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Die Ratte und das rosa Armband

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„Lassen Sie mich mal eine Sache erklären: Ich bin schwul, aber nicht so schwul. Okay?“

Der Polizeibeamte sieht mich schief an. Soll er doch. Mir glaubt hier sowieso niemand ein Wort, egal, wer oder was ich bin.

„Warum sollte ich dieses hässliche Ding einstecken? Ich habe weder eine Freundin, noch eine Schwester oder sonst wen, der auf so was steht. Kann ich jetzt bitte endlich gehen?“

„Nein“, sagt der Polizist trocken und kritzelt irgendwas auf seinen Notizblock.

„Was schreiben Sie da? Homosexueller klaut rosa Flechtarmband?“ Normalerweise bin ich nicht so schnell aus der Fassung zu bringen, aber wenn man mich bei dieser Hitze eine Stunde wegen eines Diebstahls verhört, den ich nicht begangen habe, werde ich schon mal reizbar. Und die Verkäuferin steht seelenruhig daneben und fächert sich mit einem Blatt Papier Luft zu. Ja, mir ist auch heiß und ich werde zufällig zuhause erwartet.

„Das Armband war in deiner Tasche“, stellt der Polizist scharfsinnig fest.

„Ja, aber ich hab’s da nicht reingesteckt“, entgegne ich zum tausendsten Mal. Warum darf der mich eigentlich einfach so duzen? „Hey, würde es helfen, wenn ich das Ding jetzt einfach bezahle?“

Eine unendlich lange Moralpredigt später, lässt man mich „mit einem zugedrückten Auge“ gehen. Ich bin jetzt 3 Euro ärmer, um ein grässliches Armband reicher und habe sämtliche Wasservorräte meines Körpers ausgeschwitzt. Wenn ich es nicht bald nach Hause schaffe, kollabiere ich noch mitten in der Fußgängerzone. Lars wird sich bedanken, wenn ich so ausgelaugt und verschwitzt zurück komme. Der ist da etwas… eigenartig.

„Hey, hast du das Armband noch?“, flüstert mir plötzlich jemand ins Ohr. Ich drehe mich um und sehe, dass es ein Junge ist. Etwa ein oder zwei Jahre jünger als ich, vielleicht 17 oder 18, und ein bisschen, ja… verstrubbelt. Seine löchrigen Klamotten sind etwas gewöhnungsbedürftig.

„Ja“, sage ich langgezogen. Ich kann nur hoffen, dass der von mir jetzt keine Ladendiebstahltipps erwartet.

„Kann ich es haben?“

Ich bleibe abrupt stehen und starre ihn verdattert an. „Das Armband?“

„Ja.“

Ich krame in meiner Hosentasche. „Das hier?“

„Ja“, sagt er freudig, als ich es ihm unter die Nase halte.

„Es ist rosa.“

„Na und?“ Jetzt ist er es, der mich verwirrt ansieht.

„Ach, du willst es verschenken.“

„Nö, wieso?“

„Es ist rosa“, fühle ich mich gezwungen zu betonen.

„Ja, das ist mir klar.“

Was für ein anstrengender Tag. Erst die ganzen Behördengänge, dann das Polizeiverhör und jetzt auch noch dieser Hippie-Junge, der mir ein rosafarbenes Armband abschwatzen will. Und das alles bei schwülen 35 Grad im Schatten. Ich kann langsam nicht mehr klar denken.

„Sonst hätte ich es ja wohl kaum ausgesucht“, höre ich den Jungen sagen.

„Ja, schon klar. Warte mal…“ Mein Gehirn strengt sich noch einmal richtig an. „Ausgesucht? Hast du mir dieses Teil in die Tasche gesteckt?“

Er sieht mir wohl an, dass ich kurz vorm Platzen stehe, schnappt sich das Armband und macht sich aus dem Staub. „Danke übrigens“, ruft er zurück.

„Du schuldest mir 3 Euro“, brülle ich ihm hinter her. So eine kleine Ratte!

 

Ich schließe verschwitzt, dehydriert und genervt die Haustür auf und hoffe, dass ich mich erst mal unbemerkt ins Badezimmer verkriechen kann. Lars ist nicht der Typ, der sich selbstlos die Probleme anderer Leute anhört und würde nie anbieten, sich mit mir eine Weile entspannt aufs Sofa zu kuscheln. Nicht in meiner jetzigen Verfassung. Dabei könnte ich das gerade ganz gut gebrauchen, um diesen ätzenden Tag zu vergessen. Aber so ist mein Freund. Er liebt mich auf seine verschrobene Art, dessen bin ich mir sicher, und ich liebe ihn, trotz seiner Macken.

„Finn, da bist du ja“, höre ich ihn hinter mir, als ich gerade die Tür zum Bad öffne. Er kommt aus seinem Arbeitszimmer. „Ist alles gut gelaufen?“

„Ja, eigentlich schon. Ich gehe erst mal duschen.“

„Okay. Soll ich uns was zu essen machen?“

„Das wäre super.“

Er schenkt mir ein Lächeln und geht in die Küche. Ja, natürlich hat er auch seine guten Seiten. Es macht nur mehr Spaß auf den Macken rumzureiten.

Als ich frisch geduscht und nur in einen dünnen Bademantel gewickelt aus dem Bad komme, rieche ich schon getoastetes Brot und das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Hab ich einen Hunger. Bestimmt hat er das neue Sandwich-Ding ausprobiert, weil er bei den Temperaturen nichts Warmes kochen wollte. Soll mir nur recht sein. Ich lasse mich aufs Sofa fallen und schließe für einen Moment die Augen.

„Willst du Ketchup oder Remoulade?“, fragt Lars.

„Beides.“

„Beides?“

„Ja, bitte.“

Ein paar Minuten später spüre ich wie das Sofakissen unter mir etwas nachgibt. „Essen ist fertig“, sagt Lars und streicht mit einer Hand über das Stückchen nackte Haut, das im Brustausschnitt meines Bademantels zu sehen ist. Seine Haare kitzeln meine Wange und meinen Hals, als er sich über mich beugt. „Du riechst gut.“

„Ich komme grad aus der Dusche.“

„Hm“, schnurrt er und öffnet den Stoffgürtel um meine Hüfte, während seine Lippen meinen Hals küssen. Seine Finger streichen mittlerweile über meinen Oberschenkel, von außen nach innen, immer höher und verschaffen mir die Art von Entspannung, von der sie wirklich was verstehen. Das hatte ich zwar eigentlich nicht mit kuscheln auf dem Sofa gemeint, aber es funktioniert auch. Ich löse meine Finger aus Lars‘ Haaren und ziehe sein Gesicht zu meinem, um ihn zu küssen.

„Das Essen wird…“

„Kalt? Wohl kaum.“

„Nee, warm und schlabberig“, sage ich mit einem Blick auf die Sandwiches.

„Macht nichts. Ich hab so lange darauf gewartet, dass du endlich hier einziehst, da können die Brote auch noch ein bisschen warten.“

Mein Magen protestiert mit einem lauten Knurren, sieht aber bald ein, dass er überstimmt ist und gibt Ruhe. Fürs erste. Nach einer zweiten Dusche meldet er sich dann allerdings lauter denn je wieder und verlangt nach dem aufgeweichten Haufen, der jetzt auf meinem Teller liegt.

„Wann bekommst du deinen neuen Ausweis?“, fragt Lars.

„In etwa drei Wochen. Für das kurze ‚Hallo ich brauche einen neuen Perso‘ habe ich eineinhalb Stunden gewartet.“

„Und du bist jetzt offiziell umgemeldet?“

„Ja, alles erledigt.“ Ich gebe ihm einen Moment, um darauf zu reagieren oder mich weiter zu fragen. Vergeblich. „Und wie war dein Tag?“

„Ach, wie immer.“

Und damit ist das Gespräch über diesen Horrortag beendet.

 

Bei Lars zu wohnen hat einige Vorteile. Erstens liebe ich ihn und will immer mit ihm zusammen sein. Klar. Weil er so viel arbeitet, sehen wir uns sowieso schon zu selten, aber jetzt können wir wenigstens jeden Abend zusammen verbringen. Manchmal ist er so müde, dass er gleich ins Bett geht. Dann lege ich mich einfach neben ihn und gucke ihm beim Schlafen zu. Er schläft so still, dass ich ihn zwischendurch anstarre und überprüfe, ob er noch atmet. Ich dagegen schlafe alles andere als ruhig, worüber Lars sich nicht nur einmal beschwert hat. Angeblich rede ich ab und zu unverständliches Zeug und wälze mich – Zitat – wie ein Irrer hin und her.

Zweitens war es eine echte Erleichterung für mich, als ich mit der Schule fertig war und meinen Eltern nicht nur meinen Stinkefinger, sondern auch einen Zettel mit meiner neuen Adresse (für den Notfall) unter die Nase halten konnte. Sie waren weder besonders traurig noch begeistert davon, dass ich ausziehe. Zwar haben sie kein Problem damit, dass ich auf Männer stehe, dafür hat ihnen aber offensichtlich alles andere an mir nicht gepasst. Zu mittelmäßig in der Schule, zu modernes Aussehen, zu wenig Interesse an einem Studium, zu unmusikalisch, zu unsportlich, allgemein zu untalentiert, zu wenig Freunde und so weiter… Lars mag all diese Dinge an mir, er drückt es nur etwas ungünstig aus. Er sagt nämlich, ich sei unkompliziert. Keine Ahnung, was ich davon halten soll.

Und drittens kann ich diesen Sommer, bis ich im Herbst eine Ausbildung anfange, mein Leben genießen, ohne eigenes Geld verdienen zu müssen. Lars bezahlt die Miete, unsere Freizeitaktivitäten und alles, was man so zum Leben braucht. In einer Müslidose in der Küche ist immer genug Geld, mit dem ich einkaufen gehe und scheußliche rosa Armbänder bezahle.

„Du Lars?“, frage ich ihn am nächsten Tag, als er gerade von der Arbeit nach Hause kommt. „Was würdest du davon halten, wenn ich mir ein rosa Armband kaufe?“

„Was?“

„Ach schon gut.“ Ich weiß selber nicht, was die Frage sollte. „Wir könnten doch morgen zum Badesee fahren oder? Ich brauche unbedingt mal eine Abkühlung.“

„Ich weiß nicht. Es wird bestimmt tierisch voll.“

„Dann fahren wir eben gleich nach dem Frühstück los“, schlage ich vor. „Ich rette dich auch, wenn du unter gehst.“

„In der Suppe gehe ich bestimmt nicht schwimmen. Aber einen Tag in der Sonne könnte ich schon mal wieder brauchen.“

Ich verdrehe kurz die Augen, gebe ihm einen Schmatzer auf die Wange und fange schon mal an, mich auf morgen zu freuen. Dieser Ausflug wird meine Entschädigung für eine Woche voller Umzugsstress, unerträglicher Hitze, ungerechtfertigter Polizeiverhöre und Armband-Diebe sein.

Aber selbstverständlich kommt es doch ganz anders. Es ist tatsächlich schon morgens brechend voll und Lars dementsprechend genervt. Er fordert mindestens fünfmal in der Minute, dass wir umdrehen und nach Hause fahren, aber ich habe mir nun mal in den Kopf gesetzt, in diesen See zu springen. Nachdem wir ihn fast einmal zu Fuß umrundet haben, finden wir endlich eine Stelle, die noch unbesetzt ist.

„Siehst du? Hier ist es doch schön“, sage ich und breite mein Handtuch aus.

Lars ist allerdings schon zu angefressen, um sich über unsere Eroberung zu freuen. „Wunderbar“, grunzt er nur sarkastisch und wühlt in seinem Rucksack nach der Sonnencreme.

„Soll ich dich eincremen?“, frage ich, um ihm wenigstens etwas entgegenzukommen.

„Du wolltest schwimmen, also schwimm.“

„Geht das jetzt den ganzen Tag so?“

Er wirft mir einen grimmigen Blick zu und setzt sich im Schneidersitz auf sein Handtuch. Na toll. Die kalte Schulter also.

„Willst du, dass wir gehen?“

„Das wollte ich eben. Jetzt spring schon in den Tümpel.“

Na gut, das war mein letzter Versuch, auf ihn einzugehen. Ich schlüpfe also aus meinen Sachen und springe ins Wasser. Es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Sobald das kühle Wasser mich umhüllt, ist nicht mehr jede Bewegung eine Qual und ich hab das Gefühl als könnte ich erst jetzt wieder richtig atmen. Lars wird mir das hier nicht verderben. Man muss einfach wissen, wie man mit seinen Launen umgehen muss. Diese hier muss man aussitzen. Soll er doch stinkig auf seinem Handtuch hocken und in der Sonne verkokeln.

Ich lasse mich einfach auf dem Rücken im Wasser treiben, bis ich mit jemandem zusammenstoße und vor Schreck fast untergehe.

„Sorry“, prustet mein Gegenüber. „Ich hab nicht aufgepasst, wo ich hinschwimme.“

„Hab ich auch nicht“, schnaufe ich.

„Dann haben wir hoffentlich beide was dazu gelernt“, meint er und streicht sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. An seinem Handgelenk hängt etwas Rosafarbenes. Das ist die kleine Ratte!

„Hey, schickes Armband.“ Ich sehe ihn vielsagend an und beobachte, wie das Grinsen aus seinem Gesicht verschwindet.

„Äh ja… hi, war schön, dich wiederzusehen“, sagt er hastig und krault aufs Ufer zu. Nicht mit mir. Ich nehme die Verfolgung auf.

„Was willst du?“, fragt er, als er aus dem Wasser krabbelt und mich hinter sich bemerkt.

„Na, zumindest mal eine Erklärung. Steckst du öfter fremden Leuten was zu, damit sie es für dich klauen oder auch noch so doof sind, es zu bezahlen?“

„Nein, das war ein ganz neues Experiment“, sagt er strahlend, als wäre er auch noch stolz darauf. Ich starre ihn fassungslos an. „Okay, es tut mir leid. Ich wollte dir keinen Ärger machen.“

Eine Entschuldigung? So schnell und so einfach? Von dieser Ratte könnte sich mein muffeliger Freund mal eine Scheibe abschneiden.

„Warum hast du dir das Ding nicht selber gekauft?“, frage ich.

„Konnte ich nicht. Ich spare jeden Cent, den ich verdiene. Und das ist schon nicht viel.“

„Oh.“ Ich habe sofort ein schlechtes Gewissen, versuche aber, es mir nicht anmerken zu lassen. „Und warum musste es unbedingt das sein?“

„Warum nicht?“, fragt er schulterzuckend und fängt an, sich mit seinem Handtuch abzutrocknen.

„Es ist rosa.“

„Du scheinst ja ein echtes Problem mit der Farbe zu haben. Wenn du willst können wir uns gerne mal darüber unterhalten. Meine Sprechzeiten sind immer montags und mittwochs…“

„Ja ja, schon kapiert“, unterbreche ihn und gehe zurück ins Wasser. „Viel Spaß damit. Ich muss jetzt wieder.“

„Wohin?“

„Zu meinem Freund.“

Er grinst mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Hey, wie wäre es, wenn ich die Sache mit dem Armband wieder gut mache?“

„Und wie?“, frage ich misstrauisch.

„Lass dich überraschen. Am Montag um eins, wo ich dich gestern stehen gelassen habe?“

„Okay“, sage ich und schwimme wieder auf den See raus. Was zur Hölle ist gerade passiert?

 

Sollte ich Lars von dem Treffen erzählen? Eigentlich schon oder? Immerhin ist er mein Freund. Aber andererseits ist er selber schuld, wenn er mich nicht fragt wie mein Tag war und was ich alles gemacht habe. Wenn ich ihm jetzt von der Sache mit dem Armband und meiner Verabredung mit der kleinen Ratte erzähle, wird er doch erst recht sauer und… wahrscheinlich eifersüchtig. Und ich glaube nicht, dass ich wissen will, wie es ist, wenn Lars eifersüchtig wird. Das kann also nur nach hinten losgehen. Stattdessen versuche ich ihn damit abzulenken, dass wir quasi den ganzen Sonntag im Bett verbringen. Er scheint allerdings zu denken, dass ich den fürchterlich schrecklichen Tag am Badesee wieder gut machen will. Natürlich bin nur ich daran schuld, dass er seinen wohlverdienten freien Tag nicht genießen konnte. Ist klar oder?

Ich gehe am Montag also nur mit einem kleinen schlechten Gewissen in die Stadt und warte auf meine strubbelige Verabredung. Ich frage mich, was er vorhat. So ganz ohne Geld.

„Du bist ja wirklich da“, höre ich seine Stimme neben mir und sehe auf. Er sieht heute verhältnismäßig normal aus. Keine zerrissenen Klamotten wie beim letzten Mal, sondern nur eine stinknormale kurze Jeans und ein rotes Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln, das sich ganz furchtbar mit seinem Armband beißt. Nur seine Haare sind wieder vollkommen durcheinander. Vielleicht sollte ich das nicht tun, aber wenn ich ihn mit Lars vergleiche… muss ich lachen.

„Was ist?“, fragt er irritiert.

„Nichts. Warum sollte ich nicht hier sein?“

„Hat dein Freund nichts dagegen?“

Danke für den Hinweis. „Nein, zufällig nicht.“

„Er weiß nichts davon“, stellt er scharfsinnig fest. „Du kannst absolut nicht lügen.“

„Na gut, er weiß es nicht“, gebe ich zu. „Er…“

„… ist eifersüchtig.“

„… arbeitet viel.“

„Vermutlich beides“, schlussfolgert die kleine Ratte dreist und winkt mich hinter sich her. „Komm mit.“

Ich laufe ihm also hinter her, ohne zu fragen, wo wir hingehen. Ich sollte mich schließlich überraschen lassen. Die Innenstadt lassen wir jedenfalls schon mal hinter uns und dann auch den Außenbezirk. Die Stadt ist ziemlich klein, also hört sich der Weg jetzt länger an, als er eigentlich ist. Wir laufen über eine Straße und biegen in einen kleinen Waldweg ein. Hier ist es, zugegeben, angenehm kühl, aber wie mich das für meinen unfreiwilligen fast-Diebstahl entschädigen soll, sehe ich noch nicht.

„Willst du mir eigentlich irgendwann mal deinen Namen verraten?“, fragt er beiläufig.

„Finn.“

„Finn? Das passt überhaupt nicht zu dir.“

„Was findest du denn angemessener?“, frage ich stinkig.

„Ich nenne dich Herr Stinkstiefel.“

„Stinkstiefel?“, frage ich und falle gerade aus allen Wolken. Ich bin doch kein Stinkstiefel. Das ist wohl eher Lars.

„Ja, du kommst mir immer so miesepetrig vor. Und Herr Stinkstiefel, weil du ein bisschen… hochnäsig bist.“

Spinnt der? Ich bin ein sehr lebensfroher Mensch. Und überhaupt nicht hochnäsig. Wann war ich jemals hochnäsig? Lars ist manchmal ein bisschen so. Zu ihm würde der Spitzname passen.

„Es sieht lustig aus, wenn sich deine Stirn so zusammen schnurzelt“, kichert die kleine Ratte vergnügt.

„Und wie ist dein Name?“

„Felix.“

„Ach ja? Ich nenne dich kleine Ratte.“

Er kichert einfach weiter.

Nach ein paar weiteren Minuten, in denen wir schweigend am Rand eines Flusses entlang gelaufen sind, haben wir endlich unser Ziel erreicht. Einen Bootsverleih. Felix begrüßt den Besitzer, als wären sie gute alte Freunde, und steigt dann in ein Tretboot ein.

„Komm schon“, sagt er und hält mir eine Hand hin.

„Danke, ich brauche deine Hilfe nicht.“

„Natürlich nicht.“

Ich steige ein und es kann los gehen. Wir schlängeln uns über den Fluss, zwischen Bäumen durch und kommen irgendwann an einem kleinen See an, wo wir uns einfach treiben lassen und die Füße hochlegen. Ja, das ist als Entschädigung schon ganz gut. Vielleicht sollte ich mich einfach entspannen und ein bisschen netter zu der kleinen Ratte sein.

„Also, was ist dein Freund für einer?“, fragt Felix.

„Wieso willst du das wissen?“

„Ich finde es nur seltsam, dass du immer allein unterwegs bist. Sogar, wenn ihr zusammen einen Ausflug macht.“

„Er arbeitet viel und ist deshalb meistens etwas gestresst“, erkläre ich.

„Und das lässt er an dir aus?“

„Wie kommst du darauf?“

„Na ja, ich glaube, dass du eigentlich ein ganz lustiger Typ bist“, meint Felix und lässt eine Hand ins Wasser baumeln.

„Ja, das bin ich“, beteuere ich. „Es sei denn, jemand versucht mich zum Diebstahl anzustiften.“

Er lächelt schuldbewusst. „In der Kühlbox da hinten ist übrigens was zu trinken, wenn du magst. Oder lieber ein Eis?“

Felix ist… anders. Das fällt mir nicht erst jetzt auf, aber es bestätigt sich immer mehr, während wir eisessend auf dem Wasser rumdümpeln und uns alle möglichen Geschichten erzählen. Ich erzähle ihm von meinen Eltern und meiner Beziehung zu Lars und bin dabei möglicherweise etwas zu offen. Lars würde mich köpfen, wenn er wüsste, was ich hier alles ausplaudere. Felix erzählt mir daraufhin von seinem Leben und seinen Plänen, die sich komplett von meinen unterscheiden. Er wohnt in einer Groß-WG, die sich offensichtlich aus einer sehr individuellen, alternativen Gruppe zusammensetzt. Kein Wunder, dass er sich da wohl fühlt. Er passt da ja super rein. Er will Kulturwissenschaften studieren, wenn er nächstes Jahr sein Abi hat. Studieren. Dafür spart er sein ganzes Geld. Alles, was nach Miete und Lebensunterhalt noch übrig bleibt, landet in der Spardose. Verrückt, oder? Er leistet sich nichts zwischendurch, geht nur in Second-Hand-Shops einkaufen und lässt sich alles, was er sich nicht leisten kann, zu Weihnachten oder zum Geburtstag schenken. Und das sind dann keine großen Sachen wie ein Fahrrad oder ein Fernseher, sondern Kleinigkeiten wie ein Buch oder eine CD. Oder ein Armband. Aber auf das wollte er wohl nicht mehr so lange warten.

„Du bist verrückt, weißt du das?“, stelle ich fasziniert fest.

„Nein, du bist verrückt“, entgegnet er.

„Wieso das?“

„Weil du alles danach beurteilst, wie es andere sehen. Und vor allem danach, was dein Freund davon hält.“

Ich sehe ihn an, will etwas sagen und starre dann doch nur auf meine Füße.

„Tut mir leid, ich wollte dir damit nicht zu nahe treten.“

„Ist schon gut.“

Danach machen wir uns langsam auf den Rückweg.

„Hey, am Mittwoch soll es wieder so richtig heiß werden. Lust auf eine Runde schwimmen?“

„Warum ausgerechnet Mittwoch?“, frage ich. Und warum ausgerechnet ich?, füge ich in Gedanken hinzu.

„Ich hab doch gesagt, dass meine Sprechzeiten immer montags und mittw… Okay, an den anderen Tagen muss ich arbeiten.“

„Sind nicht gerade Sommerferien?“, frage ich verwirrt.

„Ja, eben. Ferien sind immer gut, um extra Geld zu verdienen.“

„Und wo arbeitest du?“

„Hier“, sagt er grinsend und deutet auf den Bootsverleih, der gerade wieder am rechten Ufer auftaucht. Deshalb kennt er den Besitzer also. Und deshalb musste er auch nichts bezahlen. Diese kleine Ratte.

 

Als ich, noch ganz beschwingt von dem schönen Nachmittag, nach Hause komme, sehe ich, dass Lars‘ Auto schon vor dem Haus steht. Sofort rutscht mir das Herz in die Hose und das leichte Lächeln verschwindet von meinen Lippen. Er muss heute früher Schluss gemacht haben. Etwas angespannt öffne ich die Haustür, beschließe dann aber, dass es Quatscht ist, wie ich mich verhalte und gehe schnurstracks ins Wohnzimmer. Lars sitzt mit einer Zeitung in der Hand auf dem Sofa und sieht zu mir auf, als er mich bemerkt.

„Hey, Schatz, ich hab Sushi bestellt. Steht im Kühlschrank.“

„Okay“, sage ich erleichtert. Es scheint alles in Ordnung zu sein. „Bist du schon lange da?“

„Eine halbe Stunde vielleicht.“

Ich nehme die Sushiplatte aus dem Kühlschrank und setze mich neben Lars. „Hi“, sage ich und gebe ihm einen Kuss auf den Mund. Er legt seine Zeitung zur Seite und wir essen in Ruhe.

„Wo warst du?“, fragt er lächelnd und bei mir läuten sofort wieder sämtliche Alarmglocken. Mit der Frage hatte ich nicht gerechnet. Aber was soll’s? Er ist mein Freund, und wenn er schon mal fragt, soll er auch die ganze Geschichte hören. Ist ja nicht so, als hätte ich was zu verheimlichen.

„Ihr wart die ganze Zeit mit einem Tretboot unterwegs?“, fragt er verständnislos.

„Ja.“

„Vier Stunden?“

„Ja, es war schön.“

„Und was hat er dir dieses Mal zugesteckt? Ein bisschen Gras?“

„Was?“, frage ich fassungslos und verschlucke mich fast an meinem Lachs-Nigiri.

„Ich bitte dich, der Typ ist doch verrückt. Der ist bestimmt ständig zugedröhnt und versucht jetzt, dich da mit reinzuziehen.“

„Spinnst du?“, werde ich jetzt etwas lauter und springe vom Sofa auf. „Nur weil du dir zu fein bist, in einem See zu schwimmen oder Tretboot zu fahren, ist er noch lange nicht verrückt. Und nur weil er sein Geld sparen muss, heißt das noch lange nicht, dass du was Besseres bist!“

Lars steht jetzt auch auf und räumt die Sushireste zurück in den Kühlschrank. „Jetzt ist er also besser als ich, ja?“

„Das hab ich nicht gesagt.“

„Was habt ihr denn sonst noch so auf diesem Boot gemacht?“, fragt er mit einem seltsamen Funkeln in den Augen. Jetzt geht’s also los.

„Gar nichts.“

„Nein? Und warum wolltest du es dann vor mir verheimlichen? Warum hab ich noch nichts von diesem Typ gehört?“

„Weil du nicht gefragt hast. Weil du dich nie dafür interessierst, was ich mache!“, platzt es aus mir heraus.

Er kommt noch einen Schritt auf mich zu, aber ich weiche nicht zurück. „Wie viele heimliche Dates gab es denn noch, hm? Sind da noch mehr kleine Penner, von denen ich nichts weiß?“

„Das ist alles?“, frage ich entsetzt. „Ich sage dir, dass du dich nicht für mich interessierst und das ist alles, was du wissen willst? Ob ich mich mit anderen treffe?“

„Tust du’s denn?“

„Nein, natürlich nicht! Aus irgendeinem unerfindlichen Grund habe ich mich für dich entschieden. Und damit du dich nicht wieder so aufregen musst, sage ich dir lieber gleich, dass ich am Mittwoch mit Felix schwimmen gehe.“

Ich drehe mich um und will in Richtung Bad gehen, aber Lars hält mich am Arm fest. Und das nicht gerade zimperlich.

„Nein, gehst du nicht.“

„Doch, und ob“, entgegne ich und reiße mich los. „Ich darf ja wohl noch Freunde haben, oder? Du kannst manchmal ein echtes Arschloch sein, Lars.“

Und mit einem lauten Klatsch landet seine flache Hand auf meiner Wange. Ich bin erst mal geschockt. Der Schmerz kommt später. Dann aber richtig. Lars gibt keinen Mucks von sich, sondern sackt langsam auf dem Boden zusammen. Das ist neu. Ich habe ihn nie für gewalttätig gehalten. Und ich glaube, er sich auch nicht. Aber darüber kann ich mir jetzt keine Gedanken machen. Ich laufe ins Badezimmer, schließe die Tür ab und lasse mir ein Bad einlaufen. Meine Wange kühle ich mit einem nassen Waschlappen und vermeide es, in den Spiegel zu sehen. Keine Ahnung, wie ich aussehe. Fröhlich bestimmt nicht. Ich weiß gar nicht mehr, wie die Sache so eskalieren konnte. Was hab ich gesagt? Was hat er gesagt? Damit hab ich nicht gerechnet.

Zwei Stunden später fühle ich mich gewappnet und erholt genug, um Lars gegenüber zu treten. Ich finde ihn im Wohnzimmer, vor dem Sofa hockend, mit einer Schnapsflasche in der Hand. Auch das noch.

„Hey“, sage ich kühl. „Du hast fünf Sekunden, dich bei mir zu entschuldigen.“

„Finn, ich interessiere mich für dich.“

Oh wow, den Vorwurf hat er also doch wahrgenommen.

„Es tut mir leid. Ich wollte nicht… ich wollte das nicht.“

„Wie viel hast du getrunken?“, frage ich. Ich muss wissen, ob er sich morgen noch an die Entschuldigung erinnert.

„Nur ein paar Schluck.“

Er klingt auch nicht betrunken, also glaube ich ihm mal.

„Was sollte der Scheiß? Glaubst du wirklich, dass das die richtige Methode ist, um mich vom Fremdgehen abzuhalten?“

„Nein.“

„Was dann?“

„Ich weiß es nicht.“

„Ich liebe dich, Lars“, sage ich, weil es die Wahrheit ist. „Ich treffe mich nur ab und zu mal mit einem Freund. Das ist das normalste auf der Welt.“

„Das hast du sonst nie gemacht.“

„Ja, weil ich keine Freunde hatte. Mir ist langweilig, wenn du den ganzen Tag arbeitest und ich möchte auch mal was machen, worauf du keine Lust hast.“

„Ich liebe dich, Finn.“

„Ich weiß“, sage ich und setze mich neben ihn auf den Boden.

Er legt seine Arme um mich und küsst ganz vorsichtig meine Wange. „Es tut mir leid.“

„Ich weiß.“

 

Warum brauchen manche Beziehungen so ein Schockerlebnis, um sich weiterzuentwickeln? Ich meine, das ist doch schwachsinnig, oder? Ich hätte mich von Lars trennen sollen, nachdem er mich geschlagen hat, doch stattdessen setze ich mich zu ihm auf den Boden und sage ihm, dass ich ihn liebe. Das ist verrückt. Er hat mir irgendwie leid getan und… ich hatte das Gefühl, dass wir noch nie so ein offenes Gespräch geführt haben. Und dann seine Lippen an meiner Wange und sein geflüstertes Es tut mir leid. Da bin ich schwach geworden und wir hatten Sex.

Felix starrt mich mit offenem Mund an, als ich die Geschichte beende. „Falls das eine Gruselgeschichte sein sollte, hat sie ihren Zweck erfüllt.“

„Haha.“

„Nein, ich mein’s ernst“, sagt er. „Du tanzt total nach seiner Pfeife. Du bist abhängig von ihm.“

„Bin ich nicht. Ich werfe halt nicht gleich alles hin, nur weil…“

„Er dich schlägt? Dir nicht vertraut? Dir keine Freunde gönnt und dir deine Freiheit nimmt? Er denkt nur an sich und als Belohnung schläfst du mit ihm?“

Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Ich weiß nur, dass ich anfange, mich unwohl zu fühlen. Wir sitzen hier am Badesee, umringt von fremden Menschen, und ich bespreche die privatesten Dinge mit einem Jungen, der mir nicht viel weniger fremd ist. Und der auch noch ein Jahr jünger ist als ich.

„Das ist doch deine erste Beziehung, oder?“, bohrt Felix weiter.

„Ja.“

„Und hast du es dir so immer vorgestellt?“

„Nein, aber das muss ja nicht gleich was Schlechtes sein. Ich weiß, dass nicht alles super läuft, aber ich liebe ihn und…“

„Warum?“, fragt Felix.

„Hä?“

„Weißt du, warum du in ihn verliebt bist? Und warum er dich liebt? Weil du unkompliziert bist?“

„Ich finde, wir sollten jetzt erst mal schwimmen gehen.“ Ich brauche eine Pause. Dringend.

„Okay.“

Wir ziehen unsere T-Shirts aus und springen ins Wasser. Ich muss jetzt mal an gar nichts denken, bevor mein Schädel platzt. Felix scheint die gleiche Idee zu haben, denn er legt ein ziemlich gutes Tempo vor. Ich hab Mühe hinterher zu kommen. Er schaut sich nicht um, scheint aber zu wissen, dass ich ihm auf den Fersen bin. Wir jagen also über den See und erst als wir am gegenüberliegenden Ufer angekommen sind, verlangen wir beide schnaufend nach einer Pause.

„Was war das denn eben?“, frage ich außer Atem.

„Du wolltest doch schwimmen. Alles andere wäre plantschen.“

„Dagegen ist alles plantschen.“

Er grinst und lässt sich in den Sand zurückfallen. „Ist jetzt eigentlich alles vergeben und vergessen?“

„Ja, ich denke schon. Mittlerweile finde ich das Teil auch gar nicht mehr so scheußlich.“

„Obwohl es rosa ist?“, fragt er gespielt schockiert.

„Ja, obwohl es rosa ist“, gebe ich zu und lege mich ebenfalls in den Sand. Wird ja alles wieder sauber, wenn wir zurückschwimmen.

„Hey, Herr Stinkstiefel?“

„Ja, kleine Ratte?“

„Ich bin froh, dass ich dir das Armband in die Tasche gesteckt habe.“

„Ja, ich auch. Mittlerweile“, stelle ich überrascht fest.

„Echt? Obwohl du meinetwegen jetzt Stress mit deinem Freund hast?“

„Es ist nicht deinetwegen“, sage ich schnell und drehe mich auf die Seite, um ihn anzusehen. Ich will nicht, dass er sich schuldig fühlt, nur weil ich ein paar Beziehungsprobleme habe.

„Sag mir trotzdem, wenn ich irgendwie… im Weg bin.“

„Hörst du jetzt mal auf, so einen Schwachsinn zu reden? Lars wäre auf jeden eifersüchtig gewesen.“

„Und war er jetzt doch einverstanden, dass wir uns heute treffen?“

„Nicht wirklich“, seufze ich. „Aber er hatte keine Wahl.“

Als wir wieder am anderen Ufer ankommen, ist es halb fünf, also mache ich mich gleich auf den Weg nach Hause. Ich hab Felix meine Handynummer gegeben, damit er mich anrufen kann, wenn er wieder Zeit hat, um irgendwas zu unternehmen, wozu Lars ganz sicher keine Lust hat.

 

In letzter Zeit benimmt sich Lars wirklich sehr vorbildlich. Er fragt nicht mehr sein gruseliges „Wo warst du?“, wenn ich mal nach ihm nach Hause komme, sondern ein aufrichtiges „Wie war dein Tag?“. Und er beleidigt Felix nicht mehr. Er findet es zwar nicht toll, dass wir uns weiterhin treffen, nimmt es aber stillschweigend hin. Mehr kann ich nicht erwarten. Für seine Verhältnisse ist das schon sehr entgegenkommend.

Neulich hab ich Felix bei der Arbeit besucht. Ich glaube, ihm war sein quietsch-gelbes Outfit etwas peinlich, aber er hat sich trotzdem gefreut, mich zu sehen. Bei seinem Chef wollte er gleich ein gutes Wort für mich einlegen, falls ich „finanziell etwas unabhängiger“ werden wollte und ich habe ihm gesagt, dass ich darüber nachdenke. Vielleicht. Wenn ich ehrlich bin, bin ich eigentlich zu faul, um diesen Sommer noch arbeiten zu gehen.

Und wenn ich noch ehrlicher bin… ich bin seit Kurzem ziemlich verwirrt. Angefangen hat es, nachdem ich von dem letzten Badetag zurückgekommen bin. Lars war schon zuhause und hat gefragt, wie es war. Er wollte nichts von Felix wissen, sondern einfach nur, ob ich einen schönen Tag hatte. Ich war total erleichtert, dass er keinen Aufstand gemacht hat, aber aus irgendeinem Grund habe ich mir auch gewünscht, dass er weiter nachfragt. Er hätte mich fragen können, worüber wir geredet haben und dann hätte ich ihm gesagt, was Felix mich gefragt hat. Ich hätte die Frage wiederholen können: Warum liebst du mich? Und: Nur weil ich unkompliziert bin? Ich bin mir nämlich nicht sicher, was er antworten würde und ob die Antwort mir gefallen würde. Aber das ist nicht mal das, was mich verwirrt. Ich finde es viel verwirrender, dass ich nicht sagen kann, warum ich ihn liebe. Alles, was mir einfällt ist, dass er gut aussieht, Geld hat und mich aus meiner lieblosen Kindheit befreit hat. Aber es fehlen die berühmten Kleinigkeiten. Früher fand ich seine eigenartigen Macken niedlich und er kam mir immer so erwachsen vor. Aber mittlerweile stört mich das eigentlich nur noch. Ich will nicht mehr hören „Du riechst gut“, wenn ich aus der Dusche komme. Ich will hören „Du riechst gut“. Punkt. Ich will ich sein und kein abgeschrubbtes, poliertes Accessoire.

Der Knackpunkt ist, dass Felix, die kleine Ratte, solche Kleinigkeiten hat. Wie er mich Herr Stinkstiefel nennt, sich über mein Stirnrunzeln lustig macht, sich seine Haare mit dem Handtuch trocken rubbelt, wie er sich selbst zurücknimmt, um mir und meiner Beziehung nicht im Weg zu sein, sein Ehrgeiz und dieses verdammte rosa Ding an seinem Handgelenk. Und das ist nur der Anfang. Mir würde noch einiges mehr einfallen.

Aber wenn ich sie beide nebeneinander stelle, würde ich mich für Lars entscheiden. Er ist alles, was ich habe und er gibt sich gerade echt Mühe, auf mich einzugehen. Vielleicht bin ich ja auch nur verwirrt, weil ich es nicht gewohnt bin, einen guten Freund wie Felix zu haben.

 

Nein, das ist es nicht.

Felix und ich lassen gerade unsere Füße vom Steg ins Wasser hängen und essen ein Eis aus der Kühltruhe des Bootsverleihs. Er erzählt mir irgendeine lustige Geschichte, von der ich absolut nichts mitbekomme, weil ich ihn anstarre. Ihm fällt es nicht auf, weil er denkt, dass ich ihm zuhöre. Mir fällt währenddessen auf, dass er Sommersprossen hat. Nur auf der Nase.

Dann konzentriere ich mich wieder auf mein Eis und versuche, wenigstens das Ende seiner Geschichte mitzubekommen.

„Und als er aus dem Wasser gekrochen kam, hatte er überall diese kleinen Kletten in den Haaren. Die kleben wie Hulle. Würde mich nicht wundern, wenn er morgen mit kurzen Haaren zur Arbeit kommt.“

„Das ist ja nicht so gut.“

„Nee, aber lustig war’s“, kichert er und schleckt weiter an seinem Eis.

Ich versuche, nicht darauf zu achten, wie das geschmolzene Wassereis an seinen Lippen hängen bleibt. Das kommt auf die Liste der niedlichen Kleinigkeiten. Und auch, wie er seine Füße im Wasser aneinander reibt und leise seufzt, als er das letzte Bisschen von seinem Eis aufgegessen hat. Er legt den Stiel zur Seite und wendet sein Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zu. In meinem Bauch fängt es heftig an zu kribbeln und als ich sehe, dass immer noch was an seinem Mund klebt, übernimmt etwas Unbekanntes in mir die Kontrolle.

Ich lehne mich zu ihm rüber und küsse ihn. Felix zieht seinen Kopf erschrocken zurück und fällt dabei rücklings auf den Steg. „Warte mal“, sagt er, aber ich hab mich schon über ihn gebeugt und drücke meinen Mund wieder auf seinen. Er wehrt sich halbherzig, indem er seine Hände gegen meine Schultern stemmt, gibt das aber schnell auf und klammert sich stattdessen an mein T-Shirt. Ich lecke gierig mit meiner Zunge über seine klebrig süßen Lippen und als die sich öffnen, taste ich mich weiter vor. Meine Zunge stupst vorsichtig gegen seine. Wow.

Meine Hände stützen sich immer noch an beiden Seiten neben seinem Körper ab, aber bevor ich daran etwas ändern kann, stoßen mich Felix‘ Hände kräftig zurück.

„Warte“, schnauft er und richtet sich auf. Er vergräbt sein Gesicht kurz in seinen Händen und fährt sich dann durch die Haare. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“

„Nein, du hast recht“, sage ich geknickt und geschockt. „Tut mir leid.“

„Warum hast du das gemacht?“

„Ich weiß nicht. Du hattest noch Eis…“ Das ist ja Schwachsinn. Ich rede nur Schwachsinn. Ich hab Lars hintergangen. Darüber sollte ich mal nachdenken.

„Du kannst mich nicht einfach küssen, Finn. Du hast einen Freund. Warum muss ich der Vernünftige sein?“

„Keine Ahnung. Ich… wollte dich einfach küssen.“

„Warum?“

„Woher zur Hölle soll ich das denn wissen?!“, fahre ich ihn an und könnte mir sofort eine runterhauen, als ich seinen schockierten und schuldbewussten Blick sehe.

„Ich denke, wir sollten uns eine Weile nicht sehen“, sagt er und steht auf.

„Warte.“ Ich rappel mich ebenfalls hoch und stelle mich ihm in den Weg. „Ich bin ehrlich zu dir, wenn du ehrlich zu mir bist, okay?“

Er sieht mich nur herausfordernd an.

„Ich bin durcheinander, weil ich eben nicht sagen kann, warum ich Lars liebe. Und weil es mich verrückt macht, wenn du Eisreste an den Lippen kleben hast.“

„Hört sich an, als würdest du gerade durchdrehen“, sagt er kühl.

„Jetzt bist du dran.“

„Womit?“

„Warum hast du mich nicht gleich weggestoßen?“, frage ich und fühle wie das Kribbeln zurückkommt.

Felix bekommt ein bisschen Farbe im Gesicht und wendet sich von mir ab. „Hab ich doch versucht.“

„Ja, klar“, schnaufe ich. „Sei ehrlich. Warum hast du mich zurückgeküsst.“

Er zupft an seinem gelben Arbeitsshirt. „Weil ich dich mag.“

„Mag?“

„Ja, es war… schön.“

Der macht mich fertig. Ich will gerade auf ihn zugehen, als er mir abwehrend eine Hand entgegenstreckt. „Nein“, sagt er ernst und ich bleibe, wo ich bin. „Du kannst nicht einen Freund haben und mit mir rumknutschen. Und ich weiß, dass du dich nicht von Lars trennen wirst.“

Da hat er Recht. Ich kann nicht. Lars und ich gehören zusammen. Ich liebe ihn, auch wenn ich gerade nicht weiß, warum. Aber ich will auch Felix küssen. Schon wieder. Immer noch.

„Und was machen wir jetzt?“, frage ich ihn, in der Hoffnung, dass er eine Lösung weiß.

„Gar nichts. Nach Hause gehen.“

„Okay“, sage ich etwas enttäuscht. „Ich rede dann wohl mit Lars.“

„Nein“, kommt es etwas panisch von ihm. „Es war doch nur ein Kuss und es wird nicht wieder passieren.“

„Ich soll es ihm nicht sagen?“ Hat er den Verstand verloren? Wie soll ich das geheim halten? Und es war nicht nur ein Kuss…

„Nein, ich will nicht an eurer Trennung schuld sein.“

„Wie soll ich das denn vor ihm verheimlichen? Du hast selber gesagt, dass ich nicht lügen kann.“

„Das ist nicht mein Problem“, winkt Felix ab. „Du hast damit angefangen.“

Und damit dreht er sich um und geht.

 

Lars war nicht begeistert. Als er nach Hause gekommen ist, muss ich immer noch einen ziemlich geknickten Eindruck gemacht haben und bekanntlich kann er mit deprimierten Menschen nichts anfangen. Ich lag eine Weile einfach auf dem Sofa rum und habe gar nichts gemacht. Wie Felix gesagt hat. Lars hat sich in sein Arbeitszimmer verzogen, um der schlechten Stimmung auszuweichen. Allerdings ist ihm nach etwa einer Stunde dann wohl doch noch eingefallen, dass er sich mehr um mich bemühen wollte und kam zurück ins Wohnzimmer. Er hat gefragt, ob was passiert sei und sich neben mich gesetzt. Nach einem kurzen nervlichen Zusammenbruch von mir, den er natürlich nicht richtig verstehen konnte, hab ich ihm dann gesagt, dass ich mich mit Felix gestritten habe. Nicht mehr. Sobald der Name gefallen war, wollte er auch gar nicht mehr wissen.

„Seht ihr euch jetzt nicht mehr?“, hat er gefragt und mich in den Arm genommen.

„Keine Ahnung.“

Ich fühle mich immer noch mies, dass ich es ihm nicht gesagt habe. Aber vielleicht ist es wirklich besser. Lars würde sich tierisch aufregen, mich anschreien, sich trennen und mich für immer hassen. Und ich würde vielleicht Felix hassen, weil er dann doch irgendwie schuld an der Trennung gewesen wäre. Das will ich nicht. Nichts davon.

Ich warte das ganze Wochenende auf einen Anruf, aber die kleine Ratte meldet sich nicht. Ich kann nur hoffen, dass sein „Wir sollten uns eine Weile nicht sehen“ nicht ernst gemeint war. Immerhin hat er zugegeben, dass ihm der Kuss auch gefallen hat. Also geht nicht alles nur von mir aus. Ich finde, wir sollten wie erwachsene Leute darüber reden. Deshalb gehe ich, als er sich am Montag immer noch nicht gemeldet hat – obwohl wir an dem Tag eigentlich immer etwas unternehmen – am Dienstag zum Bootsverleih.

Felix ist gerade dabei, zwei Kanus für eine Familie ins Wasser zu lassen und während ich ihn dabei beobachte, ist mir mehr denn je klar, dass ich mein seltsames Verlangen nach ihm abschalten muss. Sonst geht unsere Freundschaft den Bach runter.

„Hey“, sagt Felix, als er sich umdreht und mich bemerkt. Er sieht nicht sauer aus, aber auch nicht besonders happy.

„Hallo. Kann ich kurz mit dir reden?“

„Klar. Ich muss nur noch ein Kajak aus der Halle holen.“

Ein paar Minuten später hat er Zeit und wir setzen uns auf die Holzstühle vor dem Haus.

„Hör zu, du hattest recht“, fange ich an. „Es war eine blöde Idee und es wird nicht mehr vorkommen.“

„Hast du’s Lars gesagt?“

„Nein.“

„Und jetzt hast du ein schlechtes Gewissen“, stellt er fest, scharfsinnig wie immer.

„Ja. Aber das löffel ich selber wieder aus. Ich will nur, dass du nicht mehr sauer auf mich bist.“

„Ich bin nicht sauer auf dich. Nicht mehr“, sagt er und so langsam wird seine Stimme wieder weicher. „Ich war eher sauer auf mich selbst, weil ich… ja auch irgendwie mitgemacht hab.“

Oh ja!

„Wir sollten das vergessen. Sagen wir einfach, wir sind jetzt quitt.“

„Quitt?“, frage ich.

„Ich hab dir das Armband zugesteckt und du hast mich geküsst.“

Ja, nur war ich an der Armband-Sache nicht so beteiligt wie er an dem Kuss. Aber lassen wir das. „Okay. Wir sind quitt“, stimme ich zu. „Darf ich dich trotzdem morgen auf ein Eis einladen?“

„Nee, das lassen wir lieber. Nachher bleibt mir wieder was am Mund kleben.“

Mir bleibt nichts anderes übrig, als der kleinen Ratte die Zunge rauszustrecken…

Wir treffen uns aber trotzdem am nächsten Tag in der Stadt und setzen uns in ein Café. Felix bestellt einen Eiskaffee, und weil ich finde, dass sich das gut anhört, nehme ich auch einen. Am Anfang ist die Stimmung noch etwas angespannt, aber mit der Zeit gibt sich das auch. Wir wissen beide, dass wir unsere Freundschaft und meine Beziehung nicht aufs Spiel setzen wollen und reden nicht mehr über den Kuss. Stattdessen versuche ich aus ihm rauszukitzeln, wie es bei ihm so in der Liebe aussieht, aber bei dem Thema macht er absolut dicht. Frechheit. Ich erzähle ihm alles und er mir gar nichts. Aber vielleicht hat er auch was Ätzendes hinter sich, über das er einfach nicht reden will. Das könnte ich verstehen.

Der Einzige, der über unsere neu entdeckte Freundschaft nicht so glücklich ist, ist Lars. Er dachte wohl, dass es sich ausgefelixt hat und ist jetzt genervt, dass er mich wieder teilen muss. Für mich ist das ziemlich schwierig, weil ich ihm die ganze Zeit versichere, dass er sich keine Sorgen machen muss, obwohl das eine fette Lüge ist.

Als ich von meinem Eiskaffeetrinken mit Felix zurückkomme, liegt Lars schlafend auf unserem Bett. Es war wohl ein anstrengender Tag. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, lege mich wie immer neben ihn und vergrabe mein Gesicht zwischen seinem Hals und seiner Schulter. Ich versuche ihm irgendwie unterbewusst mitzuteilen, dass es mir leid tut und bemerke erst gar nicht, dass seine Finger meinen Nacken kraulen. Ich hebe meinen Kopf, um ihn anzusehen.

„Hey, wie war dein Tag?“, fragt er mich lächelnd.

Er fragt mich das, obwohl er weiß, dass ich mich mit Felix getroffen habe und obwohl sein Tag offensichtlich ziemlich scheiße war.

Ich beuge mich zu ihm runter und küsse ihn. Ziemlich fest und aggressiver, als ich es sonst von mir kenne. Meine Finger zerren grob an seinem Shirt und werfen es neben dem Bett auf den Boden. Lars ist etwas überrascht, lässt sich aber sofort darauf ein. Er zieht mir mein Shirt aus, während ich seine Hose öffne. Dann wirft er mich zur Seite und hält meine Hände auf der Matratze fest. Es geht alles ziemlich schnell. Wir küssen uns wie die Verrückten und reiben uns so lange aneinander, bis wir beide kommen und heftig schnaufend liegen bleiben. Wir haben es nicht mal geschafft, uns die Hosen ganz auszuziehen.

Das hier ist richtig, versuche ich mir einzureden und schlinge meine Arme um meinen Freund. Aber so gut und befriedigend es auch ist und so sehr ich Lars liebe, es war nichts… gegen den einen kurzen Kuss von Felix. Etwas ist absolut nicht in Ordnung.

 

Ich muss noch mal ganz offen und ehrlich mit Felix reden, weil… mit wem sonst? Ich muss wissen, was da los ist. Und irgendwie hab ich das Gefühl, dass es auch noch etwas gibt, was er mir nicht gesagt hat. Ich gehe ihn also am nächsten Tag wieder nach Feierabend bei der Arbeit besuchen und hoffe, dass die dunkle Wolke am Himmel kein schlechtes Omen ist.

„Herr Stinkstiefel“, freut er sich und kommt strahlend auf mich zu.

„Hi, kleine Ratte.“

„Weißt du was? Die Uni, an der ich studieren möchte, hat morgen sowas wie einen Tag der Offenen Tür und ich fahre hin.“

„Musst du nicht arbeiten?“

„Nein, ich hab frei bekommen. Und wenn du ganz lieb bitte sagst, nehme ich dich vielleicht mit. Dann kommst du hier mal raus.“

„Ja, das wäre gar nicht schlecht“, murmel ich vor mich hin.

„Du bist ja heute wirklich ganz stinkstiefelig. Ich dachte, du freust dich.“ Und dann wird er auf einmal etwas bleich um die Nase. „Du hast es Lars gesagt.“

„Nein!“, sage ich sofort und er atmet erleichtert auf. „Aber ich muss noch mal mit dir reden.“

In dem Moment – wie sollte es anders sein – fängt es an zu regnen, aber wir bewegen uns nicht vom Fleck. Felix starrt mich an, als würde er überlegen, wegzurennen.

„Vielleicht hattest du recht und wir sollten uns wirklich mal eine Weile nicht sehen.“

„Wieso?“

„Weil ich immer noch verwirrt bin“, sage ich verzweifelt. „Und ich glaube, dass du auch verwirrt bist.“

Er sieht mich kurz an und sagt dann: „Wir sollten in die Halle gehen, bevor wir total aufgeweicht werden.“

Wir stellen uns also in der Halle unter, in der die ganzen Boote aufgestapelt liegen und sehen dabei zu, wie draußen weiterhin alles nassgeregnet wird. Seit Wochen das erste Mal. Und endlich weht mal wieder ein erfrischender Wind.

„Ich hab gesagt, dass ich dich mag“, sagt Felix auf einmal.

„Ja…“

Er kommt auf mich zu und legt beide Hände an mein Gesicht. „Ich bin nicht verwirrt.“ Und dann legt er ganz leicht seine Lippen auf meinen Mund. Dieses Mal sind sie nicht klebrig, sondern ganz weich. Er küsst mich. Von sich aus. Das Kribbeln ist augenblicklich wieder da und wenn es möglich ist, sogar noch heftiger als beim letzten Mal. „Du riechst gut. Nach Regen“, flüstert er und gibt mir damit den Rest. Ich schlinge meine Arme um ihn und küsse ihn noch mal. Unsere Zungen finden sich wieder und dieses Mal macht er keine Anstalten, mich wegzustoßen. Wir küssen uns bis zum Umfallen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich stolpere über irgendetwas, das auf dem Boden liegt und wir fallen in den Stapel Sitzkissen, der neben dem Halleneingang aufgetürmt wurde. Schwein gehabt. Niemand wurde verletzt und jetzt haben wir es auch noch schön gemütlich. Felix kuschelt sich an mich und streicht mit seinen Händen über meinen Rücken, während sich eine von meinen langsam unter sein nasses, gelbes T-Shirt schiebt.

„Halt“, kommt es dann allerdings von Felix und er hält meine Hand fest. „Das geht nicht.“

„Warum nicht?“, frage ich blöd. Natürlich gibt es etwa tausend Gründe, die dagegen sprechen.

„Erstens sind wir hier quasi in der Öffentlichkeit, zweitens hast du immer noch einen Freund und drittens… hab ich schlechte Erfahrungen mit sowas gemacht.“

„Mit einer Hand auf deinem Bauch?“

„Nein, du Vollidiot. Mit dem, was danach kommt.“ Er kann es nur ernst meinen, denn er wird etwas rot.

„Inwiefern?“

„Der erste Junge, in den ich verliebt war, hatte auch einen Freund. Und nachdem er mich dazu gebracht hat, mit ihm zu schlafen, hat er mich abserviert.“

„Und jetzt dachtest du, ich hätte das gleiche vor?“, frage ich fassungslos.

„Hast du vor, mit Lars Schluss zu machen?“, ist seine Gegenfrage.

„Nein. Das heißt… ich weiß es nicht. Deshalb bin ich doch so verwirrt.“ Und dann schleicht sich noch eine andere Frage in meine Gedanken. „Heißt das, du bist verliebt in mich?“

„Ziemlich“, seufzt er und sieht auf einmal sehr unglücklich aus.

„Seit wann?“

„Ich glaube, seit du am Badesee patschnass vor mir standest und gesagt hast, dass du einen Freund hast. Ich stehe scheinbar auf schwierige Fälle. Spätestens aber nach deinem fünfzigsten Es ist rosa.“ Er streicht mit seinen Fingern leicht durch meine Haare, dass ich eine Gänsehaut bekomme.

„Ich mag deine Sommersprossen“, sage ich, weil unsere Gesichter so dicht nebeneinander liegen, dass ich die einzelnen Punkte auf seiner Nase zählen könnte.

„Das ist nicht unbedingt fair“, behauptet Felix und lächelt traurig.

„Nein, warte, da ist noch mehr“, sage ich und beschließe, alles mal loszuwerden. Vielleicht hilft mir das ja dabei, eine Lösung zu finden. „Ich mag auch wie du ein Eis isst, offensichtlich. Und wie du mich Herr Stinkstiefel nennst. Dass du irgendwie immer fröhlich bist, auch wenn ich schlechte Laune habe. Dass du nicht zuerst an dich denkst, und dass du… eine kleine Ratte bist.“

Felix grinst und zieht mir leicht an den Haaren.

„Eigentlich hab ich mir so immer eine Beziehung vorgestellt“, gebe ich zu.

„Ich auch.“

„Ich muss mit Lars reden.“

„Tut mir leid“, sagt Felix.

„Was denn?“

„Dass ich dich geküsst habe.“

Ich verspreche Felix, dass ich mich mit Lars unterhalte und über uns nachdenke, bevor wir uns das nächste Mal sehen. Er ist einverstanden und damit bin ich jetzt auf mich allein gestellt. Ich muss mich entscheiden.

 

Ich hab Felix geküsst, höre ich mich in Gedanken zu Lars sagen und male mir aus, wie er wohl reagieren wird. Mit Sicherheit wird er mich anschreien, mir die Pest an den Hals wünschen und sich vielleicht sogar gleich von mir trennen und mich aus der Wohnung werfen. Ich hoffe natürlich, dass wir alles gesittet besprechen können, aber wenn ich mir überlege, was neulich erst vorgefallen ist… Eins hab ich mir aber geschworen: Wenn er mich noch mal schlägt, schlage ich zurück.

Und wieder mal kommt alles ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Denn als ich Lars bitte, sich zu mir aufs Sofa zu setzen, und den Satz „Ich habe Felix geküsst“ laut ausspreche, nickt er nur und sagt: „So was hab ich mir schon gedacht.“

„Was?“, frage ich verdattert.

„Na ja, ich habe es irgendwie vermutet, seit du deinen ‚Streit‘…“, er malt die Anführungszeichen übertrieben groß in die Luft, „… mit… ihm hattest. Und nach gestern Abend war ich mir ziemlich sicher.“

„Es tut mir leid, Lars. Ich wollte wirklich nicht, dass das passiert.“

„Ich hab heute den ganzen Tag überlegt, wie ich damit umgehen soll…“

Oh nein, jetzt kommt’s. Er trennt sich, wirft mich raus. Moment mal… Ist das nicht eigentlich das, was ich wollte? Wollte ich nicht vorhin noch mit Felix zusammen sein?

„… Ich hab mir überlegt, ob es besser wäre, wenn wir uns trennen“, sagt Lars und sieht mich prüfend an.

Nein, das ist nicht das, was ich wollte. Das geht nicht. Das will ich nicht. Lars ist… meine Familie. Und da habe ich meine Antwort: Ich liebe Lars, weil er einfach alles für mich ist. Mein Zuhause ist hier bei ihm. Ich hab die ganzen letzten Jahre mit ihm verbracht. Es war nicht alles immer wie im Bilderbuch, ja, aber in welcher Beziehung ist das schon so? Und er hat in letzter Zeit gezeigt, dass er sich ändern kann. Felix ist zu einem Zeitpunkt aufgetaucht, als mich alles genervt hat und ich sollte mir jetzt eingestehen, dass er nur eine Ablenkung war. So was wie ein kühler Regen nach ein paar Wochen unerträglicher Hitze.

„Aber ich glaube, dass ich an der Sache auch nicht ganz unschuldig war“, sagt Lars weiter.

„Und was heißt das jetzt?“

„Ich werde mich mehr bemühen, dir zu zeigen, wie wichtig du mir bist, wenn du dich nicht mehr mit Felix triffst.“

Damit hab ich gerechnet. Und trotzdem trifft es mich ziemlich hart. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, in Zukunft nicht mehr mit Felix zusammen zu sein. Er ist mein bester Freund und er bedeutet mir sehr viel. Aber eigentlich war die Entscheidung schon lange gefallen. Ich hab’s ja selber gesagt: Wenn ich beide nebeneinander stelle, würde ich mich für Lars entscheiden. Und das tue ich jetzt auch.

 

Einen Tag hatte ich Zeit, mir zu überlegen, wie ich Felix meine Entscheidung beibringe. Aber mir fällt nicht ein, wie ich es machen kann, ohne ihn zu verletzen. Hoffentlich glaubt er mir wenigstens, dass es mir leid tut, und dass ich am liebsten die Zeit zurückdrehen würde, um mich davon abzuhalten, ihn zu küssen. Dann könnten wir immer noch Freunde sein.

Der Regen ist schon wieder vollkommen verdunstet und der Holzsteg des Bootsverleihs ganz trocken. Es sind viele Kunden da, die diesen heißen Sommer in vollen Zügen genießen wollen. Felix gibt mir zu verstehen, dass ich warten soll, also setze ich mich unter einen Baum in der Nähe und beobachte ihn eine Weile bei seiner Arbeit. Das Kribbeln ist immer noch da, wenn ich ihn ansehe, aber da muss ich jetzt durch. Ich hab mich entschieden und werde keinen Rückzieher mehr machen. Da kommt er auch schon zu mir rüber und setzt sich neben mich.

„Und?“, fragt er nur. Er weiß, was los ist. Wir haben uns in den letzten Wochen ziemlich gut kennengelernt und wahrscheinlich wusste er schon immer, wie ich mich entscheide.

„Ich hab Lars alles gesagt“, kommt es krächzend aus meinem Mund.

„Okay.“

„Und er will, dass wir uns nicht mehr sehen.“

„Klar.“ Felix nickt und schnauft kurz. „Und wie siehst du das?“

„Ich…“ Gott, ist das schwer. „… ich kann ihn nicht verlassen. Lars ist alles, was ich noch habe.“

Felix nickt immer noch. Sein Gesichtsausdruck schwankt irgendwo zwischen traurig und wütend.

„Ich will nicht, dass wir uns nicht mehr sehen“, sage ich. „Aber…“

„Aber Lars will das und deshalb hältst du dich auch daran. Wie immer.“

„Das ist nun mal so in einer Beziehung.“

„Nein!“, sagt Felix und hat sich jetzt offenbar für ein Gefühl entschieden: Wut. „In einer Beziehung geht man aufeinander ein und stellt keine egoistischen Ansprüche. Du musst nicht tun, was Lars will. Du musst nicht mit ihm zusammen sein, nur weil das die einzige Art von Beziehung ist, die du kennst.“

„Ich will mit ihm zusammen sein, weil ich ihn liebe. ICH will das!“

„Und warum hast du mich geküsst? Zweimal. Weil’s lustig war?“

„Nein…“, will ich mich erklären, aber er unterbricht mich gleich wieder.

„Du hast mir oft genug erzählt, was für ein Arsch er sein kann und jetzt bleibst du trotzdem bei ihm?“

„Er ist nicht mehr so.“

„Nein, er hat sich über Nacht geändert“, spottet Felix und seine Augen funkeln gefährlich.

„Ja.“ Okay, ich weiß, dass sich das bescheuert anhört, aber er würde es ja doch nicht verstehen. Er kennt Lars nicht. „Es tut mir leid, dass ich…“

„Weißt du noch, was du vor zwei Tagen zu mir gesagt hast?“, unterbricht er mich wieder und deutet auf die Lagerhalle. „Da drin?“

„Ja.“

„Und was ist damit? Was ist mit Eigentlich hab ich mir so immer eine Beziehung vorgestellt? Wenn du nicht ein verdammt guter Schauspieler bist, dann hast du das ernst gemeint.“

„Ja, hab ich“, sage ich wahrheitsgemäß. „Aber das ist nur eine romantische Vorstellung. So was gibt es nicht. Das ist das kitschige Märchen-Ende. Was ich mit Lars habe, ist das, wie es wirklich läuft.“

„Hallo? Ich sitze hier neben dir, oder? Bei mir gibt es sowas.“

„Bei einer kurzen Schwärmerei vielleicht.“

Jetzt wechselt sein Gesichtsausdruck wieder zu traurig und enttäuscht. „Ich ändere mich nicht über Nacht.“

„Das kann man nie wissen.“

„Okay, wie du willst“, sagt er und friemelt an seinem Handgelenk. „Hier.“ Er drückt mir das Armband in die Hand und steht auf.

„Felix…“, sage ich und hab das Gefühl, als würde jemand auf meiner Brust rumtrampeln.

„Ich will das verfluchte Teil nicht mehr! Schmeiß es halt weg, wenn du nichts damit anzufangen weisst.“

„Felix…“, beginne ich noch mal. „Es tut mir wirklich leid.“

„Muss es nicht. Ich wusste von Anfang an, dass es irgendwie so ausgeht. Also bin ich selber schuld.“

„Ich wollte das nicht.“

„Tja, und doch hast du’s getan.“ Er entfernt sich ein paar Schritte und sagt dann über seine Schulter noch: „Ich will, dass du nicht mehr hierher kommst.“

Und das war’s. Er ist weg.

Ich schleppe mich irgendwie nach Hause, sage Lars, dass ich kurz allein sein muss und schließe mich im Schlafzimmer ein. Ich krieche unter die Bettdecke, weil ich trotz der Hitze draußen friere und fühle mich überhaupt nicht, als hätte ich gerade das Richtige getan. Ich weiß zwar, dass es das einzig Sinnvolle war, aber das Ende einer unrealistischen Schwärmerei kann eben auch wehtun.

 

Ich hab mich verkrochen, ich hab mich ausgeheult und ich habe bereut. So ziemlich alles. Dass ich Felix kennengelernt habe, dass ich ihn geküsst habe, dass ich ihm Hoffnung gemacht hab, aber auch dass ich ihn verloren habe, um bei Lars zu bleiben. In den ersten Tagen nach unserem letzten Treffen habe ich fiese Stimmungsschwankungen durchgemacht und war so verwirrt, wie noch nie. Einmal kurz habe ich sogar überlegt, mich auch von Lars zu trennen und beide nie wieder zu sehen, nur damit ich endlich Ruhe habe und mich nicht mehr so zerrissen fühlen muss. Aber den Gedanken hab ich ganz schnell wieder verworfen. Lars hat keine Ahnung. Auch nicht davon, dass ich das Armband behalten habe.

Ich hab Felix seit fünf Wochen nicht mehr gesehen und so langsam geht es mir wieder gut. Lars muss zwar immer noch viel arbeiten, aber er gibt sich Mühe, dass er dabei auch noch genug Zeit für mich hat. Wir gehen jetzt öfter mal aus und er ist auch fast nie genervt. Es ist eigentlich alles so, wie ich es immer wollte. Mir fehlt nur mein bester Freund.

Heute haben wir uns dafür entschieden, zum ersten Mal wieder zum Badeteich zu fahren. Es war sogar Lars‘ Idee. Ich hätte gerne noch etwas damit gewartet, weil ich Angst habe, Felix über den Weg zu laufen. Aber Lars meint, dass ich mich meinen Dämonen stellen muss. Finde ich ein bisschen übertrieben und auch etwas unfair, weil er sich seinem Dämon (im Badeteich zu schwimmen) auch nicht stellt. Er bleibt dabei, sich am Ufer verkokeln zu lassen. Ich habe nur zugestimmt, weil es vielleicht das letzte heiße Wochenende in diesem Jahr sein wird. Der Sommer hat nämlich schon seinen Rückzug angekündigt.

Mehr als einmal reinspringen und ein Stück schwimmen, um mich abzukühlen, traue ich mich allerdings nicht. Ich bilde mir ständig ein, Felix irgendwo zu sehen. Also, entscheide ich nach circa zehn Minuten, dass ich super erfrischt bin und lege mich neben Lars in die Sonne. Das tut auch gut.

„Finn?“, fragt Lars irgendwann.

„Hm?“

„Ich muss mit dir über etwas reden.“

„Okay“, sage ich, obwohl ich gerade eigentlich lieber meine Ruhe hätte.

„Beziehungsweise ich muss dich etwas fragen und ich will, dass du ehrlich bist.“

Spätestens jetzt ist es mit der Ruhe vorbei. Lars hasst solche Gespräche. Normalerweise.

„Bist du zufrieden, wie es gerade läuft? Also, hast du es dir so vorgestellt?“

„Was vorgestellt?“

„Uns.“

Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung. „Wie kommst du denn da jetzt drauf?“

„Weil du… irgendwie nicht mehr du bist.“

Ich bin nicht mehr ich? Wer soll ich denn sonst sein? Was ist das denn für eine bescheuerte Aussage?! „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich immer noch ich bin“, sage ich und wende mein Gesicht wieder der Sonne zu.

„Du hast seit ein paar Tagen kaum noch mit mir gesprochen. Du springst für drei Sekunden in diesen See, obwohl ich extra mit dir her gefahren bin. Du hast überhaupt keinen Spaß mehr an irgendwas.“

„Ich dachte, du findest es toll, dass ich so unkompliziert bin“, stichel ich.

„Das ist nicht unkompliziert. Das ist halb tot.“

„Okay“, sage ich und stehe auf, um meine Sachen zusammen zu suchen. „Lass uns nach Hause fahren.“

Ich halte es für keine gute Idee mit Lars an diesem See zu streiten. Also stopfe ich schnell alles in meinen Rucksack und erstarre dann wie vom Blitz getroffen, als ich zu Lars rüber sehe und das Ding in seiner Hand bemerke. Er beobachtet mich aufmerksam und sagt: „Ich denke wir wissen beide, woran das liegt.“ Er wirft mir das Ding vor die Füße, schnappt sich seine Sachen und macht sich auf den Weg zum Auto.

Ich hebe das rosafarbene Armband auf und folge ihm.

Die Autofahrt verbringen wir schweigend. Lars ist bestimmt sauer und ich hab keine Ahnung, was ich sagen soll. Ich weiß nicht mal, warum ich so überrascht bin. Ich hab das Armband nicht besonders gut versteckt, also musste er es irgendwann finden. Die Frage ist nur, wie ich ihm erklären soll, dass ich es gar nicht mal vor ihm, sondern eher vor mir versteckt habe. Ich wollte es nicht mehr sehen, aber wegwerfen konnte ich es auch nicht.

„Warum hast du es behalten?“, fragt Lars, während ich meine nassen Schwimmsachen im Bad aufhänge. Er steht ans Waschbecken gelehnt da und sieht mir zu.

„Ich habe es bezahlt“, ist meine schwache Erklärung.

„Willst du mich verarschen?“, schnauft er. „Außerdem habe ich es bezahlt.“

„Ich will jetzt duschen“, sage ich und mache eine ‚Da ist die Tür‘-Geste.

„Ich weiß, wie du nackt aussiehst.“

„Ja, aber ich halte es für keine gute Idee, wenn ich mich jetzt hier ausziehe.“

„Dann sag mir die Wahrheit und ich gehe. Bist du glücklich?“

Ich zögere, aber dann… „Nein“, kommt es aus meinem Mund.

„Und warum nicht?“

„Weil ich ihn vermisse.“

Lars nickt und verlässt das Badezimmer.

Ich überlege erst, mich tatsächlich unter die Dusche zu stellen, finde dann aber, dass ich erst mal mit meinem Freund reden muss. Ich folge ihm in die Küche, wo er sich gerade das Essen von gestern aus dem Kühlschrank nimmt.

„Was denkst du jetzt?“, frage ich, weil ich absolut keine Ahnung habe und er sein Pokerface aufgesetzt hat.

„Dass ich es hätte wissen müssen.“

„Was?“

„Wir sind seit drei Jahren zusammen, dabei sind wir eigentlich viel zu unterschiedlich“, sagt Lars. „Ich kann mich auf Dauer nicht so anstrengen, wie ich es in den letzten Wochen getan habe und schon gar nicht, wenn du es nicht mal merkst.“

„Ich habe es gemerkt.“

„Ja, vielleicht. Aber du warst mit was Anderem viel mehr beschäftigt.“

„Und womit?“

„Verdrängen.“

Hört sich das nur für mich so an oder schlägt er gerade vor, dass wir uns trennen? Das kann er doch nicht ernst meinen. Nach allem, was ich dafür getan habe, damit wir zusammen bleiben können?

„Ich glaube, wir haben uns jetzt lange genug vorgemacht…“

„Weißt du eigentlich, dass ich den einzigen richtigen Freund, den ich jemals hatte, deinetwegen zurückgestoßen habe?“, falle ich ihm aufgebracht ins Wort. „Weil ich dich liebe und mit dir zusammen sein wollte. Und jetzt willst du einfach Schluss machen?“

„Nein, nicht einfach. Ich liebe dich auch, Finn, aber nicht mehr so wie früher. Und ich glaube, dass es dir auch so geht.“

Ich starre ihn mit offenem Mund an. „Deshalb willst du Schluss machen? Weil es nicht mehr so ist wie früher?“

„Ja. Und weil du dich in Felix verliebt hast.“

„Nein, hab ich nicht.“

Er seufzt und hört endlich auf in dem Essen rumzustochern. „Du weißt genau, dass ich solche Nein-Doch-Spiele hasse. Und ich weiß, dass du stur sein kannst wie ein Esel, also warum kürzen wir das Ganze nicht ab?“

Das hier ist wahrscheinlich meine letzte Chance, unsere Trennung zu verhindern. Aber ich bin mir plötzlich sicher, dass ich das gar nicht mehr will. Ich weiß, was Lars sagen will und ich glaube, dass er recht hat.

„Finn, du bist nur noch mit mir zusammen, weil du Angst hattest, mich sonst zu verlieren, oder?“

„Ja.“

 

Nach dem Gespräch bin ich tatsächlich erst mal unter die Dusche gegangen und hab mich danach in Lars‘ Armen ausgeweint. Er hat mir zwar versprochen, dass ich ihn nicht verlieren werde, aber als wir so das erste Mal als Ex-Freunde auf dem Sofa saßen, hat mir der Satz „Du riechst gut“ wahnsinnig gefehlt. Drei Jahre. Als ich das letzte Mal Single war, war ich fast noch ein Kind.

Die Nacht hab ich auf dem Sofa verbracht und als ich morgens aufgewacht bin, war Lars schon weg. Er hat mir angeboten, weiterhin bei ihm zu wohnen – zumindest, bis ich einen Job und eine eigene Wohnung gefunden habe – aber das kommt für mich nicht infrage. Stattdessen nehme ich – weil es nicht anders geht – sein zweites Angebot an: ein Zimmer im Hotel für die Übergangszeit auf seine Kosten und ein bisschen Geld, damit ich auch überlebe. Es ist nicht so, dass ihn das finanziell ruiniert. Aber natürlich fühle ich mich trotzdem nicht unbedingt wohl damit. Ich werde mir so schnell wie möglich einen Job suchen.

Das rosa Armband trage ich jetzt – wahrscheinlich, weil ich gerade nicht zurechnungsfähig bin – und frage mich jedes Mal, wenn ich es ansehe, ob ich es wagen kann, Kontakt mit Felix aufzunehmen. In den ersten Tagen lautet die Antwort eindeutig Nein. Erstens, weil ich nicht gleich vom Einen zum Nächsten springen will und zweitens, weil ich mir nur zu gut ausmalen kann, wie er reagieren würde: wütend und fassungslos, dass ich die Dreistigkeit besitze, einfach bei ihm aufzutauchen. Aber noch mal ein paar Tage später kann ich das Rumsitzen und die Vorstellung, ich könnte die kleine Ratte nie wieder sehen, nicht mehr aushalten. Ich muss mir was einfallen lassen.

Nach dieser Einsicht stellt sich mir allerdings die Frage, wie ich ihn erreichen kann. Ich war nie bei ihm zuhause und habe keine Telefonnummer. Er hat mich immer auf dem Handy angerufen, weil er keins hat. Normalerweise würde ich einfach wieder beim Bootsverleih vorbeischauen, aber da die Ferien längst wieder vorbei sind, arbeitet er da ja nicht mehr. Allerdings… vielleicht ist sein Ex-Chef so nett, mir seine Kontaktdaten zu geben? Immerhin haben wir uns schon mal gesehen. Kurz. Von Weitem. Versuchen kann ich es ja mal…

 

Ja, das war peinlich. Felix, die kleine Ratte, muss seinem Ex-Chef so ziemlich alles von uns erzählt haben und hat ihn sogar gebeten, mir – für den Fall, dass ich tatsächlich ganz dreist auftauche – keinerlei Auskünfte zu geben. Ist der Hellseher oder was? Ich musste also ewig lange auf den Typ einreden, bis er endlich davon überzeugt war, dass ich es ernst meine. Aber jetzt habe ich Felix‘ Andresse. Und ich muss sofort hinfahren.

Zwanzig Minuten später stehe ich vor einem weißen Altbau und kann mich nicht überwinden, durch die offen stehende Haustür zu gehen. Was, wenn er mir die Tür gleich wieder vor der Nase zuschlägt und ich nicht mal eine Chance bekomme, alles zu erklären? Was, wenn er nicht mehr in mich verliebt ist? Was, wenn er mich rein bittet und ich dann von der versammelten WG fertig gemacht werde? Und was, wenn er immer noch mit mir zusammen sein möchte? Hab ich mir das alles wirklich gut überlegt?

Aber nach einem Blick auf das Armband an meinem Handgelenk ist mir klar, dass ich absolut nicht mehr verwirrt bin. Lars hatte recht. Und Felix hatte recht. Ich bin total verschossen in die kleine Ratte. Deshalb laufe ich jetzt auch hoch in den zweiten Stock und klingel an der Tür. Mit schwitzigen Händen warte ich, bis mir jemand die Tür aufmacht, der mir völlig unbekannt ist.

„Ja?“, fragt der Junge, der – entgegen meiner Erwartung – ganz ‚normal‘ aussieht. Nach dem, was Felix mir über seine Mitbewohner erzählt hat, habe ich mir eine bunte Hippie-WG vorgestellt, wo alle Dreadlocks und Batikshirts tragen.

„Äh… Ist Felix da?“, frage ich vorsichtig.

„Nee“, sagt der Junge und sein Blick verfinstert sich etwas. „Bist du Finn?“

„Ja.“

Er mustert mich von oben bis unten und scheint auf eine weitere Erklärung zu warten.

„Wann kommt er denn wieder?“, frage ich ein bisschen genervt.

„Ich glaube nicht, dass er dich sehen will.“

„Das hab ich nicht gefragt.“

„Das ist aber das einzige, was du von mir erfährst“, meint er mit einem schadenfrohen Grinsen und will die Tür schließen.

„Hey, warte“, sage ich schnell und stelle meinen Fuß auf die Türschwelle. „Kannst du ihm was ausrichten?“

„Nein.“

„Wieso? Ist das zu schwer für dich?“

„Nein, aber vielleicht für ihn“, sagt er und macht eine unmissverständliche Geste, dass ich verschwinden soll.

„Kannst du ihm wenigstens das hier geben?“ Ich löse das Armband von meinem Handgelenk und halte es Felix‘ Mitbewohner entgegen.

Er zieht nur eine Augenbraue hoch.

„Bitte. Ich mein’s ernst.“

Er seufzt und nimmt mir das Armband ab.

„Danke“, sage ich und gehe.

Hm, das hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt. Ich wollte ihm das Armband doch persönlich zurückgeben und seine leuchtenden Augen sehen, wenn er es sich wieder umbindet. Wenn er es jetzt wegwirft, weil er immer noch sauer auf mich ist und ich nicht mal die Chance bekommen habe, mit ihm zu reden, dann habe ich gar nichts mehr von ihm. Am liebsten würde ich jetzt hier auf der Treppe sitzen bleiben, bis er nach Hause kommt. Aber wahrscheinlich ist es doch besser, wenn er den Schock über das zurückgekehrte Armband erst mal allein verdauen kann. Einfach so vor seiner Tür zu hocken, wäre vielleicht doch etwas unheimlich. Ich sollte ihm ein bisschen Zeit geben. Dann kann er nachdenken, während ich durchdrehe und darauf warte, dass er sich bei mir meldet.

Ich gehe also gedankenverloren die Treppe runter und zurück auf die Straße und stoße dann in der Haustür mit jemandem zusammen. Dieser Jemand hat ziemlich verstrubbelte Haare und sieht mich mit seinen großen Augen geschockt an. Oh, das Kribbeln ist wieder da.

„Finn?“

„Äh, ja. Hi“, stammel ich und gehe ein paar Schritte zurück. Warum muss ich immer mit ihm zusammenstoßen? „Ich hab nur was für dich abgegeben.“ So schwer es auch ist, ich bleibe lieber bei meinem Plan und lasse ihn in Ruhe nachdenken.

„Woher weißt du, wo ich wohne?“

„Ich war beim Bootsverleih und…“

„Der Chef hat gequatscht“, schlussfolgert Felix.

„Ja, aber nur, weil ich stundenlang auf ihn eingeredet habe. Ich, äh… ich muss jetzt auch weiter“, sage ich und stolpere noch mal ein paar Schritte rückwärts. Ich muss hier weg, sonst wird das nichts mit meinem Plan.

„Warte. Hast du dich von Lars getrennt?“

„Wie kommst du darauf?“

„Du sieht ziemlich fertig aus und… ich hatte meinem Chef gesagt, dass er dir meine Adresse nur geben soll, wenn er meint, dass du noch eine Chance verdient hast.“

„Was für eine Chance?“, frage ich mit trockenem Mund.

„Ja, was für eine Chance wohl?“ Er kommt auf mich zu und greift in den Ausschnitt meines Shirts. Seine Augen funkeln. „Bist du noch mit Lars zusammen?“, fragt er wieder, sein Gesicht ganz nah an meinem.

Ich schüttel den Kopf.

„Bleibt das auch so?“

Ich nicke, vollkommen berauscht von seiner Nähe.

„Und bist du jetzt hier, weil dir endlich klar geworden ist, dass du dich in mich verliebt hast?“

„Ja“, krächze ich, während es in meinem Kopf brüllt: Ja, verdammt, jetzt küss mich endlich!

Felix grinst, als hätte er das Brüllen gehört, zieht noch etwas mehr an meinem Shirt und drückt seine weichen Lippen auf meine. „Du hast dir ganz schön Zeit gelassen, Herr Stinkstiefel.“

„Halt die Klappe“, flüstere ich und schlinge meine Arme um ihn. Zum Teufel mit meinem bescheuerten Plan. Ich nehme jetzt doch bitte das kitschige Märchen-Ende.

 

„Hey“, flüstert etwas neben meinem Ohr und ich schlage langsam meine Augen auf. Felix‘ Gesicht schwebt direkt über mir, zumindest glaube ich das. Alles ist ziemlich verschwommen und es ist noch dunkel draußen.

„Wir müssen aufstehen.“

„Nein“, grummel ich und drehe mich auf die Seite.

Felix kuschelt sich an meinen Rücken und küsst sich an meinem Hals entlang. „Du hast den Wecker schon zweimal ausgeschaltet, jetzt steh endlich auf.“

„So kriegst du mich bestimmt nicht dazu“, sage ich und ziehe ihn in meine Arme. Er lässt es eine Weile zu, dass ich ihn küsse und mit einer Hand über seinen Bauch streichel.

„Wir können die Vorlesung nicht schon wieder verpassen“, kichert er.

„Der redet doch sowieso nur Unsinn.“

Ja, so sieht es aus. Felix hat mich dazu gebracht, mich an einer Uni einzuschreiben. An derselben wie er. Und für das gleiche Studienfach. Er meinte, dass ich es doch einfach mal probieren kann und ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Tatsächlich gefällt es mir mittlerweile ganz gut, was wohl auch daran liegt, dass wir so die meiste Zeit zusammen sein können. Vermutlich sagt jetzt der eine oder andere, dass ich mir von Felix mein Leben diktieren lasse, aber so ist er nicht. Er hat nur einmal den Vorschlag gemacht und die Entscheidung dann vollkommen mir überlassen. Aber wie so oft hatte er einfach recht. Er kennt mich manchmal wirklich besser als ich mich selbst.

Nach einer kurzen Funkstille habe ich jetzt auch wieder regelmäßig Kontakt zu Lars. Felix hat nichts dagegen, obwohl er am Anfang schon ziemlich hibbelig war, wenn wir uns getroffen haben. Er sagt immer, dass er eigentlich weiß, dass er sich keine Sorgen machen muss, aber ein bisschen eifersüchtig ist er dann doch. Was ich nicht wirklich schlimm finde. Ich würde mir eher Gedanken machen, wenn es nicht so wäre. Mittlerweile besuchen wir Lars meistens zu zweit, immerhin will ich nicht, dass mein neuer Freund und mein neuer bester Freund sich vollkommen fremd sind. Natürlich war die Stimmung bei den ersten Treffen ziemlich angespannt, aber als dann endlich alle Fronten geklärt und alle Reviere markiert waren, wurde es besser.

„Herr Stinkstiefel?“

„Ja, kleine Ratte?“

„Willst du diese Woche in der Uni das Armband tragen?“, fragt Felix und ich höre sofort heraus, dass er etwas im Schilde führt.

„Nein.“

„Und warum nicht?“

„Weil es rosa ist“, erkläre ich zum tausendsten Mal und… Ach, ich weiß, was er vorhat.

„Dann solltest du lieber ganz schnell deinen Hintern aus dem Bett bewegen.“

Bingo! Ich stehe lieber schnell auf, bevor ihm noch ganz andere Ideen kommen. Das Armband, da bin ich mir sicher, ist nur die Spitze des Eisbergs. Manchmal bereue ich echt, das Ding gekauft zu haben…

Nein, natürlich nicht.

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