zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Kartenhäuser

Teil 2

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Zukunft?

Der Mittag war relativ schnell und stressfrei vergangen, wenn man davon absah, dass Paul die meiste Zeit damit verbracht hatte ein Gericht aus den sehr spärlichen Essensvorräten zusammenzustellen. Reis und Gemüse waren die einzigen Zutaten, die er finden konnte, aber daraus ließ sich immerhin schon etwas machen.

"Na, alles klar?", fragte Chris, als er in die Küche kam.

"Ja, wieso?"

"Du siehst irgendwie nachdenklich aus."

"Nein, alles in Ordnung." Das fehlte Paul gerade noch. Das letzte, was er jetzt brauchte, war, dass Chris ihm seine Gedanken ansehen konnte. "Wir können gleich essen."

"Oh, supi, ich habe einen Bärenhunger."

Fröhlich verschwand Chris wieder im Wohnzimmer. Wenigstens ist einer hier gut gelaunt, dachte Paul. Obwohl er nicht ganz verstehen konnte warum. Er stellte sich immer wieder vor wie es ihm wohl gehen würde, wenn er dasselbe wie Chris durchgemacht hätte. Ist das abhängig von der Persönlichkeit oder spielte ihm Chris nur etwas vor?

Er nahm zwei Teller aus dem Schrank und füllte sie mit dem Essen. Chris hatte sich bereits an den Tisch gesetzt und wartete ungeduldig. Sie aßen schweigend und Paul kam nicht umhin sich zu fragen, was Chris über ihn dachte. Er konnte es noch nie gut ertragen, zu wissen, dass jemand über ihn redete oder sich auch nur Gedanken machte. Und bei Chris war er sich dessen ganz sicher.

"Hast du eigentlich vor irgendwann wieder zur Schule zu gehen?", fragte er, um sich und auch Chris ein wenig abzulenken.

"Wie kommst du denn jetzt darauf?"

"Weiß nicht, einfach nur so."

Chris sah ihn etwas verwirrt an, ließ sich aber dann doch darauf ein. "Irgendwann vielleicht. Da hab ich ehrlich gesagt noch nicht drüber nachgedacht."

War ja klar, dachte Paul. Genau wie er es vermutet hatte.

"Ich war eine Zeit lang auf dem Gymnasium und eigentlich wollte ich immer mein Abi machen, aber dann ist mir ja was dazwischen gekommen. Was ist mit dir?"

"Mit mir?"

"Ja, was für einen Schulabschluss hast du?"

"Ich bin nur auf der Realschule gewesen. Und danach hab ich die Ausbildung zum Tierpfleger gemacht."

"Nimmst du mich mal mit?"

"Wohin?"

"Na, in den Zoo. Ich war schon ewig nicht mehr da. Kannst du mich nicht ein bisschen rumführen?"

"Ähm, ich weiß nicht", sagte Paul. Dazu hatte er nun wirklich überhaupt keine Lust. Reichte es denn nicht, dass er Chris jeden Tag zuhause sehen musste? Bei der Arbeit hatte er wenigstens immer seine Ruhe. Gehabt.

"Ach komm schon. Bitte! Ich würde mir gerne mal die ganzen Tiere ansehen."

"Ja, mal sehen. Vielleicht irgendwann mal."

"Okay", sagte Chris mit einem breiten Lächeln.

Es ist ja schon irgendwie süß, wenn er sich so freut, dachte Paul und verschluckte sich prompt an einem Stück Kartoffel. Wie konnte er so etwas auch nur denken?! Gut, dass Chris keine Gedanken lesen konnte. Verlegen riskierte er einen Blick zu seinem Gegenüber und musste leider feststellen, dass der ihn aufmerksam, mit einem amüsierten Grinsen, beobachtete.

"Manchmal wünschte ich, ich könnte deine Gedanken lesen, Paul", sagte Chris. "Wäre bestimmt lustig."

"Nein, ich glaube nicht. Ich hab meine Gedanken gerne für mich."

"Das glaube ich dir sofort. Ich hab noch nie jemanden getroffen, der so ein Geheimnis daraus macht wie du."

"Und es wird auch immer ein Geheimnis bleiben." Vor allem für dich, fügte Paul in Gedanken hinzu. Vermutlich würde Chris alles nur falsch verstehen und doch noch über Paul herfallen. Nein, nein. Dazu würde es nicht kommen. Niemals.

"Entspann dich, Paul. So war das doch gar nicht gemeint. Auf jeden Fall freue ich mich auf den Zoo."

"Warst du denn schon mal in einem?", fragte Paul. Ihm war es ganz recht, dass Chris das Thema wieder gewechselt hatte.

"Ja, mit meinen Eltern und... äh... hab ich dir das nicht schon mal erzählt?"

"Was denn?"

"Hast du schon wieder vergessen, woher ich weiß, dass du im Zoo arbeitest?"

Ach ja, dachte Paul. Da war so etwas. Der Pförtner.

"Und was hast du sonst gemacht?", fragte Paul schnell, in der Hoffnung, dass der Themenwechsel dieses Mal erfolgreicher sein würde.

"Wie sonst?" Es schien zu funktionieren. Chris war so irritiert von der Frage, dass er sich leicht ablenken ließ.

"Nach der Schule, am Wochenende, in den Ferien…"

"Was alle Kinder machen", sagte Chris verständnislos.

"Und das wäre?"

"Was stellt du denn für komische Fragen?"

"Komische Fragen? Es interessiert mich halt."

"Aha. Irgendwie bist du heute ein bisschen merkwürdig drauf", kicherte Chris.

Paul verstand die Welt nicht mehr. Was sollte denn so komisch daran sein, dass er sich nach Chris` Vergangenheit erkundigte? Das war doch ein ganz normales Gespräch. Mal abgesehen davon, dass Paul Chris eigentlich nur ablenken wollte, aber das wusste Chris ja nicht.

"Du wirkst so nervös."

"Ich bin nicht nervös, wieso auch?"

"Keine Ahnung, das finde ich ja so merkwürdig."

Na ganz toll! Scheinbar war es absolut nicht möglich irgendetwas vor Chris zu verbergen. Der weitere Verlauf des Tages war schon ungewiss genug, da wollte sich Paul eigentlich nicht auch noch Sorgen um seine Durchschaubarkeit machen. Am besten versuchte er Chris weitestgehend zu ignorieren oder zumindest seine Kommentare.

"GehtŽs dir gut?"

"Sicher", sagte Paul etwas schroff und stand auf, um die Teller in die Spüle zu stellen.

"Aha. Kann ich hier irgendwo rauchen?"

"Auf dem Balkon."

"Kommst du mit?"

"Nein."

"Bist du sicher, dass es dir gut geht?"

"Wieso? Nur weil nicht mit dir rauchen will?"

"Nein. Ich will nur wissen, ob ich irgendwas Falsches gesagt habe."

"Nein, hast du nicht. Mir geht es gut. Bestens."

"Wenn du meinst. Ich bin gleich wieder da."

Paul seufzte, ließ Wasser in die Spüle laufen und begann mit dem Abwasch. Er fragte sich wie das alles nur weitergehen sollte und vor allem wie lange. Offenbar macht sich Chris überhaupt keine Gedanken über seine Zukunft. Gerade sah es so aus als hätte er nicht vor so bald wieder auszuziehen, aber dachte er dabei eigentlich auch an Paul? War es für ihn so selbstverständlich, dass er hier aufgenommen wurde?

"Paul?", rief Chris aus dem Wohnzimmer.

"Was denn?"

"Komm mal!"

Paul stellte die nassen Teller zum Trocknen auf und ging ins nächste Zimmer. Chris saß auf dem Boden und hatte eine ganze Menge an DVDs vor sich ausgebreitet.

"Welchen wollen wir uns ansehen?", fragte er.

"Keine Ahnung. Such dir was aus, ich kenne schon alle."

"Was hältst du von dem?" Ein breites Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit, als er auf den Film seiner Wahl zeigte. Paul zog die Stirn in Falten.

"Pretty Woman? Hältst du das für eine gute Idee?"

"Wieso denn nicht?"

"Ich dachte nur..."

"Was?", fragte Chris argwöhnisch.

"Ich dachte, dass du das alles vergessen willst. Ist dieser Film dann nicht genau das Falsche?"

"Nein, finde ich nicht. Hast du denn ein Problem damit?"

"Nein, hab ich nicht. Es ist nur..." Paul zögerte und entschied sich dafür den Satz besser nicht zu beenden. "Ach nichts."

"Was denn? SagŽs ruhig", forderte Chris.

"Nein, es ist nichts. Wenn du willst, schauen wir uns den Film an, ok?"

"Okay", sagte Chris immer noch misstrauisch.

Paul ging zurück in die Küche und räumte noch etwas auf. Er konnte aus irgendeinen Grund nicht vernünftig mit Chris reden. Für ihn war die Situation einfach so neu und befremdlich, dass er jedes Mal das Gefühl hatte etwas falsch zu machen. Egal worüber sie sprachen, immer hatte er das Gefühl in alle Fettnäpfchen zu treten. Das war ihm unheimlich. Er war es nicht gewohnt mit jemandem zu reden, der ganz andere Erfahrungen gemacht hatte, und deswegen wusste er nie wie er sich verhalten sollte.

Am Abend zog Paul das Sofa in seinem Schlafzimmer aus, das dem Fernseher gegenüber stand, während Chris die DVD einlegte.

Sie setzten sich schließlich nebeneinander auf das Sofa, wobei Paul darauf achtete den größtmöglichen Abstand einzuhalten. Gar nicht so einfach bei nur zwei Sitzplätzen und Chris` einnehmender Art. Er besetzte praktisch zwei Drittel der gesamten Fläche. Paul wurde leicht nervös und wünschte sich es wäre schon Nacht und er würde schlafend in seinem Bett liegen. Allein.

Der Film lief an und Chris schien ausschließlich auf den Bildschirm fixiert zu sein. Paul war erleichtert. Es war doch wirklich lächerlich, sich den ganzen Abend zu ruinieren, weil er befürchtete, dass Chris irgendwelche Hintergedanken hatte. Er griff nach den Chips und nahm sich vor, den restlichen Abend zu genießen. Er konnte Chris schließlich nicht ewig aus dem Weg gehen, und wenn er ehrlich war, glaubte er selber nicht daran, dass das nötig war. Das einzige, das ihm noch Kopfschmerzen bereitete, war der Film. Den Gedanken, den er am Nachmittag schon nicht aussprechen mochte, wurde er einfach nicht los. Er fühlte sich nicht wohl mit der Tatsache, dass der Film eine so große Gemeinsamkeit mit ihrer jetzigen Situation hatte.

Chris lächelte ihn von der Seite an und sah wieder zum Fernseher. Offensichtlich schien es ihm nicht annährend so unangenehm zu sein wie Paul, der sich mit jeder vergangenen Minute des Films wieder mehr verkrampfte.

"Jetzt sei doch nicht so nervös. Das ist ja nicht auszuhalten mit dir", sagte Chris irgendwann genervt.

"Ich bin nicht nervös."

"Nein, natürlich nicht. Deshalb klebst du auch da an der Armlehne, um so viel Abstand wie möglich zu mir zu haben. Auch wenn du etwas anders darüber denkst, ich habe keine ansteckende Krankheit."

"Das habe ich nie behauptet", protestierte Paul.

"Du verhältst dich aber so. Ich werde mich schon nicht auf dich werfen."

Dann sah er wieder auf den Bildschirm und verfolgte mit ärgerlichem Gesichtsausdruck den Film. Von da an sprach niemand mehr, bis der Film sich seinem Ende zuneigte und Chris aufstand.

"Ich gehe jetzt ins Bad und dann schlafen", sagte er frostig. "Gute Nacht."

"Gute Nacht", sagte auch Paul leise, während er den Fernseher ausschaltete.

Am nächsten Morgen wachte Paul schon auf, bevor der Wecker klingelte. Er hatte nicht viel geschlafen, weil er ständig an Chris` Worte hatte denken müssen. Pauls Abneigung muss ihn verletzt haben, dabei war es gar nicht so gemeint. Er wollte doch nur Abstand halten, konnte Chris das denn gar nicht verstehen? War es so unverständlich, dass Paul sich mit der aktuellen Situation schwer tat? Andererseits brauchte Chris vielleicht gerade jetzt etwas Zuwendung und jemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Immerhin hatte er viel riskiert und erst vor Kurzem den Absprung aus seiner düsteren Vergangenheit geschafft. Wahrscheinlich hatte er in den letzten Jahren nicht viel Zuneigung zu spüren bekommen. Das wurde auch Paul, da er jetzt darüber nachdachte, schlagartig klar und ein schlechtes Gewissen machte sich breit. Er hatte Chris nun wirklich nicht das Gefühl gegeben, willkommen zu sein. Ganz im Gegenteil. Je länger Paul darüber nachdachte, desto schlechter fühlte er sich. Chris war noch ein Kind, das schon viele schlimme Erfahrungen gemacht hatte. Da hätte er sich auf keinen Fall so ablehnend verhalten dürfen. Er würde also in Zukunft seine eigenen Befürchtungen hinten anstellen müssen, um Chris beim Aufbau eines neuen, normalen Lebens zu helfen. Ein hartes Stück Arbeit für jemanden, der sich immer nur um sich selbst hatte sorgen müssen. Ihm war noch immer nicht ganz klar wie er da hineingeraten war, aber nun hatte er das Gefühl, Verantwortung übernehmen zu müssen.

Als Paul aus dem Schlafzimmer schlich und einen Blick auf den schlafenden Jungen im Wohnzimmer warf, war ihm das erste Mal so richtig bewusst, dass Chris nicht so bald wieder gehen würde. Aus irgendeinem Grund hatte es ihn zu Paul gezogen und mit ihm war ein riesiger Berg an Problemen in diese Wohnung gekommen. Und diese Probleme galt es nun Schritt für Schritt zu beseitigen. Das Wichtigste war dabei erst einmal, dass sie sich aneinander gewöhnten. Dass sich ein klein wenig Vertrauen aufbaute. An diesem ersten Schritt würde Paul wohl am meisten zu knabbern haben.

Er legte Chris einen Zettel auf den Küchentisch, auf dem stand, dass er ungefähr um 16 Uhr von der Arbeit kommen und dann etwas zu essen machen würde, sah noch einmal auf die Couch im Wohnzimmer und verließ die Wohnung.

Dass er ausgerechnet heute arbeiten musste, war absolut unpassend. Er hätte viel lieber mit Chris gesprochen, sich bei ihm entschuldigt und versucht mit ihm zusammen eine Lösung für ihr Problem zu finden. Das brauchten sie nämlich ganz dringend. So wie es am Abend zuvor gelaufen war, konnte es auf Dauer nicht weitergehen. Chris sollte sich nicht alleingelassen fühlen, denn wer weiß schon, was dann passieren könnte.

Seufzend stieg Paul aus seinem Auto, dachte an den letzten Tag, an dem er hier gestanden hatte und stellte erschrocken fest, wie viel sich über dieses eine Wochenende in seinem Leben verändert hatte. Er hätte nie gedacht, dass ihm mal so etwas passieren würde und vor allem nicht, dass er es zulassen konnte. Doch trotz allem freute er sich auch ein wenig und zwar für Chris, dass er dieses schreckliche Milieu hinter sich gelassen hatte. Wenn er daran dachte wie anders Chris` ganzes Auftreten noch vor ein paar Tagen gewesen war, wurde ihm klar, dass er vielleicht schon etwas für ihn getan hatte, um ihn wieder nach vorne zu bringen. Niemand konnte wissen wie er zu recht gekommen wäre, wenn Paul ihn abgewiesen hätte. Ohne Freunde und Familie wäre er jedenfalls nicht weit gekommen.

Die Affen warteten schon freudig wie immer auf ihr Frühstück und drängten sich um Paul. Besonders frech waren die jungen Äffchen, die auf ihrem Pfleger herumturnten wie auf einem Klettergerüst.

"Warum machen es sich die Menschen nur so schwer? Was meinst du?", fragte Paul einen kleinen Affen, der es sich auf seiner Schulter gemütlich gemacht hatte und an einer Banane knabberte.

"Wozu braucht man die ganze Technologie und diese ach so wichtigen Entdeckungen, wenn es niemanden mehr interessiert wie man miteinander umgeht? Was für ein Mensch muss das sein, der mit der Unschuld von Kindern spielt, um sich zu bereichern?"

Das Äffchen steckte sich das letzte Stück Banane in den Mund und hüpfte zurück auf den Boden zu den Anderen. Es lief zu einem ausgewachsenen Tier und klammerte sich fest in dessen Fell.

"Ja, da hast du recht", sagte Paul und sah das Äffchen nachdenklich an. Wenn Chris in den letzten Jahren eine ähnliche Bezugsperson gehabt hätte, wäre er womöglich gar nicht in diese Situation gekommen. Wenn er sich instinktiv zu jemandem hätte flüchten können, wäre ihm sicher einiges erspart geblieben. Ihm fehlte einfach die Stabilität in seinem Leben, aber konnte Paul ihm so etwas geben? Sie mussten wirklich dringend über eine Zukunftsvariante nachdenken.

Chris war erst sehr spät eingeschlafen. Er lag noch lange auf dem Sofa, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und überlegte, warum es Paul nur so schwer fiel, ihn zu akzeptieren. Einerseits hatte er so besorgt und verständnisvoll geklungen, als er Chris erlaubte bei ihm zu bleiben, aber auf der anderen Seite konnte er es nicht mal ein paar Minuten neben ihm aushalten. Sicher hatte sich für ihn auch eine Menge geändert, aber dass er bei jeder kleinen Bewegung schon vermutete, Chris könnte sich auf ihn stürzen wollen, war schon mehr als merkwürdig. So hatte sich Chris die ganze Sache jedenfalls nicht vorgestellt. Es war ihm zwar gelungen, dass Paul ihn bei sich aufgenommen hatte, aber alles andere schien in weiter Ferne zu liegen. Dass es nicht einfach werden würde, Pauls Abscheu zu umgehen, hatte er von Anfang an gewusst, aber genau das hatte ihn ja so fasziniert. Er hatte es geschafft, Paul kennenzulernen, dann würde er auch jetzt nicht aufgeben. Und Chris war sich sicher, dass zumindest die Faszination auf Gegenseitigkeit beruhte.

Am Morgen war Chris einmal kurz wach geworden, als erst Paul und dann seine Mitbewohner die Wohnung verlassen hatten. Alle hatten sich große Mühe gegeben leise zu sein, und doch hatte er einem Gesprächsfetzen von Tom und Jane lauschen können, während sie in der Küche ihren Kaffee tranken.

"Was meinst du, wo der Junge herkommt? Woher kennt er Paul?", hatte Jane gefragt.

"Ich weiß es nicht. Paul wollte mir nichts über ihn sagen. Er meinte nur, dass es niemanden gibt, bei dem er unterkommen könnte."

"Das ist doch komisch. Paul wohnt jetzt schon ungefähr ein Jahr bei dir, oder? Und er hat ihn nie erwähnt?"

"Nein. Ich hoffe nicht, dass er ihn von der Straße aufgelesen hat", flüsterte Tom besorgt. "Paul ist einfach zu gutmütig. Der würde so gut wie jedem einen Schlafplatz anbieten."

"Hat er dir denn gesagt, wie lange er hier bleiben wird?"

"Nein, ich glaube das wusste er selber noch nicht. Jetzt müssen wir aber los. Bist du fertig?"

"Ja, wir können fahren."

Kurz darauf war Chris allein in der Wohnung. Er fragte sich, ob Paul wirklich jeden hier hätte schlafen lassen oder ob er die Ausnahme war. Eine leise Stimme hatte ihm eigentlich die letzten Tage immer gesagt, dass Paul ihn vielleicht doch ein bisschen mochte und ihn deshalb bei sich wohnen ließ, aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher. War er für Paul doch nur ein armer, einsamer Junge, dem man ein wenig unter die Arme greifen musste?

Dann schlief er wieder ein und wachte erst am Mittag wieder auf. Jetzt galt es den Tag irgendwie zu überbrücken, zumindest so lange bis Paul wieder da sein würde. Rausgehen wollte er natürlich noch nicht, weil das Risiko gesehen zu werden einfach viel zu hoch war. Also schmierte er sich erstmal eine Scheibe Brot und wanderte damit einmal durch die gesamte Wohnung. Besonders groß war sie nicht, aber da Tom und Jane sich ein Zimmer teilten, reichte es für alle Bewohner. Alles war sehr modern, auch die Einrichtung. Das Highlight war für Chris allerdings die Badewanne, in die er sofort heißes Wasser einlaufen ließ. Seit Jahren war er nicht mehr in diesen Genuss gekommen, also musste er das jetzt unbedingt ausnutzen. Wer konnte denn schon ahnen wie lange Paul es noch mit ihm aushalten würde.

Der Duft des Badeschaums breitete sich schon in der Wohnung aus, als Chris in das wohltuende Nass eintauchte. Zuerst mit den Füßen und dann mit dem ganzen Körper bis zum Hals. Eine bessere Möglichkeit sich zu entspannen, konnte er sich nicht vorstellen. Man musste einfach nur da liegen und genießen. Das einzige, das jetzt noch fehlte, wäre jemand, der ihm mit einem weichen Schwamm über den Rücken streicht. Ganz liebevoll, aber da war niemand.

Als Paul am Nachmittag die Wohnung betrat, lag noch immer dieser süßlich, frische Duft in der Luft. Er sah sich um, doch von Chris war keine Spur zu entdecken. Nicht in der Küche oder im Wohnzimmer und auch nicht im Bad. Dann öffnete Paul die Tür zu seinem Schlafzimmer und da saß Chris auf der Fensterbank und sah hinaus. Diesen Ausblick mochte Paul auch sehr. Man konnte direkt in einen Park sehen, der hinter dem benachbarten Haus lag. Auf dem kleinen See schwammen manchmal ein paar Enten oder auch mal ein Schwan und die langen Weidenäste hielten das Wasser ständig in Bewegung. Am schönsten war er jedoch nachts, wenn der Himmel klar war und der Mond sich im Wasser spiegelte.

Als Chris Paul bemerkte, schreckte er hoch und zupfte den Bademantel, den er sich aus Pauls Kleiderschrank genommen hatte, zurecht.

"Tut mir leid, ich... hab mir die Wohnung angesehen und bin irgendwie hier hängengeblieben", sagte er verlegen.

"Das macht doch nichts. Ich sitze auch gerne da am Fenster."

"Ich dachte nur, weil... es ist schließlich dein Schlafzimmer und du wolltest ja nicht, dass ich..."

"Es tut mir leid wie ich mich gestern Abend verhalten habe. Das war nicht so gemeint. Ich dachte schon, dass du vielleicht gar nicht mehr da bist, wenn ich von der Arbeit komme."

"Wo sollte ich denn sonst hin?", fragte Chris und hatte große Mühe seine Freude zu unterdrücken.

"Ich weiß nicht. Es war nur so eine Vermutung. Ich war wirklich nicht sehr nett zu dir."

Als Chris einen Schritt auf ihn zukam, spürte Paul allerdings sofort wieder diese Anspannung in sich und das Verlangen, den Raum zu verlassen. Es war tatsächlich so, als befürchtete er, sich bei Chris mit irgendetwas anzustecken. Als würde irgendetwas Schlimmes geschehen, wenn sie sich näher kamen. Eben war er doch noch fast schüchtern, als er versuchte sich vor Paul zu rechtfertigen, aber nun sah er ihn so durchdringend an, als könne er all seine Gedanken lesen. Paul trat einen Schritt zurück. Wovor hatte er nur solche Angst? Was hatte dieser Junge an sich, das ihn so sehr verunsicherte?

"Ich mache jetzt erstmal etwas zu Essen. Du kannst dir ja inzwischen was anziehen", sagte er, drehte sich um und ging. "Nimm dir einfach irgendwas aus meinem Schrank."

Und schon wieder war er nicht in der Lage gewesen, der Situation standzuhalten. Er hatte sich doch vorgenommen auf Chris zuzugehen und nicht vor ihm zu fliehen. Irgendetwas passierte in ihm, von dem er selbst noch nicht wusste, was es war.

Chris ließ sich nicht anmerken, ob ihn Pauls Verhalten verunsichert oder sogar verletzte hatte. Er saß ganz normal am Tisch und aß. Ab und zu stellte er Paul ein paar Fragen zu seiner Arbeit und benahm sich einfach nur wie ein ganz normaler Junge. Er war fröhlich und lachte oft über die Geschichten, die ihm von den frechen Affen erzählt wurden. In diesen Situationen fühlte auch Paul sich absolut wohl. Solange Chris mit irgendetwas beschäftigt war, hatte er keinen Grund zur Nervosität. Brenzlig wurde es immer nur, wenn sie sich gegenüberstanden oder nebeneinander saßen, ohne dass jemand etwas sagte. In solchen Momenten war Chris` Benehmen ein ganz anderes. Dann war er nicht mehr dieser quirlige, aufgeweckte Junge, sondern das einsame Waisenkind, das zu schnell erwachsen geworden war. Dann lag immer eine gewissen Sehnsucht in seinem Blick und das fordernde Verlangen nach Aufmerksamkeit und Liebe. Und genau damit konnte Paul nicht umgehen. Er hatte Angst, dass Chris in ihm etwas Ähnliches sehen konnte und falsche Schlüsse daraus ziehen würde. Denn eines musste Paul sich eingestehen: nach Liebe sehnte er sich schon sein ganzes Leben.

Die nächsten drei Tage vergingen genauso. Paul ging zur Arbeit, kam wieder, kochte etwas und dann beschäftigte sich jeder mit sich selbst. Ob es fernsehen, lesen oder einfach nur nachdenken war. Weder Paul, noch Chris redeten viel darüber wie es von nun an weitergehen sollte, und doch hatten beide dieses Thema ständig im Kopf. Und nicht nur sie. Auch Tom und Jane wurden zunehmend hellhörig. Sie sprachen das Thema nie an, aber man konnte ihnen anmerken, dass ihnen die Situation schon ein wenig befremdlich vorkam. Paul fing an, sich Gedanken zu machen, welchen Eindruck er auf die beiden machte. Warum hatte er Chris aus ihrer Sicht aufgenommen? Er wusste, dass sie hinter seinem Rücken über ihn sprachen und er hätte nur zu gerne Mäuschen gespielt dabei. Chris wusste, durch das Gespräch, das er mit angehört hatte, in etwa über diese Dinge Bescheid, fühlte sich aber auch nicht unwohl mit dem Bewusstsein, dass jemand über ihn redete. Das kannte er aus früheren Tagen schon zur Genüge.

Am Freitag kam Paul mit dem Vorsatz von der Arbeit nach Hause, dass er mit Chris über die aktuelle und zukünftige Situation sprechen wollte. Einfach aneinander vorbei zu leben war nun mal keine dauerhaft befriedigende Lösung. Schon mal gar nicht, wenn sich diese Spannung zwischen ihnen nicht auflöste. Und dafür musste er Chris einen Punkt ganz deutlich vor Augen halten: Er würde in keiner Weise für Chris` Bedürfnisse aufkommen. Weder materiell, noch seelisch oder sogar körperlich gesehen. Wenn er nach so etwas suchen sollte, war er bei Paul an der falschen Adresse.

Chris war allerdings nicht da, als er die Wohnung betrat. Keine Spur von ihm. Alle Zimmer waren leer und nirgendwo lag ein Zettel mit einer Nachricht für Paul. Eine Möglichkeit war natürlich, dass Chris endlich mal wieder an die frische Luft wollte, weil er es in der Wohnung nicht mehr aushielt. Aber hätte er das nicht in den Stunden machen können, in denen Paul gearbeitet hatte? Oder war es bei ihm jetzt auch schon soweit, dass er Paul unbedingt aus dem Weg gehen wollte? Vielleicht war er aber auch ganz verschwunden. Ohne ein Wort? Irgendetwas sagte Paul, dass es nicht so war. Oder wünschte er sich das nur?

Nachdem er Essen gekocht und allein gegessen hatte, legte Paul sich in seinem Schlafzimmer aufs Bett und war, wenn es möglich war, noch verwirrter, als in den ganzen letzten Tagen zusammen. Ein Teil von ihm genoss die Einsamkeit und die entspannte Atmosphäre, weil Chris nicht in der Nähe war. Doch ein anderer, der größere, vermisste etwas. Ob es Chris war, oder die zur Gewohnheit gewordene Präsenz einer anderen Person, war ihm nicht ganz klar. Auf jeden Fall fehlte eindeutig etwas.

Als Chris endlich wieder kam, war es schon dunkel. Er klingelte und Paul stürmte sofort zur Tür.

"Wo warst du denn?"

"Zuerst in der Stadt und dann in dem Park, den man von deinem Fenster aus sehen kann." Er klang ganz normal, als wäre ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, dass Paul sich Sorgen machen könnte.

"So lange?"

"Ich bin eingeschlafen. Was soll denn dieses Verhör?"

"Entschuldige bitte, dass ich mir Sorgen gemacht habe."

"Du hast dir Sorgen gemacht?" Verwirrt sah er Paul an.

"Überrascht dich das?"

"Ja, um ehrlich zu sein." Chris hängte seine Jacke an die Garderobe und ging in die Küche, in der auch Tom saß. "Ist noch was zu Essen da?"

"Klar", sagte dieser und deutete auf den Kühlschrank. "Musst du dir nur noch warm machen."

"Okay, danke."

"Da musst du dich bei Paul bedanken. Er hat gekocht... schon wieder."

"Danke, Paul", sagte Chris mit einem derartig frechen Unterton, dass Paul sprachlos den Raum verließ und die Tür zu seinem Schlafzimmer hinter sich schloss.

"Hattet ihr Streit?"

"Eigentlich nicht", antwortete Chris und stellte seinen Teller in die Mikrowelle.

"Das hat sich aber ganz anders angehört. Vielleicht solltest du versuchen mit Paul zu reden."

"Das bringt doch sowieso nichts."

Zu der gleichen Ansicht war auch Paul gekommen, während er aus dem Fenster schaute. Chris war es doch ohnehin egal, was er dachte. Warum also großartig auf ihn einreden? Offenbar prallten bei ihnen zwei Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Dabei hatte es am Anfang doch ganz gut funktioniert, oder nicht? Hatte sich in den letzten Tagen denn so viel verändert?

Der Mond tauchte als dünne Sichel hinter einer Wolke auf und spiegelte sich in dem kleinen See dort unten im Park. Genau wie er es Chris erzählt hatte. Dann ging die Schlafzimmertür einen Spalt breit auf, und Chris` Kopf erschien. "Kann ich mit dir reden?", fragte er vorsichtig.

"Komm rein."

Wie schon an seinem ersten Tag in dieser Wohnung setzte sich Chris vor der Tür auf den Fußboden. Er sieht traurig aus, dachte Paul.

"Es tut mir leid wie ich mich verhalten habe. Ich weiß, dass du sehr viel für mich tust und ich gehe dir als Gegenleistung dafür nur auf den Geist."

"Das stimmt doch gar nicht."

"Doch, es stimmt. Wenn ich in den letzten Jahren etwas gelernt habe, dann wie man Menschen richtig einschätzt. Ich weiß, dass du dich nicht wohl fühlst, weil ich ständig in der Nähe bin. Das habe ich schon die ganzen letzten Tage gespürt und deswegen dachte ich, dass ich dir lieber aus dem Weg gehe. Damit warst du aber auch nicht zufrieden und da habe ich den Frust eben an dir ausgelassen."

Paul hatte wieder dieses Pochen in den Ohren. Es war dunkel, Chris saß nicht weit von ihm und versperrte den Ausgang. Er konnte nicht einfach weglaufen. Dabei war sein Drang zu flüchten noch nie so groß gewesen wie in diesem Augenblick, denn dieses Mal spürte er auch noch etwas anderes. Das Verlangen, Chris nahe zu sein, drängte ebenso in seinen Kopf wie der Wunsch nach möglichst großem Abstand. Und genau dieses Verlangen war es, das ihm schon seit Längerem unbewusst Angst gemacht hatte. So weit es ging wehrte er sich dagegen, doch manchmal schien dieser Kampf aussichtslos. In Momenten wie diesem, wenn er mit Chris allein war und sich Stille im Raum ausbreitete, fühlte er sich durchschaubar und wich Chris` Blicken aus. Er mied sie, als könnten sie alles Unterdrückte hervorholen.

Zu allem Überfluss stand Chris jetzt auch noch auf und bewegte sich langsam auf Paul zu. Er setzte sich sogar zu ihm auf die breite Fensterbank und sah ihn an. Etwas glitzerte in seinen großen, blauen Augen. Das sah Paul, als er einen kurzen Blick riskierte. Es waren Tränen.

"Ich könnte verstehen, wenn du mich nicht mehr hier haben willst."

"Das...", Paul musste schlucken. "Das habe ich nie gesagt."

"Aber du hast darüber nachgedacht."

"Nein."

Ein kleines Lächeln huschte über Chris` Gesicht und dann schlang er beide Arme um Paul. Aber er umarmte ihn nicht nur, sondern kuschelte sich richtig an ihn. Sein Kopf schmiegte sich an Pauls Schulter, als wollte er es sich für eine Weile gemütlich machen; seine Arme umfingen Paul so stark, als wollte er sagen: "Lauf nicht weg." Auch das letzte Stückchen Distanz war somit zunichte gemacht und Paul war hin- und hergerissen. Seine Hände wussten nicht wo hin, aber schließlich legten sie sich doch noch auf Chris` Rücken. Ein wohliges Seufzen erfüllte den Raum. Nie hätte Chris gedacht, dass Paul seine Umarmung erwidern würde, dass er ihn so dicht an sich heran lassen könnte. Aber er tat es. Zum ersten Mal lief er nicht davon.

Pauls Fingerspitzen strichen vorsichtig, fast schon zärtlich, aber auch zögernd über Chris` Rücken, malten kleine Kreise und Linien. Er konnte sich nicht ganz so entspannen wie Chris. Zu viel schwirrte durch seinen Kopf. Er machte sich Sorgen.

"Darf ich heute hier schlafen?", waren die Worte, mit denen Chris die Stille zerbrach, und die so laut in Pauls Ohren drangen, als wären sie geschrien worden.

"Was?" Erschrocken schob er Chris von sich und hielt ihn mit seinen Armen auf Abstand.

"Auf dem Sofa. Was denkst du denn?"

"Aber warum?" Sofort war er wieder skeptisch.

"Im Wohnzimmer liegt man wie auf einem Präsentierteller. Alle laufen immer an mir vorbei. Das stört."

Die Arme immer noch ausgestreckt sah Paul sein Gegenüber misstrauisch an. Sicher war das nur ein Vorwand. Und er wäre beinahe auf diesen Trick reingefallen. Fast hätte er sich auf dieses Spiel eingelassen und auf Chris noch obendrein. Dieses Gefühl – Körper an Körper – es war so verführerisch, so warm. Er hatte so etwas noch nie empfunden. Chris war ein so leidenschaftlicher Mensch, das genaue Gegenteil von ihm. Vielleicht hatte diese Leidenschaft kurzfristig auf ihn abgefärbt. Vielleicht hatte er sich tatsächlich bei Chris angesteckt.

Paul stand auf und ging in Richtung Tür. Er dufte das nicht zulassen.

"Paul", rief Chris ihm nach. "Wo willst du hin?"

"Raus."

"Warte doch mal! Was ist denn los?"

"Ich habe keine Lust mehr auf deine Spielchen, das ist los!" Hektisch griff er nach der Türklinke, aber Chris stellte sich vor ihn und versperrte den Weg.

"Was meinst du damit?", fragte er.

"Das weißt du ganz genau."

"Nein, weiß ich nicht."

Paul zögerte. Dann machte er wieder einen Schritt rückwärts, doch Chris hielt ihn an der Hand fest.

"Lass mich los und verschwinde aus meinem Zimmer!"

Chris sah Paul erschrocken an und ließ augenblicklich seine Hand los. "Na gut", sagte er mit zittriger Stimme und verließ das Zimmer. Paul fiel auf sein Bett, ebenso erschrocken über seine eigenen Worte und versuchte zu ignorieren, was ihm der kleine, aufgeregt hüpfende Muskel in seiner Brust sagen wollte. Sein Atem ging schwer. Etwas schnürte ihm die Luft ab. Chris` Anblick. Er hatte Angst vor Paul. Genau wie Paul jetzt vor sich selbst. So bin ich doch sonst nicht! Das eben, das war nicht ich!

Chris` Vermutung

Chris stürmte aus dem Zimmer und lief sofort Tom und Jane in die Arme.

"Was war denn los?", fragte Jane.

"Nichts", murmelte Chris und setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch, das Gesicht in den Händen vergraben.

"Mach uns doch nichts vor. Wir haben euch streiten hören. Ist alles in Ordnung?"

"Nein."

"Und was ist passiert?" Jane setzte sich neben Chris und legte eine Hand auf sein Knie. Sie wäre eine gute große Schwester gewesen.

"Ich habe etwas getan, das ich wohl lieber gelassen hätte."

Tom tauschte einen vielsagenden Blick mit Jane. "Versteh das jetzt nicht falsch", sagte er, "aber seit du bei uns wohnst, benimmt sich Paul ganz eigenartig. Ist irgendetwas zwischen euch vorgefallen?"

"Nein, und deswegen verstehe ich auch nicht, warum er sich mir gegenüber so verhält."

"Woher kennt ihr euch denn überhaupt?", fragte Jane.

Chris überlegte kurz. Paul wäre es sicher nicht recht, wenn die beiden die Wahrheit wüssten. Und er wollte es sich nicht noch mehr mit ihm verscherzen. "Ich möchte nicht darüber reden."

"Tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein."

"Ist schon gut. Würde es euch etwas ausmachen, mich allein zu lassen."

"Nein, es ist ja auch schon spät", sagte Tom. "Was ist eigentlich der wahre Grund warum du nicht bei Paul auf der Couch schläfst?"

"Tom!", schimpfte Jane. "Gerade hab ich mich noch dafür entschuldigt, dass wir so neugierige Fragen stellen."

"Es interessiert mich eben. Das Schnarchen war doch nur ein Vorwand. Paul hat noch nie geschnarcht."

"Du hast recht", sagte Chris. "Paul will nicht, dass ich in seinem Zimmer schlafe. Genau darüber haben wir uns gerade noch gestritten. Ich habe ihn gefragt und dann ist er total ausgerastet."

"Nimm das nicht so ernst", beschwichtigte ihn Jane. "Paul hat ein paar merkwürdige Vorstellungen, die wir auch nie so richtig verstanden haben. Jetzt lassen wir dich aber in Ruhe. Gute Nacht." Sie strich einmal beruhigend über Chris` Rücken und stand auf. Tom warf sie einen tadelnden Blick zu, dann verschwanden die beiden in ihrem Zimmer.

Chris legte sich hin, breitete die Decke über sich aus und verschränkte mit einem leisen Seufzen die Arme hinter seinem Kopf. Seit einer Woche war er jetzt schon hier in dieser Wohnung und er hatte sich immer noch nicht mit Paul arrangieren können. Noch nie hatte er jemanden getroffen, der ein solches Geheimnis aus seinen Gedanken und Gefühlen machte wie Paul. Vielleicht war er nicht immer so gewesen, das hatten Tom und Jane auch angedeutet. Aber wie war er dann? Warum konnte er nicht einfach so sein wie er nunmal war?

Bin ich so viel anders als alle anderen? Ich bin doch auch nur ich. Was an mir stört dich nur so sehr, Paul? Vielleicht ist es doch meine Vergangenheit, obwohl du das ja abgestritten hast. Was denkst du? Sag mir doch endlich mal, was du in mir siehst. Immer weichst du mir aus. Ich weiß nicht wie ich damit umgehen soll. Wenn ich einen Schritt nach vorn gehe, gehst du zurück. Warum? Es ist ja fast, als ob...

Nachdenklich sah Chris an die Decke. Er traute sich nicht den Gedanken zu Ende zu denken, der ihm gerade gekommen war. Aber wenn er recht hatte, könnte er Pauls Verhalten verstehen. Dann würde alles einen Sinn ergeben. Die Situation vor einer Woche, als sie sich die DVD angeschaut hatten und die Umarmung an diesem Abend. Konnte es denn sein, dass alles so gekommen war wie...

Die Tür zu Pauls Schlafzimmer öffnete sich und Chris schloss schnell die Augen. Leise Schritte kamen näher. Paul ging ins Bad und kurz darauf war das Plätschern des Wassers zu hören. Ach so. Wahrscheinlich wollte er sich nur noch die Zähne putzen. Chris drehte sich mit dem Rücken zur Badezimmertür und versuchte endlich zu schlafen. Das Gedankenchaos in seinem Kopf hielt ihn allerdings davon ab, genau wie die Gewissheit, dass Paul gleich wieder an ihm vorbei laufen würde.

Als sich die Tür schließlich wieder öffnete und für einen winzigen Augenblick ein heller Lichtstrahl auf ihn fiel, verhielt er sich so ruhig wie möglich. Paul trat an das Sofa heran und blieb dort stehen. Warum geht er denn nicht weiter?, fragte sich Chris. Ein Schauer huschte über seinen gesamten Körper, als könnte er Pauls Nähe spüren. Es war ein unheimliches, aber auch angenehmes Gefühl. Dann spürte er einen Finger, der ganz vorsichtig über das Sonnentattoo in seinem Nacken strich. Alles kribbelte, sogar eine Gänsehaut breitete sich von diesem kleinen Punkt aus. Überall hin. Chris konnte nichts dagegen tun, aber das wollte er auch gar nicht. Das hatte er sich all die Jahre so sehr gewünscht. Ein bisschen Aufmerksamkeit, so eine gefühlvolle Berührung. Er hätte nicht gedacht, dass sich dieser Wunsch noch mal erfüllen würde. Schon gar nicht von Paul.

Er hatte also recht gehabt mit seiner Vermutung. Es war eindeutig.

Paul zog seine Hand wieder zurück und entfernte sich völlig lautlos. Nur das kurze Klacken der Tür war zu hören, als er sie hinter sich schloss.

Am Samstagmorgen kitzelte die Sonne Pauls Gesicht. Es war das erste Mal in diesem Jahr, dass sie das tat. Bisher hatte sie sich viel zu wenig blicken lassen und geweckt hatte sie Paul noch gar nicht.

Er streckte sich ausgiebig, gähnte scheinbar völlig zufrieden mit sich und der Welt und genoss noch einen Augenblick die Wärme und den Anblick des Lichtspiels an den Wänden. Dann wurde ihm bewusst, was am Abend zuvor geschehen war und seine Gesichtszüge wurden ernster. Ob Chris sauer war? Paul hatte ihn noch mit Tom und Jane sprechen hören, aber was genau geredet wurde, hatte er nicht verstanden.

Es klopfte an der Tür und Tom streckte seinen Kopf ins Zimmer.

"Paul? Ich fahre mit Jane übers Wochenende zu ihren Eltern. Haben sie gerade erst abgesprochen, ohne mich zu fragen", sagte er genervt und verdrehte die Augen. "Chris ist im Bad. Nach der Aktion gestern solltet ihr euch echt mal gründlich aussprechen."

"Ja, ja."

"Im Ernst. Ich glaube Chris geht es nicht so gut."

"Wieso?", fragte Paul neugierig.

"Er ist ganz anders als sonst. Nicht so aufgedreht. Er wirkt ein bisschen abwesend."

"Ja. Ich hab gestern ein bisschen übertrieben reagiert."

"Ich will mich nicht einmischen, aber du solltest dich vielleicht bei ihm entschuldigen. Er denkt nämlich, dass er schuld an eurem Streit war."

"Hat er das gesagt?"

"So ähnlich, ja. Aber ihr habt ja jetzt zwei Tage, an denen ihr das klären könnt. Ich muss los. Bis dann."

Die Tür ging wieder zu und nach ein paar Minuten herrschte Stille in der Wohnung. Bis auf das Plätschern des Duschwassers. Paul zog sich an, ging in die Küche und setzte einen Kaffee auf. Brötchen hatten seine beiden Mitbewohner schon geholt und sogar welche für Chris und ihn dagelassen. Der Tisch war auch schon fertig gedeckt, also musste Paul nur noch auf den Kaffee und auf Chris warten. Wie aufs Stichwort verstummte da auch schon das Plätschern und man hörte das Quietschen der Duschtür. Hoffentlich zieht er sich etwas an, bevor er rauskommt, dachte Paul.

Die Kaffeemaschine summte immer noch, als Chris, in einen Bademantel gehüllt, aus dem Bad kam. Seine Haare waren wie immer noch nass.

"Guten Morgen", sagte er leise und setzte sich an den Küchentisch.

"Guten Morgen", antwortete Paul. "Du hast dir ja schon wieder die Haare nicht gefönt."

"Wenn ich sie föne, sehen sie immer so aufgeplustert aus. Mir gefällt es besser, wenn sie einfach so trocknen."

Paul wandte sich ab, schenkte den Kaffee in zwei Tassen und setzte sich Chris gegenüber. Sie schmierten sich ein Brötchen, schlürften vorsichtig das heiße Getränk und warfen dem Anderen hin und wieder einen nervösen Blick zu. Paul wollte den richtigen Augenblick abwarten, aber der schien mit jeder vergangenen Minute nur noch weiter weg zu rücken.

"Es war nicht deine Schuld", sagte er schließlich, nachdem er einmal tief Luft geholt hatte. "Es war meine."

"Wovon redest du?"

"Von gestern. Ich hätte dich nicht so anschreien dürfen."

"Ist schon gut", sagte Chris leise, den Blick auf sein Brötchen gerichtet.

"Nein, ist es nicht. Ich habe viel zu übertrieben reagiert. Es tut mir leid."

Ein Lächeln huschte über Chris` Gesicht. "Ich weiß." Und noch etwas wusste er, deshalb fragte er auch nicht weiter nach. Wahrscheinlich war es besser Paul nicht allzu sehr zu überfordern. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass er selber davon noch gar nichts wusste. Lieber erst mal ein wenig behutsamer anfangen, obwohl ihm das sehr sehr schwer fiel. Der Rest würde sich dann schon von allein finden.

"Gehen wir heute mal in den Park? Es ist doch so schönes Wetter."

"Ähm", es war eindeutig, dass Paul sich bei diesem Gedanken nicht wohl fühlte. "Was will du denn da?"

"Ein bisschen rumlaufen, vielleicht ein Picknick machen. Sei doch mal ein bisschen einfallsreich und ein wenig Sinn für Romantik könnte dir auch nicht schaden." Oje. Das zu dem Thema "behutsam".

Paul reagierte auch prompt mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck, aber aus einem anderen Grund, als Chris erwartet hatte.

"Soll das heißen ich bin nicht romantisch?"

"Zumindest ist es mir noch nicht aufgefallen."

"Tss", schimpfte Paul und wandte sich seinem Kaffee zu. Chris lachte zufrieden in sich hinein.

"Wir nehmen uns einfach ein bisschen was zu Essen mit und eine Decke. Dann kannst du dich sonnen oder tun, was auch immer dir romantisch genug ist, zufrieden?"

Chris lächelte triumphierend. "Ja."

Das Frühstück war schnell beendet, genauso wie die Vorbereitungen für den kleinen Ausflug. Chris hatte sich mit dem Proviant beschäftigt, während Paul die ganze Wohnung nach einer picknicktauglichen Decke absuchte. Als er schließlich eine gefunden hatte, steckte er alles Notwendige in eine Art Reisetasche und half Chris noch beim Obstschneiden. Die Stimmung war fast zu fröhlich und ungezwungen, wenn man an den letzten Abend dachte. Trotzdem war auch dieser Abend in gewisser Weise besonders gewesen. Nicht auf die heftige Auseinandersetzung bezogen, sondern auf das, was unmittelbar davor geschehen war. Einen kurzen Moment hatte Chris alles um sich herum vergessen, als Paul sich entschied seine Arme um ihn zu legen. Es war ein ganz merkwürdig prickelndes Gefühl. Vor allem, weil es so unerwartet gekommen war. Ob so etwas noch einmal passieren konnte? Oder war es das erste und letzte Mal, dass Paul über seinen Schatten sprang und Chris gegenüber etwas offener wurde? Hoffentlich nicht. Paul musste doch auch etwas gespürt haben.

"Willst du jetzt schon los?", fragte Paul.

"Ja."

"Sollen wir Sonnencreme einpacken?"

"So warm ist es nun auch wieder nicht."

"Ich will ja nur nicht, dass du nachher jammerst, weil du einen Sonnenbrand hast."

"Das wird schon nicht passieren."

"Wie du meinst."

Als sie ein paar Minuten später die Wohnung verließen, konnte sich Chris vor Vorfreude kaum noch bremsen. Er hüpfte die Treppenstufen hinunter, als wäre er ein kleines Kind, dem man ein großes Eis versprochen hatte. Paul musste lachen. Chris` gute Laune war einfach unheimlich ansteckend.

"Wie oft gehst du in den Park?", fragte Chris.

"Ich war noch nie dort."

"Wieso denn nicht?"

"Ich hatte nie das Bedürfnis danach."

"Aber du sagtest doch, dass du ihn dir gerne ansiehst."

"Von meinem Fenster aus", sagte Paul und wich Chris` fragendem Blick aus.

"Ich sag es ja."

"Was?" Neugierig sah er auf.

"Zu wenig Romantik", antwortete Chris grinsend.

Im Park

Im Park war es ganz ruhig. Man hatte fast das Gefühl, als läge er am Rande der Stadt und nicht mitten in ihrem Zentrum. Der Verkehrslärm war kaum zu hören, nur das Rauschen des Windes und das Zwitschern der Vögel. Chris atmete tief ein, als er die große, grüne Rasenfläche betrat und wandte sich lächelnd zu Paul um.

"Und? Kannst du dir vorstellen hier eine Weile zu bleiben?"

"Könnte schon möglich sein, ja."

Chris funkelte ihn böse an. "Wehe du willst gleich wieder gehen."

"Wo sollen wir die Decke hinlegen?"

"Schon besser. Ich würde sagen da drüben." Er zeigte auf eine Stelle dicht am Seeufer. Daneben ließ eine große Weide ihre Äste ins Wasser hängen.

"Gut", sagte Paul und ging voran. Er stellte die Tasche ab und machte sich sofort daran die Decke auszubreiten. Chris war derweil ans Ufer gegangen und hielt seine Hand ins Wasser. Es war schon etwas aufgewärmt von der Sonne, aber immer noch ziemlich kalt. Er zog die Hand zurück und wischte sie an seiner Hose trocken. Paul saß schon auf der Decke und beobachtete Chris. Wie konnte dieser Junge nur so aufgeschlossen und fröhlich sein, nach allem, was ihm passiert war? Jemand wie Chris muss doch unheimlich unter dieser "Gefangenschaft" gelitten haben. Oder war er jetzt einfach umso glücklicher, endlich wieder das tun zu können, wozu er Lust hatte?

"An was denkst du?", fragte Chris.

"Nichts Besonderes", log Paul und ließ sich nach hinten fallen. Der Boden war weicher, als er es vermutet hatte und die warmen Strahlen der Sonne taten ihm unwahrscheinlich gut. Er schloss die Augen und versuchte an gar nichts zu denken. Einfach mal abschalten.

Chris setzte sich vorsichtig neben ihn. Er wollte Paul nicht wieder durch seine Nähe verunsichern, also wartete er eine Weile bis auch er sich auf den Rücken legte und die Augen schloss. Es war ein herrliches Gefühl, einfach dazuliegen und sich zu entspannen. Alles schien so viel weiter weg zu sein. Außer Paul. Chris spürte ihn ganz genau, obwohl sie sich nicht berührten. Er öffnete seine Augen und sah zu Paul hinüber. Sie lagen tatsächlich sehr nah beieinander. Ob es Paul etwas ausmachte? Eigentlich sah er ganz entspannt aus. Chris überlegte, ob er etwas riskieren und nach Pauls Hand greifen sollte. Es wäre doch nur eine kleine Berührung. Doch bevor er sich entscheiden konnte, schlug Paul seine Augen auf und sah Chris misstrauisch an.

"Hab ich einen Käfer auf der Nase sitzen oder warum siehst du mich so an?", fragte er, bekam aber keine Antwort. Irritiert zog er die Augenbrauen hoch und wünschte sich, Gedanken lesen zu können.

Chris` Gesicht war völlig regungslos, auch als er Paul eine Frage stellte.

"Ist es dir nicht unangenehm neben mir zu liegen?"

"Wieso? Sollte es das?"

"Vielleicht."

"Kommt es dir denn so vor?"

"Jetzt gerade nicht, nein."

"Dann ist ja alles gut", sagte Paul etwas verwirrt und schloss seine Augen wieder.

Chris starrte ihn ungläubig an.

"Was hast du mit Paul gemacht?", fragte er gespielt schockiert. Der Angesprochene grinste nur. Damit war das Thema beendet.

Knapp eine Stunde lagen sie schweigend nebeneinander und füllten ihren Vitamin-D-Tank auf. In der Sonne wurde es allmählich richtig warm. Ein echter Frühlingstag.

Chris drehte sich zu Paul, dessen Augenlider immer noch geschlossen waren. Dann, ohne zu zögern, legte er seine Hand auf die von Paul. Erschrocken zuckte sie ein wenig zur Seite, entzog sich aber nicht gänzlich Chris` Griff. Paul ließ sich nichts anmerken. Er verharrte weiterhin in seiner reglosen Position und atmete gleichmäßig weiter. Er wird doch nicht eingeschlafen sein? Chris wartete ab und spielte dabei mit Pauls Fingern. Sie waren lang und dünn. Eigentlich die perfekten Pianistenhände. Nichts tat sich, also hob er Pauls Hand vorsichtig an und hielt ihre beiden Handflächen gegeneinander. Die Sonne fiel zwischen ihren Fingern hindurch auf Chris` Gesicht. Als wollte er nach der leuchtend hellen Kugel greifen, schloss er seine Hand um die von Paul und ließ sie wieder zu Boden sinken. Schade, dachte er und löste seinen Griff. Dann setzte er sich auf und ging zum Seeufer. Dort zog er seine Schuhe und Strümpfe aus und ließ die Füße ins Wasser hängen. Zuerst war es sehr kalt, aber er gewöhnte sich schnell daran. Ob man hier im Sommer richtig schwimmen konnte? Besonders schmutzig sah der See nicht aus, aber er war auch sehr klein. Wahrscheinlich war es gar nicht erlaubt.

Einige Weidenäste hingen ganz in seiner Nähe. Manche tauchten ins Wasser ein, doch andere waren nicht lang genug. Sie schwangen, bewegt durch vereinzelte Luftzüge, über der Oberfläche hin und her. Einen davon nahm Chris in die Hand. Es war schon sehr lange her, dass er einen solchen Ast berührt hatte. Vielleicht sieben oder acht Jahre. Damals war er mit seinen Eltern unterwegs gewesen, in einem Park wie diesem. Er war völlig zufrieden gewesen und wollte sich an einen der Weidenäste hängen wie an eine Liane. Einen kurzen Moment war er über den Boden geschwebt, doch dann konnte der Baum sein Gewicht nicht mehr halten. Der Ast brach ab und fiel mit Chris ins Wasser. Erschrocken war er ans Ufer zu seinen Eltern gepaddelt, die wahrscheinlich einen größeren Schrecken bekommen hatten als er.

Und nun, fast ein ganzes Jahrzehnt später, dachte Chris wehmütig an diesen herrlich sonnigen Tag zurück. Wie viel sich seit dem verändert hatte. Vielleicht sollte er wieder in den See springen. Ob sich dadurch die Zeit zurückdrehen ließ? Er stand auf und blickte auf die spiegelnde Wasseroberfläche. Doch bevor er sich entscheiden konnte, griff jemand nach seiner Hand.

"Was soll das denn werden?", fragte Paul und zog Chris zurück zur Decke. "Du wolltest doch nicht etwa da rein springen, oder?"

"Doch." Chris war verwirrt. Er fühlte sich so plötzlich in die Gegenwart zurückgezogen, dass ihm fast schwindelig wurde. War es ein Zeichen? Hatte Paul ihm unbewusst gesagt, dass er genau da war, wo er sein sollte?

Sie setzten sich und Paul holte etwas zu Trinken aus der Tasche. "Wenn du schwimmen willst, geh ins Schwimmbad oder zu einem richtigen Badeteich."

"Ich bin früher mal in einen See gefallen."

"Und die Erinnerung wolltest du jetzt auffrischen?"

"So ähnlich."

Keiner der beiden achtete darauf, dass Pauls Hand noch immer auf der von Chris lag. Erst als Paul den Verschluss seiner Flasche öffnen wollte und seine zweite Hand zur Hilfe nehmen musste, fiel es ihm auf. Chris folgte seinem Blick.

"Hast du Hunger?", fragte Paul, als sei nichts gewesen.

"Äh, na ja, ein bisschen vielleicht."

"Obst?"

"Danke", sagte Chris, als Paul ihm die Schüssel reichte.

Sie aßen; jeder darauf konzentriert den Blick des Anderen zu meiden. Ein paar Fußgänger kamen vorbei und grüßten freundlich. Wie nett auf einmal alle sind, wenn die Sonne scheint, dachte Paul.

Zwei Kinder, in Begleitung ihrer Eltern, hüpften am See entlang und warfen ab und zu Brotstückchen zu den Enten. Die Mutter achtete darauf, dass sie sich nicht zu nah ans Wasser wagten, doch der Vater schien nicht ganz bei der Sache zu sein. Er starrte Chris an. Als sich ihre Blicke trafen, zuckte Chris sichtlich zusammen.

"Kennst du den?", fragte Paul, als er den Blickkontakt bemerkte.

"Das musste ja irgendwann passieren", seufzte Chris.

"Du meinst, das ist..."

"Ja."

"Wird er dich verraten?" Besorgnis schwang in seiner Stimme mit.

"Nein, er hat selber viel zu viel zu verlieren." Chris sah zu den Kinder und der Frau. Dann wandte er den Blick ab. Paul sah der Familie noch eine Weile böse funkelnd nach. Chris musste lachen, als er das bemerkte.

"Du musst ihn nicht so ärgerlich ansehen. Abgesehen davon, dass es ohnehin nichts bringt, ist er auch nur ein Mensch."

"Aber einer, der seine Frau betrügt."

"Und ich dachte schon du verfluchst ihn meinetwegen."

"Wieso das denn?", fragte Paul entgeistert, woraufhin Chris ihn herausfordernd ansah.

"Ist ja gut", sagte Paul schließlich und beschäftigte sich wieder mit dem Essen. "Deswegen natürlich auch." Chris grinste.

"Wie lange willst du noch hier bleiben?", fragte er nach ein paar Minuten gefräßiger Stille.

"Das überlasse ich dir."

"Ich würde gerne noch ein bisschen rumlaufen, dann aber auch bald wieder zurück."

"Okay."

Sie packten alles wieder in die große Tasche und Chris zog sich seine Schuhe an. Der Park war jetzt völlig leer. Kein einziger Fußgänger kreuzte ihren Weg, als sie einmal um den See liefen. Es war alles ganz ruhig und friedlich.

"Wie ist das damals passiert, als du in den See gefallen bist?", fragte Paul irgendwann.

"Ich wollte an einem Weidenast schaukeln, aber er hat mich nicht gehalten."

"Warst du mit deinen Eltern da?"

"Ja. Es war genau so ein Tag wie heute."

"Wie waren deine Eltern?"

"Ich habe viel vergessen in den letzten Jahren, aber ich weiß, dass ich sie sehr mochte. Meine Mutter hat immer die Entscheidungen getroffen, mein Vater hatte da nicht viel zu sagen." Bei dem Gedanken musste er schmunzeln. "Sie waren beide sehr liebevoll und wir gingen immer sehr offen mit allem um. Ich habe nie etwas vor ihnen verborgen und sie auch nicht vor mir. Mit meinem Vater hab ich die verrücktesten Dinge getan, er war ein richtig guter Freund für mich. Trotzdem kann ich mich auch noch gut an seine weiche, schmusige Seite erinnern. Er hat mich oft in den Arm genommen, wenn ihm gerade danach war, genau wie meine Mutter, aber bei ihr habe ich es immer viel mehr als selbstverständlich hingenommen. Eine Mutter muss so sein, dachte ich immer." Jetzt konnte Paul Chris` anhängliche Seite auch besser verstehen. Er war es gewohnt seine Zuneigung und Liebe durch Berührungen auszudrücken.

"Ich konnte es nicht glauben, als man mich über ihren Tod benachrichtigte."

"Wie ist das passiert?", fragte Paul vorsichtig und griff zögernd nach Chris` Hand, die sich längst zu einer Faust geballt hatte.

"Sie sind im Winter von der glatten Fahrbahn abgekommen und eine Brücke hinuntergestürzt. Sie hatten keine Chance. Ich hab immer gedacht, dass mir so etwas nie passieren könnte, wie jeder andere Mensch wahrscheinlich auch." Er wischte sich einmal kurz mit dem Handrücken über die Wange. "Aber selbst die größte Überzeugung hilft da nichts. Das Leben ist unfair."

"Und was hat es mit deinem Tattoo auf sich?"

"Es sollte mich daran erinnern, dass es auch wieder andere, sonnige Tage geben würde." Chris lächelte, öffnete endlich seine Faust und schob seine Hand in die von Paul. "Und ein bisschen Trotz steckt auch dahinter. Meine Eltern hatten nie erlaubt, dass ich mir ein Tattoo stechen lasse, also tat ich es, als ich die Möglichkeit dazu hatte. Ich dachte mir, dass es die perfekte Rache dafür wäre, dass sie mich allein gelassen hatten. Na ja, ich war erst fünfzehn, da darf man noch ein bisschen verrückt sein."

"Und wie hast du es geschafft, dass jemand einem Minderjährigen ein Tattoo sticht?"

Chris` Mine wurde wieder ernster. "Ich glaube das willst du nicht wissen."

Langsam schlenderten sie auf den Ausgang des Parks zu. Ihre Finger waren weiterhin ineinander verschlungen, doch als sie die angrenzende Straße erreichten, lösten sie den Griff.

"Danke für den schönen Tag", flüsterte Chris, doch Pauls Stimme versagte, als er versuchte eine Antwort zu geben.

Lesemodus deaktivieren (?)