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Manu und ich
Teil 10
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Informationen
- Story: Manu und ich
- Autor: Ike
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Wie es nicht anders zu erwarten war, taucht Kai am nächsten Tag nicht in der Schule auf. Ich bin auch nur hingegangen, weil ich gehofft hatte, ihn zu sehen. Ich wollte wissen, ob es ihm gut geht, obwohl ich die Antwort ganz genau weiß. Als ich dann aber in der ersten Pause auf den Hof blicke und ihn nicht sehe, entscheide ich mich dafür, wieder zu gehen. Es wird mir sicher nicht schwer fallen, meiner Mutter zu erklären, dass ich mich nicht besonders wohl fühle.
"Warte Moritz!", ruft jemand hinter mir.
Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen wer es ist. "Was ist los? Du hast doch nicht etwa…"
"Doch", lautet meine knappe Antwort und ich drehe mich um.
Tim sieht mich entsetzt an.
"Aber das willst du doch gar nicht."
"Nein."
"Und warum dann? Warum kämpfst du nicht für das, was du willst?"
"Das hab ich ja", versuche ich zu erklären.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass Tim mich verstehen würde. Er versteht doch sonst immer alles. "Aber Kai nicht."
"Du weißt doch wie er ist. Ich dachte du verstehst das. Für seine Verhältnisse hat er schon sehr viel gekämpft."
"Aber nicht genug. Sein Geheimnis ist ihm wichtiger als ich. Ich hasse es von ihm getrennt zu sein, ich hab die ganze Nacht überlegt, ob ich das Richtige getan habe, aber ich kann auch nicht mit jemandem zusammen sein, den ich überhaupt nicht kenne. Ich meine, es kommt doch immer wieder etwas Neues dazu. Ich weiß nie, wann ich etwas falsch mache oder wann er denkt einen Fehler zu machen, weil er nicht mit mir darüber redet. Du hast doch selber gesagt, dass wir ständig irgendwelche Probleme haben und wie lange waren wir zusammen? Ich fühle mich schrecklich, weil ich weiß, dass ich ihn verletzt habe, aber was hätte ich sonst tun sollen?"
Eigentlich war die Frage rhetorisch gemeint, aber es wäre mir auch recht, wenn Tim eine Antwort darauf hätte. Ich bin zwar heute früh mit dem Gedanken eingeschlafen, dass ich das Richtige getan habe, obwohl es so weh tut, aber ich frage mich immer noch, ob es auch eine andere Lösung gibt.
"Ich weiß es auch nicht", sagt Tim geknickt. "Ich kann nur immer wieder sagen, dass man Geduld mit ihm haben muss. Er wird sich ändern. Alles, was er braucht, ist Zeit. Ich kann aber auch nicht sagen wie ich mich entschieden hätte. Dafür muss man wohl in deiner Haut stecken."
"Allerdings. Stell dir doch mal vor Lippe hätte ein Geheimnis und würde es dir nicht sagen wollen, sogar wenn du damit drohst, dich von ihm zu trennen. Würdest du dann einfach sagen, okay ist mir egal?"
"Ich weiß es nicht", sagt er nur.
"Vielleicht wäre es für mich auch gar nicht so schlimm, wenn ich nicht wüsste, dass er darunter leidet. Er hat richtig panisch reagiert, als ich ihn auf seinen Cousin angesprochen habe. Kannst du mir nicht sagen, was es ist?"
"Nein. Ich weiß ja auch gar nicht alles, aber ich habe ihm versprochen, dass ich es niemals jemandem erzähle. Wenn er sich lieber von dir trennt als dir davon zu erzählen, wird es schon einen guten Grund haben."
"Dann musst du noch mal mit ihm reden. Wir können ihn so nicht allein lassen, aber mit mir will er wahrscheinlich nicht reden. Vielleicht sagt er dir etwas, weil er jetzt weiß, dass er dir vertrauen kann. Es geht ihm wirklich nicht gut. Du musst ihm irgendwie helfen."
"Ich weiß nicht", sagt er wieder. "Wahrscheinlich wird er eine Weile mit niemandem reden wollen."
"Bitte Tim!", flehe ich ihn an. Mir würde es schon viel besser gehen, wenn ich wüsste, dass sich jemand um Kai kümmert. "Du musst es wenigstens versuchen."
"Ja, okay."
"Danke", sage ich lächelnd und dann gehe ich.
Meine Mutter verfrachtet mich sofort ins Bett, steckt mir das Fieberthermometer in den Mund und ich glaube es fehlte nicht mehr viel, dann hätte sie sich neben meinem Bett ein Krankenlager eingerichtet.
"Was ist nur los mit dir?", fragt sie besorgt. "Du hast kein Fieber und bist auch sonst nicht krank, aber du siehst furchtbar aus."
"Vielleicht ist ja irgendwas im Anmarsch."
"Bist du sicher, dass du nicht mal zum Arzt gehen willst?"
"Ja."
"Soll ich dir etwas zu Essen oder zu Trinken bringen?"
"Nein, ich brauche nichts." Außer meine Ruhe, füge ich in Gedanken hinzu.
"Sag mir Bescheid."
"Ja", versichere ich und dann lässt sie mich endlich allein.
Es hätte mir klar sein müssen, dass ich nur Aufmerksamkeit von ihr bekomme, wenn ich sie absolut nicht gebrauchen kann. Überhaupt sollte ich mich vielleicht darauf einstellen, dass immer genau das Gegenteil von dem eintrifft, was ich mir wünsche.
Ich vermisse Kai. Jetzt schon. Und ich habe überhaupt nichts, das mich an ihn erinnert. Kein Foto, kein kleines Geschenk oder etwas Anderes, das ich mit ihm in Verbindung bringe. Ich könnte genauso gut geträumt haben, dass ich jemals mit ihm zusammen war. Geträumt. Ein Traum. Nein, lieber nicht. Ich hab genug von Träumen. Die können mehr anrichten als ich es mir jemals vorgestellt habe.
Es klingelt unten an der Haustür, sofort spüre ich einen Trommelwirbel in meiner Brust. Ich warte gespannt auf das Rufen meiner Mutter, auf den Klang von Schritten auf der Treppe oder das leise Klopfen an meiner Tür. Ich sehe schon wie Kai rein kommt, sich zu mir aufs Bett setzt, mit einer Hand durch meine Haare streicht und sich ganz langsam runter beugt, um mich zu küssen. Bestimmt will er mir sagen, dass ich ihm natürlich wichtiger bin als dieses blöde Geheimnis, und dass wir nie wieder getrennt sein werden. Aber es bleibt ruhig. Nach etwa fünf Minuten gebe ich das Lauschen auf und schimpfe mit mir, weil ich mir so sehr wünsche, Kai bei mir zu haben. Es muss doch möglich sein, diese Gedanken abzuschalten. Immerhin hatte ich allen Grund, mich zu trennen. Es war meine Entscheidung und ich sollte jetzt auch dazu stehen, verdammt noch mal! Irgendetwas in meiner Kehle fühlt sich auf einmal ganz merkwürdig an. So, als ob ich gleich in hysterisches Gelächter ausbrechen würde. Allerdings fühle ich mich gar nicht danach. Da ist nur dieser Druck.
Ob Tim schon mit Kai gesprochen hat? Ich hoffe er kann etwas erreichen. Ich würde mich wirklich besser fühlen, wenn ich wüsste, dass Kai jemanden zum Reden hat. Er weiß doch jetzt, dass Tim nichts an mich weiter erzählt. Mit seinen Eltern spricht er bestimmt nicht darüber und Tim ist immer noch sein bester Freund.
Der Druck in meiner Kehle will unbedingt raus und ich kann gar nichts mehr dagegen machen. Allerdings lache ich nicht, sondern heule. Ich heule so wie ich noch nie zuvor geheult habe. Zumindest bilde ich mir das ein. Es ist schrecklich. Mein Hals tut weh, meine Augen brennen und alles an mir zittert. Ich kann nur hoffen, dass meine Mutter nicht gerade jetzt nach mir sehen will.
Tim ruft mich am nächsten Tag an, weil ich noch nicht wieder in der Schule war und erzählt mir, dass es keinen Sinn hat, mit Kai reden zu wollen. Er sei überhaupt nicht ansprechbar und hänge nur in seinem Zimmer rum.
"Kommt dir das nicht bekannt vor, Moritz?", fragt Tim in einem merkwürdig bissigen Ton.
"Was soll das denn heißen?"
"Das soll heißen, dass ihr beide total geknickt und tottraurig seid, weil ihr euch gegenseitig nicht habt, aber keiner kommt auf die Idee etwas dagegen zu tun. Was ist das denn für ein Scheiß! Ich weiß ja, dass ich gesagt habe, es sei allein deine Entscheidung und so weiter, aber jetzt glaube ich, dass es einfach nur dämlich ist."
So habe ich ihn ja noch nie reden hören. Und was fällt ihm eigentlich ein, mich so anzuschreien?
"Du hast selber gesagt, dass man das nur verstehen kann, wenn man in meiner Situation ist. Und das bist du nun mal nicht, also kannst du das auch nicht nachvollziehen."
"Ich glaube ihr seid einfach beide zu stur. Kai lässt sich lieber auf eine Trennung ein, als dir von diesem Vorfall zu erzählen und du kapierst trotzdem noch nicht, dass er dann wohl einen guten Grund dafür haben wird. Natürlich ist das blöd für dich, aber ist es das wirklich wert?"
"Es ist doch nicht nur das", versuche ich zu erklären. "Ich hab dir schon mal gesagt, dass es mir zu anstrengend ist, immer auf der Hut zu sein und immer damit rechnen zu müssen, dass Kai mit irgendetwas nicht klar kommt. Das sind mir zu viele Steine, die uns im Weg liegen."
"Denkst du, Kai geht es nicht so? Was meinst du ist es für ein Gefühl, wenn man weiß, dass man ständig etwas falsch macht, und dass man denjenigen, den man liebt dadurch jederzeit verlieren könnte?"
Das verschlägt mir für einen Moment die Sprache. Keine Ahnung, was ich darauf antworten soll.
"Ich sag dir jetzt mal was", schlägt Tim in einem etwas ruhigeren Ton vor. "Ich sehe das ganz unparteiisch, okay? Kai ist mein Freund und du bist es auch und ich sehe, dass es euch beiden echt beschissen geht. Für jeden von euch hat diese Beziehung Nachteile, aber das wusstet ihr vorher schon. Ihr solltet versuchen damit umzugehen und nicht davor wegzulaufen, denn dann wird es nur noch schlimmer. Ihr liebt euch doch, dann müsste es auch möglich sein, irgendeine Lösung zu finden. Ich kann dir sagen, dass Kai gerade genauso leidet wie du und ich werde auf keinen Fall auch nur noch einen Tag länger den Laufburschen spielen. Das hab ich Kai auch gesagt. Wenn du dir Sorgen um ihn machst, geh zu ihm. Ich halte mich da ab jetzt raus. Denk darüber nach, okay? Ich leg jetzt auf."
Und das tut er tatsächlich. Verdattert lege ich den Telefonhörer zur Seite.
Ich hatte schon befürchtet, dass ich Tims Hilfsbereitschaft etwas überstrapaziert habe und er ab sofort nicht mehr mit mir sprechen würde, aber damit lag ich glücklicherweise falsch. Er ist genauso fröhlich und freundlich wie immer. Die einzige Veränderung scheint zu sein, dass er mich nicht mehr nach Kai fragt. Er zeigt ganz deutlich, dass er damit nichts mehr zu tun haben will.
Es ist Samstag und ich sitze das erste Mal wieder mit meinen Freunden in der Fußgängerzone. Meine Mutter hat mich wegen guter Führung schon einen Tag früher vom Hausarrest befreit, aber vor allem, weil sie meint, dass es mir gut tut, wenn ich mit meinen Freunden zusammen bin. Die Zeit, in der ich 'krank‘ war, war für uns beide die Hölle. Für sie, weil sie nicht wusste, was mit mir los ist, und für mich, weil ich ihre Fürsorge kaum aushalten konnte.
"Grüß Kai von mir", trug sie mir auf und ich schaffte es gerade noch das Haus zu verlassen, bevor sie meinen irritierten Gesichtsausdruck bemerken konnte. Einmal kurz huschte der Gedanke durch meinen Kopf, dass ich ihr von Kai und mir erzählen könnte. Immerhin scheint sie ihn sehr zu mögen und würde es vielleicht verstehen, dass es mir ebenso geht. Aber dann war ich mir wieder sicher, dass ich keinen größeren Fehler machen könnte.
Der einzige Nachteil daran, dass ich schon heute wieder rausgehen darf, ist, dass ich Kai in der Stadt treffe. Er hat wohl nicht damit gerechnet, mich zu sehen und es deshalb auch nicht für notwendig gehalten, zuhause zu bleiben. Zumindest sagt mir das sein geschockter Gesichtsausdruck, als ich mich keine drei Meter von ihm entfernt an die Mauer lehne. Unsere Blicke treffen sich nur kurz, aber das reicht schon, um seine Gedanken zu erraten. Mir wird schlecht. Tim hat nicht übertrieben.
"Na Moritz, alles klar?", fragt Lippe und bekommt von Tim sofort ein Stoß in die Seite. "Ich meine … zuhause … hat deine Mutter dich wieder frei gelassen?"
"Ja, hat sie."
Auf einmal ist es vollkommen still. Niemand weiß, was er sagen soll. Ich sehe zu Kai rüber, aber er schaut nur auf den Boden. Ich würde so gerne mit ihm sprechen, ihn in den Arm nehmen, aber es kommt mir vor, als wäre er noch nie so unerreichbar gewesen wie jetzt. Und es ist unheimlich zu sehen, dass er tatsächlich genauso leidet wie ich. Ist das wirklich nötig?
Dann springt er plötzlich auf und geht, ohne noch etwas zu sagen. Ich bin der einzige, der ihm nicht hinterher schaut.
Danach geht alles ganz normal weiter. Man findet sich zu zweit oder zu dritt zusammen und spricht über irgendwelche unwichtigen Dinge. Anna und Susi regen sich über die erste angesetzte Klausur auf, Tim und Lippe streiten sich um das letzte Stückchen Kuchen, das zwischen ihnen auf einem Teller liegt und die anderen drei Jungs unserer Gruppe, Lasse, Finn und Jens, reden über einen Film, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Mir fällt zum ersten Mal auf, dass Lasse und Finn sehr eng beieinander sitzen und sich ab und zu so eklig verträumte Blicke zuwerfen. Das fehlt mir gerade noch. Schlimm genug, dass Tim und Lippe ständig am Kuscheln und Schmusen sind, müssen die jetzt auch noch damit anfangen? Andererseits kann ich das wohl niemandem verbieten und es freut mich ja schon auch irgendwie für die beiden. Das Leben ist unfair. Das habe ich gerade beschlossen.
"Das geht erst seit einer Woche", sagt Anna an mich gerichtet.
"Was?"
"Das zwischen Finn und Lasse. Von einem Tag auf den anderen."
"Ja, ist fast wie bei Tim und Lippe damals", schaltet sich Susi ein. "Nur ohne dieses ganze Drama."
"Was denn für ein Drama?", frage ich neugierig.
"Oh nein", schnauft Lippe, der offensichtlich mitbekommen hat, worüber wir reden. "Erinner mich bloß nicht daran. Das will jetzt sowieso keiner hören."
"Doch, ich", schalte ich mich schnell ein und ernte eine ganze Menge verständnisloser Blicke. Bisher hat es mich nie interessiert wie die beiden zusammen gekommen sind, aber jetzt würde ich die Geschichte gerne hören. Auch wenn das vielleicht nicht gerade der richtige Zeitpunkt ist, um mit einem Liebes-Happy-End konfrontiert zu werden
"Nein, nein, nein!"
"Lass sie doch erzählen", sagt Tim zu seinem Freund und küsst ihn kurz auf den Mund. Bei dem Anblick bekomme ich Gänsehaut. Es tut schon fast weh, die beiden so zusammen zu sehen. Nein, nicht nur fast. Es tut weh!
"Na gut", sagt Lippe beschwichtigt und versteckt sein Gesicht an Tims Schulter. Das muss ja eine sehr interessante Geschichte sein.
"Also", beginnt Anna an mich gewandt. "Tim hat dir doch erzählt, dass er mit K…."
Schon wieder sind alle Blicke auf mich gerichtet, aber dieses Mal sehen sie mich mitleidig und entschuldigend an.
"Dass er mit Kai geschlafen hat, ja", beende ich den Satz ein bisschen genervt und hoffe, dass das nicht so weiter geht.
"Ja. Damals ist Lippe gerade neu in unsere Klasse gekommen und hatte wohl auch sofort ein Auge auf Tim geworfen. Jedenfalls haben wir uns schnell angefreundet und so hat er natürlich auch von … dieser Sache erfahren."
Lippe verkriecht sich jetzt noch mehr, aber das Grinsen auf Tims Gesicht wird immer breiter.
"Zuerst hat er sich nichts anmerken lassen", fährt Anna fort. "Aber irgendwann ist er richtig in die Luft gegangen, als er mitbekommen hat, dass es nur so was wie ein Test war. Er hat sich Kai geschnappt und ihn so richtig zur Schnecke gemacht. Sogar geschlagen hat er ihn. Wir dachten erst alle, dass er scharf auf Kai ist, aber am nächsten Tag ist er dann zusammen mit Tim im Park aufgetaucht und von da an waren die beiden nicht mehr zu trennen. Wie man sieht."
Als ob ich das nicht von Anfang an gesehen hätte. Was mich viel mehr irritiert, ist, dass Kai scheinbar überall seine Finger im Spiel hat. Aber was wundertŽs mich. Ich sollte gar nicht darüber nachdenken.
"Ich fand es jedenfalls total süß wie du Tim verteidigt hast", sagt Susi.
"Ich auch", stimmt Tim zu. "Und jetzt dürftest du auch wissen, Moritz, warum mein Freund hier so scharf darauf ist, dass Kai immer abgelenkt ist. Er ist nämlich immer noch eifersüchtig."
"Bin ich gar nicht", protestiert Lippe.
"Nein, natürlich nicht."
Ich klinke mich an dieser Stelle aus. Hat ja keinen Sinn mehr, weiter aufzupassen. Ich will gar nicht hören wie sehr sie sich lieben und sehen schon gar nicht. Stattdessen denke ich dummerweise daran wie sich Kai wohl in der Situation gefühlt hat. Er hat Tim zu nichts gezwungen, da muss er sich doch gefragt haben, warum Lippe einfach auf ihn los geht. War das nicht sogar die Zeit, in der es ihm so schlecht ging, weil er mit der Tatsache schwul zu sein nicht umgehen konnte? Hat denn niemand an seine Gefühle gedacht? Ich weiß ja selber, dass es ziemlich leicht ist, ihm die Schuld für alles zu geben, aber in der Situation hätte man ihm nichts vorwerfen dürfen.
Oh man, es muss ja wirklich schlimm um mich stehen, wenn ich Kai jetzt schon in Schutz nehme. Ich sehe mich um. Links von mir sind Tim und Lippe am Turteln und rechts Finn und Lasse. Eindeutig zu viel. Kein Wunder, dass ich so wirres Zeug denke.
Ohne zu zögern stehe ich auf und bin ungewollt sofort wieder der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Hab ich vielleicht irgendwo einen Sensor an mir, der jedem hier einen Stromschlag verpasst, wenn ich mich bewege? Scheint ja echt spannend zu sein, mein Leid zu verfolgen. Wenigstens lässt man mich einfach gehen und versucht nicht, mich mit irgendeinem blöden Spruch aufzuhalten. Das ist neu für mich, aber eigentlich ganz angenehm. In diesem Moment ist es mir sogar egal, dass jetzt wahrscheinlich alle über mich reden.
Keine Ahnung wo ich hingehen will. Hauptsache nicht nach Hause oder in den Park. Das sind die beiden Orte, um die ich so oft wie möglich einen großen Bogen machen werde. Beim ersten wird es wohl etwas schwieriger, aber da ich jetzt keinen Hausarrest mehr habe, steht es mir wieder frei, meine Freizeit so zu gestalten wie ich es möchte. Und ich habe auch keine Lust mehr, jeden Ausflug bei meiner Mutter anzumelden. Das mache ich nicht mehr mit. Vielleicht bricht meine rebellische Phase ja doch noch aus?
Jetzt schlendere ich jedenfalls erst mal durchs Stadtzentrum und schaue in ein paar Geschäfte. Ich habe mir schon ewig nichts mehr gekauft. Bin eben nicht der Sammlertyp und shoppen ist sowieso nicht mein Ding. Das letzte, das ich mir gekauft habe, waren der Schreibblock und der Stift. Na wunderbar. Wieder etwas, in das Kai verwickelt ist.
Vielleicht sollte ich mal darüber nachdenken, etwas an mir zu verändern. Als Zeichen dafür, dass ich nicht mehr der kleine Junge von vor den Sommerferien bin. Ich glaube der Gedanke gefällt mir. Es kribbelt sogar ein bisschen im Bauch. Vorfreude? Oder vielleicht die Gewissheit, dass ich mein Ziel erreicht habe? Ich bin tatsächlich wie Manu geworden und irgendwie ist Manu auch ein bisschen wie ich geworden. Es ist fast als hätte ich ungewollt meine Ängstlichkeit auf ihn übertragen. Das muss ich unbedingt wieder rückgängig machen. Er soll ja Manu sein und nicht ich.
Mit meinem neugewonnenen Selbstbewusstsein betrete ich das nächste Modegeschäft und mache mich daran, etwas Passendes auszusuchen. Ganz umkrempeln will ich mich nicht, aber vielleicht könnte ich mal etwas Farbe an mir gebrauchen. Nicht immer nur Grau, Schwarz, Braun und Weiß und so weiter, sondern vielleicht mal etwas Rotes oder Grünes? Gelb?
Voller Elan stürze ich mich auf die Kleiderständer und -tische und bin mir dabei selber ein wenig unheimlich. Gut, dass sich diese Idee bei mir eingenistet hat, während ich unbeobachtet war. Sonst hätte man mich wahrscheinlich für die nächsten Jahre weggesperrt. Also lieber wieder ein wenig runter schalten. Ich schlüpfe mit ein paar Sachen in eine Umkleidekabine und probiere alle möglichen Kombinationen an. Manchmal muss ich leider raus gehen, um mich in einem größeren Spiegel anzuschauen und fühle mich sofort von allen beobachtet. Rot mag ich an mir irgendwie nicht leiden, also verschwinden diese Teile als erstes wieder. Grün und Gelb finde ich schon besser.
Während ich noch beim Überlegen bin, tippt mir auf einmal jemand auf die Schulter.
"Hey, machst du Frust-Shopping?"
Ich drehe mich erschrocken um und sehe Kai in die Augen. Nein, das war nur ein Streich, den mir mein Gehirn gespielt hat. In Wirklichkeit steht mir Jens gegenüber.
"So was in der Art, ja", sage ich verwirrt.
"Ist dir das Gekuschel auch auf den Wecker gegangen? Ich muss mir das jetzt schon seit einer Woche antun. Aber für dich ist es bestimmt noch schlimmer, oder?"
Na, auf diese Unterhaltung hab ich jetzt bestimmt keine Lust. Was will der überhaupt von mir? Bisher hat er noch nie mit mir gesprochen.
"Ja, kann mir was Schöneres vorstellen", sage ich genervt.
"Sorry, das war wohl genau die falsche Frage, hm? Das Grün steht dir übrigens sehr gut. Du solltest das kaufen."
"Äh, danke…" Was will der von mir?
"Hast du nicht Lust gleich noch irgendwo einen Kaffee zu trinken? Oder wie wärŽs mit einem Eis?"
"Ich weiß nicht…", sage ich verlegen und zupfe an meinem T-Shirt.
"Ich meine natürlich nur so zum Zeitvertreib. Ich denke wir haben beide nicht vor, zurück zu den anderen zu gehen, oder?"
"Nee."
"Na siehst du. Und außerdem ist es doch schade, wenn wir uns gar nicht richtig kennen, obwohl wir uns fast jeden Tag sehen. Ich finde, das sollten wir ändern. Wir können ein bisschen über die anderen lästern. Ich kann dir eine lustige Geschichte zu Annas letztem Geburtstag erzählen."
Wow, der redet ja ohne Punkt und Komma! Während ich mich wieder umziehe, bezahle und auch als wir schon auf dem Weg zu einem Café sind, breitet Jens scheinbar sein ganzes Leben vor mir aus. Ich komme überhaupt nicht zu Wort, aber ulkigerweise finde ich gerade das sehr angenehm. Er schafft es irgendwie aus allem einen Scherz zu machen und schon nach ein paar Minuten macht es mir noch nicht einmal mehr etwas aus, wenn er Kai erwähnt. Einfach weil er dabei so lustig und fröhlich ist. Er gibt mir nicht das Gefühl als müsste ich wegen irgendetwas traurig sein oder als hätte ich etwas falsch gemacht.
"Mein Ex-Freund war auch so ähnlich wie Kai", erzählt Jens und schlürft an seinem Milchkaffee. "Er hat mir nie von sich aus etwas erzählt, man musste ihm immer alles aus der Nase ziehen. Er hat mir zum Beispiel auch niemals gesagt, dass er mich liebt. Irgendwann ist mir das dann zu blöd geworden und ich hab ihn in die Wüste gejagt. Ein paar Tage später hatte er dann einen neuen Freund, aber der sah nach einer Weile auch schon ziemlich genervt aus, wenn ich sie zusammen gesehen habe." Er kichert.
"Hattest du danach keinen Freund mehr?"
"Nicht wirklich. Ich war mal kurz mit Lasse zusammen, aber das war für uns beide nicht so das Wahre."
"Unser Lasse?"
"Ja. Aber jetzt hat er ja anscheinend den Richtigen gefunden."
"Woher willst du das wissen?", frage ich irritiert.
"Das sieht man doch. Übrigens war ich mir bei dir und Kai eigentlich auch ganz sicher, dass ihr zusammen gehört. Bist du sicher, dass da nichts mehr geht?"
"Ja, mir hat der eine Versuch gereicht."
"Hm", macht er daraufhin nur.
"Was soll das denn heißen?"
"Das glaube ich dir nicht. Ich denke, dass das noch lange nicht vorbei ist. Ihr seid nur beide viel zu stur."
"Das hat Tim auch gesagt", sage ich frustriert.
"Dann muss ja was dran sein."
"Können wir über was anderes reden?"
"Okay, aber dir ist klar, dass du mir damit recht gibst, oder?"
"Ja ja, schon gut. Für mich ist es noch nicht vorbei, zufrieden?"
"Jap", sagt er grinsend. "Also, ich wollte dir ja noch von Annas letztem Geburtstag erzählen. Die Geschichte musst du unbedingt hören. Aber sag Anna nicht, dass du's von mir hast. Das ist ihr nämlich heute noch peinlich."
Ich bin noch ein bisschen verwirrt von dem plötzlichen Themenwechsel, nicke aber langsam mit dem Kopf.
"Okay, sie hatte sich damals so ein merkwürdiges Spiel ausgedacht. Ein Kuss-Spiel. Wahrscheinlich hatte sie da schon ein bisschen viel getrunken. Es ging darum, dass man anhand eines Kusses erraten musste, ob der Gegenüber ein Mädchen oder ein hetero- oder homosexueller Junge ist. Außer lesbischen Mädchen war nämlich aus jeder dieser Gruppen mindestens eine Person vertreten. Beiden wurden die Augen verbunden und dann sollten sie sich küssen. Auf den Mund, und zwar richtig. Anna sollte Finn küssen und sie hat es auch richtig geraten, also dass sie einen schwulen Jungen geküsst hat, aber Finn hat ebenfalls behauptet einen schwulen Jungen geküsst zu haben. Das fand Anna dann eher weniger lustig. Keine Ahnung warum ihr das so peinlich war, aber sie hat noch Tage danach geschmollt."
"Das kann ich mir bei ihr richtig gut vorstellen", sage ich lachend. Jens hat es schon wieder geschafft mich abzulenken.
"Und wen solltest du küssen?"
Auf einmal lächelt er ganz schüchtern.
"Rück schon raus!", drängle ich. "Wer war es?"
"Kai."
Mein Lachen verschwindet auf der Stelle. Hätte ich mir ja denken können. Allerdings kann ich es nicht verhindern, dass in meinem Kopf jetzt ganz viele Bilder durcheinander wuseln. Kai und ich in seinem Zimmer; Kai und ich in meinem Zimmer; Kai und ich am See und so weiter. Bei dem Gedanken, Kai zu küssen, fangen meine Lippen an zu brennen.
"Sorry, ich hätte gar nicht erst damit anfangen sollen."
"Schon gut."
"Ich denke, du solltest noch mal mit ihm reden. Vielleicht findet ihr ja doch noch eine Lösung. Ihr braucht euch doch gegenseitig, das merkt man."
"Ja, vielleicht hast du recht."
Wir brauchen uns gegenseitig? So hat Tim das noch nie gesagt. Er meinte immer nur, dass Kai und ich zusammen gehören, und dass wir uns doch lieben und so weiter. Von brauchen war bisher noch nie die Rede. Aber es stimmt.
"Ich gehe jetzt nach Hause. Ich muss darüber nachdenken."
"Okay, ich begleite dich noch ein Stück."
Wir bezahlen und machen uns dann auf den Weg. Jens ist zum ersten Mal heute ganz still und läuft einfach nur neben mir her. Bevor sich unsere Wege trennen, küsst er mich ganz kurz und flüchtig auf den Mund. Ohne, dass es etwas zu bedeuten hat. Nur aus Freundschaft oder zum Trost. Wie auch immer man es nennen will.
"Bis dann", sagt er, schenkt mir noch ein Lächeln und geht.
Ich bin total durcheinander. Der Tag war aber auch merkwürdig. Ein richtiges Gefühlschaos. Sollte ich wirklich versuchen mit Kai zu reden? Als Jens davon gesprochen hat, hat es sich so richtig angefühlt. Als ob ich schon die ganze Zeit wüsste, dass ich es tun muss. Warum verstehen nur immer alle anderen besser, was zu tun ist? Warum kann ich nicht selber wissen, was richtig ist? Und warum, verflucht noch mal, bin ich so abhängig von Kai?
"Hey", höre ich eine Stimme hinter mir sagen und drehe mich erschrocken um.
Mir bleibt fast das Herz stehen, als ich sehe zu wem die Stimme gehört. Und dieses Mal ist es keine Einbildung. Vor mir steht Kai. Und er sieht ziemlich wütend aus.
"Hattet ihr Spaß?"
"Äh…" Hä, was ist denn mit dem los?
"Hat er dir auch beim Ausziehen geholfen?", raunt er mich böse funkelnd an und deutet auf die Plastiktüte in meiner Hand. In mir fängt es langsam an zu kochen, als ich merke, was er mir vorwirft.
"Bist du nicht mehr ganz dicht? Wir waren nur was trinken, aber selbst das geht dich nichts an."
"Ach ja, das sah aber eben noch ganz anders aus", brüllt er. "Scheint dir ja wieder ganz gut zu gehen, wenn du dich gleich dem Nächstbesten an den Hals wirfst!"
Einen Moment überlege ich, ob ich zu ihm gehen und ihn schlagen soll, entscheide mich dann aber doch dafür, ihn einfach stehen zu lassen und so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Kai scheint aber noch nicht genug zu haben und packt mich am Arm.
"Ist es dir egal wie es mir dabei geht?"
"Wobei denn Kai? Es war doch gar nichts!"
"Ihr habt euch geküsst! Von wegen du liebst mich, und von wegen du trennst dich nur, weil ich dir etwas verheimliche!"
"Halt mal die Luft an, okay?! Ich hab mit Jens nur geredet und er wollte mich ein bisschen aufbauen. Und wenn duŽs genau wissen willst: er wollte mich überreden, dass ich noch mal mit dir rede. Bis eben hab ich sogar ernsthaft darüber nachgedacht."
Jetzt hält er tatsächlich die Luft an.
"Aber das hier ist genau einer der Gründe, warum ich mich trennen wollte. Wie ich sehe, hast du das immer noch nicht verstanden. Dann macht es wohl keinen Sinn weiter mit dir darüber zu reden."
"Was soll das heißen?", fragt er mit weit aufgerissenen Augen. Er tut ja gerade so, als würde ich jetzt erst mit ihm Schluss machen.
"Genau das, was ich gesagt habe. Du machst immer einen riesen Aufstand wegen Kleinigkeiten und ich hab ständig das Gefühl irgendetwas falsch zu machen. Da komme ich nicht mehr mit. Ich will nicht immer darauf aufpassen, was ich tue oder sage. Das gerade war das perfekte Beispiel dafür."
"Aber du liebst mich noch?", fragt er in einem merkwürdig hoffnungsvollen Ton. Er glaubt doch nicht etwa, dass allein diese Tatsache ausreicht? Und was soll ich jetzt darauf sagen? Nein zu sagen, wäre eine Lüge, aber wenn ich ja sage, versteht er das vielleicht falsch. Egal. Ich hab es ihm oft genug erklärt.
"Ja, natürlich."
Das scheint sein Stichwort gewesen zu sein, denn er zieht mich schnell und ziemlich grob an sich und küsst mich. Das Brennen, das ich jetzt auf meinen Lippen spüre, ist nichts im Vergleich zu dem, was ich vorhin gespürt habe. Das Blöde ist, dass ich nicht weiß, ob ich aufhören will. Ich würde ihn am liebsten nie wieder loslassen, aber das würde ja auch bedeuten, dass ich wieder mit ihm zusammen sein will. Und das hatte ich eigentlich gerade ausgeschlossen. So ein Mist! Mein Zögern macht es auch nicht leichter. Je länger ich hier stehe und ihn küsse, desto schwieriger wird es für uns beide, wenn ich ihn wegstoße. Also lieber jetzt als gleich.
"Kai, das geht nicht", sage ich schnaufend.
"Warum nicht? Du liebst mich und ich liebe dich. Es muss doch einen Weg geben."
Ach, Scheiße! Warum muss er ausgerechnet jetzt anfangen zu kämpfen.
"Nein, dann würde alles nur wieder von vorne losgehen."
"Das ist nicht dein Ernst."
"Doch. Und jetzt weißt du auch wie ich mich gefühlt habe, als du mich ständig zurückgewiesen hast." Oh nein, das wollte ich eigentlich gar nicht sagen. Es ist nicht fair jetzt wieder damit anzufangen. Ich wusste immerhin, warum er es getan hat.
"Ich gehe jetzt besser", sage ich schnell und mache mich auf den Weg nach Hause. Kai versucht nicht noch mal mich aufzuhalten. Mist! Ich wollte ihn doch nicht noch mehr verletzen. Ich kann aber auch gar nichts richtig machen.
In meinem Zimmer angekommen, überlege ich nicht lange, sondern krame sofort meinen Schreibblock unterm Bett hervor. Bloß nicht noch länger über Kai nachdenken. Sonst komme ich nur auf blöde Ideen. Ich bin gerade viel zu verwirrt, um irgendwelche Entscheidungen zu treffen und ich will gar nicht erst damit anfangen, mir Vorwürfe zu machen. Also schnell den Gedankenfilter anschmeißen und abtauchen.
Die Polizei versichert Benni und mir zum zweiten Mal, dass sie sich gewissenhaft um diesen Vorfall kümmern wird und auch, dass Patrick genauer unter die Lupe genommen wird. Aus irgendeinem Grund erleichtert mich das allerdings überhaupt nicht. Patrick ist sehr geschickt mit Lügengeschichten und nachweisen kann man ihm auch nichts.
"Wir haben aber auch ein Glück, was?", meint Martin ironisch.
"Tja, immer glücklich sein, geht wohl nicht. Sorry, ich hab dich noch gar nicht gefragt wie es dir eigentlich geht."
"Ach, alles gut so weit. Die Rippen merke ich manchmal noch, aber ansonsten bin ich wieder ganz fit. Der Prozess ist übrigens morgen."
"Dann muss ich wohl mal wieder für ein kleines Interview vorbei kommen. Ich denke doch mal, dass wir darüber noch mal kurz berichten werden."
"Ja, klar. Aber vielleicht solltest du erst mal mit deinen eigenen Problemen fertig werden."
"Vielleicht ist so ein bisschen Ablenkung aber auch gar nicht schlecht", sagt Benni. "Solange du dich nicht wieder so sehr da rein steigerst."
"Fang bloß nicht wieder damit an. Siehst du, Martin, ich hab auch so einen Aufpasser."
"Dagegen können wir wohl ebenfalls nichts tun", lacht er, während Dominik und Benni sich vielsagend ansehen.
"Also, Manu, ich sag dir dann Bescheid wie es ausgegangen ist, okay?"
"Ja, ist gut."
Nachdem Martin und Dominik gegangen sind, gehen Benni und ich wieder ins Haus zurück. Da wir bei der Arbeit schon abgemeldet sind, haben wir den ganzen Tag frei, wissen aber beide nicht so recht, was wir damit anfangen sollen. Wir setzen uns also erst mal in die Küche und frühstücken noch mal richtig. Nach dem Schock brauche ich unbedingt einen Kaffee. Benni weiß scheinbar auch nicht, womit er mich aufmuntern könnte und das zeigt mir ganz deutlich, dass er den Vorfall jetzt auch nicht mehr auf die leichte Schulter nimmt. Ich bin ja mal gespannt, wann sich alles auflösen wird, und ob es tatsächlich Patrick war. Ich schwöre, dass ich ihm an die Gurgel gehen werde, falls er irgendetwas damit zu tun hat. Der kann sich schon mal warm anziehen.
Noch bevor wir unser zweites Frühstück beendet haben, klingelt es an der Tür. Ich stehe auf und rechne schon fest damit, dass Mareike vor der Tür steht, aber da liege ich leider falsch.
"Warte", bittet Patrick, als ich die Tür ohne ein Wort zu verlieren wieder schließen will. Benni kommt sofort zu mir gelaufen.
"Was willst du denn? Ist ja frech hier einfach aufzutauchen!"
"Lasst mich doch mal erklären. Ich war das nicht."
"Nein, natürlich nicht", sage ich, als ich meine Sprache wieder gefunden habe. "Wer würde auch auf so eine Idee kommen?! Und jetzt verschwinde!"
"Bitte Manu, ich schwöre, dass ich es nicht war."
"Warum sollte ich dir glauben?"
"Keine Ahnung, das …"
"Wer sollte es denn sonst gewesen sein, hm? Mir fällt niemand ein."
"Woher soll ich das wissen?", verteidigt er sich und wirkt dabei fast ein bisschen verzweifelt. Was, wenn er es wirklich nicht war?
"Ich glaube wir haben uns deutlich genug ausgedrückt", raunt Benni. "Wir wollen dich hier nicht mehr sehen. Überhaupt will ich dich nie wieder in Manus Nähe sehen."
"Das ist ja wohl nicht deine Entscheidung. Du bist ja nur die Zweitbesetzung."
Bevor sich Benni auch nur einen Zentimeter bewegen kann, landet meine Faust in Patricks Gesicht. Es war nicht so doll, um ihn ernsthaft zu verletzen wie Dominik es bei Martins Angreifer getan hat, aber Patrick sieht trotzdem ziemlich geschockt aus.
Ich reibe mir die Hand und funkele ihn wütend an. "Ich würde dir raten lieber zu verschwinden, denn das nächste Mal wird sicherlich Benni zuschlagen und das könnte dann ziemlich schmerzhaft werden."
Daraufhin schlage ich unsere Haustür vor seiner Nase zu.
"Und wenn du jetzt noch einmal darüber nachdenkst, ob ich nicht doch lieber zu diesem Arsch zurück gehe, wird es für dich auch sehr schmerzhaft", drohe ich an Benni gewandt.
"Okay", antwortet er darauf nur und grinst. "Ich finde es zwar schade, dass ich ihn nicht schlagen durfte, aber dir dabei zuzusehen, war auch nicht schlecht."
"Und was ist, wenn er die Wahrheit gesagt hat?"
"Wer sollte es denn sonst gewesen sein? Er hat uns das Motiv doch quasi eben noch mal vor die Füße geworfen. Der Typ hat überhaupt nichts kapiert."
"Ich weiß, aber trotzdem habe ich so ein Gefühl, dass es stimmt, was er sagt."
"Hm."
Am nächsten Tag läuft wieder alles mehr oder weniger normal. Benni und ich stehen früh auf, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen und stellen erleichtert fest, dass alles, was am Haus noch unbeschädigt ist, die Nacht gut überstanden hat. Wenn doch Patrick hinter diesen Vorfällen stecken sollte, hat er sich jetzt vielleicht endlich genug ausgetobt.
Ich schließe mein Fahrrad wie immer vor der Redaktion an und betrete dann das Gebäude. Mein Chef kommt mir sofort entgegen, sobald er mich bemerkt hat und fragt freundlich und besorgt, was denn gestern vorgefallen sei.
"Verstehen Sie das bitte nicht falsch, aber ich würde diese Sache gerne für mich behalten", sage ich bestimmt. Wie gesagt: das Letzte, das ich jetzt noch gebrauchen kann, ist, dass mein Privatleben in der Zeitung breit getreten wird.
"Nichts davon wird hier für irgendwelche Schlagzeilen verwendet, falls Sie das damit andeuten wollten. Manchmal ist es einfach hilfreich, wenn man sich alles von der Seele redet. Also, erzählen Sie schon."
"Nein, danke. Ich hab das jetzt schon so oft erzählt, dass ich nicht mehr das Bedürfnis habe, darüber zu sprechen. Ich würde das am liebsten ganz schnell vergessen."
"Na gut", sagt mein Chef. "Dann lenken Sie sich am besten mit der Arbeit ab."
"Ja. Ach so, ich wollte Sie noch etwas fragen."
"Ja?"
"Schreiben wir noch mal etwas darüber, wie der Prozess zu der Stadtschlägerei ausgegangen ist? Der ist nämlich heute und Martin, der Junge, der zusammen geschlagen wurde, wollte mir mitteilen wie das Urteil lautet."
"Das könnten wir sicherlich noch irgendwo unterbringen, ja. Würden Sie das gerne wieder übernehmen?"
"Ja."
"Also gut", sagt er grinsend. "Heute ist Dienstag, dann möchte ich am Donnerstag den Bericht haben. Wie weit sind Sie denn mit dem Artikel über das Fitness-Studio?"
"Ich habe heute den Probetermin und werde daraufhin den Artikel fertig schreiben." Mist! Das habe ich total vergessen. Dieser blöde Sporttermin!
"Wunderbar."
Ich setze mich an meinen Schreibtisch und schaue nach, wann genau der Termin ist. Um elf. Na super. Dazu habe ich ja überhaupt keine Lust. Aber vielleicht sollte ich mich im Moment über jede Ablenkung freuen.
"Muss ja wirklich schlimm sein, diese Sache bei dir zuhause", sagt Jochen, einer meiner Kollegen, und lehnt sich über seinen Schreibtisch zu mir herüber.
"Äh… ja. Warum?"
"Ach nur so. Hat sich so ernst angehört. Bist du mit diesem Martin in Kontakt geblieben?"
"Na ja, teilweise. Er wollte mir nur noch mal sagen, wann der Gerichtstermin ist. Ist das so ungewöhnlich?" Ich verstehe nur Bahnhof.
"Schon. Ich habe von niemandem, den ich interviewt habe jemals wieder etwas gehört."
Wenn er bei allen so aufdringlich war, kein Wunder. Was will der eigentlich von mir?
Als ich nichts mehr dazu sage, scheint er wohl auch begriffen zu haben, dass ich nicht darüber reden will und beschäftigt sich wieder mit seiner Arbeit.
Um halb elf fahre ich dann mit dem Redaktionsauto zum Fitness-Studio, nachdem ich noch schnell meine Sportsachen zuhause abgeholt habe. Der Trainer begrüßt mich freundlich, was es mir zumindest schon mal leichter macht, meine schlechte Laune zu verbergen. Nach wenigen Minuten auf dem Stepper hat sich das allerdings schon wieder erledigt. Direkt vor mir ist nämlich ein Ventilator aufgebaut, der nicht nur mit frischer Luft, sondern auch mit toten Fliegen spuckt. Ich bin ständig am Husten und muss mir im Sekundentakt irgendwelche Leichen aus den Augen puhlen.
Was tut man nicht alles für seine Karriere?!
Eineinhalb Stunden später kann ich meine persönliche Hölle dann endlich wieder verlassen, fahre noch kurz in die Redaktion zurück, um meine Notizen abzutippen und rase dann so schnell wie möglich nach Hause. Benni macht sich fast in die Hose, als ich ihm von meinem Martyrium erzähle.
"Soll ich dir erzählen, was ich heute machen durfte?", fragt er und wischt sich die Tränen aus den Augen.
"Nein danke."
"Sorry, ich wollte dich nicht ärgern. Ich hab mir das nur gerade so bildlich vorgestellt."
"Ja ja."
"Nein, nicht jetzt, vielen Dank", prustet er und schon sind da wieder neue Tränen in seinen Augen. Ich gehe mal davon aus, dass seine Lachanfälle etwas damit zu tun haben, dass es in letzter Zeit nicht viel zu lachen gab.
"Wie bitte?"
"Du hast 'ja ja‘ gesagt und das bedeutet…"
"Ich weiß, was das bedeutet", sage ich und verdrehe die Augen.
Er packt mich an den Schultern und wirft mich aufs Sofa.
"Hast du nicht eben noch gesagt 'jetzt nicht‘?"
"HabŽs mir anders überlegt", sagt er schelmisch grinsend und küsst mich. Leider tut er das so gut, dass ich überhaupt nicht mehr sauer sein kann und sich meine Arme und Beine wie von allein um seinen Körper schlingen. Seine Hände wandern sofort unter mein Shirt und ziehen es, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, über meinen Kopf.
"Kann es sein, dass du es irgendwie eilig hast?", frage ich amüsiert, während er schon dabei ist, meine Hose zu öffnen.
"Oh ja."
Und schon sind seine Lippen wieder auf meinen. Seine Zunge schlängelt sich in meinen Mund und seine Hand in meine Shorts.
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