnen hat er es getan. Ich weiß nicht warum, aber ich trete auf die Tür zu, muss mich diesem Ort stellen. Ich drehe den Türknauf. Es ist nicht abgeschlossen.

Xander und Tyler sitzen auf dem Rand der Badewanne und halten sich eng umschlungen. Ich räuspere mich und die beiden springen auseinander, als hätte ich sie in flagranti erwischt.

„Jordan! Was soll denn das?! Du kannst doch nicht einfach …“
„Hey!“, schnappe ich bedrohlich. „Wenn ihr mich in eurem Bett haben wollt, dann müsst ihr mich auch in euer Leben lassen. Ansonsten holt euch einen Stricher.“

„Aber …“, will Xander gerade protestieren, als Tyler ihn zurückhält.

„Ist schon okay, Liebling.“

Sie kommt zu mir, nimmt meine Hände und legt sie sich um die nackte Taille.

„Ich habe noch nie mit jemandem außer Xander geschlafen. Das ist wie ein erstes Mal für mich, also hab etwas Geduld mit mir, ja?“
Ich bin so überrascht, dass ich nur nicken kann. Sie küsst mich. Ich hebe sie hoch und sie umschlingt mich mit ihren Beinen.

„Zum Bett, bitte“, lächelt sie.

Xander sieht uns vom Fußende des Bettes aus zu. Tyler versucht immer wieder, sich vor mir zu verstecken. Sie hat Narben und ist etwas zu dünn, aber ansonsten ziemlich heiß und das sage ich ihr auch. Und ich küsse sie, ich küsse sie immer wieder. Sie entspannt sich etwas und flüstert, dass sie mich auch ziemlich heiß findet. Wir kichern und küssen uns wieder.

„Nimmst du die Pille?“, frage ich vorsichtshalber.

„Hormonspirale.“
Das beruhigt mich. Natürlich packe ich trotzdem einen Gummi aus, aber doppelt hält nun mal besser.

„Bist du sicher, dass du das willst?“, flüstere ich ihr zu.

Sie nickt und presst sich gegen mich:

„Mmmmmmmmmmmmmh.“

Wir bleiben den ganzen Nachmittag im Bett, bis Xander irgendwann aufschreckt.

„Wie spät ist es?!“
Tyler lässt mit einem Plopp-Geräusch von meinem Hals ab und dreht sich nach der Uhr um. Das muss ich natürlich sofort ausnutzen und sauge mich an ihrem Nacken fest.

„Hey, das ist ungemein!“
„Haha! Du hast schon wieder ungemein gesagt!“, lacht Xander.
„Ich meinte unfair! Gemein! Jungs sind doof. Und jetzt hab ich zwei von euch an der Backe!“
„Im wahrsten Sinne!“, lacht Xander auf und beißt ihr in den Hintern.

„Hey! Aufhören! Fünf vor sechs ist es übrigens.“
„Was?!“
„Was is‘n?“, frage ich etwas genervt, weil ich einfach nur hier liegen und diese beiden Körper an mir spüren will.
„Um sieben treffen wir Ria und Vince in so einem Restaurant in Venice.“

„Oh … naja, da haben wir ja noch Zeit.“
„Ich geh duschen“, verkündet Xander.

„Ich komm mit“, grinse ich und springe auf.

Tyler bleibt zurück und schaut irgendwie betreten drein.

„Kommst du, Liebes?“

„Wozu? Ich verbring den Abend ja eh zu Hause …“
Xander und ich schauen uns kurz an.

„Komm mit“, bitten wir gleichzeitig und lachen uns gleich darauf kaputt.

„Meint ihr wirklich?“

„Jordan und ich haben uns noch nie versteckt, warum sollten wir jetzt damit anfangen?“
„Außerdem hab ich Ria eh schon davon erzählt und Vince beschwert sich ständig, wenn er nicht über alles unterrichtet wird, was in meinem Leben vor sich geht, also …“
„Gott, das wird bestimmt merkwürdig.“
„Süße, wenn du eine ernsthafte Dreierbeziehung führen willst, musst du dich an merkwürdig gewöhnen“, kläre ich sie auf.

In der Duschwanne wird mir doch etwas mulmig, weil ich nicht aufhören kann, mir vorzustellen, was hier passiert ist. Xander ist als Erster fertig und föhnt sich schon mal die Haare. Tyler, die gerade ihren Conditioner einmassiert, nimmt mich unvermittelt in den Arm.

„Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich hab lange überlegt, ob wir nicht besser umziehen sollten. Aber das hier ist unser Zuhause. Trotz aller schlimmer Erinnerungen gibt es auch so viele gute …“
„Es kommt mir vor wie eine riesige Narbe“, erkläre ich, und der Gedanke wird mir selbst erst bewusst, als ich ihn ausspreche.

Sie streichelt über meine Armbeuge:

„Weißt du noch, was ich dir damals über Narben erzählt habe?“

„Ja, dass sie dich an die schrecklichen Zeiten erinnern und du die guten Zeiten somit mehr zu schätzen weißt.“

„Gerade sind die Zeiten sehr gut, Jordan. Also mach dir keine Gedanken.“
Ihre braungrünen Augen wirken sehr beruhigend auf mich und ich beschließe, dafür zu sorgen, dass ich ebenfalls ein paar schöne Erinnerungen an diese Duschwanne habe. Als würde sie meine Gedanken lesen, ruft Tyler Xander zu:
„Liebling, reich mal einen Gummi rein.“

Etwas verspätet kommen wir in dem hawaiianischen Restaurant an, in dem Vince und Ria uns bereits erwarten.  Rias Gesichtszüge entgleisen merklich, als sie uns zu dritt auftauchen sieht. Vince hingegen stellt sich Tyler nichtsahnend vor und merkt an, dass sie sich ja schon mal kurz begegnet sind. Xander wirft uns einen fragenden Blick zu. Das werden wir ihm wohl noch erklären müssen. Aber erst mal muss jemand Vince etwas erklären, und ich schätze, das ist meine Aufgabe.

„Erinnerst du dich an Tyler, Vince?“
„Xanders irre Exfreundin?“
„Gaby ist Tyler. Und sie ist nicht Xanders Exfreundin, sondern seine Freundin.“
„Ehm … wie jetzt?“
„Und irre ist sie auch nicht mehr …“, ergänzt Xander.

„Und ich bin nicht mehr nur Xanders Freundin, sondern irgendwie auch Jordans.“

Er schaut etwas verwirrt zwischen uns Dreien hin und her.

„Ihr meint … ihr hab so ein Dreierding am Laufen?“
„Jo.“

„Ah … ja dann sagt das halt gleich.“

„Das kommt dir nicht seltsam vor?“, fragt Ria überrascht.

Er zuckt die Schultern:
„Naja, das hat jeder mal ausprobiert, oder? Viel Erfolg dabei. Erfahrungsgemäß geht das nie lange gut. Aber hey! Vielleicht seid ihr die berühmte Ausnahme zur Regel. Also, ich hab Hunger. Schaut mal in die Karte!“

Und damit ist das Thema irritierenderweise gegessen und wir gehen zum Smalltalk über. Xander erzählt von seiner Nichte, Vince von Danny und Tyler von ihren Schulkindern. Es gibt eine Steel-Drum-Vorführung und eine Feuershow, ich komme mir fast vor wie in einem Sternehotel oder sowas. Zum Glück fragt niemand nach Dylan und den Zwillingen … dafür aber nach den Wahlvorbereitungen. Ria beschwert sich mal wieder über ihren dämlichen Job. Sie erzählt von der ganzen Drecksarbeit, die sie für ein paar hundert Dollar im Monat machen muss.

„Hey, warum wirst du nicht meine Assistentin?“, fragt Xander plötzlich und seine Augen leuchten dabei. „Die Firma stellt ein Budget dafür, 200 Dollar für achtzehn Stunden die Woche.“
„Naja, mit 200 Dollar im Monat komme ich nur knapp aus …“
„Die WOCHE, Ria!“
„Was?! Also 800 für einen Nebenjob?!“
„Plus Bonuszahlungen, wenn ich dich spätnachts oder am Wochenende brauche.“

„Du verarscht mich, oder?!“

„Ich weiß echt nicht, warum ich nicht schon früher drauf gekommen bin. Ich hab einfach nie in Erwägung gezogen, mir tatsächlich eine Assistentin anzuschaffen.“
„Kann ich das eigentlich? Ich meine …“
„Klar! Du musst doch bloß Anrufe für mich erledigen, Termine vereinbaren und mich beim Shopping begleiten. Ich meine, das hab ich bisher eigentlich auch alles alleine hinbekommen, aber mit dir würde es mehr Spaß machen und bezahlt wird es von der Firma.“
„Die Firma, von der du dich eigentlich unabhängig machen wolltest?“, erinnere ich ihn.

„Die Firma, die ich ausnehmen werde bis zum letzten Cent, der sowieso den O-Scars zustehen würde“, erklärt er. „Na, was sagst du, Ria?“
„Bist du irre? Natürlich sage ich ja!“

„Ich hoffe, du weißt, worauf du dich da einlässt. Shopping mit dem Kerl ist die Hölle“, grinst Tyler.

„Shopping überhaupt ist die Hölle“, pflichte ich ihr bei.

„Naja, uns wird schon was einfallen, wie wir uns die Zeit vertreiben können, während unser Liebling durch die Malls zieht“, erklärt sie und ich muss sie dafür einfach küssen.

Ria verbringt die Nacht bei Vince und ich nehme meinen Freund und meine Freundin mit zu mir, schließlich hab ich nicht so oft sturmfrei, das muss ausgenutzt werden. Obwohl Xander lieber gehabt hätte, dass ich am nächsten Morgen Frühstück im Bett serviere, schaffe ich es, die beiden in die Küche runter zu locken, wo auch Alex zu uns stößt und grinsend behauptet, dass ich ja noch abgedrehter sei, als er angenommen hatte.

„Wie ist das eigentlich? Sind wir bigam oder wie auch immer man das nennen will?“, frage ich.
„Du meinst, ob du auch mit anderen schlafen kannst?“, deutet Xander.

„Ich würde Alex schon gern noch ins Bett kriegen, bevor er auszieht.“
„Haha“, macht Alex. „Ich könnte übrigens Hilfe beim Schleppen brauchen.“

„Sag einfach bescheid. Die Frage war übrigens ernst gemeint, auch wenn ich dabei nicht wirklich an Alex gedacht habe.“
„Keine Ahnung. Gaby?“
„Also ihr beide reicht mir völlig.“

„Seh‘ ich genauso“, erklärt Xander. „Aber ich verstehe auch, dass du nach drei Ehejahren Nachholbedarf hast. Wenn sich bei dir also was ergibt, nur zu.“
„Krass“, kommentiert Alex.

„Schön“, finde ich.

Aber in den nächsten Wochen nimmt mich Vuzas Wahlkampf sowieso zu sehr in Anspruch, als dass ich überhaupt dran denken könnte, mit mehr als zwei Leuten zu schlafen. Dylan meldet sich artig jeden zweiten Tag von seiner Tante aus, wo er zwei Wochen bleibt und dann - mir gegenüber sehr reserviert - zurückkommt. Er erlaubt mir aber immerhin, die Zwillinge zu sehen, wann immer ich will. Und das ist natürlich beinahe jeden Tag.

Vuza gewinnt in seinem Wahlbezirk und ist jetzt offiziell der erste schwule Farbige im Stadtrat. Für mich gibt es weniger zu tun. Vielleicht wäre es an der Zeit, mir einen richtigen Job zu suchen? Die Zeit für die Familie sollte aber auch nicht zu kurz kommen. Also doch noch mehr Uni, um den Master zu bekommen? Oder lieber Musik machen? Stephano vertröstet mich - den Gesangsunterricht betreffend - auf’s neue Jahr. Er habe ein wichtiges Projekt in Europa am laufen. Eine Castingshow. Na wenn er meint …

Josh und Gwen kommen braungebrannt und merklich gewachsen aus ihrem Hawaii-Urlaub zurück. Josh redet kein Wort mit mir, dafür ist Gwen sehr anhänglich und will die restliche Woche Ferien bei mir verbringen. An ihrem ersten Schultag wird sie von mir mit Geschenken überschüttet und quasi nonstop gefilmt oder fotografiert, so wie sich das gehört.

David ruft Mitte September von einer kalifornischen Telefonnummer aus an und verkündet, dass er und Max gut in San José angekommen seien und er mich gefälligst bald sehen wolle.

Xander verbringt viel Zeit mit der Band, was Ty… äh Gaby und mir die Gelegenheit gibt, uns besser kennenzulernen. Vor allem körperlich. Sie steht total auf die Narbe auf meiner Brust. Nikki ist mäßig begeistert von der ganzen Dreier-Sache, sie versucht sogar, mir zu verbieten, Gwen zu holen, wenn Xander und Tyler dabei sind. Da hat sie allerdings schlechte Karten, alleine schon weil Tyler einfach verdammt gut mit Kindern kann und Gwen sie sofort als neue beste Freundin betitelt.

Am 30. September wird die kleine Josefine geboren, was alle sehr überrascht, da Janets und Tobeys Sprössling eigentlich als Junge angekündigt worden war. Das tut der Freude aber natürlich keinen Abbruch. Besonders Joe, der stolze Opa, ist kaum noch vom Baby weg zu bekommen. Um Babysitter müssen sich die frischgebackenen Eltern also keine Sorgen machen.

Xander schockiert mich mit einer neuen Frisur. Er hat sich lange schwarze Haare anknüpfen lassen, bis weit über die Schultern, für deren Pflege und Styling er von nun an viel Zeit in Anspruch nimmt. SEHR viel Zeit. Als er von einem Shoppingtrip mit Andy und Ria dann auch noch eine riesengroße Handtasche mit nach Hause bringt, verzieht sogar Gaby das Gesicht. Xander ist ziemlich sauer auf uns beide und düst mit Ria ab in seine Wohnung.

„Er steigert sich total da rein“, findet Gaby, während ich noch immer ungläubig auf meine Wohnungstür schaue, die soeben lautstark zugedonnert wurde. Gut, dass heute keines der Kinder bei mir schläft.

„Wir müssen rausfinden, ob es ihm ernst damit ist“, findet sie außerdem.

„Womit?“

„Mit dem Transenzeug.“
„Ehm …?“
„Er hat schon öfter Andeutungen gemacht …“
„Du meinst, er wäre lieber eine Frau? Also sowas hat er zu mir noch nie gesagt…“
„Zu mir auch schon lange nicht mehr. Aber schau ihn dir an. Und dass er sich ausgerechnet Ria als Assistentin ausgesucht hat, ist sicher auch kein Zufall …“
Ich bin irgendwie total vor den Kopf gestoßen.

„Hey, Jordan? So schlimm kann das für dich doch nicht sein, oder? Du sagst doch, dass du nicht zwischen den Geschlechtern unterscheidest.“

„Ja … nein, das nicht. Aber Xander ist zurzeit so … tussig. Ich meine, du bist auch eine Frau und trotzdem brauchst du nicht jeden Morgen ‘ne Stunde im Bad…“
„Ja, ich BIN eine Frau und er will wirken wie eine. Dazu ist viel Arbeit nötig.“
„Das ist doch total oberflächlich.“
„Vielleicht. Aber Ria ist doch auch immer so aufgetakelt.“
„Ja, aber das ist einfach was anderes. Wenn ich mit ihr zusammen wäre, würde mich das auch stören.“
„Naja, ich schätze, wenn es ihm wirklich ernst ist, dann haben wir keine Wahl außer, ihn zu unterstützen, oder?“
Ich nicke nur und versuche herauszufinden, was genau mir solche Angst macht.

Ich glaube, Xander hat nur generell ein Problem mit seinem Körper und deshalb versucht er auf die Art, ihm zu entfliehen oder ihn zu kontrollieren oder so. Aber ich weiß, wie es ist, wenn Xander eine fixe Idee hat. Davon ist er dann nicht mehr abzubringen. Ich kann also nur hoffen, dass das Ganze nur eine Phase ist. Genau wie die Tatsache, dass er neuerdings nicht mehr auf offener Straße von mir angefasst werden möchte, zumindest nicht, wenn Handykameras von Teenie-Mädels auf uns gerichtet sind. Das kann nur leider jederzeit der Fall sein. Ich brauche dringend was zu tun, um nicht so viel über Probleme nachdenken zu müssen, die noch gar nicht aktuell sind.

Deshalb beschließe ich, Scott mal wieder nach Aufträgen zu fragen. Er hat eine viel bessere Idee:

„Warum steigst du nicht bei mir ein? Du kannst natürlich trotzdem auch noch kreative Aufträge annehmen. Aber du bist ein echt guter Scout und auch die Künstler, die ich unter Vertrag habe, könnten viel von deinen Erfahrungen profitieren. Du kennst das Geschäft von einer ganz anderen Seite als ich. Und außerdem hättest du auf die Art ein festes Einkommen jeden Monat.“
„Das klingt schon interessant. Ich meine, ich brauche nicht unbedingt ein festes Einkommen, aber …“
„Täusch dich da nicht. So eine Scheidung ist teuer. Und der Großteil deiner Rücklagen liegt auf irgendwelchen Sparern für die Kids. Das würde ich auch so lassen, denn den Zinssatz kriegst du heute gar nicht mehr, wenn du was Neues abschließt. Dylan und du habt ja damals keinen Vertrag gemacht …“
„Sco-hott.“
„Nein, das sollte kein Vorwurf sein. Ich will dir nur klar machen, dass du demnächst für vier Kinder und einen Exmann Unterhalt zahlen musst. Und zusammen mit deinen sonstigen Fixkosten wird es dann schon knapp an flüssigem Vermögen.“
„Aber das kann doch gar nicht sein, ich meine, ich hatte doch so viel auf der hohen Kante!“
„Naja, der Hauskauf, das Studium … sowas zehrt an den Rücklagen. Du bist natürlich weit davon entfernt, pleite zu sein. Aber wenn du weiter gut leben willst, solltest du zusehen, dass monatlich was rein kommt.“
„Uff. Und ich dachte, ich müsste im Leben nicht mehr arbeiten. Sicher, dass es eine gute Idee ist, wenn wir wieder zusammen arbeiten?“
„Ich denke, ich kann mich beherrschen. Wie steht‘s mit dir?“
„Ich bin mit meinen beiden Lieblingen momentan auch bedient.“

Endlich meldet sich David und verkündet, Max und er seien am Wochenende in L.A. und würden gern Samstag was mit mir unternehmen. Am liebsten Shoppen. Für David nehme ich sogar das auf mich und so treffe ich die beiden Neu-Amerikaner in einem Outletcenter und führe sie durch Jeans-Jungle und Sportbekleidungs-Overflows. Dabei begegne ich Luke aus San Francisco wieder, überlebensgroß und in sportlicher Pose an der Wand des Puma-Outlets. Außerdem springt ein neues Lieblings-Hemd für mich raus, das ich trotz Scotts Vortrag über meine finanziellen Engpässe kaufe. Und David und Max lernen auch mal Xander und Ria kennen, die beim Shoppen natürlich immer dabei sind.

Man merkt, dass bei David und seinem Freund irgendwie die Luft raus ist. Sie verhalten sich ein bisschen wie ein altes Ehepaar, verstehen sich zwar ohne Worte, aber haben sich scheinbar auch nicht mehr wirklich viel zu sagen. War es zwischen mir und Dylan auch so? Ich kann mich gar nicht mehr so recht erinnern. Ich hab ihn schon seit Wochen nicht mehr gesprochen, außer dem beklommenen „Hallo“ und „Tschüss“ bei der fast täglichen Übergabe der Zwillinge. Wie kann es mit Menschen, die mal so schrecklich ineinander verliebt waren, nur so weit kommen?

Zu Halloween gehe ich erst mit Gwen im Doppelpiratenkostüm Süßkram sammeln und danach mit Scott/Abraham Lincoln auf eine Party. Geschäftlich natürlich. Xander hat mir nämlich zu verstehen gegeben, dass er auf die Party seines Managements lieber ohne mich gehen will, um Konflikte zu vermeiden. Tyler darf aber mit. Als er dann erfahren hat, dass mein Alternativplan Scott involviert, ist er ziemlich eingeschnappt gewesen. Da kann ich ihm aber auch nicht helfen. Er hat noch klargestellt, dass die Erlaubnis, auch mit anderen zu schlafen, nicht für Ex-Freunde gilt und ist ins Bad verschwunden, um seine Pharaonen-Schminke aufzulegen. Ich hätte vielleicht erwähnen können, dass Collin auch auf der Party sein wird, aber ich bin eben sauer gewesen.

Scott stellt mich einer jungen Band vor, die er seit ein paar Monaten unter Vertrag hat. Die sind alle etwa in Kates Alter, schätze ich. Und sie wittern den ganz großen Erfolg. Irgendwie ist es, als würde mir ein Spiegel vorgehalten werden. Bei uns hat damals tatsächlich alles hingehauen. Da war auch viel Glück im Spiel. Ich hoffe, dass es für die Gekkos ebenfalls so gut läuft. Und dass sie mehr draus machen als wir. Als ich den Jungs so erzähle, worauf sie bei der Wahl eines Labels achten sollten und was eigentlich gute PR ausmacht, überkommt mich das dringende Bedürfnis, Xander und die O-Scars von ihrem Diktatur-Management zu befreien. Und außerdem will ich Halloween nicht mit Arbeiten verbringen, sondern mit Xander und Gaby! So weit ist es auch gar nicht zu ihrer Party. Ich könnte ja wenigstens mal da vorbeischauen …

Schicker Club. Allerdings gibt’s einen Türsteher, der fleißig Namen auf Listen abhakt. Na toll. Ich probier‘s mal mit John Smith, ernte dafür aber nur ein mildes Lächeln und werde höflich gebeten, den Eingangsbereich freizumachen.

„Ryan!“, rufe ich überrascht aus. „Ich wusste gar nicht, dass du auch kommst.“
„Xander hat mich eingeladen. Ich war auch ziemlich überrascht. Ist er schon drinnen?“
„Ja. Bist du allein?“
„Ja …“
„Alles klar. Ryan Paulson plus eins“, erkläre ich dem Türsteher und kann mir ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen, als er uns zähneknirschend durchwinkt.

„Und wie sollen wir Xander in dieser Menschenmenge finden?“, fragt Ryan besorgt.

„VIP-Bereich, schätze ich. Willst du erst mal was trinken?“

„Irgendein Bier“, nickt er.

Ich hole uns eine Runde und entdecke auf dem Weg zurück den Kerl, der damals, an dem Tag, als Xander mit mir Schluss gemacht hat, mit den O-Scars im Studio war. Er erkennt mich auch sofort und kommt mit kühlem Blick auf mich zugesteuert.

„Mister Bonnano.“
„Handerson“, korrigiere ich ihn.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich suche nur Xander.“
„Ich meine, er hätte Sie gebeten, ihn heute Abend nicht zu begleiten.“
„Und ich meine, dass Sie das einen Dreck angeht.“
„Sie sind betrunken. Es ist im Interesse aller, wenn Sie draußen ein wenig frische Luft schnappen und sich dann ein Taxi nach Hause nehmen.“
„Wissen Sie, ich kenne Kerle wie Sie und …“
„Gibt es hier ein Problem?“, fragt ein schwarzer 400-Pfund-Kerl.

„Mr. Handerson braucht ein Taxi, das ihn nach Hause bringt.“
„Jordan?! Was willst du denn hier?!“

„Hey Schatz“, grinse ich charmant.

„Das glaub ich jetzt nicht“, entgegnet Xander völlig uncharmant. „Geh nach Hause, bitte.“
„Ich dachte, du willst dich nicht mehr von diesen Haien rumschubsen lassen.“
„Du machst es doch so nur schlimmer für mich. Wir reden daheim, okay? Aber geh jetzt bitte.“
Der Koloss packt mich ruppig am Arm. Ich glaub das jetzt nicht! Scheinbar lohnt es sich nicht, drum zu kämpfen, dass ich hier bleiben kann, da Xander mich überhaupt nicht hier haben will. Mir bleibt also nur, auf Scotts Party zurückzukehren. Aber ich bin sauer. Ich bin RICHTIG sauer.

Scott redet mit irgendwelchen wichtigen Leuten und Collin ist nicht zu sehen. Ich habe also niemanden, dem ich mein Leid klagen könnte. Immerhin gibt’s gute Musik. Die Gekkos sind auf der kleinen Bühne und rocken ziemlich. Leider hab ich den Großteil der kleinen Show wohl schon verpasst, denn nach zwei Songs und einer Zugabe bedanken die Jungs sich artig und machen die Bühne frei für eine junge Sängerin. Ich kenne diese Blicke. Die vier sind immer noch voller Energie und wissen nicht wohin damit. Ich fange den Blick des als Soldaten verkleideten Bassisten auf. Er ist hübsch. Sehr hübsch, wenn auch noch sehr jung. Er lächelt mich an. Auf diese bestimmte Art, ganz eindeutig. Ich nicke Richtung Ausgang. Er lächelt noch breiter. Alles klar.

Ich muss keine Minute warten, schon kommt er aus der Menge direkt auf mich zu. Ich fackle nicht lange, sondern küsse ihn gleich.

„Mmmmmmh“, macht er und fragt: „Bist du mit dem Auto da?“

„Hier lang.“

„Was ist das denn für eine Familienkutsche“, lacht er.

„Viel Platz, wenn man die Sitze umklappt“, grinse ich.

Das überzeugt ihn.

„Können wir zu dir?“, will er wissen, als ich gerade sein Shirt loswerden will. „Sex im Auto ist irgendwie gruslig. Vor allem an Halloween.“
Ich muss kichern: „Hast du Angst vorm Hakenmann?“

„Ich hab wohl zu viele Horrorfilme gesehen.“
„Ich wohne ‘ne halbe Stunde von hier. Hältst du‘s so lange aus?“
„Muss ich wohl.“

Also werfe ich Musik an und fahre los. Auf Reden scheint er auch keinen Bock zu haben. Er lehnt sich zurück und hört einfach nur den Guns ‘n‘ Roses zu.

Kaum fällt die Wohnungstür hinter uns ins Schloss, dreht er allerdings wieder richtig auf. Er presst sich an mich, küsst mich und zieht mich aus. Die Kante der Couch bringt meine Knie dazu, einzuknicken. Er bläst, ich komme, er will mehr, ich will zu den Gummis ins Schlafzimmer, er schiebt mich die Treppe hoch, ich angle nach der Schublade, bekomme die volle Packung zu fassen, werde gefickt und nochmal und nochmal, ich komme, ich schwitze, er stöhnt, er kommt, kommt, kommt, stöhnt, sackt zusammen, atmet, pocht, küsst.

„Schläfst du?“

„Mmmmh“, mache ich.

„Ich kann danach nicht schlafen. Ich bin viel zu aufgedreht.“
„Mach einfach die Augen zu.“

„JOR-DAN!“

Er pikst mich, ich muss lachen:
„Nicht!“

„Erzähl mir was!“
„Was denn?“
„Eine Geschichte. Oder was über dich. Irgendwas.“
„Ich bin die Sorte Mensch, die nach dem Sex gut schlafen kann.“
„Ma-hann!“

„Schon gut. Hast du Durst?“
„Schon.“
„Hunger?“
„Ein bisschen …“
„Wollen wir runter gehen und Sandwiches machen?“

„Oder du machst welche und bringst sie mir ans Bett?“, lächelt er charmant.

„Oh Mann, ich kenne nicht mal deinen Namen.“
„Leo.“

„Eiersalat oder was Süßes?“
„Beides.“
„Kommt sofort“, verspreche ich.

Gerade klappe ich die Brote zusammen, als die Haustür aufgeht und Xander und Gaby im Wohnzimmer stehen.

„Was macht ihr denn hier?“

„Wir müssen über heute Abend reden.“
„Was gibt es da zu reden, Xander? Du laberst immer rum von wegen du willst dich gegen die Firma durchsetzen, aber wenn es dann drauf an kommt, kuschst du doch wieder.“
„Ich will halt nicht mit dem Kopf durch die Wand. Hier geht es schließlich ums Geschäft. Da sollte man vielleicht etwas Professionalität wahren.“
„Schwachsinn. Du bist einfach nur feige. Und jetzt muss ich wieder hoch. Da wartet ein Kerl auf mich.“
„Was?!“

„Ich hab jemanden mit heim gebracht.“
„Das ist ja wohl nicht dein Ernst!“
„Wir hatten eine Vereinbarung. Oder war das auch wieder nur eines deiner Lippenbekenntnisse?“

Er schluchzt kurz theatralisch auf und rennt weg. Um Mitleid zu empfinden, bin ich gerade viel zu sauer.

„Ach Jordan, war das wirklich nötig?“, fragt Tyler ruhig und geht dann ebenfalls.

„Alles klar? Sind deine Mitbewohner heimgekommen?“, will Leo wissen, der nackt auf meinem Bett liegt.

„So was in der Art.“
„Willst du nichts?“, grinst er und nimmt sich das Eiersalatsandwich.

„Nö …“
Er schmatzt fröhlich vor sich hin und lobt meine „Kochkünste“.

„Du hast Kinder, oder?“

„Ja, vier.“
„Ernsthaft? Das ist toll. In 20 Jahren will ich auch ne ganze Fußballmannschaft.“

„Ist das nicht etwas spät, ich meine … wie alt bist du eigentlich?“
„17.“
„Fuck“, klatsche ich mir ans Hirn. „Das ist dann wohl die Krönung dieser Scheiß-Nacht.“
Er steht auf und funkelt mich wütend an.

„Ich, nein, so hab ich das nicht gemeint. Meine Nacht war schon scheiße, bevor ich dich aufgegabelt habe.“

„Sorry, dass ich dir noch mehr Unannehmlichkeiten bereitet habe. Danke für’s Essen.“

Er rafft seine Klamotten zusammen und verschwindet.

„Tut mir Leid“, rufe ich ihm noch hinterher.

Genial, Jordan. Heute hast du dich mal wieder selbst übertroffen.

Xander geht nicht an sein Handy, Tyler hat ihres ausgeschaltet und Ria weiß offenkundig ebenfalls schon Bescheid. Warum bin ICH eigentlich der Böse? Ich hab kein schlechtes Gewissen. Ich will nur, dass endlich wieder Frieden ist. Ich sitze also gerade allein und schlecht gelaunt über meinem Frühstück, als die Türklingel mich aus düsteren Gedanken reißt. Wenn das jetzt der minderjährige Kerl von gestern Nacht ist, springe ich aus dem Fenster.

„Dylan, hey!“

Ich bin mehr als überrascht. Außer der immer vorher abgesprochenen Zwillingsübergaben hatte ich keinen Kontakt zu ihm, seit er mir verkündet hat, dass er die Scheidung will. Ich hatte noch nicht mal Gelegenheit, ihm von Gaby zu erzählen. Das hat Nikki erledigt.

„Guten Morgen. Stören wir?“
„Nein, natürlich nicht.“ Ich nehme ihm eines der Babies ab. „Was macht ihr denn hier?“
„Ich muss mit dir reden.“
„Ich kann gerade nicht noch mehr Stress vertragen, wenn es also um die Scheidung geht …“

„Nein …“ Er setzt sich auf die Couch und lässt April am Boden rumrobben.

Ich ziehe mir einen Stuhl heran und kuschle mit Jake, der es mit der Fortbewegung nicht so eilig zu haben scheint.

„Ich hatte gestern im Zentrum Besuch. … Von deinem Vater.“
„Klaus?“, frage ich blöde, weiß aber eigentlich schon, dass es um meinen Erzeuger geht.

„Nein, Antony. Er wollte mich kennenlernen, hat er gesagt. Schließlich sei ich ja sein Schwiegersohn …“
„Doch dann hat er erfahren, dass die Scheidung läuft, hat gesehen, dass ich immer noch derselbe Loser bin wie damals und hat sich schnell wieder davongemacht.“
„Nein, er hat es verstanden. Er selbst macht auch gerade eine Scheidung durch…“
„Was?!“
„Seine Frau hat sich von ihm getrennt, als er ins Gefängnis gekommen ist. Scheinbar hat er kaum noch Kontakt zu seinen Kindern und …“
„Also hat er es auf die Mitleidstour probiert. Was bildet der sich eigentlich ein, einfach so bei dir aufzutauchen?!“
„Fünf Jahre Knast verändern einen Menschen. Er bereut, wie sein Leben verlaufen ist. Das glaube ich ihm auch.“
„Bist du jetzt auf seiner Seite?! Weißt du, was mir diese Familie angetan hat?! Was will der noch von mir?!“

„Vergebung, Jordan.“
„Mann, hör auf, so zu tun als würdest du ihn kennen, nur weil ihr beide im Knast wart.“
„DU weißt nicht, wie das ist!“

Die Kinder schauen unsicher zu uns auf. Dylan senkt seine Stimme:

„DU kannst nicht wissen, wie es ist, jahrelang in einer Zelle zu sitzen, weil sie der einzig sichere Ort ist, an dem du nicht Gefahr läufst, wegen einer Packung Kippen erstochen zu werden. Da hat man viel Zeit, sich Gedanken zu machen. Du weißt nicht, wie es ist, zu wissen, dass man nie mehr gut machen kann, was passiert ist. Und wie sehr man sich einfach nur danach sehnt, zu hören, dass einem vergeben wird.“
„Weißt du, Dylan, ich hab’s langsam satt, dass du das immer so betonst. Ich hab auch eine Scheißzeit hinter mir. Glaubst du, die Drogenentzüge waren ein Ausflug nach Disneyworld?!“
„Es geht jetzt nicht um uns, es geht um deinen Vater. Du hast keine Ahnung, was er durchgemacht hat. Ich kann es mir vorstellen und ich sage dir, dass er zumindest die Chance verdient hat, dich zu sehen. Die Hoffnung darauf hat ihn die verdammten Jahre durchstehen lassen! Du bist sein Sohn, du schuldest ihm das! Lies wenigstens seinen Brief.“

Er gibt mir ein weißes Couvert.
„Ich schulde dem Kerl gar nichts! Und ich will ihn nicht sehen! Und du, halt dich da verdammt noch mal raus!“

„Das kann ich aber nicht. Wenn du nur wüsstest, wie es ist, jahrelang im Knast zu verrotten!“
„Wenn du wüsstest wie es ist, monatelang in einem Krankenhausbett zu verrotten, nicht wissend, ob du je wieder normal leben können wirst, dann wüsstest du, warum ich mich durch nichts umstimmen lassen würde!“

„Ich kann aber nicht ändern, dass ich die Erfahrung nie gemacht hab, also …“
„Ja und ich war nie im Knast. Ist halt so. Und als ich an diesem Abschreckdings-Tag mitmachen wollte, hast du mich nicht gelassen. Also beschwer dich jetzt nicht.“
„Weil ich dich schützen wollte! Das Programm ist zur Abschreckung gedacht und es funktioniert. Da wirst du behandelt wie ein echter Strafgefangener.“
„Das ist ja auch der Sinn der Sache, oder? Wenn ich das mache und dann immer noch der Ansicht bin, dass mein Vater nicht verdient, Kontakt zu mir zu haben, lässt du mich dann damit in Ruhe?“
„Ich lass dich das aber nicht machen.“
„Ich frag dich nicht um Erlaubnis.“
„Jordan, das ist kein Spiel!“
„Das weiß ich doch. Ich mache das sicher nicht zum Spaß. Und ich mache das auch nicht wegen meinem Dad, Dylan. Ich mache das, um zu verstehen, wie du zu dem Mann geworden bist, der du bist.“

Etwas verändert sich in seinem Blick.

„Willst du das wirklich?“
„Ja, Dylan.“

„Dann werde ich dich anmelden, sobald wieder Jungs aus dem Zentrum teilnehmen.“

„Danke.“
„Aber wenn du da reingehst, dann gehe ich auch.“

Man merkt ihm deutlich an, dass er mächtig Schiss davor hat, wieder mit einem Gefängnis konfrontiert zu werden. Er hat es bisher sogar immer vermieden, Kids aus dem Zentrum im Knast zu besuchen.

„Du musst das nicht tun, Dylan.“
„Doch. Ich könnte dich da niemals alleine rein lassen. Wenn dir irgendwas zustößt …“
„Komm schon, es sind nur vierundzwanzig Stunden …“
„Das sind für Neulinge die gefährlichsten. Versuch nicht, mir das auszureden. Du hast schon genug von mir verlangt.“

„Danke Dylan. Ich weiß wirklich zu schätzen, dass du das für mich tust.“

Als die Babies müde werden, verabschiedet Dylan sich und ich fahre zu Xander. Hoffentlich ist er zu Hause. Ich halt es nicht aus, allein in meiner Wohnung zu sitzen. Den Brief meines Vaters kann ich auf keinen Fall ohne ihn aufmachen.

Gaby steht im Türrahmen und mustert mich abschätzig:
„Bist du hier, um zu streiten oder um dich zu entschuldigen?“
„Mein Vater hat sich gemeldet.“

Sofort tritt sie beiseite und lässt mich in die Wohnung. Xander stand wohl hinter der Tür und schaut mich aus angsterfüllten Augen an:
„War er bei dir?“

„Nein, er war bei Dylan im Zentrum und hat ihm diesen Brief für mich gegeben.“
„Willst du ihn lesen?“
„Ich bin nicht sicher …“

„Tu es nicht. Ich will diesen Kerl nicht mehr in unserem Leben haben.“
„Ich auch nicht. Aber das sind bloß Worte …“
„Nein, Jordan. Wirf ihn weg.“
„Wirklich?“
„Ja, bitte.“
Ich werfe das Couvert also in den Mülleimer.

„Gut. Lass uns einfach vergessen, dass Antony existiert.“
Ich nicke zwar, aber mein Bauch sagt mir, dass das nicht richtig ist.

„Und keine fremden Männer mehr in deinem Bett, okay?“, flüstert Xander.

„Okay.“
„Ich liebe euch beide.“
„Und wir lieben dich“, antwortet Gaby.

„Ich muss los“, flüstere ich in der Dämmerung.

„Wirklich?“, säuselt Gaby.

„Ja, ich muss so einen Club auschecken …“

Xander schläft, und auch unsere Freundin kuschelt sich in ihr Kissen. Ich schleiche mich also raus. Mein Blick fällt auf den Mülleimer im Wohnzimmer. Der Brief … kurzentschlossen nehme ich ihn mit, lege ihn ins Handschuhfach meines Wagens und versuche, nicht mehr daran zu denken.

„Was machst du eigentlich Thanksgiving“, fragt Nikki mich später  am Telefon.

„Keine Ahnung, wann ist das?“
„In zwei Wochen.“
„Das Jahr war irgendwie schnell um …“
„Wir würden gern zu Olivers Eltern fahren. Kommst du irgendwo unter? Sonst können wir auch …“
„Hey, ich brauche keine Mitleidseinladungen.“
„Schon gut, ich wollte nur höflich sein. Na gut, dann holst du Gwen Mittwoch und Donnerstag ab und ich sie Montag und Dienstag.“
„So machen wir’s …“

Thanksgiving. Soll ich zu Mum fahren? Vielleicht mit den Zwillingen? Oder Soll ich hier mit Ned und Ellie, Nikkis Eltern feiern. Aber deren Enkelkinder sind dann ja gar nicht dabei … Und was plant wohl Dylan? Am liebsten würde ich einfach den ganzen Tag mit Xander und Gaby im Bett bleiben … deshalb schneide ich das Thema am nächsten Tag mal an. Und bekomme eine ernüchternde Antwort:

„Wir fahren nach Hause, so wie jedes Jahr.“
„Bin ich auch eingeladen?“
„Jordan, du weißt doch, wie meine Eltern sind. Ich will keinen Stress am einzigen Feiertag, an dem mal die ganze Familie zusammenkommt.“

Gerade will ich ihm sagen, wie leicht er mal wieder seine Überzeugungen vergisst, um es gemütlich zu haben. Aber leider unterbricht mich mein klingelndes Handy. Dylan.

„Hey!“
„Hi Jordan. Hör mal, der nächste Termin im County-Jail ist nächsten Montag. Wenn dir das aber zu schnell geht …“
„Nein, melde mich an.“
„Du kannst es dir auch noch anders überlegen …“

„Nein, werde ich nicht.“

Xander und Gaby halten mich für völlig durchgeknallt. Sie verstehen nicht, warum mir das so wichtig ist. Xander versucht sogar, es mir zu verbieten. Aber er ist gerade der Letzte, auf den ich hören würde. Er hat sich verändert, ist nicht mehr der Xander, mit dem ich damals zusammen gewesen bin und das sage ich ihm auch. Die nächsten Tage sehe ich ihn nicht. Er reagiert auch nicht auf die SMS, in der ich ihn frage, ob er die Zwillinge babysitten könnte, während Dylan und ich hinter Gittern sind. Erst am Vorabend meiner „Haft“ steht er mit Gaby vor der Tür. Ich solle gut auf mich aufpassen. Außerdem bieten sie an, die Zwillinge zu nehmen, was natürlich viel zu spät kommt. Inzwischen habe ich schon Nikki dazu überredet.

Dylan holt mich morgens um sieben ab, nachdem er schon Jake und April abgesetzt hat. Xander, der sich ängstlich und etwas säuerlich von mir verabschiedet, droht ihm:

„Wenn du ihn mir nicht in einem Stück zurückbringst …“

Weiter sagt er nichts, doch sein Blick ist so düster, dass das auch nicht nötig ist. Ich gebe ihm und Gaby noch einen allerletzten Kuss, dann muss ich los.

„Du hast doch kein Bargeld dabei, oder?“, fragt mich Dylan auf dem Weg die Treppen runter zum Auto.

Dabei schaut er mich nicht an. Er ist verletzt, es tut ihm immer noch weh, mich mit Xander zu sehen. Und ich will gar nicht wissen, was er von unserer Dreierbeziehung hält …

„Nein, nichts. Nur meinen Führerschein und eine Versicherungskarte. Auch keinen Schmuck oder so.“
„Gut.“

Seine Miene ist versteinert, selbst als er mir ganz selbstverständlich die Autotür aufhält. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das nur an Xander liegt. Er bereitet sich wohl auch auf seine Rückkehr ins Gefängnis vor.

„Kann ich Musik anmachen?“, frage ich, weil das Radio aus ist.

„Ist mir gleich.“
„Jake hat gestern ‚bitte’ gesagt“, versuche ich, ein fröhliches Thema anzuschneiden.
„Ja, man kann in sein Gebrabbel viel hineininterpretieren“, entgegnet mein Noch-Ehemann trocken.

„Mhm …“
„Ich will nicht unhöflich sein, Jordan. Aber können wir das mit der Unterhaltung bitte sein lassen? Da hinten liegen noch ein paar Papiere, die du unterschreiben musst.“
Wenn er das wenigstens irgendwie zornig oder … keine Ahnung, gemein sagen würde … aber diese absolute Ausdruckslosigkeit macht mir richtig zu schaffen. Es ist, als hätte er mich komplett aus seiner Welt verstoßen. Ich bin jetzt ein Fremder, wie alle anderen auch, außer den Kindern.

Als wir vor dem Zentrum parken, werde ich langsam nervös. Vier Skins warten mit Vanessa  und zwei Cops schon vor der Tür. Dylan begrüßt sie ernst.

„Seid ihr bereit? Habt ihr alles unterschrieben? Unser Bus sollte jeden Moment hier sein.“
Die Jungs nicken und schlucken nervös. Vanessa nickt mir nur kurz verhalten zu. Dann bekomme ich Handschellen an und ein weißer Bus mit der Aufschrift „L.A. County Scheriff’s Department“ biegt um die Ecke.

Beim Einsteigen werden wir kurz abgetastet. An Board sind neben dem Fahrer auch vier bewaffnete Officers. Ich hasse Schusswaffen. Aber ich habe mich bereits drauf eingestellt, dass ich in den nächsten Stunden einige davon zu Gesicht bekommen werde. Die Passagiere sind fast alle Schwarze oder Latinos. Ich bin froh, dass ich anders als Dylan und die Jungs nicht wie ein Rechter aussehe. Trotzdem werde ich mit Blicken durchbohrt. Ich setze mich neben einen alten Schwarzen, der unbeirrt weiter aus dem Fenster starrt. Ich bekomme Fußschellen, die am Sitz meines Vordermannes festgeschnallt werden. Was, wenn der Bus einen Unfall hat? Was, wenn es ein Feuer gibt? Wir würden alle bei lebendigem Leib verbrennen. Ich schiebe den Gedanken beiseite und schaue mich um. Die meisten starren aus dem Fenster oder auf ihre Füße. Auch Dylan sitzt mit ausdrucksloser Miene ein paar Reihen hinter mir. Als mein Blick durch die Reihen wandert, bemerke ich plötzlich feindselige Augen, die mich anstarren. Sie gehören zu einem grimmigen, schwarzen Kerl. Er reckt sein Kinn vor, als wollen er ‚Hast du ein Problem?!’ fragen. Schnell drehe ich mich zurück.

„Das erste Mal im Knast?“
Der Alte neben mir schaut mich immer noch nicht an, aber sein Gesichtsausdruck zeigt so was wie Amüsiertheit.

„Ja …“, antworte ich zögerlich.

„Merkt man. Zieh den Kopf ein und halt die Klappe.“

Das klingt, trotz der harten Worte, wie ein gut gemeinter Rat. Einer, den ich beherzige.

Als der schlecht gefederte Bus endlich zum Stillstand kommt, müssen erst mal die Ketten jedes Einzelnen gelöst werden. Das dauert. Wir werden in Vierergruppen zusammengeschnallt. Dylan hat es irgendwie geschafft, in meine Gruppe zu kommen. Er ist ganz hinten, ich bin der zweite von vorne. Der Kerl hinter mir macht mir Angst. Er sieht aus, als wäre er auf Drogen, Crystal vermutlich. Wenn der jetzt einen psychotischen Schub kriegt und ausflippt … Wir werden vorangetrieben wie Vieh. Ich komme mir ziemlich ausgeliefert vor. Die Vorstellung, zu wissen, dass man die nächsten Jahre unter dem Kommando der verkniffen-aggressiven Herren in Uniform verbringen muss … Horror.

Die Sonne knallt auf den Hof, am Zaun stehen ein paar Häftlinge und pfeifen den „Frischlingen“ nach. Ich habe Durst. Wir müssen Schlange stehen. Einige andere Busse sind wohl gerade vor uns angekommen und werden erst mal abgefertigt. Alle schauen grimmig, aber am grimmigsten schauen die Wärter, die meisten sind weiß. Einige haben automatische Waffen, andere „nur“ normale Pistolen. Ich drehe mich immer wieder nervös nach Dylan um. Bin ich froh, dass er da ist, auch wenn er mich gekonnt nicht beachtet. Der Kerl zwischen uns stiert in den Himmel. Gleich erzählt er uns bestimmt was von Aliens oder Killervögeln oder so, ich kenne solche Leute. Wir werden mit einem Hand-Metalldetektor durchsucht. Dabei kommt einiges zum Vorschein. Die Leute können doch nicht ernsthaft gedacht haben, dass sie mit so was in den Knast kommen. Andererseits … in den Bus haben sie es ja auch geschafft.

Wir werden in einen fast tiefgekühlten Raum geschleust. Da müssen wir unsere persönlichen Gegenstände abgeben. Auch den Gürtel, die Schuhe, die Hose, alles, bis auf die Unterhose. Und das in einem Raum voller Fremder. Ich dachte immer, Leibesvisitationen würden in einer stillen Kammer stattfinden, aber das…

Zumindest bin ich die Fesseln los, und den seltsamen Kerl. Wir sitzen alle in Unterwäsche rum, erfrieren und warten darauf, dass wir in einen Becher pinkeln dürfen. Ich habe die Jungs aus den Augen verloren und Dylan auch. Zur Beruhigung betrachte ich das Tattoo auf meinem Ringfinger. Dylan. Was, wenn ich in einen anderen Block komme als er? Ich will hier drinnen nicht ganz auf mich allein gestellt sein.

Nach einer halben Stunde, schätze ich, denn eine Uhr habe ich ja nicht mehr, bin ich an der Reihe. Ich muss ein paar gesundheitliche Angaben machen und bekomme einen Wäschekorb mit Klamotten und Bettzeug. Dann liest mir der Beamte eine Nummer vor.

„Merk sie dir gut. Das bist jetzt du.“

Leider darf ich mir immer noch nichts anziehen. Stattdessen geht es weiter zu den Duschen. Das ist Pflicht, ich muss da rein. Hier muss ich nun auch noch meine Unterhose abgeben. Natürlich gibt es keine Kabinen. Das Wasser ist nicht mal lauwarm und stinkt nach Chlor. Keiner der anderen beachtet mich und ich versuche, nicht aufzufallen. Das klappt zum Glück. In meinem Korb finde ich auch ein Handtuch und kratzende, schlecht sitzende Unterwäsche. Naja, keine Zeit für Eitelkeiten. Ich ziehe mir eines der beiden grauen Shirts und die Jeans an, die mir zugedacht wurde und reihe mich mal wieder in eine Schlange ein, immer noch, ohne ein bekanntes Gesicht zu sehen.

In einem großen Raum bekommen wir Schuhe und einen Vortrag, der mehr gebrüllt als gesprochen wird, über die wichtigsten Regeln hier und darüber, was passiert, wenn wir sie brechen. Beim anschließenden Weitertrotten durch einen Korridor zum nächsten Raum oder wohin auch immer packt mich, als ich gerade unauffällig die Tattoos meines Vordermannes betrachte, plötzlich jemand und zieht mich einige Meter zurück, an ein paar Leuten vorbei. Mein Herz setzt aus, aber nur kurz.

„Dylan!“, zische ich.
Er bedeutet mir, ruhig zu sein. Vor uns gibt es ein Gerangel. Der große schwarze Kerl mit dem Engels-Tattoo liegt am Boden. Eine schnell wachsende Blutlache verteilt sich über das graue Linoleum. Einige Wärter zerren die Kerle, die uns gerade überholt haben, weg. Uns mustert einer kurz, scheucht uns dann aber mit gezogenem Gummiknüppel weiter. Wir müssen über den blutenden Koloss steigen, um in eine Halle zu kommen, wo wir warten sollen, bis wir aufgerufen werden.

„Danke“, flüstere ich mit zittriger Stimme und kann noch nicht so recht glauben, dass das, was ich gerade gesehen habe, wirklich passiert ist. Dylan stellt sich kommentarlos ein paar Meter von mir weg. Als einer der ersten wird seine Nummer aufgerufen. Er soll in den Zellenblock A. Als er sich noch einmal kurz nach mir umdreht, meine ich, eine Gefühlsregung in seinen Augen zu erkennen. Und es ist keine positive. Eine Ewigkeit warte ich, lese immer wieder meine Nummer auf den Aufnähern und hoffe, dass ich nicht in einen anderen Block gesperrt werde. Wenn Dylan mich gerade eben nicht zurückgezogen hätte … keine Ahnung, was dann passiert wäre. Als ich dann tatsächlich dem gleichen Block wie Dylan zugeteilt werde, kann ich mir einen Seufzer der Erleichterung nicht verkneifen, was mir gleich mal wieder ein paar mürrische Blicke einbringt. Ich versuche, möglichst groß und selbstsicher zu wirken, ohne dabei zu provozieren.

Wir werden mehr oder weniger zufällig in Zellen eingeteilt. Vier Leute in zwei Stockbetten und eine absolut unabgeschirmte Toilette. Der alte Mann aus dem Bus hat das Bett unter mir. Keiner redet, das ist seltsam. Erst als die beiden Latinos verschwunden sind, spricht er mich an.

„Also, wie lange bleibst du?“
„Nicht lange …“, gebe ich ausweichend zurück.

Dylan hat mir eingebläut, niemandem zu sagen, dass ich nur eine Nacht hier sein werde. Ich wäre sonst ein perfektes Druckmittel gegen die Behörden und so weiter. Inzwischen hab ich mich damit abgefunden, dass ich keine Ahnung habe und einfach auf das höre, was er sagt.

„Dann lass uns essen.“
„Ich verhungere schon fast“, gebe ich zu.

Der Essensraum ist kahl, die Stühle ungemütlich und nicht verschiebbar und ich bin total verspannt, weil ich ständig mit allem rechne. In der Ausgabeschlange gibt es Reibereien, Wärter mit Knüppeln sorgen für Ordnung. Der schwarze Kerl mit dem Haarnetz schleudert jedem Kartoffelbrei mit Sauce auf den Teller. Manchen mehr, manchen weniger. Gemüse ist keines zu sehen, nur ein zähes Stück Fleisch, das ich zwar nehme, weil ich mich nicht traue, irgendwie weichlich zu wirken, dann aber übrig lasse. Dylan ist nicht zu sehen.

„Nach wem hältst du Ausschau?“, fragt mein alter Zellengenosse, der sich zu mir an den Tisch gesetzt hat.

„Niemand …“
„Du lügst wirklich miserabel. Das solltest du üben.“
„Mhm.“
„Suchst du deine White-Pride-Freunde?“
„Sie sind nicht … ich meine, ach keine Ahnung.“
„Die Essen vermutlich in der VIP-Lounge, bei den restlichen Rednecks.“

Ich kann mein Interesse wohl nicht gut verbergen, denn er grinst mich an und erzählt weiter:
„Die Wärter lassen ihre Kameraden drüben im Aufenthaltsraum essen. Nicht jeden Möchtegern-Arier, aber du weißt ja sicher selbst, dass dein großer Freund nicht irgendjemand ist.“

Er wartet auf eine Reaktion von mir. Ich zucke die Schultern und bedeute ihm, weiter zu erzählen.

„Handerson hat hier in diesem Block einige Jahre verbracht und hat es zu einigem Ansehen bei den Wärtern gebracht. Nur so hat er es geschafft, vorzeitig entlassen zu werden. … Also, woher kennst du ihn?“
„Wer sagt, dass ich ihn kenne?“
„Ihr seid zusammen in den Bus gestiegen.“
„Na und? Wir kommen aus dem gleichen Bezirk.“
„Wie du willst, Junge. Geht mich auch absolut nichts an. Aber lass dir eines gesagt sein: Dem Kerl ist nicht zu trauen. Um hier rauszukommen, hat er wirklich alles getan. Man sagt, er hat sich sogar einen Stecher unter den Wärtern gesucht. Hier drinnen ist sich jeder selbst der Nächste, merk dir das.“
„Mhm.“


Ich schiebe mir noch einen Löffel Kartoffelpüree in den Mund und fange langsam an, das Gesagte zu verarbeiten. Dylan hatte was mit einem Wärter. Eine ungleichberechtigtere Beziehung kann ich mir nicht vorstellen. Was er wohl alles hat über sich ergehen lassen? Und wofür? Für fünf Minuten länger Hofgang? Für ein größeres Stück Fleisch? Bei dem Gedanken schüttelt es mich. Den Fraß rühre ich nicht mehr an, genauso wenig wie mein Genosse.

„Also, mein Name ist Trevor. Und deiner?“
„Jordan.“
„Wirklich? Wie der Fluss? Schön da, warst du mal dort?“
„In Israel? Nein.“

„Sind deine Eltern gläubig?“
„Meiner Mutter hat einfach nur der Klang des Namens gefallen, glaub ich.“
„Verstehe. Also, soll ich dich ein bisschen rumführen? Oder isst du das noch?“
„Wohl eher nicht.“
„Gute Entscheidung.“

Er zeigt mir die Gemeinschaftsduschen des Blocks, die Wäscheabgabestelle, den (noch verschlossenen) Weg zum Hof, den fast immer geschlossenen Kiosk und den Aufenthaltsraum, in dem einige Weiße auf Couchen sitzen und essen. Dylan ist dabei, das sehe ich im Vorbeigehen. Wir sind schon wieder auf halbem Weg zur Kantine, als mich seine Stimme zusammenzucken lässt:

„Trevor!“

Der Ton ist kalt und schneidend. Mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken.

„Handerson“, gibt der gespielt überrascht und erfreut zurück.
„Was glaubst du, was du da tust?“
„Ich zeige meinem neuen Mitbewohner die Gegend.“
Dylan bewegt sich auf uns zu, selbstsicher, geradlinig, mit bohrendem Blick.

„Wie großzügig von dir, alter Freund. Aber das übernehme ich jetzt selbst. Du kannst gehen.“
Trevor scheint nicht eingeschüchtert. Er grinst, was eher wie ein Zähnefletschen wirkt.

„Sicher, Boss.“
Trevor verschwindet. Ich finde das überhaupt nicht gut.
„Was sollte das denn?“, zische ich Dylan zu, nachdem ich sichergestellt habe, dass niemand in Hörweite ist. Eine Wache kommt in dem Moment um die Ecke.

„Ist hier alles klar?“
„Sicher doch, Bones. Ich brauche mal ein paar Minuten Privatsphäre. Der Neue kennt seinen Platz noch nicht.“
Der Wächter verzieht das Gesicht und deutet auf die Tür neben uns.

„Fünf Minuten.“
„Alles klar, Chef.“
Der Kerl sperrt die Türe auf und ehe ich weiß, wie mir geschieht, befördert Dylan mich unsanft da rein.

Die Tür fällt ins Schloss, es gibt keine Klinke. Wir sind in der Putzkammer eingeschlossen. Es ist fast ganz dunkel.

„Hör zu“, flüstert Dylan, während er mich gegen die Wand drückt und mein Oberteil zerknittert. „Trevor kann man nicht trauen. Er hat mehr Zeit hier drinnen verbracht als draußen. Er hasst mich und das zu Recht.“

Dylan macht unvermittelt ein paar kehlige Geräusche für die Wache vor der Tür.

„Und was hat das mit mir zu tun?“
„Denk nach, Jordan. Er war bei der Registrierung in deiner Nähe. Er hat deinen Nachnamen gehört und jetzt denkt er, wir sind verwandt.“
„Oh.“
„Mach das noch mal, aber lauter.“
„Oh! Ah!“

Er wirft lautstark einen Besen um.

„Aber der Kerl ist in meiner Zelle“, fällt mir ein.
„Das war vermutlich Absicht. Aber da krieg ich dich schon raus. Und jetzt: Schau verängstigt drein.“

Das bekomme ich gut hin, denn ich hab tatsächlich ziemlich die Hosen voll. Die Wache grinst dämlich, als Dylan mich am Arm herausschleift.

„Ich will ihn in meiner Zelle.“
„Am ersten Tag schon Extrawünsche?“
„Ich kann auch gleich mit Red reden.“
„Schon gut, ich schau, was sich machen lässt“, knurrt er und verschwindet.
„Wir packen jetzt gleich dein Zeug zusammen und wenn das mit der Verlegung nicht klappt, dann verschwindest du von hier.“
„Und was ist mit dir?“
„Ich kann die Jungs nicht allein lasen. Wenn rauskommt, dass ich nur ein Besucher war, dann haben sie richtig Ärger an der Backe.“
„Ich werd dich hier nicht allein lassen, Dylan. Du bist doch nur wegen mir wieder hergekommen.“
Er will kurz widersprechen, dann sieht er meinen Blick und erkennt, dass das sinnlos wäre. Er drückt mir ein Pflaster in die Hand:
„Kleb das über meinen Namen. Nur zur Sicherheit.“

Sein Ringfinger ist ebenfalls schon mit so einem Teil umwickelt.

Trevor sitzt auf seinem Bett. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er so gefährlich ist, wie Dylan tut.

„Ah, da seid ihr ja wieder.“

„Halt einfach dein Maul, alter Mann.“
Ich bleibe an der Gittertür stehen, während Dylan meine wenigen Habseligkeiten zurück in den Wäschekorb wirft.

„Ziehst du schon aus, Jordan?“
„Sprich ihn nicht an. Halt dich einfach von ihm fern. Wenn ich dich auch nur in seiner Nähe rumschleichen sehe, töte ich dich.“

Wow, ich glaube ihm auf’s Wort.
„‘türlich Boss. Verstanden“, erklärt Trevor sarkastisch und salutiert im Sitzen.

Sein Blick durchbohrt mich. Ich erkenne etwas von einem Raubtier in ihm, bekomme echt Angst und gehe ein paar Schritte aus der Zelle.

Wir müssen zwei Industrietreppen nach oben. Ich bin froh, dass ich nicht an Höhenangst leide. Dylan hat eine Zweierzelle. Sein Kompagnon sitzt auf dem unteren Bett. Ein düsterer Skin.

„Verzieh dich runter in die Vierzig. Jemand muss auf Trevor aufpassen.“
Ohne Murren packt er zusammen und verschwindet.

„Mach’s dir bequem.“

„Dürfte hier schwer werden. Also, kennen wir uns jetzt offiziell?“
„Offiziell bist du mein verängstigter kleiner Schoßhund.“
„Wunderbar, davon hab ich schon immer geträumt.“

Ich stelle meinen Korb neben das Bett und schaue auf meine zitternden Hände.

„Ich pass auf dich auf, Jordan.“

„Ich weiß. Danke.“

Er lächelt mich kurz schief an. Das erste ehrliche Lächeln von ihm, das ich seit Monaten bekomme.

„Also, dann mal ab an die frische Luft.“
„Sollen wir nicht erst warten, ob das mit der Verlegung klappt?“
„Das wird Red schon regeln.“
„Ist das der Wärter, mit dem du was hattest?“
Ich frage das sehr vorsichtig, wohl wissend, dass ich alte Wunden wieder aufreißen könnte. Er bemerkt meinen Blick und grinst:

„Das ist schon okay, Jordan. Es war nicht so, wie es sich anhört. Red ist … naja, er hat nichts verlangt oder so …“
„Du musst mir das nicht erzählen.“
„Ich weiß. Mir ist nur wichtig, dass du nicht denkst, das wäre irgendeine kranke Profit-Nummer gewesen. Das war nur ein angenehmer Nebeneffekt.“

„Warum habt ihr euch dann nicht weiter getroffen, als du draußen warst?“
„Er ist verheiratet, hat Kinder und so. Es stand von Anfang an fest, dass meine Entlassung das Ganze beendet. Und jetzt sollten wir echt gehen. Komm schon.“

Was dann folgt, ist eine Mischung aus schlechtem Theater, falschem Film und gespaltener Persönlichkeit. Dylan wirkt wie einem Gefängniskrimi entsprungen. Einem, in dem er nicht den Guten spielt. Die meisten anderen sind total hohl und aggressiv, ich mache mich so weit es geht unsichtbar und beobachte, was auf dem Hof passiert. Die Gesichter der Männer sind vom Stress gezeichnet, kaum jemand, außer den gekünstelt-lässigen Pimps und Homies und was weiß ich wie sie sich nennen, wirkt entspannt. Jeder schaut ständig über seine Schulter. Schon in den ersten paar Minuten sehe ich dreimal, wie Geld oder andere kleine Päckchen unauffällig den Besitzer wechseln. Auch zwischen Gefangenen und Wärtern.

Nach einer Weile marschiert unsere Truppe Richtung Kraftgeräte. Die Häftlinge dort verziehen sich wie eine Horde Beutetiere, die froh ist, dass die Kojoten nicht hungrig zu sein scheinen.

„Setz dich da hin und zähl laut mit“, fordert Dylan.

Ich gehorche und setze mich auf den harten Betonboden, während er noch ein paar zusätzliche Gewichte an der Stange befestigt und anfängt, sie zu stemmen. Dann zähle ich und zähle und zähle. Imponiergehabe. Draußen kann er das absolut nicht ab. Oder schauspielert er da draußen und ist hier er selbst? Nein, sowas darf ich nicht mal denken.

Wir sind zwar im Schatten einer Mauer, doch es ist trotzdem noch verdammt heiß. Obwohl ich mich kaum bewege, triefe ich vor Schweiß, als die harten Kerle endlich genug angegeben haben und sich eine andere Beschäftigung suchen. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, hier noch mal zu duschen …

Dylan hält mich zurück, als ich dem Trupp wieder nachtrotten will.

„Wo glaubst du, gehst du hin?“
„Ehm, ich dachte …“
„Du bleibst schön hier bei mir und zählst weiter.“

Das ganze Trainingsareal gehört uns, niemand versucht auch nur, uns das streitig zu machen. Dylan trainiert weiter, ich sitze daneben, aber ohne zu zählen.

„Sind sie durch die Tür gegangen?“
Ich sehe nach.

„Ja, niemand mehr zu sehen.“

„Und drüben bei den Telefonen?“
„Oh, ja, da sind zwei von ihnen.“
„Dann hab ich gleich ein Problem.“
„Warum?“
„Die Telefone wurden gerade erst freigeschaltet. Jetzt haben sie die Möglichkeit, Erkundigungen über mich einzuholen. Es wird also nicht mehr lange dauern und sie können sich denken, dass ich nicht wirklich hier bin, weil ich einen Latino verprügelt habe.“
„Und was jetzt? Sollen wir nicht doch lieber von hier verschwinden?“
„Es ist fast fünf. Von den Bürokraten dürfte kaum noch wer da sein.“
„Aber du musst doch gewusst haben, dass das passiert!“
„Zu meiner Zeit wurden die Telefone hier erst nach dem Abendessen freigeschalten. Aber keine Sorge. Wir gehen einfach gleich hoch und lassen uns einschließen.“

Die Kerle am Telefon mustern uns grimmig.

„Hey Handerson, wir sehen uns beim Küchenspiel.“
„Heute nicht. Ich gehe früh ins Bett.“
Er gibt mir einen Klaps auf den Hintern, um zu verdeutlichen, was er meint.

„Das wird Dan nicht gefallen.“
„Wenn er ein Problem hat, muss er bis morgen warten. Und richtet ihm aus, dass Red was mit ihm zu klären hat.“
Ohne auf weitere Reaktionen zu warten, schiebt er mich überheblich weiter, zum kleinen Wärterbüro am Fuß der Treppe.

„Wir hätten gerne etwas Privatsphäre in der Zweiundsechzig.“
„Dann aber bis morgen früh.“
„Schon klar.“
Der Wärter nickt und wir steigen wieder die Stufen nach oben. Nur nicht zwischen den Gittern nach unten schauen.

Kaum sind wir durch die Tür, surrt es kurz, dann schiebt sie sich wie von Geisterhand zu. Wir sind eingesperrt.

„Die sind ausgesperrt. So musst du das sehen.“
„Hab ich das gerade laut gesagt?“
Dylan lächelt mich an und nickt. Dann dreht er sich um und scheint nach etwas zu suchen. Einer Wäscheleine. Die spannt er zwischen den äußersten Gitterstäben.

„Was wird das?“
„Gib mir mal das Laken“, bittet er.

Zwei Minuten später ist unsere Zelle blickdicht.

„Ist das erlaubt?“, frage ich besorgt.

„Glaubst du, die Wärter sind scharf drauf, uns beim Ficken zuzusehen? Wir sollten uns erst mal waschen.“

Da das Waschbecken kaum größer ist als eine Salatschüssel, fällt die Katzenwäsche eher notdürftig aus. Als ich das Klo benutze, das keine zwei Meter vom Bett entfernt ist, auf dem Dylan sitzt, bin ich froh, nicht mit einem Wildfremden hier drin zu sein, sondern mit meinem Beinahe-Exmann.

Ich lasse mich neben ihn fallen.

„Und was machen wir jetzt die ganze Zeit?“
Er starrt auf seine Hände, ohne zu antworten.

„Dylan?“
„Hm?“
„Alles in Ordnung?“
„Ich hasse es hier drinnen. Ich hasse es, wer ich hier sein muss.“
„Ich weiß.“
„Es ist härter als ich dachte.“
„Du hältst dich gut. Und jetzt sind wir ja erst mal bis morgen früh sicher.“
„Ich hoffe es.“
„Was meinst du?“
„Es gibt Wärter, die sich dafür bezahlen lassen, so eine Zelle mitten in der Nacht wieder aufzuschließen …“
„Aber das hören wir dann.“
„Ja. Außerdem denken die, dass sich der Aufwand nicht lohnt, weil sie morgen noch genug Gelegenheit haben werden. Aber gleich nach dem Aufschluss sind wir weg. Red weiß Bescheid.“
„Hast du mit ihm gesprochen?“
„Nein, aber ich habe Dan zu ihm geschickt und wenn der bei ihm auftaucht, weiß er bescheid.“
„Faszinierend.“

Dylan nickt und lässt seine Wirbelsäule knacken, wie immer, wenn er verspannt ist.

„Leg dich hin. Ich massier dich.“
„Das musst du nicht, Jordan.“
„Das ist ja wohl das Mindeste. Mach schon.“

Er zieht sein Shirt aus und legt sich auf den Bauch. Wie lange haben meine Hände seinen Rücken schon nicht mehr berührt? Er fühlt sich so anders an als Xander. Man spürt seine Kraft, man spürt, dass er lebt.

„Es ist seltsam, dich hier drinnen zu haben.“
„Warum?“
„In dieser Welt, wo es nur Eigennutz und Hass gibt, da habe ich mich immer nach jemandem gesehnt, den ich lieben kann. Und jetzt bist du hier und ich spüre deine … du weißt schon …“
„Liebe“, ergänze ich, ohne nachzudenken.

Er dreht sich zu mir:

„Ja, Jordan. Deine Liebe.“
Ich kann seinen Blick nicht lange erwidern, schaue auf meine Hände, die inzwischen in meinem Schoß liegen.

„Jordan … ich brauche dich jetzt.“

Seine braunen Augen schauen mich so hilfesuchend an. Ich nehme ihn in den Arm, streiche über seinen Kopf, den Nacken, seinen Rücken. Er drückt sich fest an mich.

„Ich liebe dich, Jordan. Das wird auch immer so bleiben.“
Meine Lippen beben, meine Augen brennen.
„Ich liebe dich auch, Dylan. Ich kann gar nicht anders.“
„Ich will nur, dass du glücklich bist, das ist alles.“ Er löst sich und sieht mich fest an: „Und das sage ich nicht nur so, ich meine es. Ich wünsche dir wirklich, dass Xander dich noch lange glücklich macht. Euch beide.“

Wieder muss ich wegschauen, denn ich bin nicht glücklich. Seine Hand ist an meiner Wange, angenehme Kühle geht von ihr aus.

„Also, was ist das für ein Küchenspiel?“
Er sieht mich erst überrascht, dann nachdenklich an.

Es scheint eine Ewigkeit zu vergehen, bis er antwortet:
„Poker. Ich habe einigen Leuten ganz schön was aus der Tasche gezogen. Jetzt wittern sie wohl ihre Chance, es mir wieder abzuspielen. Tja, daraus wird wohl nichts.“
„Verstehe.“
„Sollen wir versuchen zu schlafen?“
„Jetzt schon?“, frage ich überrascht.
„Lieber schlafe ich, solang das Licht an ist. Später krieg ich kein Auge mehr zu.“
„Wie hast du das denn über Jahre ausgehalten?“
„Drei Stunden Schlaf am Nachmittag, mehr braucht man nicht.“
„Was hast du dann die ganzen Nächte lang getan?“
„Trainiert oder mit einer kleinen Taschenlampe gelesen. Man gewöhnt sich dran.“
„Ich glaube jedenfalls nicht, dass ich schon schlafen kann.“
„Ich leg mich mal hoch.“

„Okay“, antworte ich überrascht, weil ich seine Nähe eigentlich gerade genossen habe und angenommen habe, ihm ginge es genauso.

Aber so ist Dylan nun mal. Ich sollte mich wirklich langsam dran gewöhnt haben. Er klettert in das obere Bett. Die Matratze biegt sich etwas durch. Ich starre eine Weile auf den verfärbten Lattenrost, lausche auf die Geräusche um mich, sehe dem improvisierten Vorhang dabei zu, wie er leicht im Luftzug der Klimaanlage flattert und vergesse fast, wo ich bin.

Fast. Geweckt werde ich von schmerzerfülltem Brüllen. Es ist fast stockfinster, nur durch das Laken fällt ein leichter, silbriger Schein. Ein erneuter Schrei reißt mich aus meinem Dämmerzustand, in dem noch alles gefiltert und unwirklich gewesen ist. Schritte poltern über den Metallsteg vor unserer Zelle, Taschenlampenkegel erhellen für einen Moment die Dunkelheit. Zischende Stimmen, das Klirren von Schlüsseln, weitere Geräusche, die ich nicht einordnen kann.

„Jordan?“
„Ja?“
„Kann ich zu dir runter kommen?“
„Sicher.“
Dylans Schritte auf der Metallleiter scheinen sehr sicher zu sein, wie oft geübt. Er tastet nach meinem Arm und legt sich hinein. Als ich ihn streichle, spüre ich kalten Schweiß. Er riecht nach Angst.

„Das Schlimmste ist, dass man bis zum Morgengrauen nicht weiß, wen es erwischt hat.“
„Du meinst, da wurde gerade jemand ermordet?!“
Ich klinge in seinen Ohren wohl ziemlich naiv.

„Das, oder Schlimmeres.“

„Oh mein Gott …“
„Das passiert von Zeit zu Zeit. Meistens wird der Zellengenosse dafür verantwortlich gemacht, weil es nach Einschluss ja sonst niemand gewesen sein kann. Dass die Wärter aber gern einzelne Zellen für ein paar Minuten aufschließen, ist ein offenes Geheimnis.“
„Deine Stimme zittert.“
„Ich hab Angst.“

So etwas hat Dylan noch nie zugegeben.
„Glaubst du, die kommen auch zu uns?“, frage ich.
„Unwahrscheinlich.“
„Wovor hast du dann Angst?“
„Schatten der Vergangenheit.“
„Ich soll nicht weiter nachfragen, oder?“
„Tut mir leid …“
„Nein, das muss es nicht.“
„Ich wusste immer, dass uns diese Scheiße auseinander bringt. Aber ich kann es nicht ändern. Es ist als wäre da in meinem Kopf eine Grenze. Und wenn ich auch nur in die Nähe dieser Grenze denke …“
„Ich verstehe das, Dylan.“
„Ich wünschte, ich wäre mehr so gewesen, wie du mich gebraucht hättest. Mehr so wie Xander.“

Ich küsse ihn.

Erst treffe ich sein raues Kinn, dann finde ich den Weg zu seinen Lippen, zu seiner Zunge. Ich küsse ihn, weil er genau das Richtige gesagt hat. Ich küsse ihn, weil ich endlich erkenne, dass nicht nur ich das Opfer seiner Verschlossenheit bin, sondern wir beide. Und ich küsse ihn, weil ich möchte, dass er keine Angst mehr hat. Ich spüre Tränen auf seiner Wange und küsse ihn noch inniger. Er lässt sich von mir halten, ist schwach und verängstigt. Er will mich nicht nur, er braucht mich, das lässt mich ihn noch mehr wollen. Ich fasse ihn an, überall, ziehe ihn aus, drücke ihn an mich. Ich erkenne die Stellen an seinem Körper wieder, an denen er am liebsten berührt wird. Ich schlafe mit ihm, liebe ihn.

Der Moment, in dem mir wieder einfällt, wo wir hier sind, ist nicht angenehm. Dylan liegt in meinem Arm. Ich verspanne mich und drücke meine Lippen gegen seine Schläfe. Irgendwo rattert jemand gegen Gitterstäbe. Darauf folgen ein Dutzend „Ruhe da drüben“-Rufe. Ich will das jetzt nicht hören. Ich brauche jetzt Stille. Ich habe gerade mit Dylan geschlafen. Ich muss nachdenken. Dylan atmet ruhig und gleichmäßig. Ich glaube, er schläft. Ich wache über ihn, denke an Xander, denke an damals, als die Rollen vertauscht waren, als ich Dylan mit ihm betrogen habe, frage mich, warum mir so was immer wieder passiert, warum ich von keinem der Beiden wirklich loskomme, warum mir keiner wirklich reicht.

Dylan regt sich, er streckt sich und gähnt. Dann spüre ich deutlich ein Zucken und weiß, dass ihm gerade bewusst geworden ist, dass er hier eingeschlafen ist.

„Alles okay. Ich war die ganze Zeit wach“, flüstere ich.

„Trotzdem, so was darf nicht passieren.“
Ich spüre einen Kloß im Hals. Redet er vom Schlafen oder doch von uns?
„Das war eine ziemlich dämliche Idee von mir, oder? Freiwillig hier reinzugehen …“
„Nein, Jordan. Ich bin froh, dass wir diese Chance hatten.“
„Ich versteh dich jetzt besser, und warum du so bist, wie du manchmal bist. Es ist ein Wunder, dass du mich überhaupt so nah an dich ran gelassen hast. Das weiß ich jetzt viel mehr zu schätzen.“
„Danke.“

„Nur ist es jetzt zu spät, oder?“, frage ich bitter.

Er holt tief Luft. Langsam wird es hell, das Licht strömt durch die Dachfenster in den Zellentrakt und lässt den Vorhang orange schimmern. Ich sehe Dylans nachdenkliches Gesicht. Dann schaut er mich an:

„Ich weiß nicht, Jordan. Aber ich weiß, dass dein Dad noch eine Chance verdient hat.“
Ich will widersprechen, will ihn anfahren, was das soll, doch er hält mich zurück.

„Ich meine nicht darauf, dich als Sohn zurückzubekommen. Aber darauf, inneren Frieden zu finden. Wenn er die Chance hätte, seine Enkelkinder zu sehen, und zu sehen, dass es ihnen und dir auch ohne Vater oder Großvater gut geht … und zu erkennen, dass er wenigstens irgendwas im Leben richtig gemacht hat …“
„Er hat aber nichts richtig gemacht! Er hat versaut, was ging.“
„Er hat dich gezeugt und du bist gut und richtig. Und unsere Kinder sind es auch. Lass ihn daran teilhaben, nur für kurze Zeit, damit er eine Erinnerung hat, die ihn über Wasser hält.“
„Ich weiß nicht …“
„Komm schon, du hast als Vater auch viel Scheiße gebaut …“
„Wag es nicht, mich mit dem zu vergleichen, Dylan!“, zische ich und richte mich auf.

„Warum nicht? Du bist sein Sohn. Ihr seid euch in Einigem ähnlich.“

Sein ruhiger, eindringlicher Ton und seine sanften Augen überzeugen mich davon, dass er es nicht böse meint. Ich frage also so ruhig, wie ich kann:
„Wo denn bitte?“

„Dein Mund zum Beispiel. Der Schwung in der Oberlippe, den hast du von ihm geerbt und hast ihn an Gwen und Marie weitergegeben.“
„Das sind nur Äußerlichkeiten …“
„Deine Starrsinnigkeit, die dir manchmal zum Verhängnis wird. Du bist von deinen Meinungen schwer abzubringen, genau wie er.“
„Nur dass seine Meinungen Leute verletzen und ausschließen.“
„Ihr habt beide Vaterprobleme. Schon euer Leben lang.“

„Und er hat nichts draus gelernt.“
„Hast du?“
„Was soll das jetzt heißen? Ich schreibe meinen Kindern nicht vor, wie sie zu sein haben!“
„Nein, aber bei allem Respekt, du und Josh, ihr habt eure Unterschiede nie wirklich überwinden können und jetzt hast du kaum noch eine Beziehung zu ihm.“
„Weil er mich ausschließt. Was soll ich denn tun? Ich kann mich doch nicht in sein Leben drängen …“
„Warum nicht? Du bist sein Vater.“
„Du genauso, zumindest wenn es nach ihm geht.“
„Wir suchen uns unsere Väter nicht aus. So läuft das nicht. Natürlich liebe ich ihn, natürlich bin ich für ihn da. Aber du bist derjenige, dessen Anerkennung er sich wünscht. Du bist der, an dem er sich misst.“

„Ich weiß aber nicht, wie ich an ihn herankommen soll. Es ist einfach so viel passiert …“
„Genau wie zwischen deinem Vater und dir. Trotzdem ist er dein Vater und du wirst nie aufhören, dich an ihm zu messen. Du brauchst ihn genauso, wie er dich, Jordan. Lass dir diese Chance nicht entgehen.“

In mir sagt eine sehr, sehr leise Stimme, dass er recht hat. Ich versuche, diese Stimme zum Schweigen zu bringen, aber das funktioniert nicht. Im Gegenteil, sie wird immer lauter.

„Was ist mit deinem Vater? Gilt das alles nicht für dich auch?“, frage ich in einem verzweifelten letzten Versuch, nicht auf die Stimme hören zu müssen.

„Doch, natürlich. Aber der Körper meines Vaters ist nur noch eine leere Hülle. Ich kann mich nur noch an die Erinnerungen halten, die ich von ihm habe und das hilft mir in schwierigen Situationen echt weiter. Mein Vater war ein guter Mensch, bis er sein Geschäft verloren hat. Wenn etwas, das wir als feste Konstante in unser Leben eingebaut haben, plötzlich verschwindet, dann kann einen das ganz schön erschüttern, weißt du?“
„Es tut mir leid, Dylan.“
„Ich weiß, aber was ändert das schon?“
„Du bist aber nicht geworden wie dein Vater.“
„Nein. Aber ich hatte panische Angst davor, dass es doch passiert. Ich spüre sein Erbe in mir, weißt du? Ständig entdecke ich neue Gemeinsamkeiten, gute Dinge. Aber was wenn die schlechten irgendwann durchkommen?“
„Du bist nicht dein Vater, Dylan. Wir sind nicht unsere Väter. Sie haben uns sicher sehr beeinflusst, aber sie haben uns auch gezeigt, wie man es NICHT macht. Sie sind die lebende Warnung vor unserem Erbgut und wir können etwas dagegen tun. Wir müssen nicht so werden wie sie.“
„Ich hoffe du hast recht …“
„Und genau deshalb muss ich meinen Vater auch treffen. Um mich zu erinnern, wer ich nicht sein will.“

Dylan scheint zufrieden mit diesem Ergebnis und legt sich wieder hin.

„In ungefähr einer Stunde ist Aufschluss, dann sind wir hier raus.“
Wir liegen nebeneinander, hören das Rauschen der Klimaanlage, das Arbeiten des Metalls. Ich stelle mir Vogelgezwitscher vor, und dass Gwen gleich in unser Bett gekrabbelt kommt.

Dylan steht auf.

„Es ist Zeit, lass uns zusammenpacken.“
Wir ziehen uns an, putzen mit harten Zahnbürsten Zähne, entfernen die Bettbezüge, packen alles in die beiden Wäschekörbe. Um fünf vor sieben hängen wir auch unseren Vorhang ab und verstauen ihn. In den Zellen, die in unserem Blickfeld sind, ist noch alles ruhig. Schritte und das charakteristische Klirren von Wärterschlüsseln nähern sich. Dylan stellt sich direkt vor die Tür, ich bleibe ein paar Meter hinter ihm. Ein hochgewachsener Mann in Uniform baut sich vor unserer Zelle auf. Er ist vielleicht vierzig und seine Gesichtszüge wirken noch nicht so furchig wie die der anderen Wärter, dafür sind sie mit Sommersprossen übersät. Seine Haare sind leuchtendrot.

„Hallo Dylan.“
„Hallo Red.“

„Ich nehme an, ihr könnt es nicht erwarten, rauszukommen, was?“
„Davon kannst du ausgehen.“
„Na dann wollen wir mal. Lasst euer Zeug einfach hier stehen. Wir haben nur noch zwei Minuten bis zum Aufschluss.“

Während er redet, sperrt er unsere Zelle auf und ich habe plötzlich das Gefühl, viel besser atmen zu können.

„Wo sind die anderen?“
„Deine Schützlinge werden nachher zu euch stoßen. Harry kümmert sich drum.“

Wir gehen schnell aber ruhig die Treppen nach unten. Nur noch die ebenerdige Zellenreihe entlang …

„AUFSCHLUSS!“, tönt es aus dem Lautsprecher.

„Was zum Teufel!?“, flucht Red.

Die Gitter neben uns gleiten auf.

„Kommt, weiter.“
Es ist verdammt schwer, gegen den Drang anzukämpfen einfach loszulaufen. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass hier dieselben Regeln gelten wie bei einem angriffslustigen Hund: Nur keine Angst zeigen, ruhig bleiben. Aus der Zelle zwei Meter vor uns tritt Trevor.

„Guten Morgen, Handerson.“
„Was willst du?“
„Ich bin nur auf dem Weg zum Frühstück. Und ihr? Ihr wollt uns doch nicht etwa schon wieder verlassen?“
„Zurück in deine Zelle, alter Mann“, zischt Red und zieht seinen Knüppel.

„Aber natürlich.“
Seine Unterwürfigkeit ist gespielt, sein Blick bleibt drohend.

„Aber sag mir noch eines: Wer ist unser Frischling, Jordan Handerson hier? Dein Bruder? Dein Cousin? Ich weiß ohnehin schon, dass er dir nicht egal ist. Du solltest mich also lieber nicht verärgern.“
Dylan knurrt ihn an wie ein Hund, der weiß, dass er angekettet ist:

„Mein Ehemann. Aber du kommst zu spät, die Scheidung läuft bereits. Er ist nicht der Richtige für deine Rache.“

Der Alte lässt sich keine Spur von Überraschung anmerken, sondern grinst nur selbstgefällig und nickt, als gäbe er uns die Erlaubnis weiterzugehen.

Nach ein paar Metern erreichen wir ein Gittertor, das Red auf- und hinter uns zusperrt. Jetzt sind wir in Sicherheit.

„Verdammte Scheiße, was sollte das?! Wer hat den Aufschluss zwei Minuten früher befohlen?!“, will er wissen.
Die Wärter an den Schalthebeln machen eine abstrus wirkende Unschuldsmiene.

„Weiter.“
„Wo sind meine Jungs?“, will Dylan wissen.
„Ich funke mal Harry an.“
Durch das Knarren und Knacken im Walkie erfahren wir, dass die vier bereits im Verwaltungstrakt auf uns warten. Sie alle haben im Zellenblock C den letzten Tag verbracht.

„Warum wusste keiner, dass Trevor wieder hier sein würde?! Er war bei uns im Bus! Das war kein Zufall!“, knurrt Dylan.
„Offensichtlich hatte er Hilfe von meinen Kollegen und deshalb müsst ihr so schnell es geht hier raus. Es ist wirklich eine Menge schiefgelaufen. Damit konnte keiner rechnen.“
„Wessen Zelle war das, heute Nacht?“
„Blueberries.“
„Ist er tot?“
„Er wünscht es sich vermutlich. Der Doc kümmert sich um ihn.“
„Waren das Trevors Leute?“
„Was denkst du denn, Dylan?“
„Verdammt. Ich hasse den Laden hier.“

Dylan hat irgendwann meine Hand genommen und zieht mich schnellen Schrittes durch die Korridore.

„Ab hier muss ich euch Handschellen anlegen, sonst müssen wir an den Wachpunkten zu viel erklären.“

Mir wird noch etwas mulmiger, aber Dylan scheint damit kein Problem zu haben und das beruhigt mich etwas.

„Wie weit noch?“, frage ich.

„Durch drei Kontrollpunkte, dann sind wir im Verwaltungstrakt. Da wartet noch etwas Papierkram und dann seid ihr frei.“

Tatsächlich warten die vier jungen Skins aus dem Zentrum auf ein paar Klappstühlen in einem mit Teppichboden ausgelegten Gang. Sie sehen ziemlich fertig aus. Hier ist die Atmosphäre eine ganz andere. Man hört kein Röhren in den Wänden, es riecht nach Blumenraumspray und die Angestellten, vor allem Frauen, wirken entspannt und geschäftig wie in jeder Behörde. Die Jungs hingegen haben dicke Ringe unter den Augen und wirken in ihren Bewegungen fahrig und unsicher. Eine Viertelstunde lang unterschreiben wir Erklärungen, Verzichtsurkunden, Versicherungszeug und was weiß ich alles. Wir dürfen mit niemandem über dieses Projekt reden, seien quasi nie hier gewesen und würden aufgrund des hier Erlebten keine Schadensersatzforderungen stellen und so weiter. Ich hätte in diesem Moment alles unterschrieben, um nur endlich wieder rauszukommen und den anderen geht es wohl ähnlich. Wir bekommen unsere Sachen zurück und ziehen uns in einem Waschraum um. Jetzt sind wir frei, zumindest auf dem Papier.

Red kommt noch mit zum Personalausgang. Er und Dylan reichen sich zum Abschied zwar nur die Hand, aber selbst ein Blinder könnte sehen, dass da mehr dahinter steckt. An so einem Ort sucht man sich Gefährten, und das sind sie jahrelang gewesen. Ich hake mich bei Dylan unter, um ihm zu zeigen, dass er nicht alleine ist. Er lächelt mich dankbar an.

Die frische Luft hat noch nie so gut gerochen, der Himmel war noch nie so blau. Und das nach einem Tag! Ein ziviler Kleinbus bringt uns zum Zentrum zurück. Es ist kurz vor zehn. Vanessa wartet drinnen schon auf uns, ansonsten sind die Räume noch wie ausgestorben. Ich lasse mich auf eine Couch sinken. Ist die weich! Ich sollte Xander anrufen und ihm sagen, dass es mir gut geht. Aber ich kann gerade irgendwie nicht aufstehen …

„Komm, ich bring dich nach Hause.“
Dylan scheint es eilig zu haben, von hier weg zu kommen. Ich rapple mich hoch und folge ihm zum Auto. Es wirkt, als würde er vor etwas weglaufen. Oder vor jemandem? Vor mir etwa?
„Dylan?“
Er schüttelt, ohne sich umzusehen, den Kopf und beschleunigt seine Schritte. Kurz vor dem Auto hole ich ihn ein, halte ihn am Arm zurück, will ihn dazu bringen mich anzusehen. Vergeblich. Er steigt ein, ich beeile mich, auf den Beifahrersitz zu kommen. Ich sehe die Angst in seinen Augen.

„Dylan, Liebling …“

Er umarmt mich, verbirgt sein Gesicht an meinem Hals.

„Was ist los?“
Er scheint sich kurz zu sammeln, räuspert sich, bekommt sich nicht so leicht wieder in den Griff. Dann bricht es aus ihm heraus:

„Ich dachte, hier draußen sei ich sicher. Aber ich bin nirgends sicher. Die wissen mehr als ich dachte und haben Helfer. Ich dachte, ich muss mich nur vor meinen alten Freunden schützen, aber meine alten Feinde haben mich auch nicht vergessen. Ich weiß nicht, wie ich mich vor denen schützen soll. Ich hab Angst. Und ich bin allein. Ich krieg das nicht in den Griff. Ich weiß nicht wie.“
„Du bist nicht allein, Dylan. Wir sind eine Familie, das wird sich nie ändern.“

„Wer?! Die Kinder, ich, du und Xander und eure Freundin?!“
„Dylan, ich weiß, das entspricht nicht dem Idealbild, aber …“
„Nichts aber! Das funktioniert nicht. Ich will eine normale Familie. Ich will einen Menschen, der nur mich liebt! Ich will alles perfekt haben. Das habe ich verdient.“
Er findet die Worte, die ich zu Xander nicht sagen konnte, als er mir eröffnet hat, dass er Tyler nicht aufgeben will. Ich weiß genau, wie Dylan sich fühlt. Und ich weiß, dass wir eigentlich dasselbe wollen, schon immer gewollt haben. Aber ich kann Xander nicht aufgeben.

„Dylan, du kannst mich nicht ganz für dich allein haben. Aber ich will mit dir zusammen sein. Bitte, lass es uns doch einfach versuchen …“

„Verlang das nicht von mir.“
„Ich hab keine Wahl.“

Er nickt. Zuerst nur ganz vorsichtig, dann schaut er mich an:

„Also gut.“

Ungläubig starre ich ihn an:

„Wirklich?“

„Lieber will ich wenigstens einen kleinen Teil von dir als gar nichts.“

Dylan ist mit den Zwillingen zum Haus gefahren. Ich muss erst mal mit Xander und Gaby reden.

Sie sind auch wirklich zu Hause, wirken aber irgendwie … bedrückt.

„Hey. Ich hab überlebt.“

„Wir haben Neuigkeiten.“

„Was ist los?“, frage ich alarmiert.

„Setz dich“, bittet Gaby.

Ich gehorche sofort, um möglichst schnell zu erfahren, was hier los ist.

„Ich bin schwanger.“

„Was?! Aber … deine Hormonspirale.“

„Die ist wohl verrutscht. Das kommt in seltenen Fällen vor, meint meine Ärztin.“

„Also von mir kann es nicht sein. Wir haben immer Gummis benutzt.“

„Ich fasse es nicht, dass du dich einfach so aus deiner Verantwortung stehlen willst!“, schnappt Xander.

„Was soll das denn jetzt? Wenn es mein Kind, ist, dann sorge ich schon dafür. Aber die Chancen stehen eher gering. Viel Wahrscheinlicher ist, dass du deine Mutter demnächst mit einem zweiten Enkelkind beglücken kannst.“

„Du findest das wohl witzig?!“

„Warum bist du so feindselig, Xander?“

„Am besten wird sein, ich lass es gleich morgen wegmachen“, flüstert Tyler.

„Nein!“, protestieren wir gleichzeitig.

Gaby scheint erleichtert. Sie atmet tief durch und setzt dann ihren Lehrerblick auf:

„Also, es ist doch so: Bis zur Geburt haben wir keine Chance herauszufinden, wessen Baby das ist. Also lasst uns einfach abwarten …“
„Abwarten?“, empöre ich mich. „Und im Kreißsaal schauen wir dem Wurm dann ganz tief in die Augen und entscheiden, wer der Vater ist?“
„Warum ist das überhaupt wichtig?“, will Xander wissen. „Wir können doch einfach alle zusammenziehen und …“
„Eine große, glückliche Patchworkfamilie sein? Dylan hat Recht, das funktioniert alles nicht. Schon gar nicht mit noch einem Kind. Aber Xander, du hast auch Recht: Es ist egal, wer der Vater ist. Ihr beiden seid das Paar hier im Raum. Ihr solltet die Eltern sein. Ich sollte mich da raushalten. Und das hat nichts mit aus der Verantwortung ziehen zu tun. Dieses Baby hat eine funktionierende Familie verdient. Und wir drei funktionieren nicht.“

„Aber …“, setzt Gaby an.

„Er hat recht.“ Wir beide schauen Xander erstaunt an. „Selbst wenn Jordan der Vater wäre … ich würde gerne ein Kind großziehen, das von den beiden schönsten und liebsten Menschen abstammt, die ich kenne. Eigentlich kann ich mir nichts Besseres vorstellen.“

„Wirklich?“, fragt Gaby und ihre Augen schwimmen.

„Ja.“

„Danke. Gott, ich liebe dich so sehr.“

„Ich liebe dich. Und ich liebe dieses Kind.“

„Ich sollte jetzt gehen. Gratuliere euch beiden.“

„Jordan …“

Xander streckt seine Hand nach mir aus, aber dabei hält er Gaby fest im Arm.

„Schon okay, wirklich.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Ich wünsche euch nur das Beste. Ihr werdet sicher sehr, sehr glücklich werden, zu dritt.“

Ich ziehe die Tür hinter mir zu, höre Gaby schluchzen und lachen gleichzeitig und weiß, dass ich ausnahmsweise mal das Richtige getan habe.

Ich höre laut Musik, wie immer, wenn in meinem Kopf Chaos herrscht und kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. In mein Haus. In UNSER Haus. Ich hoffe, ich darf bald wieder einziehen. Vielleicht geht doch alles ein bisschen schnell? Werde ich Xander jetzt tatsächlich nicht mehr sehen? Habe ich ihn schon wieder verloren? Nein, ich hab ihn aufgegeben. Das ist ein riesengroßer Unterschied. Weh tut es trotzdem, das wird mir gerade bewusst. Ich will jetzt erst mal zu meiner Familie. Dann werde ich sicher bald klarer sehen.

Dylan sitzt bei den Zwillingen am Boden und baut einen Turm aus Holzklötzen.

„Da bist du ja schon wieder. Wir sind auch erst seit zehn Minuten daheim. Wie war’s?“, sprudelt er ganz untypisch los.

„Gaby ist schwanger.“

„Was?! Das … was bedeutet das jetzt?“

„Das bedeutet, dass ich dafür sorgen musste, dass dieses Kind eine funktionsfähige Familie bekommt.“

„Und wie?“

„Ich bin gegangen.“

„Aber … könnte es nicht von dir sein?“

„Das ist egal. Die beiden sind die Eltern. Ich muss mich da raushalten. Und bitte sag jetzt nicht, dass ich mich damit aus der Verantwortung stehle.“

„Nein. … Du hast das einzig Richtige getan. Obwohl das nicht leicht gewesen sein kann.“

„Ich glaube, ich hab es noch gar nicht in vollem Maße realisiert …“ Ich schlucke: „Ich will meinen Dad treffen. So bald wie möglich. Und ich … ich will dich um Verzeihung bitten. Ich kann nur hoffen, dass du mir irgendwann vergibst und dass wir dann vielleicht wieder eine Familie sein können.“

„Du solltest wieder hier einziehen.“

„Wirklich?!“ Er nickt. „Darf ich … dich küssen?“, frage ich flüsternd.

Er nickt! Und ich küsse ihn. Oh ja, ich küsse ihn!

Jake und April scheinen diesen Vorgang zum Schreien komisch zu finden. Ich hebe sie hoch und knutsche sie ab, meine beiden Rabauken, mit denen ich jetzt wieder 24 Stunden am Tag zusammen sein kann.

„Ich liebe euch.“

„Und wir lieben dich“, lächelt Dylan.

Ich hole den Brief meines Vaters aus dem Auto, setze mich neben Dylan und beginne, mit ihm gemeinsam zu lesen. Mein Dad schreibt wie er redet. Ich habe seine Stimme bei jedem Wort im Ohr. Ich höre heraus, dass er komplett am Boden ist. Carmen hat ihn verlassen, Peter und Tony Jr. hat sie den Umgang mit ihm verboten und Renzo hat von sich aus den Kontakt zur ganzen Familie abgebrochen. Sogar Milo und seine Frau sind weggezogen. Mein Großvater hat alles kaputt gemacht. Die komplette Familie. Anthony schreibt, dass er Gwen unheimlich vermisst, und dass auch Peter inzwischen zwei Kinder hat, die mein Vater aber noch nie gesehen hat. Ich habe wirklich Mitleid mit ihm. Und keine Angst mehr. Ganz am Ende schreibt er:

„Dass ich zugelassen habe, was mit dir passiert ist, ist die größte meiner Sünden und sie wird mich im Fegefeuer schmoren lassen. Ich habe nicht geahnt, was mein Vater vorhat. Sonst wäre ich ihm zuvor gekommen und er wäre derjenige gewesen mit der Kugel im Kopf.“

Ich weiß, dass mein Vater das ernst meint. Er würde mich mit seinem Leben beschützen. Genau wie ich meine Kinder. Ganz unten steht eine Handynummer.

„Ich muss ihn anrufen.“

Dylan reicht mir wortlos das Telefon. Ich wähle, zittrig, verwähle mich, fange noch mal von vorne an.

„Soll ich?“

Ich lasse Dylan tippen. Dann drücke ich die Abhebetaste. Es klingelt. Zwei Mal. Drei Mal. Ich höre seine Stimme auf Band und lege auf.

„Mailbox.“

„Versuch es noch mal, vielleicht war er nur zu langsam …“

Ich drücke die Wahlwiederholung. Es klin… „Bonnano?“

Das ist er. Er ist dran. Ich kriege kein Wort raus. Wie soll ich ihn nennen?

„Hallo?“

„Hey, ich bin’s.“

„Jordan?! Oh Gott, ich kann kaum glauben, dass du anrufst! Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

„Können wir uns treffen?“

„Ja, natürlich. Jederzeit und wo du willst. Ich bin so froh, dass du anrufst. Ich habe dich so vermisst.“

So etwas hab ich ihn noch nie sagen hören.

„Morgen in Dylans Zentrum?“

„Ja. Nachmittags?“

„Ab drei.“

„Bringst du die Kinder mit?“

„Weiß ich noch nicht.“

„Okay, dann komme ich da hin. Danke, Jordan. Wirklich, ich freue mich sehr.“

„Dann bis morgen.“

„Ja, bis morgen.“

Ich lächle. Als mir das bewusst wird, bekomme ich ein bisschen Angst. Dylan hält meine Hand.

„Ich werde die ganze Zeit bei dir sein.“

„Und ich werde heute Nacht kein Auge zumachen. Ich muss Josh anrufen.“

„Er und Kate sind oben. Wann hast du das letzte Mal mit ihm gesprochen?“

„Lange her.“

Ich klopfe an Kates Tür.

„Komm rein!“

Josh sitzt am PC, Kate lernt auf dem Bett.

„Hey…“

„Oh … hey. Was machst du hier?“, fragt mein Sohn erstaunt.

„Mein Dad will mich treffen. Morgen.“

„Was?! Aber willst du das wirklich, nach allem …“

„Er bleibt mein Dad. Ich kann nicht ewig vor ihm weglaufen.“

„Der Vergleich hinkt, Jordan.“

„Ich hab keinen Vergleich gezogen …“

„Aber das wolltest du gerade.“

„Vielleicht. Aber deshalb erzähle ich dir das nicht. Ich will dich bitten mitzukommen.“

„Mich?! Warum nicht Gwen? Sie ist schließlich seine echte Enkelin.“

„Ich brauche aber dich dabei. Ich kann es auch nicht erklären. Es ist einfach so. Bitte.“

„Ja, sicher. Wann?“

„Wir sollen um drei im Zentrum sein.“

„Okay.“

„Danke, Josh.“

„Mhm.“

Ich gehe wieder nach unten und setze mich neben Dylan auf das Sofa. Er legt seine Hand auf meinen Oberschenkel und schaut mich an, als würde er darauf warten, dass ich etwas sage. Aber ich weiß gar nicht was. Die letzten Tage waren viel zu unwirklich. Mein Dad, der Knast, der Sex mit Dylan, Tylers Baby…

„Viel auf einmal, oder?“, fragt mein Mann.

„Ich komm gerade nicht so ganz mit“, gebe ich zu.

„Wir bekommen das schon alles hin. Zusammen.“

„Es tut mir alles so unglaublich leid.“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es dir gehen muss. Du denkst sicher, dass du mir nicht zeigen darfst, dass du traurig bist. Aber du hast gerade mit Xander Schluss gemacht …“

„Ja. Aber diesmal war es anders. Diesmal war es meine Entscheidung. Das tut weniger weh. Und diesmal hab ich dich.“

„Ich will es aber langsam angehen lassen, okay?“

„Soll ich doch noch nicht wieder hier einziehen?“, frage ich ein bisschen ängstlich.

„Doch, nur … könntest du vielleicht vorerst in Gwens Zimmer schlafen? Dich plötzlich wieder im Ehebett zu haben, … dazu bin ich irgendwie noch nicht bereit.“

„Ich mache alles, was du willst. Und ich koch uns was Schönes.“

Josh und Kate sind offenkundig sehr überrascht, mich zur Essenszeit in der Küche vorzufinden.

„Was machst du?“

„Ich koche.“

„Ja, aber warum kochst du hier?“

Ich schaue Hilfe suchend zu Dylan.

„Dein Vater und ich, wir wollen es noch mal zusammen versuchen“, erklärt er pädagogisch gewandt.

„Hat Xander dich abserviert?“, will mein Sohn von mir wissen.

„Josh!“, schnappt Dylan, aber ich winke ab:

„Schon okay. Ist klar, dass das unerwartet kommt. Für uns auch. Aber es ist doch das, was du wolltest, oder?“

„Ich wollte einen Vater, der morgen sicher auch noch da ist und nicht dem nächstbesten Schwanz hinterherrennt.“

„Josh! Jetzt reicht’s aber!“, findet Kate sehr deutlich.

Und auf sie hört er:

„Ja, tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen. Es ist nur: Woher weiß ich, dass du es dir morgen nicht anders überlegst, oder nächste Woche, oder in einem Jahr?“

„Keine Ahnung. Ehrlich gesagt traue ich mir selbst nicht mehr.“

„Das muss scheiße sein“, erklärt mein Sohn überraschend mitfühlend.

„Wir haben beide aus dem gelernt, was passiert ist. Sowas wird nie mehr vorkommen“, erklärt Dylan ziemlich sicher.

Ich küsse ihn kurz und flüstere, dass ich mich sehr zusammenreißen werde.

Wir essen alle zusammen, legen die Zwillinge hin, planen, in den nächsten Tagen meine Sachen aus der Wohnung zu holen und wieder Jugendliche zur Miete zu suchen und haben einen schönen Familienabend. Zumindest bis Josh das Thema wieder auf die Bonnanos lenkt:

„Darf ich dich was fragen?“

„Sicher“, antworte ich arglos.

„Warum hat dein Großvater auf dich geschossen?“

Mein Puls beschleunigt sich sofort und meine Ohren rauschen.

„Du musst es uns nicht erzählen“, wirft Kate schnell ein.

„Doch, ihr … ihr seid alt genug, es zu erfahren. Er hat mich versehentlich dabei beobachtet, wie ich jemandem einen geblasen habe, und das hat mich in seinen Augen wohl lebensunwürdig gemacht oder sowas.“

Alle drei schauen ziemlich betreten drein. Josh scheint eine plötzliche Erkenntnis zu haben:

„Und dann kam ich und habe schwulenfeindliche Sprüche geklopft …“

„Du warst noch ein Kind …“

„Trotzdem. Das tut mir wirklich Leid. Ich bin froh, dass du schwul bist. Sonst hätten wir Dylan nie kennengelernt.“

Mein Mann wuschelt kurz durch Joshs Haare und grinst stolz.

„Geht doch ein bisschen frische Luft schnappen oder so“, schlägt Kate vor. „Josh und ich räumen hier noch auf.“

Ich zögere, aber Dylan gibt mir mit einem Nicken Richtung Hintertür zu verstehen, dass er das für eine gute Idee hält.

Im Garten setzen wir uns ins warme Gras und reden bei einer geteilten Zigarette über die Bonnanos. Ich erzähle Dylan von dem Tag am Pool, dem Priester und den Schüssen. Es scheint ihn nicht zu überraschen, dass ich Xander fremdgegangen bin. Zumindest erwähnt er es nicht weiter.

„Mein Freund wurde neben mir erschossen.“

„Was?“, mache ich überrascht und freue mich gleichzeitig unpassender Weise, dass Dylan von früher erzählt.

„Wir gingen die Straße entlang. Ein Auto fuhr an uns vorbei und zwei Kerle haben auf uns geschossen. So eine Latino-Gang, die ihre Straßen vom White Trash befreien wollte. Becker wurde zwei Mal getroffen. Er war sofort tot. Ich hab Glück gehabt.“

„Oh Gott, du musst danach total verängstigt gewesen sein.“

„Ein paar von unseren Leuten sind losgefahren und haben zwei Latinos erschossen. Danach haben die uns in Ruhe gelassen …“

„Dylan …“

„Ich kann nicht weiter drüber reden.“

„Okay. … Aber danke. Ich weiß, wie schwer dir das gefallen sein muss.“

„Ich will nur nicht, dass du … ich hab Angst, dass du nicht mehr mit mir zusammen sein willst …“

„Nichts, was du sagst, könnte so schlimm sein. Wirklich, ich weiß, wie es ist, seine Jugend auf der Straße zu verbringen.“

„Ich habe damals die Bierflasche zerschlagen, mit der der Kerl umgebracht wurde.“

„Du meinst bei der Schlägerei, wegen der du verhaftet wurdest?“

„Ja, ich hab sie am Randstein zerschlagen und damit gedroht, sie ihm in den Bauch zu rammen. Dann hat mich was am Kopf getroffen und als ich aufgewacht bin, war ich schon in Handschellen. Aber ich hab meinen Kumpel auf die Idee gebracht, die Flasche als Waffe zu benutzen. Die Polizei denkt, sie wäre erst beim Schlag kaputtgegangen, aber so war das nicht. Der Kerl könnte noch leben, wenn ich nicht …“

„Dylan, du warst nicht der, der zugeschlagen hat.“

„Nein, aber ich bin nicht sicher, ob ich es nicht genauso gemacht hätte, wenn ich nicht vorher ausgeknockt worden wäre. Ich war damals so voller Hass. Nach Beckers Tod war ich komplett außer Kontrolle.“

„Du bist jetzt ein ganz anderer Mensch.“

„Aber trotzdem bin ich doch noch verantwortlich für meine Taten von damals.“

„Du warst vier Jahre im Gefängnis. Du hast genug gebüßt.“

„Lass uns schlafen gehen.“

Ich bin ihm nicht böse, dass er mich abwürgt. Er hat genug mit mir geteilt. Und er teilt wieder das Bett mit mir. Als ich gerade Gwens Zimmer beziehen will, nimmt er meine Hand und führt mich nach oben in unser Schlafzimmer. Wortlos und ein bisschen unsicher. Ich liebe diese neue Seite an ihm.

Während Dylan neben mir friedlich vor sich hin atmet, wälze ich mich von einer Seite zur anderen. Ich bin froh, nun doch im Ehebett schlafen zu dürfen, allerdings wird jegliche Freude darüber, dass Dylan mich zurückgenommen hat, überschattet von der Angst vor dem Treffen mit meinem Vater und von der Vorstellung, mein Freund wäre neben mir erschossen worden. Immerhin muss ich aber auch nicht ständig an Xander und Tyler denken.

Stan weckt mich am nächsten Morgen knurrend auf. Er hat seinen leeren Futternapf in der Schnauze und verlangt nach Frühstück. Dylan und die Zwillinge schlafen noch. Kein Wunder. Es ist kurz nach sechs.

„Geh weg, Hund“, flüstere ich, um die Babies nicht zu wecken.

„Ich mach schon“, murmelt Dylan, aber bewegt sich kein Stück.

Ich lege meine Arme um ihn und beiße ihm leicht in den Hals.

„Mmmmh“, macht er genüsslich.

Nicht die erwünschte Wirkung. Also kratze ich leicht über seinen Rücken nach unten. Er dreht sich zu mir, drückt sich mir entgegen, hat schon seine Hose ausgezogen und legt sich auf mich. Stan trottet frustriert davon, während wir so leise wie möglich übereinander herfallen. Ich glaube, der Sex mit Dylan war noch nie so gut wie an diesem Morgen.

„Willst du zuerst duschen?“

„Müssen wir wirklich schon aufstehen?“, jammere ich.

„Wenn die Zwillinge erst wach sind, kommt man doch wieder zu nichts mehr…“

Er hat ja recht, aber …

„Du bist so heiß, Dylan.“

„Danke“, macht er etwas überrascht.

„Nein, wirklich. Am liebsten würde ich den ganzen Tag mit dir im Bett verbringen und …“

Ich wispere ihm zu, was er am liebsten hört. Es funktioniert.

„UAH!“, macht Josh, woraufhin ich schnell wieder unter der Bettdecke hervorkomme.

Dylan zieht sich das Laken bis unters Kinn.

„Ich dachte, du schläfst in Gwens Zimmer! Gott, ich glaub, ich bin blind, für immer!“, dramatisiert Josh.

„Du hättest ja mal klopfen können“, finde ich, ziehe meine Shorts an und schwinge mich aus dem Bett.

Josh händigt mir die warmen Babyfläschchen aus, die er vorbereitet hat und verzieht sich wieder. Gerade rechtzeitig, um Aprils morgendlichen Brüllanfall zu verpassen, der nur mit warmer Milch zu beenden ist. Jake streckt sich noch mal genüsslich und dreht sich auf den Bauch, um noch eine Runde zu pennen.

„Das hat er von dir“, erklärt mein Mann, der – inzwischen fast vollständig bekleidet – zu mir an die Gitterbetten getreten ist.

„Ich weiß wirklich nicht, wie ich euch gegen Xander eintauschen konnte.“

Dylan schaut leicht betreten drein. Ich habe den Moment versaut.

„Entschuldige. Mein Filter funktioniert so früh morgens noch nicht, deshalb bleib ich ja normalerweise bis mindestens acht im Bett.“

„Schon okay. Ich will ja, dass du mit mir darüber redest. Das Nicht-Reden war  beim ersten Anlauf schließlich unser Verhängnis.“

„Also … wirst du mir jetzt öfter von deiner Vergangenheit erzählen? Von Ex-Freunden und so weiter?“

„Da gab es eigentlich nur den einen.“

„Becker“, ergänze ich.

„Ja.“

„Wie lange wart ihr … darf ich das fragen?“

„Lange. Natürlich wusste keiner davon. Unsere Leute hätten uns umgebracht.“

„Eure Familien?“

„Nein, unsere Freunde. Er war auch ein Rechter.“

„Hast du ihn … du weißt schon … geliebt?“

„Ja.“

„Und dann hast du gesehen, wie er …“

Beim bloßen Gedanken steigen mir Tränen in die Augen.

„Das war ein Jahr bevor ich in den Knast kam. Ich bin völlig ausgetickt. Ernsthaft. Ich war komplett außer Kontrolle. Ich habe Sachen getan … über die ich nicht reden kann. Wirklich, ich kann darüber nicht reden.“

Er läuft weg. Ich schaue ihm nach. Jake wacht auf. Ich drücke ihm seine Flasche in die Hand und gehe hinter Dylan her. April weint. Ich muss zu ihr zurück. Verdammt.

„Bitte komm zurück“, rufe ich die Treppe runter, habe aber wenig Hoffnung, dass Dylan das tut.

Ich nehme April hoch, setze mich mit ihr auf’s Bett und gebe ihr den Rest ihrer Flasche.

„Ich habe noch nie mit jemandem über Becker geredet.“

„Dylan“, mache ich überrascht.

„Natürlich weißt du nicht viel über meine Vergangenheit, aber du weißt mehr als sonst irgendein Mensch auf diesem Planeten. Zählt das denn gar nichts?“

„Doch. Doch, das reicht.“

Er nimmt Jake aus dem Bett und setzt sich neben mich. Schweigend lassen wir unsere Kinder zu Ende frühstücken. Meine Gedanken rasen nicht. Eigentlich sollten sie das tun, aber ich schaue nur in das hübsche Babygesicht meiner Tochter und denke nichts. Ich bin genau da, wo ich sein soll. Und alles wird gut. Davon bin ich überzeugt.

- The End –

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