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Manu und ich

Teil 6

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Zuhause angekommen gehe ich sofort ins Bett. Nicht, dass ich besonders müde wäre, aber ich möchte jetzt einfach allein sein und nicht mit meinen Eltern vorm Fernseher sitzen oder mich sogar mit ihnen unterhalten müssen.

Drei Jahre ist es her, dass Kais Cousin gestorben ist? Und er hat es immer noch nicht verkraftet? Ich frage mich, was da los war. Die beiden müssen sich wirklich sehr gut verstanden haben, sonst hätte Kai nicht so reagiert. Und was war das für ein Unfall?

Es kommt doch immer wieder was Neues dazu. Und wieder hat Kai versucht es vor mir zu verstecken, anstatt darüber zu reden. Mir geistert für einen Moment die Idee im Kopf herum, Tim zu fragen, aber das wollte ich mir ja abgewöhnen. Ich kann nicht immer zu Kais Freunden rennen, wenn er mir etwas verschweigt. Das ist nicht richtig und Vertrauen baue ich damit auch nicht gerade auf. Sein Vertrauen zu gewinnen wird ohnehin schon schwierig genug.

Ich ziehe mir die Decke bis zu den Ohren und schließe die Augen. Sie geschlossen zu halten, verlangt dann schon mehr Anstrengung. Ich kann jetzt einfach noch nicht schlafen.

Der Computer brummt leise, als ich ihn einschalte. Im Internet gebe ich die Begriffe "tödlicher Unfall", "Junge" und die Jahreszahl 2006 ein. Eigentlich rechne ich nicht damit, etwas zu finden, weil ich dafür zu wenig Informationen habe, aber ich muss es einfach versuchen.

Die Suchmaschine spuckt circa 200 Ergebnisse aus, ich stöhne kurz und mache mich dann ans Lesen. Die ersten 22 Artikel schließe ich aufgrund verschiedener Unstimmigkeiten sofort wieder, aber der nächste ist schon vielversprechender. Ein Junge, so heißt es, sei vor eine U-Bahn gekommen und dabei tödlich verletzt worden. Er starb im Krankenhaus. Ob es sich dabei um Kais Cousin handelt kann ich nicht sagen. Es steht kein Name dabei, aber den kenne ich ja ohnehin nicht. Der Unfallort ist ein paar hundert Kilometer entfernt von hier, aber das heißt ja auch nichts. Es hätte überall passieren können.

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe – vielleicht, dass ich ein Foto finde – jedenfalls bin ich jetzt nicht schlauer als vorher.

Geknickt schalte ich den Computer wieder aus und lege mich zurück ins Bett. Gerade jetzt wünsche ich mir mehr denn je, dass Kai neben mir liegt und mich im Arm hält. Dann wüsste ich wenigstens wie es ihm geht. Ihn so zurückzulassen hat mir überhaupt nicht gefallen, aber hatte ich eine Wahl? Er hat versucht seine Trauer vor mir zu verbergen, warum auch immer, also hätte ich auch nichts erfahren. Trotzdem wäre es mir lieber bei ihm zu sein.

Was er jetzt wohl gerade macht?

Auf dem Weg zur Schule stolpere ich ungefähr hundert Mal und kann mich immer nur im letzten Moment wieder fangen. Ich bin unendlich müde, weil ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht habe. Wenn Kai so merkwürdig reagiert, dann weiß ich einfach, dass da was im Busch ist. Er würde es mir doch sagen, wenn es nicht so schlimm wäre.

"Hey, Moritz."

"Hallo Anna. Wo ist denn Susi?"

"Krank. Sie sagt sie hat die ganze Nacht gekotzt."

"Oha, dann wird sie wohl ne Weil in der Schule fehlen, oder?"

"Sieht so aus", sagt Anna und grinst dann auf einmal so komisch. "Du und Kai."

"Was 'Ich und Kai'?"

"Hast du ihn also tatsächlich rumgekriegt."

"Ich weiß gar nicht, wovon du redest", sage ich scheinheilig und schaue demonstrativ in die andere Richtung.

"Von wegen. Das war ja nicht zu übersehen."

"Können wir nachher darüber reden, wenn alle dabei sind?"

"Ja, klar. Es gibt also etwas, worüber man reden kann?"

"Mensch Anna, sei nicht so neugierig. Wenn du möchtest können wir ja gerne übers Wetter reden. Das ist auch 'etwas'."

"Schön, dass die Sonne scheint, oder?"

Ich sehe sie sprachlos an und sie wirft sich fast auf den Boden vor lachen.

"Du bist unmöglich", sage ich genervt, kann mir ein Schmunzeln aber auch nicht ganz verkneifen. Was würde ich nur ohne meine neuen Freunde machen?

Zusammen gehen wir das letzte Stück zur Schule und stöhnen beinahe gleichzeitig auf, als wir das Klingeln hören.

"Mir ist gar nicht aufgefallen, dass wir so spät dran sind. Die anderen warten bestimmt schon auf mich. Bis später."

Und dann ist sie auch schon verschwunden. Meine kurzfristig gute Laune nimmt sie mit.

Der Lehrer ist noch nicht da, als ich den Klassenraum betrete. Dafür aber sämtlich Deppen, die eigentlich meine Schulkameraden sein sollten. Sie bewerfen sich gegenseitig mit Papierkügelchen, hören sich die Musik von ihrem Handy an und einige sind sogar so dreist, am Fenster noch schnell eine Zigarette zu rauchen. Wenn das der Lehrer sieht, ist der Schultag heute für die gelaufen und sie dürfen eine extra lange Hausaufgabe machen. Ich wünsche es ihnen schon fast, lasse mir aber nichts anmerken und setze mich unbemerkt auf meinen Platz. Für gewöhnlich werde ich hier in Ruhe gelassen, also krame ich in meiner Tasche nach meinem Schreibblock und öffne ihn auf einer der letzten Seiten. Jetzt wo die Schule wieder angefangen hat, verbrauche ich auf einmal wieder viel mehr Papier.

Gerade will ich versuchen mich an das Letzte zu erinnern, das ich in meiner Geschichte geschrieben habe, da tippt mich jemand an.

"Draußen wartet jemand auf dich", sagt ein Mädchen aus meiner Klasse, das noch nie mit mir geredet hat.

Verdattert stehe ich auf und verlasse das Klassenzimmer wieder. Vor der Tür steht Kai und sieht irgendwie nervös aus. Nicht schon wieder eine seiner komischen Ansagen, denke ich.

"Hey", sage ich. "Ist was passiert? Die Stunde hat doch schon angefangen."

"Nee, ich wollte mich nur entschuldigen, dass ich dich gestern rausgeworfen hab. Und, dass ich mich so… merkwürdig benommen hab."

"Und das konnte nicht bis nachher warten?"

"Anna hat gesagt, dass du so schlecht gelaunt warst und ich wollte nicht, dass du dir… na ja… Sorgen machst, oder so."

"Wieso sollte ich mir Sorgen machen?"

Ich verstehe nicht, was er will. Er anscheinend auch nicht, denn er versucht meinem Blick auszuweichen und starrt immer wieder auf den Boden. Und überhaupt, wie kommt Anna darauf, dass ich schlecht gelaunt war?

"Ich wollte nur nicht, dass du denkst, dass ich dich loswerden wollte. Das war nämlich nicht so. Ich…"

"Kai! Das dachte ich doch gar nicht. Ich hab mir nur Sorgen gemacht, wegen der Sache mit deinem Cousin. Du hast so komisch reagiert."

"Ja, aber… können wir darüber nachher sprechen? Ich muss jetzt zum Unterricht."

"Äh, ja… bis dann."

Er nickt einmal kurz und verschwindet. Wollte er nicht mit mir reden? Wieso würgt er mich dann ab, als ich genau das tun wollte? Da ist doch was faul. Und es muss etwas mit seinem Cousin zu tun haben, sonst würde er nicht immer wieder versuchen, mich davon abzulenken.

Vom Politikunterricht schnappe ich höchstens ein paar Worte auf und das warŽs dann auch schon mit meiner Aufmerksamkeit. Wie soll ich mich denn auch auf unser Grundgesetz konzentrieren, wenn mein Freund mir etwas Wichtiges verheimlicht? Meine Güte. Dabei hatte ich mich schon so auf den Nachmittag im Park gefreut. Ein bisschen Entspannen, mit Kai kuscheln, weil ja niemand da sein wird, vor dem wir uns verstecken müssten und und und… Leider wird daraus wohl nichts werden, denn ich bin fest entschlossen ihn zur Rede zu stellen. Auch mit dem Risiko, dass wir uns danach vielleicht nicht mehr in den Park trauen. Langsam fange ich echt an, an irgendwelche schlechten Omen zu denken. Bei unserem Pech…

"Gehen wir zusammen in den Park?", fragt Kai nach der Schule. In den Pausen hat sich niemand von meinen Freunden auf dem Schulhof blicken lassen, warum auch immer, also sehe ich ihn jetzt zum ersten Mal wieder seit seinem merkwürdigen Auftritt vorhin. Ich traue meinen Augen nicht, denn er grinst von einem Ohr bis zum anderen. Hat er vielleicht einen Zwillingsbruder? Oder eine zweite Persönlichkeit? Mir ist jedenfalls noch nie jemand untergekommen, der seine Laune so schnell wechselt, geschweigedenn seine Ausstrahlung. Ich müsste das eigentlich von ihm gewohnt sein, aber ehrlich gesagt, habe ich es das letzte Mal auf sein Gefühlschaos geschoben.

"Ja, habe ich doch gesagt", sage ich gedehnt und starre ihn ungläubig an.

"Du bist doch nicht sauer auf mich, oder?"

"Nein."

"Und was ist dann?"

"Ich habe mich nur gerade gefragt, ob du zufällig eine zweite Persönlichkeit hast, von der ich bislang nichts wusste."

"Nicht, dass ich wüsste. Hat es einen bestimmten Grund, warum du das vermutet hast?", fragt er amüsiert.

"Na ja, ich finde es schon etwas seltsam, wie schnell du deine Laune wechselst. Vorhin warst du irgendwie nicht du selbst und jetzt strahlst du wieder wie sonst was."

"Ach, ich bin nur ein Morgenmuffel und wie gesagt: ich hatte Angst, dass du das gestern Abend falsch verstanden hast."

Das hat er sich ja prima zurecht gelegt. Hat wahrscheinlich den ganzen Schultag gedauert bis er diese Ausrede parat hatte.

"Hm", mache ich nur und schlendere weiter neben ihm her. Er redet über den langweiligen Unterricht, und dass ich mich vor einem bestimmten Lehrer in der Oberstufe in Acht nehmen solle. Genaugenommen ist er wieder ganz der Alte und das kotzt mich an. Ich habe keine Lust mehr auf dieses Hin und Her. Er soll bitte ordentlich mit mir reden oder er kann es sich gleich ganz sparen. Nur wie sage ich ihm das? Ich bin ja auch froh, dass er überhaupt mit mir zusammensein will. Kann ich das aufs Spiel setzen?

Wir sind die ersten im Park. Wer weiß wo sich die anderen alle noch rumtreiben. Kai setzt sich auf die Wiese und ich mich neben ihn. Er sieht glücklich aus, seine Augen strahlen irgendwie. Ob er auch wirklich so glücklich ist wie er aussieht? Ich könnte mich und ihn köpfen, weil ich daran zweifeln muss.

Auf einmal legt sich seine Hand auf meine, also sehe ich ihn an. Sein Blick ist allerdings nachdenklich auf den See gerichtet.

"Du bist doch sauer auf mich", stellt er fest.

"Na ja, ich weiß auch nicht… mich verwirrt es wie du dich verhältst."

Jetzt sieht er mich an. "Wie verhalte ich mich denn?"

"Hältst du mich für blöd? Ich hab sehr wohl gemerkt, dass seit gestern Abend etwas nicht stimmt. Genauer gesagt seit ich dich auf das Foto angesprochen habe."

"Das bildest du dir nur ein."

Ich seufze. "Das hatten wir doch schon mal und bei mir kommst du damit nicht durch. Du bist nicht so undurchschaubar wie du immer denkst."

"Es ist nichts."

"Dann hättest du dich gestern nicht so komisch benommen. Ich kann dich nicht zwingen mir alles zu erzählen, aber deine Stimmungsschwankungen gehen mir schon ziemlich auf den Geist. Du kannst nicht immer alles in dich reinfressen und dann so tun als wäre nichts gewesen. Da mache ich nämlich nicht mit."

Sein Blick wandert zu unseren Händen. Mir kommt sofort der Gedanke, dass er seine zurückziehen und gehen will. Wäre nicht das erste Mal, dass er mich ohne eine Antwort sitzen lässt. Er bleibt allerdings, bewegt sich keinen Zentimeter. Seine Finger streichen über meinen Handrücken, dass ich Gänsehaut bekomme und mich frage, ob ich so noch ernst bleiben kann. Wenn er doch nur etwas sagen würde. Die Situation ist mir unangenehm, weil ich nicht weiß, was auf mich zukommt. Dann holt er einmal tief Luft und sieht mir wieder in die Augen.

"Mein Cousin war ein Jahr älter als ich und immer mein bester Freund. Als er diesen Unfall hatte, konnte ich mir nicht vorstellen wie mein Leben ohne ihn weitergehen sollte und hab versucht mich irgendwie abzulenken. Ich wollte nicht an ihn denken, also hab ich… immer sehr viele Menschen um mich herum gehabt. Ich hatte viele Freunde und… na ja… auch viel Sex. Seit ich dich kenne, ist das irgendwie durcheinander gekommen. Ich denke wieder öfter an ihn und kann mir nicht erklären warum. Als du gestern nach dem Foto gefragt hast, war das irgendwie zu viel für mich. Mit dir über ihn zu sprechen, ist viel anstrengender als mit irgendjemandem sonst."

Für mich hört sich das so an als wäre Kai in seinen Cousin verliebt gewesen, aber vielleicht hab ich da auch nur was falsch verstanden. Jedenfalls erklärt das sein Verhalten und ich bin froh, dass er mir davon erzähl hat.

"Es tut mir leid, wenn das bei dir falsch angekommen ist. Du kannst ja gar nichts dafür, dass ich dich mit ihm in Verbindung bringe."

"Du doch auch nicht. Danke, dass du es mir trotzdem erzählt hast."

Er lächelt ein bisschen schüchtern. "Hältst du mich jetzt für verrückt?"

"Nein, überhaupt nicht. Wahrscheinlich musste das irgendwann wieder an die Oberfläche kommen."

Wir schweigen eine Weile. Währenddessen wandern seine Fingerspitzen wieder über meine Hand und seine Augen suchen den Park ab. Als er mich wieder ansieht, weiß ich sofort an was er denkt. Wir grinsen und lehnen uns gleichzeitig ein Stück vor bis sich unsere Lippen berühren. Es ist kein besonders langer oder aufregender Kuss, aber sehr intensiv. Das erste Mal können wir in diesem Park zusammensein, ohne dass irgendetwas zwischen uns steht. Eine sehr verlockende Aussicht, aber bevor wir zu sehr versinken, hören wir ein lautes Kreischen. Erschrocken drehen wir uns um und sehen unsere Freunde auf uns zu kommen. Anna läuft vorweg und ist scheinbar vollkommen aus dem Häuschen.

"Oh mein Gott, oh mein Gott!", quietscht sie und strahlt wie ein kleines Kind an Weihnachten. "So was Süßes hab ich ja noch nie gesehen."

"Krieg dich wieder ein", versucht Tim sie zu beruhigen. "Als ob du noch nie zwei verliebte Jungs gesehen hast."

"Genau", schaltet Lippe sich ein. "Tim und ich sind ja wohl mindestens genauso süß."

"Nein, seid ihr nicht. Oder wart es vielleicht mal. Das hier ist einfach unbeschreiblich, weil sich das niemand vorstellen konnte."

"Na toll", schmollt Lippe.

"Macht doch nicht so einen Wirbel darum", sage ich beschämt. Kai sieht mich dankbar an.

Tim mustert uns neugierig. "Seit wann geht das denn jetzt schon? Am Montag war doch noch Funkstille."

"Ja, in der Schule. Sagen wir einfach, wir haben uns danach noch mal gesehen."

"MachŽs doch nicht so spannend", fordert Anna, aber ich schüttle nur den Kopf.

"Der Rest geht euch überhaupt nichts an."

"Allerdings", stimmt Kai mir zu und lächelt zufrieden. So schwer scheint es für ihn doch nicht gewesen zu sein. Die anderen gucken jetzt zwar ein bisschen enttäuscht, aber mehr müssen sie wirklich nicht wissen, finde ich.

Irgendjemand aus der Gruppe hat einen CD-Spieler mitgebracht und auf einmal höre ich genau die Musik, die ich am ersten Tag meiner Ferien in der Fußgängerzone gehört habe. Schon komisch. Mit der Musik hat alles angefangen und jetzt sitze ich hier zusammen mit Kai und meinen anderen, neuen Freunden im Park. Es kommt mir vor als wäre diese erste Begegnung bereits eine Ewigkeit her. So viel ist seit dem passiert und ich fühle mich mindestens zwei Jahre älter. Damals war ich noch so ein richtig schüchterner, einsamer Junge und heute sitze ich hier in den Armen meines Freundes und bin zum ersten Mal richtig glücklich.

Ich lehne mich mit dem Rücken an Kais Oberkörper und lege meinen Kopf an seine Schulter. Seine Hände liegen auf meinem Bauch und sein Mund berührt meinen Hals.

"Kannst du dich noch an unsere erste Begegnung erinnern?", frage ich.

"Natürlich. So wie du mich angesehen hast, hätte ich mir eigentlich denken können, dass ich da nicht so einfach wieder raus komme."

"Was soll das denn heißen? Wie hab ich dich angesehen?"

"Weiß auch nicht. Irgendwie so… verträumt. Nur ist mir das erst ein bisschen später bewusst geworden."

"Tim hat mir kurz vorher gesagt, dass ich mich besser nicht in dich verlieben soll und ich war total entsetzt, weil das doch schließlich nicht so einfach geht. Aber dann hast du mit mir geredet und ich wusste, was er meinte."

"Du hattest dich da schon in mich verliebt?", kichert er.

"Ja, irgendwie schon."

"Und deswegen hast du mich im Park auch zurückgeküsst?"

"Ja, ich war total überrascht, aber du hattest ja was ganz anderes vor", sage ich beleidigt.

"Was sollte ich denn machen? Du sahst so niedlich aus beim Schlafen."

"Ach, und deswegen musstest du gleich über mich herfallen?"

"Ja, musste ich."

"Und warum musst du es dann jetzt nicht?" Darauf wollte ich eigentlich nicht hinaus, aber wenn wir schon mal bei dem Thema sind…

"Das hab ich dir doch schon gesagt. Weil es mir jetzt nicht mehr nur darum geht. Oder möchtest du das vielleicht?"

"Nein", gebe ich zerknirscht zu.

"Ich auch nicht", sagt er und küsst mich auf die Wange.

Kurz danach kommt Anna zu uns und versucht noch mehr Informationen aus uns rauszukitzeln, aber wir bleiben stur. Irgendwann klinke ich mich einfach aus und schließe die Augen. So gemütlich wie Kai ist keine Matratze und die Luft ist hier auch viel besser als in irgendeinem beliebigen Zimmer. Herrlich! So könnte ich ewig sitzen bleiben.

Nach einer Weile merke ich wie mir jemand durch die Haare streicht und muss grinsen.

"Willst du es unbedingt drauf anlegen?", flüstert Kai mir ins Ohr.

"Ich weiß nicht wovon du redest."

"Nein, natürlich nicht."

"Nein. Außerdem hab ich nicht geschlafen."

Er lacht nur und schlingt seine Arme noch fester um mich.

Etwa eine Stunde später verlassen wir den Park und verabschieden uns von den anderen. Anna ist schon etwas früher gegangen, weil sie Susi noch besuchen wollte, aber das kam Kai und mir gerade recht. Lippe wird heute Nacht bei Tim bleiben, also gehen sie zusammen. Kai und ich schlendern noch eine Weile nebeneinander her bis wir an der Kreuzung ankommen sind, an der wir in verschiedene Richtungen weitergehen müssen. Keiner von uns weiß so richtig, was er sagen soll. Ich würde am liebsten auch mit zu Kai gehen, habe aber einerseits keine Lust es meinen Eltern zu erklären und andererseits wüsste ich nicht wie ich mich Kai gegenüber verhalten sollte. Es wird wahrscheinlich noch ein wenig Zeit brauchen bis wir bei dem Anderen übernachten können.

"Wir sehen uns morgen in der Schule", sagt Kai.

"Ja." Ich lächle ihm noch einmal zu und drehe mich dann um. Ich höre wie sich Kais Schritte entfernen und fühle mich gleich wieder ein ganzes Stück unwohler. Irgendetwas ist da noch, was mich stört, aber ich kann beim besten Willen nicht sagen, was es ist. Wahrscheinlich spinne ich jetzt total. Kai will mit mir zusammensein, er hat mir von seinem Cousin erzählt und unsere Freunde wissen jetzt auch Bescheid. Was soll es da noch geben, dass ich nicht zufrieden bin?

Ich beschließe nicht weiter darüber nachzudenken und schnappe mir zuhause erst mal meinen Schreibblock. In der Schule bin ich ja nicht dazu gekommen etwas zu schreiben, also hole ich das jetzt nach.

So ausgeschlafen wie heute Morgen war ich schon lange nicht mehr. Die letzte Woche war einfach nur für die Tonne. Früh aufstehen und mit Benni streiten, sind zwei Sachen, die mich absolut fertig machen. Und dann auch noch beides zusammen! Nein, danke!

Benni liegt mit dem Rücken zu mir und schläft scheinbar noch. Ich blinzle kurz aus dem Fenster und schmiege mich dann an ihn. Seine Haare hängen verstrubbelt in sein Gesicht und sein Mund ist leicht geöffnet. Ich streiche mit den Fingern über seine Schulter, aber er rührt sich nicht. Vielleicht war die Woche nicht nur für mich so anstrengend.

Ich lasse ihn schlafen und schleiche mich leise aus dem Schlafzimmer. In der Küche setze ich erst mal Kaffee auf und stelle ein paar Sachen fürs Frühstück auf den Tisch. Ein Glück war Benni gestern noch einkaufen, sonst hätte ich heute auf meine Lieblingsschokocreme verzichten müssen. Sogar in der Situation hat er noch an mich gedacht. Wenn das nicht Beweis genug ist…

Als der Kaffee endlich fertig ist, stürze ich mich fast darauf. Ein Frühstück ist bei mir immer dann perfekt, wenn ich ausschlafen konnte, noch im Bademantel bin, eine Tasse Kaffee vor mir habe, frische Brötchen und…

"Guten Morgen", gähnt Benni und schmatzt mir einen Kuss auf die Wange.

"Guten Morgen."

…ja und natürlich wenn mein Freund dabei ist und noch ganz zerzaust aussieht. Dann kann der Tag doch nur gut werden.

"Du siehst so fröhlich aus", bemerkt Benni. "Hat das einen bestimmten Grund?"

"Ich hab nur gerade gedacht, dass heute bestimmt ein ganz toller Tag wird."

"Wochenende ist schon was Schönes, ja. Hast du irgendwas vor?"

"Nee, das ist ja das Tolle. Wir können einfach nur hier rumhängen und nichts tun."

"Musst du nichts für die Redaktion machen? Ich dachte du schreibst wieder irgendwas."

"Ja, schon", sage ich. "Aber das hat noch Zeit."

"Was ist es denn dieses Mal?"

"Ich soll was über die neue Sporthalle schreiben, die in ein paar Wochen eröffnet. Nichts Besonderes."

"Da würde ich auch gerne mal hingehen. Ich habe ewig kein Sport mehr gemacht und du auch nicht. Wir können ja zusammen gehen, das macht sowieso mehr Spaß."

War ja klar, dass er sich dafür begeistern lässt. Mich wundert es ohnehin, dass er es solange ausgehalten hat ohne sein Fitnessprogramm.

"Ich weiß nicht. Meinetwegen können wir Squash spielen, aber dieser Fitness-Kram ist nichts für mich."

"Spielverderber", sagt er beleidigt und streckt mir die Zunge raus.

"Ph", mache ich nur und versuche mit aller Kraft ein Lachen zu unterdrücken.

Den ganzen Vormittag über zieht mich Benni mit meiner guten Laune auf. Immer wenn ich ihn ansehe, grinst er übertrieben oder schneidet irgendeine andere Grimasse. Leider bin ich kein so guter Werfer, so dass die Kissen, die ich nach ihm werfe immer ihr Ziel verfehlen. Das findet er dann wiederum enorm lustig und schmeißt sich fast weg vor lachen.

"Daneben", gackert er und weicht der nächsten Attacke aus.

Irgendwann habe ich keine Geduld mehr und werfe mich selber auf ihn. Das klappt! Ich halte seine Hände fest und hole erst mal tief Luft.

"So", schnaufe ich. "Aus und vorbei."

Er grinst immer noch.

"Du bist unmöglich." Ich lege mich neben ihn auf den Boden und fächere mir mit den Händen Luft zu.

"Aber es war echt lustig."

"Ja ja."

Dann klingelt es auf einmal an der Tür. Ich stehe widerwillig auf und sehe nach, wer ausgerechnet heute etwas von uns will.

"Martin?", frage ich erstaunt als ich den Jungen erkenne.

"Hey. Störe ich gerade?" Er sieht mich schmunzelnd an. Wahrscheinlich sind ihm meine roten Wangen aufgefallen.

"Nein. Komm rein."

Benni steht schnell auf, als Martin das Wohnzimmer betritt. Ich stelle sie einander vor und biete Martin etwas zu Trinken an.

"Wie gehtŽs dir?", frage ich.

"Viel besser, aber die Rippen brauchen noch ein bisschen Ruhe. Morgen soll ich zur Kontrolle noch mal ins Krankenhaus und irgendwann kann ich dann vielleicht auch endlich mal wieder in die Schule gehen. Eigentlich kann ich es mir gar nicht leisten so viel zu verpassen."

"Wirst du denn trotzdem fürs Abitur zugelassen?"

"Ja, ich denke schon. Die Vorabitur-Prüfungen muss ich natürlich noch nachholen und dann wird es sich schon zeigen, ob ich nicht zu viel verpasst habe", sagt er seufzend.

"Habt ihr noch mal was von dem Kerl gehört, dem du das alles zu verdanken hast?", fragt Benni.

"Nein, aber nächste Woche ist die Verhandlung. Da werde ich ihn wohl wiedersehen."

"Schade, dass dein Freund ihm nur die Nase gebrochen hat. Wenn er Manu angegriffen hätte, wäre er nicht so gut davon gekommen."

"Es würde mir aber reichlich wenig helfen, wenn du dann auch noch angezeigt wirst", sage ich und gebe Benni einen Klaps auf die Stirn.

"Mein Freund wollte ihn auch eigentlich gar nicht loslassen, aber unsere Freunde haben das verhindert. Jetzt ist es wohl glücklicherweise nur Notwehr."

"Trotzdem", sagt Benni und nimmt meine Hand in seine.

"Eigentlich wollte ich dir auch nur sagen, dass ich den Artikel super finde, Manu. Deswegen bin ich hergekommen."

"Danke. Ich hatte schon befürchtet, dass ich tausend Sachen ändern muss, aber meinem Chef hat er genauso gefallen wie ich ihn geschrieben habe."

"War das dein erster Zeitungsartikel?", fragt Martin verblüfft.

"Ja, irgendwann ist immer das erste Mal."

"Du hättest ihn mal sehen sollen, als er am nächsten Morgen die Zeitung durchgewühlt hat", lacht Benni. Ich sehe ihn böse an, aber ohne Erfolg. Wenigstens bekomme ich einen kurzen Versöhnungskuss, nachdem er genug gelacht hat.

Martin bleibt noch eine Weile und wir tauschen uns ein bisschen aus. Benni und er verstehen sich wirklich prima. Dann schaut er auf die Uhr und sagt, dass er noch mit seinem Freund verabredet ist.

"Melde dich doch mal wieder", sage ich als er schon vor der Tür steht.

"Mache ich. Spätestens nach der Verhandlung."

"Genau, bis dann."

Er dreht sich um und wir schließen die Tür.

"Bin ich froh, dass uns das nicht passiert ist", sagt Benni.

"Und ich erst."

Ups, es ist schon nach zwölf. Vielleicht sollte ich langsam mal ans Schlafen denken. Morgen ist immerhin Schule und ich muss früh aufstehen.

Meine Augen wollen auch nicht mehr so richtig. Ich muss ein paar Mal blinzeln bis ich wieder alles scharf stellen kann. So spät zu lesen oder zu schreiben, hat mir noch besonders gut getan, aber was sollŽs. Morgen früh ist wieder alles normal.

So ist es dann auch. Natürlich klingelt der Wecker viel zu früh, aber das ist schließlich etwas, womit man sich abfinden muss. Ich wünsche mir schon fast krank zu sein, so wie Susi. Leider scheine ich aber ein äußerst starkes Immunsystem zu haben und wenn ich es mir genauer überlege, könnte ich das Pflegeprogramm meiner Mutter wahrscheinlich noch schlechter aushalten als die endlosen Schulstunden. In der Schule sehe ich wenigstens Kai. Das muss als Grund zum Aufstehen genügen. Nur noch heute und morgen, dann ist auch schon wieder Wochenende.

"Hallo", begrüßt mich Kai strahlend. Mein Herz macht sofort einen riesigen Hüpfer.

"Hey, wie gehtŽs?"

"Alles bestens. Mal abgesehen von der Tatsache, dass wir noch den ganzen Schultag vor uns haben."

"Das hab ich heute morgen schon gedacht, als ich aufgestanden bin."

"Lieber nicht zu viel drüber nachdenken", sagt er resignierend.

Zusammen betreten wir das Schulgebäude und steigen die Treppen zu unseren Klassenzimmern nach oben. Rolltreppen in Schulen sind echt eine Marktlücke. Unterwegs treffen wir Anna, die ein Handy am Ohr hat und uns deswegen nur kurz zuwinkt. Von den anderen ist weit und breit nichts zu sehen.

"Ich muss hier lang", sagt Kai und zeigt in den rechten Flur.

"Tja, und ich hier." Meine Hand deutet nach links. "Sehen wir uns in der Pause?"

"Ja. Unten?"

"Hm-hm."

Und dann ist er auch schon wieder weg. In den Pausen haben wir nicht viel mehr Zeit füreinander und nach der Schule können wir ebenfalls nur ein kleines Stück gemeinsam gehen. An der ersten Kreuzung trennen sich unsere Wege schon wieder.

Genauso läuft es auch am nächsten Tag. Mit der einzigen Ausnahme, dass ich noch viel müder bin.

Nach Schulschluss wartet Kai am Ausgang auf mich und zaubert wie immer ein kleines Lächeln auf mein Gesicht. Sein Grinsen ist allerdings viel breiter.

"Kommst du mit zu mir? Morgen ist doch Wochenende, da können deine Eltern nicht meckern."

"Ich kannŽs ja mal versuchen", sage ich und krame ungeduldig in der Tasche nach meinem Handy.

"Hallo, hier ist Moritz. Ich wollte fragen, ob ich noch mit zu Kai gehen kann? … nein, ich muss heute nichts mehr erledigen … das kann ich dann immer noch machen … ja … mach ich … danke. Tschüß."

"Das ging ja schnell", staunt Kai.

"Ich glaube, du stehst bei ihr auf irgendeinem Podest. Weiß der Teufel warum."

"Umso besser."

"Ich will mich ja auch gar nicht beschweren. Ich musste ihr aber trotzdem versprechen, dass es nicht so spät wird."

"Kein Problem, wir haben ja genug Zeit."

Es kann nie genug sein, denke ich, freue mich aber erst mal darüber überhaupt Zeit mit Kai verbringen zu können. Ich weiß schon genau wie es mir gehen wird, wenn ich wieder nach Hause muss.

Als wir vor seiner Haustür ankommen, sieht Kai sich wieder um und nimmt dann meine Hand in seine. Genau wie beim letzten Mal.

"Oh, mein Vater ist schon da. Normalerweise kommt er immer viel später von der Arbeit zurück."

"Hm", sage ich nur und verkrampfe mich sofort. Schon wieder dieses peinliche Vorstellspielchen.

"Bist du etwa schon wieder nervös. Mein Vater wird dich genauso wenig auffressen wie meine Mutter."

"Ich weiß."

Wir lassen unsere Schuhe im Flur stehen und gehen ins Wohnzimmer. Auf dem Sessel sitzt ein Mann mit einer Tasse Kaffee in der Hand und lächelt mir freundlich zu. Er hat schwarze Haare mit ein paar grauen Strähnen, wirkt aber noch sehr jung. Genau wie Kais Mutter hat er kleine Lachfältchen an den Augen. Sein Gesicht hat unheimliche Ähnlichkeit mit Kais, weshalb ich mich bemühen muss ihn nicht anzustarren.

"Hallo, du bist also Moritz", stellt er fest.

"Ja, hallo."

"Ich bin Robert, Kais Vater."

"Warum bist du schon zuhause?", fragt Kai.

"Ich baue Überstunden ab und außerdem hat deine Mutter mir erzählt, dass wir heute Besuch bekommen, den ich unbedingt kennenlernen muss."

"Ach so", sagt Kai und grinst mich an. "Gehen wir?"

Ich nicke.

"Seid aber nicht so laut. Marion hat sich oben hingelegt."

Ich spüre wie mir die Hitze in die Wangen strömt und höre Kai belustigt kichern. Er zieht mich hinter sich her und fängt erst richtig an zu lachen, als er die Tür zu seinem Zimmer geschlossen hat.

"Das ist nicht witzig", schmolle ich und werfe mich auf das Bett. "Dein Vater denkt jetzt bestimmt, dass ich total versaut bin."

"Ach Quatsch, so ist er nicht."

"Das sagst du."

"Dir muss nicht immer alles so peinlich sein. Obwohl ich es niedlich finde, wenn du rot wirst."

Er setzt sich neben mich und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. Seine Finger spielen mit meinen Haaren. Das lässt mich schon viel ruhiger werden.

"Wo arbeitet dein Vater eigentlich?"

"In einer Werbeagentur. Deswegen ist er auch immer so spät zuhause. Ständig muss er noch zu irgendeinem Kunden fahren, um ein Projekt abzusprechen."

"Und deine Mutter?"

"Sie macht die Hausaufgabenbetreuung in der Grundschule. Jeden Nachmittag, aber sie ist immer nur ein paar Stunden da. Die Kinder lieben sie."

"Das kann ich mir gut vorstellen. Ich wünschte ich hätte auch solche Eltern", seufze ich.

"Die beiden können aber auch richtig nervig sein. Wenn ich in der Schule mal eine schlechte Phase habe, drohen sie immer damit mir das Internet abzuschalten."

"Aber das tun sie ja bestimmt nur, weil sie wollen, dass aus dir was wird. Meinen Eltern ist es egal wie es mir geht. Hauptsache ich blamiere sie nicht und sie haben jemanden, den sie rumscheuchen können."

"Das glaube ich nicht. Du bist deinen Eltern bestimmt auch wichtig."

"Davon merke ich aber nichts."

Er sieht mich nachdenklich an und legt sich dann neben mich. Ich kann die Wärme spüren, die von seinem Körper ausgeht.

"Mir bist du wichtig."

"Ja, das merke ich auch."

Er lächelt und küsst mich. Seine Lippen sind auch ganz warm und seine Hände. Sogar durch den Stoff meines T-Shirts kann ich das fühlen.

"Ich liebe dich, Kai", flüstere ich und lege meinen Kopf auf seine Brust.

"Ich dich auch." Er zieht mich ganz dicht an sich und streicht über meinen Rücken. Er ist so schön warm.

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