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Kartenhäuser

Teil 4

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Inhaltsverzeichnis

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Viel zu früh meldete sich der Wecker am nächsten Morgen und beendete Pauls ohnehin schon kurzen Schlaf. Die Ziffern zeigten 6:30 und bedeuteten ihm, dass er das warme, kuschelige Bett verlassen musste. Er drehte sich schläfrig zu Chris um, der, ungestört von dem penetranten Piepsen, einfach weiterschlief und genoss es, ihn eine Weile ungestört zu betrachten. Sein Körper lag völlig ruhig da, mit Ausnahme des kurzen Zuckens, das regelmäßig seine Brust durchzog. Paul legte seine Hand dorthin und spürte Chris` Herzschlag unter seinen Fingern. Ein merkwürdiges Gefühl, so etwas Lebenswichtiges zu spüren. Jeder weiß wie es sich anfühlt und doch bekommt es eine ganz andere Bedeutung, wenn man es bei demjenigen spürt, der einem wichtig ist. Es sagt einem, dass man nicht alleine ist und dass es einen Menschen gibt, dessen Herz für einen schlägt. Beruhigend.

Paul strich Chris sanft übers Gesicht, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und stand schließlich auf, um sich im Bad für seinen Arbeitstag fertigzumachen. Er zog sich an, machte Frühstück und sah, bevor er sich auf den Weg machte, noch einmal ins Schlafzimmer. Chris hatte er nicht wecken wollen, damit er sich richtig ausschlafen konnte und nicht den ganzen Tag müde auf Paul warten musste. Die einsamen Stunden würden sicher viel schneller vergehen, wenn er bis zum frühen Mittag schlief.

Paul trat ins Treppenhaus, schloss die Wohnungstür hinter sich und stieg langsam Stufe für Stufe hinab in den eisigen Flur des Gebäudes. Eine Heizung gab es hier nicht. Wozu auch, in einem Flur, der lediglich als Eingangsbereich diente. Unangenehm war es trotzdem, vor allem am frühen Morgen. Aber das war den Vermietern auch egal, sie wohnten schließlich nicht in diesem Haus. Unglaublich wie egoistisch einige Menschen waren!

Den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals zugezogen, verließ Paul das Haus. Vor der Tür war es weder wärmer, noch kälter und auch die Menschen, die auf den Straßen unterwegs waren, schienen emotionale Eisklötze zu sein. Keiner nahm besonders viel Rücksicht auf seine Mitmenschen. Man ging ungestört seines Weges, egal ob er von einer anderen Person gekreuzt wurde oder nicht. Zu allem Überfluss machte der Winter auch noch keinerlei Anstalten, sich zurückzuziehen und ließ seine kältesten Winde über die Erde streifen. Von der angenehmen Wärme, die sie noch vor ein paar Tagen genossen hatte, war nichts mehr übrig.

Chris schien das nicht im Geringsten zu stören. Er lief auch bei diesen eisigen Temperaturen manchmal nur im T-Shirt draußen umher, während es Paul schon fröstelte, wenn er ihn dabei sah. Es wollte und wollte einfach nicht wärmer werden.

Die Tage vergingen, doch die Sonne hielt sich bedeckt. Ein seltenes, schwaches Aufleuchten ließ Paul jedes Mal hoffen, dass der Frühling sich doch noch durchsetzen würde, aber genauso oft verschwanden die Strahlen wieder hinter der dichten Wolkendecke.

Chris ging ganz anders mit der Situation um. Er ging nach draußen, sah zum Himmel, zuckte kurz mit den Schultern und dachte nicht weiter darüber nach. Auf Nachfrage von Paul hin sagte er nur:

„Die Sonne wird schon irgendwann wieder auftauchen. Wozu brauche ich ihr Licht, wenn ich jeden Abend neben dir einschlafen und jeden Morgen neben dir aufwachen kann? Solange ich deinen Atem höre und deinen Herzschlag spüre, ist alles in Ordnung.“

Das waren wahrscheinlich die schönsten Worte, die Paul jemals gesagt bekommen hatte und sie verscheuchten sogar die Sehnsucht nach Tageslicht. Was sie jedoch nicht verscheuchten, war die Realität, die am Samstagnachmittag vor dem Haus auf Chris wartete. Paul und er hatten beschlossen, ein wenig durch die Stadt zu schlendern und zogen gerade die Tür hinter sich zu, als ein Junge auf sie zu lief und Chris um den Hals fiel.

„Jess?“, fragte Chris atemlos, geschockt durch die plötzliche Anwesenheit dieses alten Bekannten, und bemühte sich ein wenig Abstand zu gewinnen. Niemals hätte er damit gerechnet Jess wiederzusehen. Vielmehr hatte er gehofft mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Doch die stand nun vor ihm. Er schob Jess von sich und sah zu Paul, als wollte er ihm sagen, dass er genauso überrascht über Jess` Auftauchen war.

„Du kennst ihn?“, fragte Paul.

„Ja, er... er war mein... wir haben uns damals ein Zimmer geteilt.“

Paul nickte kurz, zum Zeichen, dass er verstanden hatte und ging zum Haus zurück. „Ihr wollt sicher alleine reden, oder?“, fragte er und schloss, ohne eine Antwort abzuwarten, die Tür hinter sich.

Die Wohnung war ruhig. Ohne Chris erschien Paul die Wohnung immer leer und kalt. Wie sehr er sich doch daran gewöhnt hatte, Chris um sich zu haben. Er ging zum Fenster, das sich zur Straße hin öffnen ließ, und sah hinunter zu seinem Freund und Jess, dem Gast aus der Vergangenheit. Sie standen sich gegenüber, mit etwas mehr Abstand als zuvor und unterhielten sich. Jess schien Chris aus einem ganz bestimmten Grund aufgesucht zu haben, denn er machte immer wieder einen Schritt auf ihn zu und redete auf ihn ein. Chris wich jedes Mal zurück und hielt Jess mit ausgestreckten Armen von sich fern. Paul sah alles mit an. Mehr als einmal wäre er am liebsten nach unten gestürmt, um Jess fortzujagen. Doch das hätte sich Chris nie gefallen lassen. Er war nicht der Typ, der in schwierigen Situationen sofort nach Hilfe verlangte. Er löste seine Probleme gerne alleine. Paul wusste das und mischte sich daher nicht ein.

Das Gespräch dauerte nicht lange an und endete damit, dass Chris sich abwandte und Jess aufgebracht davonlief. Paul zögerte und überlegte, ob er wieder nach unten gehen oder in der Wohnung bleiben sollte. Vielleicht wollte Chris noch einen Moment alleine sein, doch dann öffnete auch er die Haustür und verschwand aus Pauls Sichtfeld. Die Schritte vor der Wohnungstür wurden lauter und kurz darauf betrat Chris den Flur. Er schien sich erst neu orientieren zu müssen und stapfte letztendlich ins Wohnzimmer, wo er sich geräuschvoll auf der Couch niederließ.

Keiner sagte etwas. Paul stand noch immer am Fenster, doch nun starrte er Chris erwartungsvoll an.

„Der spinnt doch!“, schnaufte dieser und fuhr sich wütend durch die Haare.

„Woher wusste er, dass er dich hier findet?“, fragte Paul leise.

„Woher soll ich das wissen, verdammt!“

„Hey! Ist ja gut. Ich bin auf deiner Seite, das weißt du.“

„Ja, schon gut. Tut mir Leid.“

„Das will ich auch hoffen.“ Paul setzte sich jetzt zu Chris und legte ihm einen Arm um die Schultern.

„Sorry, aber ich muss noch mal kurz weg“, sagte Chris und stand auf.

„Wohin denn?“

„Das sag ich dir später.“

Die Schritte wurden lauter, dann... rumms! Die Wohnungstür fiel ins Schloss und kurz darauf öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer. Ein schwacher Lichtstrahl fiel auf Pauls Gesicht. Chris stand in der Tür und als er eingetreten war, füllte sich der Raum erneut mit Dunkelheit. Ohne ein Wort zu sagen, legte Chris seine Kleidung ab und schlüpfte zu Paul unter die Bettdecke. Ein leichter Nikotingeruch umgab ihn, doch die Möglichkeit ihn nach den vergangenen Stunden zu befragen, bekam Paul nicht. Ein erschöpftes Seufzen, dann war er auch schon eingeschlafen. Schön, dass wir darüber geredet haben, dachte Paul ärgerlich, aber letztendlich war die Sorge um Chris größer als der Ärger über die Tatsache, dass er so eben völlig ignoriert worden war, und dass Chris es anscheinend nicht für nötig hielt mit Paul über seine Probleme zu reden. Hin und her gerissen lag er da und betrachtete die Zimmerdecke, ohne sie wirklich anzusehen. Ob Chris in Schwierigkeiten steckte? Dieser Jess war sicher kein normaler Bekannter, der wegen der alten Zeiten willen einfach aufgetaucht war. Was kann er gewollt haben und was hat er nur zu Chris gesagt?

Paul lag noch eine ganze Weile wach und hatte auch als er einschlief noch keine Ordnung in seine wirren Gedanken bringen können. Er konnte nur darauf hoffen, dass Chris ihm ein wenig Vertrauen entgegenbringen und mit ihm reden würde.

Als Paul am nächsten Morgen aufwachte, war es als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Seine Gedanken setzten genau an dem Punkt wieder an, an dem er in der Nacht eingeschlafen war und besonders ausgeruht fühlte er sich auch nicht; eher im Gegenteil. Ob Chris ihm alles erzählen würde?

Er drehte sich zur Seite und wollte schon seinen Arm nach Chris ausstrecken, als ihm die zerknautschte und achtlos zur Seite geworfene Bettdecke auffiel. Der Platz neben ihm war leer und schon kalt.

Auch in der Küche, im Bad und im Wohnzimmer war Chris nicht, also hatte er sich schon wieder einfach so aus dem Staub gemacht. Wollte er eigentlich irgendwann mal mit Paul reden oder ihn wenigstens nicht vollkommen übergehen? Vielleicht wollte Chris ja gar nicht erst wiederkommen.... vielleicht war er schon wieder in der Neonstraße und vergnügte sich mit wer weiß wem.... vielleicht hatte er Paul nur ausgenutzt, um ein paar Tage einen Unterschlupf zu haben und war nun wieder bei Jess. Paul war klar, dass er sich mit diesen absurden Gedanken lächerlich machte und eigentlich glaubte er das selber nicht, aber irgendetwas machte ihm Angst und brachte ihn dazu, so etwas zu denken. Er hatte Angst, dass Chris nicht wiederkommen würde.

Vielleicht war er auch nur rausgegangen, um frische Luft zu schnappen und wurde entdeckt. Was, wenn dieser Jess ihn verraten hat. Was, wenn er nicht wiederkommt? Paul stand verwirrt mitten im Wohnzimmer. Was, wenn er tatsächlich nicht wiederkommt? Nie wieder. Wer weiß denn schon wirklich, was in dieser verrückten Szene so alles vor sich geht? Hat jemand, der daraus entkommen ist überhaupt die Chance, ein neues Leben anzufangen?

Ich war so naiv, dachte Paul.

Er ging träge zum Sofa, ließ sich einfach fallen und breitete die Wolldecke über sich aus. Sie roch noch nach Chris, oder besser nach seinem Shampoo und Duschgel. Nein. Eigentlich roch sie nach Pauls Shampoo und Duschgel, weil Chris doch keine eigenen Sachen bei sich gehabt hatte, als er bei Paul eingezogen war. Genaugenommen roch Paul also nur sich selbst.

Völlig perplex starrte er im Zimmer umher und stand dann ganz plötzlich auf, um im Eiltempo ins Schlafzimmer zurückzulaufen. Wenn Chris wirklich für immer verschwunden war, musste er seine neue Kleidung mitgenommen haben. Paul zog sämtliche Schubladen seines Schrankes auf, durchwühlte jeden Zentimeter, doch Chris` Sachen fand er nicht. Er sank auf den Boden und zog wiederum die Decke zu sich heran, doch dann fiel sein Blick auf das Sofa. Auf das Sofa, dessen Stoff man schon nicht mehr sehen konnte, weil sich Unmengen an Hosen und Shirts darauf ausgebreitet hatten. Chris hatte seine neuen Sachen dort abgelegt, weil im Schrank kein Platz mehr war; das hatte Paul ganz vergessen.

Mach dich nicht verrückt, sagte eine leise Stimme in seinem Kopf und während er noch auf dem Boden saß und nicht wusste, was er denken oder tun sollte, fiel ein paar Meter entfernt die Wohnungstür ins Schloss. Dann öffnete sich, wie schon in der Nacht zuvor, die angelehnte Tür zum Schlafzimmer und Chris kam munter hereingeplatzt.

„Hey, schläfst du etwa...“ Er stockte, als er Paul auf dem Boden hocken sah. „Was wird das denn? Bist du aus dem Bett gefallen?“ Fröhlich lachend kam Chris näher und wedelte stolz mit einer Tüte vom Bäcker vor Pauls Nase rum.

„Weißt du eigentlich wie schwer es ist am Sonntag ein paar frische Brötchen zu bekommen? Ich musste mich durch die halbe Stadt kämpfen. Los komm, ich hab jetzt echt tierisch Hunger, oder...“

Wieder hielt er inne und sah Paul an. „Sag mal, ist irgendwas? Du scheinst ja nicht sehr begeistert zu sein. Sitzt einfach da und sagst keinen Ton.“

Paul, der sich die ganze Szenerie sprachlos angesehen hatte, wusste beim besten Willen nicht, wie er sich jetzt fühlen sollte. Natürlich war er froh, dass Chris nicht einfach verschwunden war, aber irgendetwas an dieser ganzen Situation machte ihn furchtbar wütend. Er spürte geradezu, wie es in ihm aufkochte und es wurde auch nicht besser, wenn er Chris ansah. Dieser freche, erwartungsvolle Blick. Diese lockere Haltung, als wäre nichts gewesen. Am liebsten würde er jetzt aufspringen und Chris solange anschreien, bis er seine Fehler einsehen und sich bei Paul entschuldigen würde. Doch er blieb sitzen. Er saß weiterhin vor dem Bett und je länger er Chris ansah, desto größer wurde ein ganz anderes Gefühl. Ihm wurde klar, dass er jetzt schon viel zu abhängig von Chris war. Er hatte zugelassen, dass jemand in sein Leben trat, der ihm mehr bedeutete, als alles Andere je zuvor; und das machte ihm Angst.

„Sag doch was. Ey, Paul, du machst mir echt Angst.“ Chris trat jetzt noch näher an Paul heran und setzte sich neben ihn. „Jetzt ignorier mich doch nicht einfach. Sag mir was los ist!“

„Wer ignoriert hier wen?“, fragte Paul endlich.

„Wie meinst du das?“

„Du bist ja wohl derjenige, der nicht mit mir spricht, oder warum bist du letzte Nacht erst so spät gekommen? Ich hab auf dich gewartet, verdammt! Und zwar den ganzen Abend. Ich hab mir Sorgen gemacht, weil du so mies drauf warst und du kommst einfach mitten in der Nacht und pennst seelenruhig ein!“

„Ach das ist es. Du fühlst dich also übergangen, weil ich meine Ruhe brauchte, um über diesen ganzen Scheiß nachzudenken, der gestern passiert ist, ja?“

„Ja! Du kannst doch mit mir reden oder geht mich das Alles etwa nichts an?“

„Du hast damit nichts zu tun, Paul. Das ist kompliziert genug! Ich will nicht, dass du da auch reingerissen wirst!“

„Wo denn reingerissen? Was wollte dieser Kerl von dir?“

„Das würdest du nicht verstehen. Das... ach, vergiss es einfach! Es geht dich wirklich nichts an!“

„Hey, warte mal!“, schrie Paul, als Chris auf einmal aufstehen wollte. „Ich will das jetzt wissen! Denkst du, ich könnte einfach so darüber hinwegsehen? Es geht mich wohl etwas an, solange es dabei um dich geht.“

„Du willst es nicht verstehen, oder?“ Chris wandte sich wieder Paul zu und sah ihn eine Weile nur an. Es war eine merkwürdige Situation. Paul bekam das Gefühl, als wollte er gar nicht mehr so genau wissen, was Chris am Abend zuvor passiert war. Was weiß ich schon über sein früheres Leben?, dachte er. Wer weiß, welches Risiko er einging, als er einfach flüchtete!

„Ich hab Angst, Paul. Ich hab Angst, dass sie von dir erfahren. Dass sie rausfinden, wo ich mich aufhalte und zu wem ich Kontakt habe; wer mir hilft und so weiter. Es ist besser, wenn du von alledem nichts weißt.“

„Quatsch!“

„Wie bitte?!“

„Wenn sie das rausfinden wollten, hätten die das mit Sicherheit schon getan. Du hast das alles schon ins Rollen gebracht, als du hier bei mir aufgetaucht bist. Was denkst du woher Jess wusste, dass er dich hier findet? Die wissen doch schon längst von mir.“

„Jess wollte mich nur warnen. Er ist mir nachgelaufen und dann gestern hier aufgetaucht. Die anderen wissen nichts davon, solange er die Klappe hält.“

„Ach, und was glaubst du wie lange das wohl sein wird? Red dir doch nicht ein, du könntest mich schützen, indem du nicht mit mir sprichst!“

Eine Pause trat ein, in der keiner der beiden wusste, wie es weitergehen würde. Paul wurde zum ersten Mal bewusst, wie gefährlich und belastend Chris` Situation wirklich war. Er hatte sich nie so genau vorstellen können, was es bedeutet sein Leben derart zu verändern und welche Konsequenzen das haben kann. Aber er wollte auch daran teilhaben und Chris helfen; ihm einfach beistehen. Man konnte doch gemeinsam überlegen, was zu tun war, aber die Ansicht schien Chris nicht zu teilen. Er hatte sich einfach zu sehr in diesen Gedanken reingesteigert, Paul aus allem rauszuhalten. Dabei würde das nicht das Geringste bringen.

„Wenn ich verhindern kann, dass du da reingezogen wirst, werde ich es tun. Auch wenn dir das nicht gefällt.“ Chris` Stimme klang schon deutlich schwächer.

„Das kannst du aber nicht. Also rede mit mir!“

„Ich kann nicht.“ Er sah Paul jetzt so hilflos an, dass dem auch nichts mehr einfiel, was er hätte erwidern können. Seine Finger umschlossen noch immer das dünne Handgelenk, das er gepackt hatte, um Chris am Weglaufen zu hindern. Ein kurzes Schluchzen, dann gaben Chris` Beine nach und er fiel zu Boden. Er klammerte sich sofort an Paul, der nach kurzem Zögern seine Arme um ihn schloss und beruhigend über seinen Rücken strich.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll“, weinte es aus Pauls Shirt. „Ich will nicht, dass dir was passiert.“

„Das wird es nicht. Aber mich macht es ganz verrückt, wenn ich nicht weiß, warum hier fremde Leute auftauchen und du danach stundenlang verschwindest. Du musst mit mir reden, damit ich dir helfen kann.“

Chris nickte kaum merklich und lockerte seinen Griff ein wenig.

Was ist gestern nur passiert?, fragte sich Paul immer wieder, während er sich darauf konzentrierte Chris zu trösten. Es kann nicht nur das kurze Gespräch mit Jess gewesen sein, das ihn so aufgewühlt hat. Irgendetwas musste noch danach vorgefallen sein.

„Bist du mir böse?“, fragte Chris vorsichtig.

„Nein, bin ich nicht, aber du hast mich ganz schön zappeln lassen.“

„Liebst du mich trotzdem noch?“

„Natürlich, sonst hätte ich mir den Stress auch sparen können“, sagte Paul und stupste kurz mit einem Finger an Chris` Nasenspitze. „Wehe, du machst so was noch mal! Ich bin wie bekloppt durch die ganze Wohnung gerast und hab dich gesucht. Beschwer du dich noch mal, dass du morgens keinen Kuss bekommst!“

„Versprochen.“

„Was? Dass du nicht mehr abhaust oder dass du dich nicht mehr beschwerst?“

„Beides“, kam es als Antwort zurück.

„Ich nehm dich beim Wort.“

„Ja, tu das, aber sag mal....“

„Ja?“

„Können wir jetzt essen?“

Während sie am Tisch saßen und Chris weiter von seiner Brötchen-Jagd erzählte, fragte sich Paul, was dieser kurze, aber sehr intensive Zusammenbruch zu bedeuten hatte. Es war so plötzlich gekommen, dass Paul für einen Moment ganz starr vor Schreck war, aber dann war es auch schon wieder vorbei gewesen. War es tatsächlich so wie Chris gesagt hatte? Machte er sich einfach Sorgen um Paul oder war am Abend nach Jess` Besuch doch noch etwas anderes vorgefallen, das Chris geheim hielt? Das Ganze kam Paul so unheimlich und verwirrend vor. Chris hatte sich zu schnell wieder beruhigt, als wollte er den Anschein erwecken, dass alles in Ordnung war.

Vielleicht war das aber auch der Anfang von dem gewesen, worauf Paul schon insgeheim wartete. Irgendwann musste das alles einfach über Chris zusammenbrechen und vielleicht war er jetzt an dem Punkt, an dem die Vergangenheit ihn doch noch einholte.

„Ist irgendwas, Paul?“, fragte Chris.

„Ich denke an gestern Abend. Und an heute Morgen.“

Chris ließ sich nichts anmerken. Er belegte in Ruhe sein Brötchen und sah Paul dann fragend an.

„Und warum?“

„Weil ich mir Sorgen um dich mache.“

„Das musst du nicht. Ich musste nur ein bisschen nachdenken und hab dabei die Zeit vergessen.“

„Ich denke, dass da noch mehr war“, hakte Paul nach. Er wollte eine Antwort.

„Da war aber nichts. Es ist alles in Ordnung.“

„Jetzt gerade vielleicht. Und was ist morgen und in ein paar Tagen oder Wochen?“

„Was soll da schon sein? Du machst dir viel zu viele Gedanken.“

„Und du machst dir gar keine“, sagte Paul ärgerlich. „Du denkst anscheinend, dass es mich kalt lässt, wenn du so fertig nach Hause kommst und dann nicht mit mir sprichst. Dachtest du, dass ich das einfach ignoriere und dann nicht weiter darüber nachdenke?“

„Es wäre jedenfalls besser. Nichts von dem geht dich etwas an.“

Paul schnaufte. „Nein, natürlich nicht. Ich lasse dich ja auch nur hier wohnen, damit diese Typen dich nicht finden! Ich hab dich hier aufgenommen, obwohl ich dich überhaupt nicht kannte und diese Hilfe hast du gerne angenommen. Warum lässt du dir dann jetzt nicht helfen? Ich will doch gar nichts anderes. Ich will nur wissen, was los ist, damit ich dir helfen kann.“

Chris antwortete nicht gleich. Seine Augen huschten von seinem Brötchen zu Paul und wieder zurück. Auf einmal war da wieder diese Anspannung. Wie am Morgen, kurz bevor er zusammen gebrochen war. Paul sah das auch und fragte sich, ob er jetzt endlich eine ehrliche Antwort bekommen würde. Es war doch offensichtlich, dass Chris etwas vor ihm verbarg.

„Du kannst mir aber nicht helfen“, sagte er schließlich leise, aber doch entschieden. „Vor allem nicht du. Wenn die rausfinden, wo ich mich aufhalte, kannst du auch gleich deine Koffer packen und Tom und Jane auch. Ich will nicht schuld daran sein, wenn euch etwas passiert. Und ganz besonders will ich nicht, dass dir etwas passiert.“

„Ich bin doch nicht sofort in Gefahr, nur weil du mir erzählst, wo du gestern warst.“

„Ich will gar nicht erst damit anfangen, dich da mit reinzuziehen. Das hab ich dir vorhin schon gesagt.“

„Ich verstehe es aber nicht“, entgegnete Paul verzweifelt. „Ich will auch nicht, dass dir etwas passiert oder dass es dir schlecht geht. Und im Moment geht es dir nicht gut, das sehe ich doch. Also rede mit mir!“

„Nein, Paul. Ich werde es dir nicht erzählen, zumindest jetzt nicht. Ich will das einfach vergessen, also tu mir den Gefallen und lass mich damit in Ruhe. Ich will damit nichts mehr zu tun haben, also zwing mich nicht daran zu denken.“

Paul fiel daraufhin nichts mehr ein, dass er mit gutem Gewissen hätte erwidern können, also ließ er es sein. Fürs Erste.

„Was machst du heute?“, fragte Paul am Montagmorgen, als sie zusammen am Frühstückstisch saßen. Chris war vom Wecker wach geworden und hatte entschieden mit Paul aufzustehen, um nicht den ganzen Tag zu verschwenden.

„Ich würde gerne ein bisschen durch die Stadt laufen. Vielleicht finde ich ja etwas Schönes.“

„Mir wäre es lieber, wenn du in der Wohnung bleiben würdest.“

„Das ist aber langweilig. Ich kann nicht die ganze Zeit hier hocken und nichts tun. Da fühle ich mich wie im Gefängnis.“

„Wollen wir nicht lieber irgendwann zusammen rausgehen? Ich könnte Matze fragen, ob ich mal früher Schluss machen kann.“

Chris sah Paul durchdringend an. „Und wann wäre das? Nächstes Jahr?“

„Nein, natürlich nicht. Oder was ist mit Samstag?“

„Es geht mir doch gar nicht darum, unbedingt in die Stadt zu gehen. Ich will nicht immer hier sitzen und auf dich warten. Da werde ich verrückt. Ich werde auch ganz vorsichtig sein“, sagte Chris und legte sein Hand auf die von Paul.

Das gefällt mir nicht, dachte Paul, wusste aber nicht wie er es Chris ausreden sollte. Er konnte sich ja selber gut vorstellen wie jemand wie Chris sich in dieser Situation fühlen musste. Immer nur drinnen zu sein, war ihm einfach nicht genug.

„Pass auf dich auf“, sagte er, als er sich von Chris verabschiedete. Wie gerne hätte er die Arbeit sausen lassen und sich mit Chris einen schönen Tag gemacht.

„Mach ich. Du aber auch.“

„Sicher.“

Ein kurzer Kuss und dann war Paul auch schon weg. Chris schloss die Wohnungstür und setzte sich dann wieder seufzend an den Tisch in der Küche. Er hasste es etwas vor Paul geheim zu halten. Er merkte, dass es ihr Zusammensein belastete, aber das musste er in Kauf nehmen und hoffen, dass Paul irgendwann aufgeben würde. So wäre es zumindest am Besten.

„Guten Morgen“, brummte Tom, als er an Chris vorbei ins Badezimmer schlich.

„Du siehst ja fit aus“, entgegnete der Angesprochene und bekam als Antwort darauf nur ein ironisches Lächeln.

Jane war scheinbar schon weg. Sie musste manchmal sehr früh aufstehen, aber warum wusste Chris nicht. Er hatte sich nie gefragt, wo Pauls Mitbewohner arbeiteten. Er sah sie so selten, dass er manchmal schon vergaß, dass sie überhaupt da waren.

Er nahm sich seine Tasse Kaffee und setzte sich damit auf den Balkon. Die Sonne war schon aufgegangen, aber das Licht wirkte trotzdem noch etwas schwach. Es sah schön aus wie alles langsam Farbe bekam, dachte Chris, und die Luft war morgens auch besser.

„Warum stehst du so früh auf?“, fragte eine Stimme hinter Chris und im nächsten Augenblick setzte sich Tom auf den Stuhl neben ihm.

„Ich will nicht immer den ganzen Tag nur im Bett liegen. Das wird mir zu langweilig.“

„Aha. Ich würde so Einiges dafür tun, wenn ich heute ausschlafen könnte.“

„Machst du deinen Job nicht gerne?“, fragte Chris.

„Nein, nicht wirklich. Früher hatte ich mal Spaß daran, aber seitdem hat sich sehr viel geändert. Niemand kümmert sich mehr wirklich um die Patienten, das Geld ist wichtiger.“

„Arbeitest du im Krankenhaus?“

„Ja, und Jane auch. Wir haben uns dort kennengelernt.“

Chris nickte und trank einen Schluck von seinem Kaffee. Tom tat dasselbe.

„War schwer ihn rumzukriegen, oder?“, fragte Tom nach ein paar Minuten.

„Was?“

„Paul. Ich hätte nicht gedacht, dass es so kommt. Er war immer so… na ja… irgendwie altmodisch. Und nach der Sache mit Lisa hab ich gedacht, dass er nie wieder jemanden an sich heran lässt. Wie hast du das gemacht?“

„Ich weiß nicht. Es ist einfach so passiert. Wahrscheinlich hat er aufgegeben, weil ich zu nervig war.“

„Ich denke, er hat genau jemanden wie dich gebraucht. Man hat gleich gemerkt wie er sich verändert hat, nachdem du hier eingezogen bist. Und jetzt ist er richtig glücklich, das kann man sehen.“

Chris senkte verlegen den Blick. „Meinst du wirklich?“

„Natürlich. Merkst du nicht wie wichtig du ihm bist?“

„Doch schon.“

„Und worüber machst du dir dann Gedanken?“

„Das kann ich dir nicht sagen.“

„Ach so“, sagte Tom und nickte als wäre ihm gerade wieder etwas eingefallen. „Noch so ein Geheimnis. Warum du überhaupt hier her gekommen bist, weiß ich ja auch noch nicht.“

„Tut mir leid, aber es gibt da ein paar Sachen, die ich für mich behalten muss.“

„Weiß Paul denn Bescheid?“

„Ja.“

„Okay, dann werde ich mich nicht mehr einmischen“, sagte Tom und stand auf. „Ich bin jedenfalls froh, dass du hier bist. Warum auch immer.“

„Danke.“

„Ich muss jetzt los. Wir sehen uns nachher.“

Tom ließ Chris auf dem Balkon allein und kurz darauf hörte man wie die Wohnungstür zufiel. Seine Worte hatten Chris nachdenklich gemacht. Merkst du nicht wie wichtig du ihm bist? Doch, das hatte er gemerkt. Aber vielleicht hatte er Pauls Sorgen nicht ernst genug genommen. Für ihn war es bisher immer nur selbstverständlich gewesen, dass er sich Sorgen um Paul machte, aber er hatte es nie aus Pauls Sicht gesehen. War es vielleicht doch besser ihm alles zu erzählen, damit er keine Angst haben musste?

Chris versuchte angestrengt sich vorzustellen, was das Beste wäre, aber er verstrickte sich nur zunehmend in dem Für und Wider. Bald wusste er schon nicht mehr, worüber er eigentlich nachdachte und beschloss sich auf den Weg in die Stadt zu machen. Mit ein bisschen Glück würde er dort Ablenkung finden und konnte später noch einmal in Ruhe nachdenken.

Als Paul nach Hause kam, merkte er sofort, dass Chris irgendetwas beschäftigte. Er begrüßte ihn nicht so überschwänglich wie sonst immer und wirkte sehr abwesend.

„Ist was passiert?“, fragte er deshalb besorgt und sah Chris genau an.

„Nein, nichts. Ich war auch gar nicht lange unterwegs und gefunden hab ich auch nichts. Es war aber schön mal wieder rauszukommen.“

„Du siehst aus, als ob du dir Sorgen machst.“

„Nein, es ist alles in Ordnung“, sagte Chris so überzeugend wie möglich, weil er noch keine Lösung gefunden hatte. „Ich hab dich vermisst.“

„Ich dich auch. Wenn was ist, kannst du es mir doch sagen.“

„Es ist aber nichts. Wirklich.“

Chris lächelte und küsste Paul auf den Mund. Wenn er sich doch nur nicht so viele Gedanken machen würde. Alles wäre so viel einfacher, wenn Paul die ganze Angelegenheit auf sich beruhen lassen könnte.

In den folgenden Tagen wurde die Situation allerdings nur noch anstrengender. Chris hatte das Gefühl, dass sein Schweigen genau das Gegenteil dessen bewirkte, was er eigentlich erreichen wollte. Er ertappte Paul immer öfter dabei wie er ihn nachdenklich oder sogar misstrauisch ansah und das machte ihm wiederum sehr viel Druck. Er wollte Pauls Vertrauen nicht verlieren, aber er war sich auch immer noch nicht sicher, ob es gut wäre, ihm alles zu erzählen. Sorgen hin oder her, konnte Paul denn gar nicht akzeptieren, dass Chris bestimmte Dinge für sich behalten wollte?

Am Freitagabend erreichte die Spannung zwischen ihnen schließlich ihren Höhepunkt und die beiden gerieten heftig aneinander. Angefangen hatte alles, weil Paul zu sehr in Gedanken vertieft war, um auf eine Frage von Chris zu antworten.

„Jetzt mach mal halb lang!“, schimpfte Paul. „Es tut mir leid, wenn ich gerade etwas abgelenkt war, aber das ist noch lange kein Grund mich so anzufahren.“

„Ach nicht? Ich hab es satt, dass du ständig am Grübeln bist, Paul! Alles dreht sich nur noch darum. Kannst du es nicht einfach gut sein lassen? Es hilft mir nicht, wenn du jeden meiner Schritte belauerst und jede Sekunde darauf wartest, dass ich aufgebe und dir doch alles erzähle.“

„Dann tu es doch einfach! Sag es mir! Dann bist du meine Grübelein los.“

„Das glaubst auch nur du! Du findest doch immer irgendetwas, das dir nicht passt. Warum kannst du es nicht akzeptieren, dass ich auch etwas für mich behalten muss.“

„Du musst gar nichts.“

„Eben“, sagte Chris und sah Paul herausfordernd an. „Ich muss gar nichts. Ich muss dir weder erzählen, was ich tue, noch wann oder wo ich es tue. Kapier das endlich!“

„Du benimmst dich wie ein kleines Kind, ist dir das klar? Das ist doch lächerlich.“

„Ich glaube wir denken etwas anders darüber, was lächerlich ist und was nicht.“

„Allerdings.“

Eine kurze Pause zum Luftholen trat ein.

„Also gut“, sagte Paul schließlich. „Du hast gewonnen. Du willst nicht darüber reden? Schön. Dann behalte es für dich. Ich kann es ja ohnehin nicht ändern.“

Er stand auf und ging ins Schlafzimmer. Chris sah ihm misstrauisch nach, aber allmählich löste sich der Ärger auf und machte dem schlechten Gewissen Platz.

„Paul“, sagte er resignierend und folgte ihm. „Ich will nicht, dass du glaubst ich meine es böse.“

„Ich weiß.“ Die Worte klangen gleichgültig.

„Und was denkst du dann?“

„Ich denke, dass du ein sturer, kleiner Junge bist, der nicht verstehen kann, dass ich ihm nur helfen will. Aber das ist okay. Ich verstehe nur nicht, wo der Unterschied zwischen der Hilfe ist, die du annimmst und der, die du nicht annimmst. Aber du willst ja nicht darüber reden.“

Er setzte sich auf die Kante des Bettes und zog sich seine Hose aus. Das T-Shirt lag bereits auf dem Boden.

Chris sah ihm dabei zu und schloss die Finger zu einer Faust zusammen. Der schneidende Ton in Pauls Stimme war ihm nicht entgangen und das machte ihn wieder wütend. Er hasste es, nicht ernst genommen zu werden und noch mehr hasste er es, wenn Paul ihn wie ein Kind behandelte.

„Weißt du, dass du manchmal echt ätzend sein kannst?“

„Nur manchmal?“

„Mach es nicht noch schlimmer, Paul!“, drohte Chris.

„Und was sonst? Haust du dann wieder ab? Das hatten wir doch schon und ganz ehrlich: ich bin es nicht, der hier etwas aufs Spiel setzt. Ich habe eine Wohnung und einen Job. Du solltest dir lieber überlegen, wem du drohst.“

Chris stand von einer Sekunde zur nächsten wie versteinert da und starrte Paul an. Während man an seinem Gesichtsausdruck ablesen konnte wie die Worte von Paul langsam bei ihm ankamen, sah man in Pauls Augen sofort den Schock und das schlechte Gewissen.

„Tut mir leid“, sagte er schnell. „Das war blöd gesagt. Ich wollte eigentlich…“

Chris schnappte sich ohne etwas zu antworten die dünne Wolldecke und verschwand damit aus dem Schlafzimmer. Paul stürmte ihm hinterher und versuchte ihn aufzuhalten.

„Chris!“

„Lass mich!“, zischte er nur. Er legte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und drehte Paul den Rücken zu.

„Es tut mir leid. Ich wollte damit nicht sagen, dass ich dich hier nicht haben will, oder irgendetwas in der Art. Ich bin froh, dass du hier bist. Ich hab nur nicht überlegt, was ich sage.“

„Ich hab dich schon verstanden und jetzt lass mich allein.“

„Das werde ich mit Sicherheit nicht. Ich wollte doch nur sagen, dass das nicht nur für dich stressig ist, und dass du mich dabei nicht übergehen solltest. Ich will nichts anderes als dir zu helfen und es ist einfach ein frustrierendes Gefühl, wenn das von dir so abgeblockt wird.“

Er legte vorsichtig eine Hand auf Chris` Schulter und wartete einen Moment, ob Chris sie abschütteln würde.

„Du kannst mich aus dieser Sache nicht vollkommen raushalten. Das bringt doch niemandem etwas. Wir sehen ja, was dann daraus wird.“

Chris stand wieder auf und ging zurück ins Schlafzimmer. Dort legte er sich ins Bett und zog die Decke bis zum Hals hoch.

„Können wir morgen weiter reden? Ich kann jetzt nicht mehr“, sagte er.

Paul wusste nicht recht, was er davon halten sollte, legte sich aber dennoch zu Chris und sagte sich, dass er jetzt ohnehin nichts mehr erreichen würde. Chris drehte ihm wieder den Rücken zu und ließ Paul nur noch die Hoffnung, dass sie mit Hilfe der Nacht als Unterbrechung, am Morgen besser miteinander würden reden können.

Aber sogar am folgenden Wochenende hatte Chris noch nicht mit ihm über die merkwürdigen Vorfälle der letzten Woche gesprochen. Er hüllte sich weiterhin in Schweigen, hatte aber wenigstens Pauls Entschuldigung angenommen, sodass sie einigermaßen normal miteinander umgehen konnten. Dass damit aber noch lange nicht alles vom Tisch war, wusste er natürlich schon. Er sah es Paul genau an wie unzufrieden er mit der Situation war und er spürte es auch in ihrem Umgang miteinander. Es war nicht mehr so locker und das brachte sie zwangsläufig eher auseinander als wieder enger zusammen. Die Nähe und Vertrautheit, die sie so mühevoll aufgebaut hatten, begann zu bröckeln und schien sich immer mehr aufzulösen. Letztendlich wurde diese Tatsache so belastend für Chris, dass er sich ernsthaft überlegte, Paul doch einzuweihen. Er wollte es nicht riskieren, dass sie sich vielleicht irgendwann ganz aus dem Weg gehen würden.

Deshalb musste er sich entscheiden, welches Risiko er eher eingehen könnte. Die erste Möglichkeit wäre, Paul alles zu erzählen, aber dann müsste er ihn zwangsläufig in alles einweihen und er war sich immer noch nicht sicher, ob dieses Wissen gefährlich werden könnte.

Wenn er Paul allerdings nichts sagte, stand ihre Beziehung auf dem Spiel. So oder so bestand die Gefahr, dass er Paul verlieren könnte. Allerdings schien sie bei der ersten Möglichkeit nicht so nahe zu sein und es war ja nicht mal sicher, dass jemals irgendjemand von Paul erfahren könnte. Sollte er also egoistisch sein und sich dafür entscheiden, lieber weiterhin glücklich mit Paul zusammen sein zu können? Er hatte eine ähnliche Entscheidung schon mal getroffen und sie bis jetzt nicht bereut. Natürlich fragte er sich manchmal, ob es richtig gewesen war, Paul in seine Probleme mit hinein zu ziehen, aber im nächsten Moment dachte er immer, dass sie beide so viel glücklicher waren. Wahrscheinlich wäre es weniger gefährlich, wenn sie sich niemals begegnet wären, aber entschädigte sie ihre Liebe zueinander nicht genug dafür?

Am Samstagmorgen lagen sie schweigend nebeneinander, als ob jeder von ihnen darauf wartete, dass der andere etwas sagte. Schließlich holte Chris einmal tief Luft und sah Paul ernst an.

„Ich liebe dich. Das weißt du doch, oder?“

Erschrocken zuckte Paul zusammen. Was soll diese Frage?

„Natürlich weiß ich das. Worauf willst du hinaus?“

„Ich will dich nicht verlieren“, flüsterte Chris und schmiegte sich so eng an Paul, wie es nur ging. Paul hielt ihn fest und versuchte seine Verwirrung und plötzlich aufgekommene Angst zu verstecken. Beruhigend strich er Chris über den Rücken und durch die kurzen, strubbeligen Haare, bis dieser aufsah und fragte: „Versprichst du mir was?“

„Ja, was denn?“

„Versprich mir, dass du nicht zur Polizei gehst oder irgendwas in der Art tust, wenn ich dir erzähle, was letzte Woche passiert ist. Und du darfst nicht sauer auf mich sein.“

Paul musterte ihn skeptisch, bevor er antworten konnte.

„Wie soll ich dir so etwas versprechen? Ich weiß doch gar nicht, wen oder was ich damit davonkommen lasse.“

„Du musst es mir aber versprechen, sonst wird es nur noch schlimmer.“

Darauf war Paul definitiv nicht vorbereitet. Er konnte das doch nicht versprechen! Er wollte Chris helfen und nicht leugnen und vergessen, was ihm vielleicht angetan wurde. Wem nützte das? Abgesehen von demjenigen, den Chris offensichtlich decken wollte.

„Sonst werde ich es dir nicht erzählen.“

„Wer ist es denn, den du damit schützen willst?“

„Du.“

„Ich? Wie das denn?“

„Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit zu erklären. Ich tue das nur, weil ich dich da raushalten will oder besser gesagt wollte. Du machst es einem nämlich nicht wirklich einfach. Eigentlich wollte ich dir ja gar nichts davon erzählen, aber als ich gemerkt habe, dass dadurch irgendwie alles kaputt geht, habe ich mir überlegt wie ich es dir sagen kann, ohne ein zu großes Risiko einzugehen. Und die einzige Möglichkeit ist eben, dass ich dich zur Verschwiegenheit verpflichte.“

„Das kommt mir alles echt spanisch vor, weißt du das?“

„Versprich es mir einfach!“

Einfach! Na klar!

Eine Weile sahen sie sich nur schweigend an, während Chris auf eine Antwort wartete.

„Also gut... ich versprech´s dir“, sagte Paul schließlich, aber nicht ohne dieses stechende Gefühl eine falsche Entscheidung getroffen zu haben.

„Und du hältst dich auch dran?“

„Natürlich. Es sei denn du entscheidest dich doch anders.“

„Wohl kaum.“

„Na gut, dann bin ich jetzt aber gespannt.“ Angespannt war wohl passender.

„Lass mich aber erst ausreden bevor du was sagst. Wie ich dich kenne, wird dir das zwar schwer fallen, aber versuch´s wenigstens, ok?“

„Ja, ja.“

„Ok.“ Chris griff nach Pauls Hand und hielt sie ganz fest. „Also... Wie du ja weißt, haben Jess und ich uns früher ein Zimmer geteilt. Er ist letzte Woche hier her gekommen, weil er mich bitten wollte wieder zurückzukommen und...“

„Ja, klar!“, schnaufte Paul.

„Ey! Wenn das so weiter geht, brauch ich gar nicht erst weiterreden, Paul!“

„Schon gut, tut mir leid. Ich bin ganz still.“

„Aha.“ Ein finsterer Blick, dann sprach Chris weiter. „Also, der Chef dieses Ladens, bei dem ich gearbeitet habe, ist ziemlich sauer, weil ich verschwunden bin und lässt es jetzt an den Anderen aus. Deswegen war Jess hier. Er meinte ich solle nicht so egoistisch sein und auch mal an ihn denken. Wie es ihm jetzt geht und so weiter. Ich hab ihm gesagt, dass er nicht mehr ganz dicht ist und sich selbst helfen soll. Ich bin weg von da und Schluss. Das wollte er nicht akzeptieren, hat mir sonst was an den Kopf geworfen und ist erst abgehauen, als ich ihm gesagt habe, dass mich das alles nichts mehr angeht. Seinen Blick hättest du sehen sollen! Er hat mich angesehen, als ob ich seine letzte Hoffnung gewesen wäre und dann ist er mit den Worten `Tut mir leid, dass ich dich belästigt habe´ gegangen.“

Chris lag immer noch auf dem Rücken und sah zur Decke. Paul saß sprachlos neben ihm und wandte seinen Blick nicht einen Augenblick von ihren Händen ab. Auch wenn er etwas hätte sagen wollen, was definitiv der Fall war, hätte er es nicht geschafft diese kurze Stille zu durchbrechen und Chris aus seinen Gedanken zu reißen.

„Er hatte erreicht, was er von mir wollte“, fuhr Chris fort. „Ich fühlte mich irgendwie schuldig und als ich wieder zu dir nach oben ging, wusste ich einfach nicht, was ich tun sollte. Vielleicht kannst du nicht verstehen was ich meine, aber irgendwie fühlte ich mich in dem Moment in deiner Gegenwart nicht wohl, also ging ich wieder. Nur wohin? Ich habe ja außer dir niemanden. Dann musste ich wieder daran denken, was Jess gesagt hatte, und das tatsächlich alles meine Schuld war. Ich bin also wieder da hin gegangen und... jetzt guck doch nicht so!“

Paul war vor Entsetzen der Mund aufgeklappt, aber er hielt sich eisern an sein Versprechen, Chris nicht zu unterbrechen. Endlich wusste er, wo Chris sich an dem Abend rumgetrieben hatte. Er war wieder zurückgegangen. Das war es also. Kein Wunder, dass er Paul nichts davon erzählen wollte. Er hatte genau gewusst wie Paul reagieren würde.

„Ich weiß, dass das die absolut falsche Entscheidung war, aber ich hab mich eben total mies gefühlt. Als ich da war und in den Laden ging, wurde ich von allen Seiten angestarrt, aber niemand hat mich angesprochen. Ich hatte eine Scheißangst, bin aber trotzdem hinten in den Chefbereich, um mit Arnie, dem Besitzer der ‚Kneipe‘ zu reden. Er saß ganz gemütlich in seinem riesigen Sessel und hat mit irgendeinem Jungen gesprochen, den ich noch nicht kannte. Der war bestimmt erst siebzehn. Als Arnie mich dann in der Tür stehen sah, ist er sofort aufgesprungen, hat den Jungen rausgeschmissen, mich am Arm gepackt und die Tür hinter uns zu geworfen.

`Was willst du denn hier? Hast Heimweh, was?´, hat er gesagt und mich auf den nächstbesten Stuhl geschubst. `Glaubst du, du kannst einfach wieder hier auftauchen und so tun, als wäre nichts gewesen?´

Ich hab ihm gesagt, dass ich auch einfach so wieder verschwinden werde, und dass er die Anderen in Ruhe lassen soll, aber das hat ihn natürlich nicht im Geringsten interessiert. Er hat mich nur ausgelacht.

`Du bist wieder da und du wirst dieses Mal auch hier bleiben. Dafür sorge ich. Wo warst du eigentlich die ganze Zeit? Hast irgendeinen Typen aufgerissen und ihn überredet, dass er dich bei sich wohnen lässt?´

`Das geht dich einen Scheiß an.´, hab ich gesagt. `Als ob ich dir sowas sagen würde. Ich werde jetzt wieder gehen und wenn du irgendjemandem hier etwas antust, werde ich dich bei der Polizei melden!´

Ich bin aufgestanden, zur Tür gegangen und hab den Raum verlassen. Keiner hat versucht mich aufzuhalten, das kam mir schon etwas merkwürdig vor. Doch als ich gerade den öffentlichen Kneipenraum betrat, packte mich jemand von hinten und drückte mich mit dem Rücken gegen die Bar.“

Zur Bestätigung seiner Geschichte drehte sich Chris auf die Seite und zeigte Paul die dunklen Flecken auf seinem Rücken, die schon langsam wieder verblassten.

„Es war irgendeiner von Arnies Handlangern, der mich wieder mit nach hinten zerren wollte, doch dann kam der Junge angelaufen, den ich im Büro gesehen hatte und schlug dem Kerl, der mich festhielt eine Flasche auf den Kopf. Er ließ mich los und brach auf dem Boden zusammen. Ich war völlig erschrocken, aber gerade noch so geistesgegenwärtig, dass ich den Jungen schnell an der Hand nahm und mit ihm aus dem Laden und der Straße verschwand. Wir sind so lange gelaufen bis wir kaum mehr Luft bekamen und haben uns in einen dunklen Hauseingang gesetzt. Jedes Mal wenn jemand an uns vorbei ging, hatten wir Angst, dass es einer von Arnies Leuten war. Aber keiner gehörte zu denen. Irgendwann ist der Junge aufgestanden und sagte er wolle jetzt wieder nach Hause fahren. Er sei eigentlich nur zu Besuch in der Stadt gewesen. Ich hab mich bei ihm bedankt, dann ist er gegangen. Ich hoffe, er hat es geschafft.“

So schloss Chris seinen Bericht und wartete auf eine Reaktion von Paul. Die allerdings ausblieb.

„Du darfst jetzt wieder mit mir reden. Hallo? Paul, du...“

„Bist du noch ganz dicht?!“

Das musste ja so kommen, dachte Chris und machte sich auf eine lange Standpauke gefasst.

„Warum bist du da hingegangen? Du hättest mir wenigstens Bescheid sagen können!“

„Das war eine spontane Entscheidung. Ich war schon unterwegs, als ich mir das überlegt habe.“

„Überlegen kann man das ja wohl kaum nennen“, schnaufte Paul.

„Ich hab doch schon gesagt, dass es nicht richtig war.“

„Ja, allerdings.... Haben die irgendwas mit dir gemacht? Ich meine bis auf die blauen Flecken.“

„Das ist typisch du!“, sagte Chris und verdrehte die Augen.

„Was?“

„Erst rumzetern und mir Vorwürfe machen und dann erst fragen, ob was passiert ist.“

„Ja und? Ich muss dir doch solche beknackten Ideen erst wieder austreiben, bevor ich dich bemitleide.“

„Wenn du das sagst.“

„Ja. Ich fasse es nicht! Und was machen wir jetzt?“

„Gar nichts“, sagte Chris und zuckte mit den Schultern. Auf einmal war er wieder ganz gelassen und tat so, als ginge ihn das alles gar nichts an. Es war leichter, wenn er alles mehr oder weniger an sich abperlen ließ. Eine alte Angewohnheit.

„Ich dachte du willst diesen Kerl anzeigen“, fragte Paul verwirrt.

„Das war doch nur ne Drohung. Gegen den kommt man nicht an. Das hat überhaupt keinen Sinn. Und du wirst das auch nicht tun, denk an dein Versprechen.“

„Versuch´s doch wenigstens.“

„Der ist von allen Seiten abgesichert. Man könnte ihm überhaupt nichts nachweisen.“

„Aber er lässt Kinder für sich arbeiten, das fällt doch auf.“

„Sein Laden ist in einer Straße, in der auch viele angesagte Clubs sind. Das fällt nicht im Geringsten auf, wenn da ein paar Jugendliche ein- und ausgehen. Außerdem weiß auch niemand, der da reingeht, was hinter den Kulissen läuft. Die Gäste denken, dass sie in einer stinknormalen Bar sitzen.“

„Und woher kommen dann die anderen Gäste... du weißt schon?“

„Arnie hat einen Kumpel, der einen Laden in deiner `Neonstraße´ hat. Er schickt einige von uns manchmal darüber, um Werbung zu machen. Hauptsächlich sind das Stammkunden, die immer wiederkommen.“

„Und wenn man diesen Kumpel auffliegen lässt?“

„Der würde Arnie nie verraten. Vergiss es einfach, wir können da nichts machen.“

„Einfach vergessen? Man kann ihn doch wenigstens wegen Körperverletzung anzeigen. Wir können das doch nicht einfach abhaken!“

„Ich kann ihn aber nicht anzeigen, ohne mich selbst da mit reinzuziehen! Lass es sein, Paul!“

„Was meinst du damit?“

„Gar nichts, vergiss es.“

„Nein, das will ich jetzt auch noch wissen. Was hast du damit zu tun?“

„Das kann ich dir nicht sagen.“

„Warum nicht? Du kannst mir alles sagen. Ich bin dein Freund, oder nicht?“

„Ja, sicher. Aber dann bestimmt nicht mehr.“

Chris wollte aufstehen, doch Paul hielt ihn zurück. War es etwas so Schlimmes, das Chris befürchten musste, Paul könnte ihn verlassen? Was es auch war, Paul würde Chris nicht eher in Ruhe lassen, bis er die ganze Wahrheit kannte.

„Glaubst du, ich lass dich jetzt gehen? Was ist es?“

Chris überlegte lange. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es soweit kommen würde. Eigentlich hatte er sich bemüht, nicht davon zu sprechen, aber jetzt ist ihm wohl doch etwas rausgerutscht und Paul würde sich nicht mit einer Ausrede zufrieden geben. Er hatte Angst davor wie Paul reagieren würde, aber jetzt nahm er all seinen Mut zusammen und sprach es aus.

„Ich bin erst siebzehn, ich hab dich angelogen.“

Gespenster?

„Ich glaube, ich frag dich lieber erst gar nicht, wo du die ganze Nacht und den letzten Tag gewesen bist, oder?“, fragte Paul, als Chris sich am frühen Sonntagmorgen durch die Wohnungstür schob und vor Schreck einen Schritt zurücksprang.

„Oh Gott, Paul, erschreck mich doch nicht so!“

„Ich hab dich erschreckt?“ Seine Stimme war leise, aber angespannt und die Hand tastete nun nach dem Lichtschalter an der Wand. Chris wusste, was jetzt kommen würde. Das Licht im Flur ging an und beleuchtete die beiden Figuren. Eine an die Wohnungstür gelehnt und eine, ein paar Meter entfernt, am Türrahmen zur Küche stehend.

Paul starrte Chris verwirrt an. Was wollte er sagen? Wollte er diesen miesen, kleinen Lügner nicht eben noch anschreien? Er wollte ihm eigentlich eine Menge an den Kopf werfen... aber jetzt? Jetzt konnte er ihn nur anstarren und sich fragen, wo er sich die vielen Stunden rumgetrieben hatte. Entsetzt sah er an ihm hinab. Sah die nasse Hose, die nasse Jacke und das Wasser, das von seinen Haarspitzen tropfte. Aber am schlimmsten war der Anblick seines Gesichtes. Die Haut war nicht nur blass, sondern geradezu weiß und die Augen dunkel untermalt. Der ganze Körper zitterte, obwohl Chris versuchte es zu verbergen. Er hatte beide Arme fest um sich geschlungen und sah Paul abwartend an.

Die Stille zog sich noch eine Weile hin, bis Paul seine Sprache wiederfand und sich soweit gesammelt hatte, dass er einen Schritt auf Chris zu gehen und ihn am Arm packen konnte.

„Ich hab dich erschreckt?“, wiederholte er die Frage, nun aber lauter. „Eigentlich wollte ich dir gerade sagen, dass ich mich seit gestern Abend verdammt beschissen gefühlt habe, weil du mal wieder nicht nach Hause gekommen bist. Dass ich mir unglaublich viele Gedanken gemacht habe, wo du wohl steckst und wem du wieder in die Arme gelaufen bist, aber jetzt...“ Er zog Chris hinter sich her und steigerte sich mit jedem Schritt weiter in seine Wut und Angst hinein, so dass er fast schon schrie.

„…jetzt sehe ich dich hier stehen, klitschnass von oben bis unten und denke die ganze Zeit darüber nach, ob ich dich anschreien oder in den Arm nehmen soll. Was denkst du dir eigentlich? Was glaubst du soll ich jetzt tun? Was meinst du wie erschrocken ich bin? Scheiße! Denkst du überhaupt auch mal an mich?“

Im Badezimmer angekommen stellte er sich dicht vor Chris und packte ihn an den Schultern.

„Ok“, sagte er, atmete einmal tief ein und fuhr dann ruhig fort. „Du ziehst jetzt diesen Kram aus, gehst duschen und überlegst dir gut, was du mir gleich sagen willst, damit ich dich nicht sofort wieder vor die Tür setze.“

Er drehte sich um, schloss die Tür hinter sich und ging ins Schlafzimmer. Dort legte er sich erschöpft aufs Bett und überlegte selber, was er gleich sagen und tun würde.

Das Plätschern des Duschwassers drang zu ihm vor und erinnerte ihn an den ersten Tag, den Chris in dieser Wohnung verbracht hatte. Es war noch gar nicht so lange her, und doch war seit dem schon einiges passiert. Gleich zweimal war Chris verschwunden und hatte Paul verunsichert zurückgelassen. Immerhin hatte Paul jetzt, beim zweiten Mal, den Auslöser gekannt. Er wusste, dass es Chris unangenehm war, dass er wegen seines Alters gelogen hatte. Er wollte nicht als Kind dastehen, das nicht alleine zurechtkommen würde. Er wollte sich nicht zu abhängig machen, was Paul nur zu gut verstehen konnte. Aber trotzdem war irgendwo eine Grenze und die hatte er damit überschritten, dass er Paul gegenüber sein Versprechen, nicht mehr wegzulaufen, gebrochen hatte. Es mag sich wie ein alberner Scherz angehört haben, aber Paul hatte sich darauf verlassen. Vielleicht ging es ihn wirklich nichts an. Vielleicht sollte er Chris selbst entscheiden lassen, aber hatte er nicht doch eine gewisse Verantwortung für ihn? Er war immerhin minderjährig und hatte keine Eltern mehr.

Minderjährig. Das war auch noch so eine Sache. Was man Paul alles anhängen könnte, wenn das rauskäme. Hatte er daran auch nur ein einziges Mal gedacht? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich...

„Paul?“

„Hm?“, brummte er, ohne aufzusehen. Wann hatte das Plätschern aufgehört?

„Darf ich reinkommen?“

„Ja, sicher“, sagte er und klopfte mit der rechten Hand neben sich auf die Bettdecke.

Chris setzte sich fast schüchtern und strich sich langsam eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.

Wie unschuldig er aussieht, dachte Paul, als er einen kurzen Blick auf ihn warf. Ich hab ihn schon viel zu lieb. Wie soll das nur weitergehen?

„Warum du mir dein Alter verschwiegen hast, ist mir schon klar, aber warum... warum rennst du immer weg?“, begann Paul. „Immer, wenn es Probleme gibt, verschwindest du für was weiß ich wie lange und immer sitze ich hier und denke, dass du nie wieder kommst. Weißt du wie anstrengend das ist? Und dann kamst du eben zur Tür rein, nass bis auf die Knochen und mir ist vor Schreck ganz schlecht geworden. Ich hab sogar vergessen, was ich mir überlegt hatte dir zu sagen. Du hattest es mir versprochen, weißt du nicht mehr?“

„Doch, das weiß ich noch.“

„Und was ist daraus geworden?“

„Ich bin es gewohnt immer abzuhauen. Ich bin siebzehn. Niemand hat mir jemals gesagt, wie man sich in solchen Situationen verhält.“

„Ich bin fünfundzwanzig. Denkst du ich weiß immer, was richtig ist? Im Moment weiß ich überhaupt nichts mehr. Immer wenn ich denke, dass sich alles beruhigt und dass das Schlimmste langsam mal hinter mir liegt, kommst du mit irgendetwas Neuem und stellst wieder alles auf den Kopf. Ich wollte dir helfen und das will ich auch immer noch, aber das geht so nicht. Wie soll ich das tun, wenn du mir ständig in den Rücken fällst und mir das Gefühl gibst, der dämlichste Mensch auf der Welt zu sein. Ich meine... wie blöd muss ich denn sein, wenn ich nicht einmal über den Menschen Bescheid weiß, der mir am meisten bedeutet?! Ich hab mit dir geschlafen, verdammt! Ich hab dir gesagt, dass ich dich liebe! Warum also vertraust du mir nicht?“

Mit einem Mal vergrub Chris sein Gesicht in seinen Händen und schluchzte leise.

„Ich weiß es nicht.“

Wieder begann Chris zu zittern und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Paul wehrte sich eine Weile dagegen, doch dann konnte er nicht mehr anders und zog Chris an sich heran. Er war immer noch ganz kalt, also breitete Paul die Decke über ihm aus und nahm ihn anschließend wieder in den Arm. Das Schluchzen wurde lauter und heftiger, doch das Zittern ließ langsam nach. Wenn Chris Paul vorher nie besonders deutlich gezeigt hatte, wie sehr er ihn brauchte, dann tat er das jetzt umso mehr. Er klammerte sich verbissen in den Stoff von Pauls Shirt, ähnlich wie die kleinen Äffchen im Zoo, und hielt ihn so eng umschlungen, dass Paul, selbst wenn er wollte, nicht hätte aufstehen können.

Immer wieder das selbe, dachte Paul. Warum hing nur immer alles, was er liebte, mit so viel Kummer zusammen? Kann ein einziger Mensch in seinen Beziehungen wirklich immer so ein Pech haben? Seine Eltern, Lisa, Chris. Würde das irgendwann mal ein Ende nehmen? Wenn Chris ihm doch nur vertrauen könnte, wäre schon ein großer Schritt getan, aber aus irgendeinem Grund fraß er immer alles in sich hinein.

Allmählich ließ die Kraft in Chris` Händen nach und sein Griff lockerte sich. Ein Weinen oder Schluchzen war auch nicht mehr zu hören.

„Chris?“

Er war eingeschlafen. Die Nacht, der Streit und das Weinen müssen ihn erschöpft haben. Kein Wunder, dachte Paul. Er selber spürte die Müdigkeit in seinem ganzen Körper. Vorsichtig legte er sich mit Chris im Arm aufs Bett und zog die Decke über sie. Das Kissen wurde nass von Chris` feuchten Haaren, aber das störte Paul nicht. Er sog den Duft seines Freundes ein und versuchte für einen Moment so zu tun, als wären sie ein ganz normales Paar. Keine Zuhälter, kein Mistrauen, kein Grund sich Sorgen zu machen. Was für ein angenehmer Gedanke.

Seine Finger streichelten Chris` Nacken und seine Wange und strichen einmal über seine Lippen. Es könnte alles so schön sein.

Paul schlug die Augen auf und blickte in die von Chris.

„Ich glaub mein Arm ist abgestorben“, jammerte er, als er das taube Gefühl bemerkte.

„Ich glaub nicht.“ Chris hob eine Hand und legte sie in Pauls Nacken. „Darf ich dich küssen?“

„Ja“, flüsterte Paul nur und schloss die Augen wieder. Er wartete und dann legten sich zwei weiche Lippen auf seine. Es funktionierte. Der ganze Stress erschien ihm nicht mehr wichtig. Er war mit Chris zusammen und alles, was außerhalb dieser Wohnung passiert war, blendete er für diesen Moment einfach aus. Dann war Chris eben erst siebzehn. Das würde schon nicht auffliegen. Und diese Kerle... sollten sie doch nach ihm suchen. Was könnte schon passieren? Die würden sich doch nur ins eigene Fleisch schneiden.

Nur das, was in der Wohnung passiert war, ließ sich nicht verdrängen. Die vielen Tränen, die geflossen waren und die ständigen Streitereien... das musste aufhören. Sie mussten sich vertrauen und aufeinander eingehen, aber so wie sich dieser Kuss anfühlte, würde das nicht mehr lange dauern.

Chris Hand wanderte langsam über Pauls Rücken nach unten und schlüpfte unter den Saum des T-Shirts. Dort strich sie ein paar Mal auf und ab und blieb schließlich liegen. Die beiden Münder trennten sich voneinander.

„Nicht wieder einschlafen“, hauchte Chris, als sich Pauls Augen nicht wieder öffneten.

„Ich schlafe nicht, ich genieße“, sagte Paul lächelnd.

„So so.“ Chris zog seine Hand unter Pauls Shirt hervor und setzte sich auf. „Und was ist mit dem Frühstück?“

„Das musst du wohl machen. Ich bin völlig außerstande mich zu bewegen. Hast du schon vergessen, dass mein Arm mir nicht mehr gehorcht?“

„Dann weck ihn halt wieder auf. Oder soll ich das machen?“

„Nein“, sagte Paul und rappelte sich umständlich hoch. „Lieber nicht.“

„Geht doch.“

Chris ging aber trotzdem als Erster in die Küche und wollte den Tisch decken. Kurz darauf kam er aber schon wieder.

„Und was sollen wir essen? Es gibt weder Brot, noch Brötchen, noch sonst irgendetwas, das man bestreichen könnte“, fragte Chris.

„Dann müssen wir uns wohl oder übel in ein Café begeben und uns dort mal so richtig verwöhnen lassen.“

„Na gut, wenn´s sein muss“, sagte Chris und rannte wie von einer Tarantel gestochen in den Flur.

„Kommst du?“, hörte man ihn aus Richtung Wohnungstür rufen.

Wie normal er sein kann, dachte Paul. Und wie schnell sich Probleme doch verdrängen lassen.

Tatsächlich war Chris an diesem Morgen nicht wieder zu erkennen. Er hüpfte, wie schon bei ihrem Einkaufsbummel, der bereits Monate zurück zu liegen schien, fröhlich auf und ab und redete ununterbrochen auf Paul ein. Natürlich sprach er über nichts wirklich Wichtiges, sondern bemühte sich angestrengt die gute Laune aufrecht zu erhalten.

Paul war einerseits froh darüber, fragte sich aber nebenbei, welche Gründe und vor allem Konsequenzen dieses Verhalten haben könnte. Von einem Tag auf den anderen zu einem ganz anderen Menschen zu werden, war weder normal, noch gesund. Einen Fortschritt hatten sie immerhin schon getan, indem sie über Chris` kleinen Ausflug letzte Woche gesprochen hatten und sich offenbar Vertrauen zwischen ihnen gebildet hatte. Mit ein wenig Glück würden sie darauf aufbauen können und es Chris ermöglichen, ein ganz normales Leben zu führen. Doch wenn Paul ehrlich war, sah er noch einen großen Stein auf ihrem Weg liegen. Und den würde Chris nur mit einer Anzeige bei der Polizei zur Seite schaffen können.

„Oh nein!“, jammerte Chris auf einmal und blieb plötzlich stehen.

„Was ist denn?“

„Die haben geschlossen. Hier gibt es das beste Frühstücksbuffet, aber darauf müssen wir wohl heute verzichten.“

„Dann gehen wir eben wo anders hin.“

„Aber ich war sonst auch immer hier.“

„Mit Jess?“

„Ja, und vorher schon mit meinen Eltern. Es hat mal einem ihrer Freunde gehört, aber der ist schon lange weggezogen. Das Essen hat trotzdem immer noch gleich geschmeckt. Vielleicht ist der Koch ja hier geblieben.“

„Na komm schon“, sagte Paul und schob Chris vorwärts. „Wir suchen uns etwas Anderes. Irgendwo in dieser Stadt wird es schon etwas geben, das dir schmeckt.“

Und so war es dann auch. Nur ein paar Straßen weiter fanden sie ein kleines Café, das geöffnet hatte und ein Frühstücksbuffet anbot. Nach anfänglicher Skepsis musste schließlich auch Chris zugeben, dass es sich ab und zu lohnt, mal etwas Neues auszuprobieren.

„Weißt du was?“, setzte er an, als sie das Café wieder verließen. “Ich war noch nie so satt wie jetzt.“

„Das kann ich mir vorstellen. Bei den Mengen, die du in dich reingestopft... hast. Hey, ist was?“

Chris war auf einmal stehen geblieben und starrte auf die andere Straßenseite. Paul folgte seinem Blick, aber er konnte nichts Ungewöhnliches erkennen.

„Hallo?“, fragte er erneut.

„Ich dachte... da war... ach nichts. Ich sehe nur Gespenster.“

„Wer denn? Arnie?“

„Nee, der Junge, mit dem ich abgehauen bin. Ich dachte ich hätte ihn gerade da längs laufen sehen.“

„Aber wollte er nicht nach Hause zurück?“

„Ja, eben. Es kann überhaupt nicht sein, dass er hier rumläuft. Wahrscheinlich sah der Kerl eben ihm nur ähnlich.“

„Na ja, soll´s ja geben.“ Paul zuckte mit den Schultern. „Mach dir keinen Kopf.“

„Mach ich nicht, aber so was jagt mir doch einen Schreck ein.“

„Verständlich. Komm, lass und nach Hause gehen.“

Die Woche verging verhältnismäßig schnell. Am Mittwoch hatte Chris Paul im Zoo besucht, weil ihm in der Wohnung langweilig geworden war und hatte so lange gebettelt bis Paul ihn wieder zu den Affen gelassen hatte. Matze war an diesem Tag auch wieder dabei und unterhielt sich so lange mit den beiden, bis die Arbeit nicht mehr warten konnte und Chris sich gezwungenermaßen von ihm, Paul und den Äffchen verabschieden musste.

Zu Pauls großem Vergnügen hatte sich auch der Frühling endlich durchgesetzt. Die Sonne strahlte ununterbrochen, die Blumen blühten auf und genau jetzt, als alles geradezu perfekt war, kamen Tom und Jane zurück, die eine Woche Urlaub im sonnigen Spanien hinter sich hatten. Paul hörte sie schon, als sie das Treppenhaus betraten und verkroch sich schleunigst wieder im Schlafzimmer unter der Bettdecke. Es war mal wieder Samstagmorgen und natürlich lag Chris auch noch im Bett. Er schlief immer noch ganz fest, so dass Paul sich alle Mühe gab, ihn nicht zu wecken. Die ganze Woche über hatten sie nur wenig Schlaf bekommen, weil Paul früh aufstehen musste und Chris immer wieder an diesen Jungen dachte. Zweimal war Paul nach Hause gekommen und von Chris direkt an der Tür abgefangen worden. „Ich hab ihn wieder gesehen“, hatte er jedes Mal gesagt und Paul verwirrt und ängstlich angesehen. „Das ist doch kein Zufall mehr. Oder werde ich langsam verrückt?“

„Nein wirst du nicht. Manchmal glaubt man nunmal etwas zu sehen, weil man ständig daran denkt. Vergiss den Kerl einfach. Er ist schon längst aus der Stadt verschwunden.“

Paul legte sich wieder neben Chris und beobachtete ihn eine Zeit lang. Seine Euphorie vom letzten Wochenende war leider schon wieder verpufft und die Realität bahnte sich ihren Weg zurück in seine Gedanken. Wann das alles wohl ein Ende haben würde? Konnte es denn ewig so weitergehen? Immer diese Angst entdeckt zu werden, das konnte einen wirklich den Verstand kosten. Aber wie... wie wollte Chris da rauskommen, ohne den Drahtzieher anzuzeigen? Wie wollte er jemals ein normales Leben führen, wenn dieser Kerl jederzeit auftauchen könnte?

Vielleicht sollte ich doch zur Polizei gehen und mich nach deren Methoden für solche Fälle erkundigen?, dachte Paul. Vielleicht... Zack! Wie aus dem Nichts war Chris` Arm in Pauls Gesicht gelandet. Genauer gesagt auf seiner Nase. Paul unterdrückte einen Schmerzensschrei, aber Chris wachte trotzdem auf. Benommen und mit noch halb geschlossenen Augen drehte er sich zu Paul um und prustete augenblicklich los.

„Oh Gott, Paul, das tut mir Leid!“, kicherte er.

„Ja, sicher! Das klingt nur nicht besonders aufrichtig, wenn du dich dabei fast totlachst.“

„Entschuldige. Soll ich ein Kühlpack holen?“

„Nee, geht schon. Scheiße! Ich dachte du schläfst tief und fest.“

„Hab ich ja auch.“

„Wie kann man im Schlaf nur so um sich fuchteln?!“

„Weiß nicht. Das passiert halt einfach so.“

„Super“, grummelte Paul und tippte vorsichtig an seine Nasenspitze. „Übrigens... Tom und Jane sind gerade zurückgekommen.“

„Schade. Schluss mit der schönen Zweisamkeit.“

„Ja, und mit der Ruhe.“

„Dann bleiben wir einfach den ganzen Tag hier.“

„Vergiss es!“, schnaufte Paul. „Die werden mit Sicherheit in den nächsten paar Minuten hier reinschneien.“

„Dann verstecken wir uns eben unter der Bettdecke“, quietschte Chris, drückte Paul auf die Matratze und warf besagte Decke über sie.

„Tolle Idee“, sagte Paul sarkastisch.

„Psch“, machte Chris dagegen nur und verschloss Pauls Lippen mit seinen eigenen. Eine Hand wanderte über seinen nackten Oberkörper, während die andere immer noch den weißen Stoff festhielt, der die beiden bedeckte.

„Du weißt schon, dass wir jeden Moment gestört werden könnten?“, fragte Paul grinsend.

„Aber sicher doch“, entgegnete Chris und zog sich nun auch sein T-Shirt aus.

„Dann ist ja gut“, sagte Paul und zog Chris wieder an sich heran. Sie wälzten sich eine Weile auf dem großen Bett hin und her, küssten sich wieder und wieder und konnten den Körper des Anderen nicht oft genug berühren. Das Sonnenlicht durchleuchtete den dünnen Stoff, sodass von außen nur die dunklen Umrisse zu erkennen waren. Gerade als Chris` Finger den Bund von Pauls Boxershorts erreicht hatten, flog, wie vorhergesagt, die Zimmertür auf und Tom kam lauthals lachend hereingeplatzt.

„Ich... Oh, stör ich euch vielleicht gerade bei irgendetwas?“

„Ja!“, kam es monoton unter der Decke hervor, bevor sie von Paul zur Seite geschoben wurde.

„Na ja, jetzt ist es ja eh schon zu spät, also... wir sind wieder da!“

„Ach, was du nicht sagst“, stöhnte Paul genervt und sagte zu Chris gewandt: „Hab ich´s dir nicht gesagt?“

„Was hast du ihm gesagt?“

„Dass du in ein paar Minuten hier reinplatzen wirst. Und ich hatte recht.“

„Was fangt ihr denn dann mit dem Gepimper an, obwohl ihr es wusstet?“ Kopfschüttelnd verließ Tom das Zimmer, um einen Augenblick später wieder reinzukommen.

„Ach ja... kennt ihr den Typ, der da unten in der Eingangshalle steht? Der kommt mir irgendwie merkwürdig vor.“

„Was denn für ein Typ? Ich hab da noch nie jemanden stehen sehen“, sagte Paul und wandte sich abrupt zu Chris um. Beide sahen sich schweigend an und wussten doch, dass sie das Selbe dachten: Gespenster.

Augenblicklich sprangen sie auf, hechteten an Tom vorbei und stürmten aus der Wohnung. Die Treppen überflogen sie geradezu, um möglichst schnell unten anzukommen und sich ein eigenes Bild von dem zu machen, was Tom erzählt hatte. Mit klopfendem Herzen jagten sie auf den Ausgang zu, aber dort war niemand. Der Hausflur war so leer wie immer. Und was jetzt? Sollten sie enttäuscht oder froh sein, dass sie niemanden vorgefunden hatten?

Geknickt schlichen sie wieder in die Wohnung und gingen zurück ins Schlafzimmer, in dessen Tür immer noch Tom stand.

„So was hab ich auch noch nie gesehen“, sagte er mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, als ob er von einem Blitz getroffen wurde. „Kaum erzählt man etwas von einem Kerl, stürmt ihr auch schon aus der Wohnung. Seid ihr euch denn gegenseitig noch nicht genug?“

„Halt die Klappe!“, raunte Paul ihn an.

„Schon gut, ich geh ja schon.“ Er warf beiden einen ärgerlichen Blick zu und verließ das Zimmer. Von dem Wiedersehen hatte er sich offensichtlich mehr erhofft.

„So geht das nicht weiter!“, sagte Paul entschieden und sah Chris besorgt an. „Die ständige Ungewissheit macht dich noch kaputt... und mich auch.“

Er lief im Zimmer auf und ab und wartete scheinbar auf eine Reaktion von Chris. Der saß auf der Kante des Bettes und hielt den Kopf gesenkt. Er wusste genauso wenig wie Paul, was sie tun sollten, damit sie endlich ein normales Leben führen konnten. War es denn wirklich der Junge aus der Bar, den er immer wieder zu sehen glaubte? Aber wieso sollte er sich noch hier rumtreiben? Wenn er auch nur ein bisschen Verstand hatte, wäre er so schnell wie möglich aus der Stadt verschwunden, wie er es ja schließlich auch vor gehabt hatte. Oder... oder war er Arnie wieder in die Arme gelaufen und konnte nicht fliehen? War das möglich?

„Was ist denn?“, fragte Paul auf einmal und riss Chris aus seinen Gedanken. „Irgendwie siehst du nicht gut aus.“

„Ich hab gerade gedacht... meinst du es war wirklich der Junge?“

„Warum sollte der noch hier sein? Du hast doch gesagt, dass er sofort verschwinden wollte.“

„Und was, wenn sie ihn wieder eingefangen haben?“

„Dann würde er mit Sicherheit nicht draußen rumlaufen, oder? Das Risiko würden die doch nicht eingehen. Er könnte immerhin gleich wieder abhauen.“

Das war auch wieder wahr. Aber warum bildete Chris sich dann ständig ein, ihn irgendwo zu sehen? Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder es war wirklich dieser Junge oder Chris verlor langsam den Verstand. Beides wäre nicht sonderlich gut.

„Was machen wir denn jetzt?“

„Keine Ahnung. Ich kann ja schlecht beurteilen, ob du dich irrst oder nicht. Ich kenne diesen Jungen nicht. Und selbst wenn er es wäre, was würde das für einen Unterschied machen? Ob er nun in der Stadt rumstreift oder nicht, was betrifft uns das? Ich kann verstehen, dass du dir Sorgen um ihn machst, aber mit uns hat das doch nicht direkt etwas zu tun.“

„Es ist mir eben nicht egal, wenn jemand da festgehalten wird“, sagte Chris etwas giftig. „Du hast ja keine Ahnung!“

„Ich sag doch gar nicht, dass es mir egal ist. Das ist es nämlich nicht. Ich meine nur, dass du dich da zu sehr reinsteigerst. Du hast dich entschieden das alles hinter dir zu lassen, dann tu es jetzt auch oder unternimm endlich was gegen diese Typen!“

„Das ist nicht so einfach wie du dir das vorstellst, das hab ich dir doch schon gesagt!“

„Ja, das hast du, aber dann nörgel hier auch nicht so rum! Tu etwas, oder lass es sein, aber entscheide dich endlich mal für eine Variante!“

„Sag mal, bist du so blöd oder tust du nur so?! Wenn du auch nur im Entferntesten wissen würdest, was da so abgeht, würdest du ganz anders reden. Dann wüsstest du auch, was ich meine, wenn ich dir zum tausendsten Mal sage, dass das alles...“

„... nicht so einfach ist. Ich weiß!“

„Ach, jetzt auf einmal?“, fragte Chris und schnaufte verächtlich.

„Ja, stell dir vor. Aber das ist doch alles nur eine Ausrede. Dieses ganze ‚Ich bin noch nicht volljährig‘ und ‚Ich mach das nur, um dich zu beschützen‘ ist doch total schwachsinnig! Warte meinetwegen, bis du achtzehn bist und zeig die Kerle dann an, aber lass mich aus deinen Entschuldigungen raus! Ich kann schon auf mich aufpassen!“

Chris war eine Weile still, dann begann er leise, ohne das kleinste Anzeichen von Wut in seiner Stimme, zu sprechen.

„Glaub, was du willst, Paul. Aber es ist alles genauso, wie ich es dir gesagt habe. Vielleicht wäre ich schon längst zur Polizei gegangen, wenn ich dich nicht getroffen hätte. Dreh es dir ruhig so hin, wie du es gerne hättest. Ich weiß, was wahr ist.“

Chris sah Paul nur kurz an, doch in seinem Blick lag so viel Schmerz und Enttäuschung, dass Paul sofort bereute, was er alles gesagt hatte. Er stand da und starrte Chris an, während sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen und verzweifelt nach den passenden Worten suchten, um das drückende Schweigen zu durchbrechen. Er suchte und suchte, denn ein einfaches ‚Es tut mir leid‘ schien ihm nicht ausreichend zu sein.

„Es tut mir leid“, kam es schließlich von Chris und Paul zuckte unweigerlich zusammen. Warum entschuldigte er sich denn jetzt? Wofür?

„Ich wollte dich da nicht mit reinziehen, aber ich war zu egoistisch. Ich wollte dich und alles andere war mir egal.“

„Nein, ich muss mich bei dir entschuldigen“, sagte Paul endlich. „Ich hätte das alles nicht sagen dürfen.“

Chris nickte nur und stützte seinen Kopf auf seine Hände.

„Warum glaubst du mir nicht?“

„Es tut mir leid, Chris. Das hört sich für mich alles so merkwürdig an. Ich will dir ja glauben…“

„Ich weiß.“, sagte er und streckte eine Hand nach Paul aus. Der ging auf ihn zu und drückte ihn sofort an sich. Chris begann leise zu schluchzen und Paul machte sich noch größere Vorwürfe. Ich habe ihn zum Weinen gebracht, dachte er. Schon wieder.

Bis Chris sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, war kein einziges Wort gefallen. Paul hatte Angst schon wieder etwas Falsches zu sagen, also ließ er es lieber ganz sein.

„Was ist nur mit mir los“, sagte Chris, weniger als Frage, sondern eher als Feststellung und Paul musste wieder schlucken. Er wollte so was nicht hören.

„Irgendwie ziehe ich immer alles Schlechte an und weiß dann nicht mehr weiter.“

Was sollte man darauf antworten?, fragte sich Paul. Was sagt oder tut man in so einer Situation?

„Sag so was nicht. Wir finden schon eine Lösung, obwohl ich dir da wohl auch keine große Hilfe bin.“

„Doch, das bist du. Ohne dich wäre ich immernoch da.“

„Wie meinst du das?“

„Ich bin doch nur abgehauen, weil ich bei dir sein wollte.“

„Was?“ Das war ihm jetzt auch neu. Er schob Chris ein Stück von sich, um ihm in die Augen sehen zu können.

„Ja. Ich dachte du wüsstest das. Deshalb hab ich doch solche Angst um dich. Wenn die rausfinden, warum ich abgehauen bin...“

„Das ist echt... das wusste ich nicht.“, sagte Paul total zerstreut.

„Und ich dachte, das wär so offensichtlich gewesen.“

„Für mich nicht.“

„Na ja, jetzt weißt du es“, kicherte Chris. „Ach, komm schon“, fügte er noch hinzu, als Paul immer noch völlig weggetreten aussah.

„Du bist meinetwegen abgehauen?“, fragte er.

„Ja. Als ich dich das erste Mal gesehen habe, war ich total fasziniert von deinem grimmigen Gesichtsausdruck und bin dir zu deiner Wohnung gefolgt. Und danach bin ich so oft es ging zu dir gegangen.“

„Dann hatte ich ja doch recht, dass du mir hinterher geschlichen bist.“

„Ja, irgendwie schon“, sagte Chris grinsend.

„Das wusste ich nicht.“

„Wie schön, dass es jetzt angekommen ist. Aber du hast ja auch irgendwie recht. Ich muss mich wirklich entscheiden, was ich unternehmen will.“

Paul nickte nur und ließ Chris weiterreden.

„Vielleicht sollte ich doch zur Polizei gehen.“

„Und dann? Dann finden die raus, dass du noch gar nicht volljährig bist und nehmen dich mir weg.“

„Ähm, na ja... also... das... das ist so nicht ganz richtig“, stotterte Chris und wurde leicht rot im Gesicht.

„Was ist denn jetzt schon wieder? Bist du jetzt doch schon achtzehn?“

„Nein, aber morgen.“

Paul fiel aus allen Wolken. „Und wann wolltest du mir das sagen? Das ist doch toll!“

„Übermorgen?“, sagte Chris und grinste verlegen. „Ich mag Geburtstage nicht besonders. Ist doch nichts dabei, wenn man ein Jahr älter wird.“

„Oh man, du bist echt manchmal ein bisschen schwachsinnig, weißt du das?“

„Gar nicht wahr.“

„Oh doch. Aber na ja... das wollen wir dir noch mal durchgehen lassen. Ich hab´s ja noch rechtzeitig rausgefunden. Also gehen wir morgen zur Polizei?“

Chris schluckte kurz, gab dann aber doch seine Zustimmung, indem er nickte.

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