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Mein geliebter Mülleimer

Teil 10

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„Lukas ist ein Idiot“, sagt Dennis ganz nüchtern und ich möchte ihm fast um den Hals fallen dafür. Ich glaube, er sieht mir dieses Bedürfnis an und rutscht etwas unruhig auf seinem Bett hin und her. Empfindet er noch was für mich? Wahrscheinlich schon, oder? Sonst hätte er mich doch nicht eingeladen, mit zu ihm zu kommen und ihm meine Sorgen vorzutragen. So eine selbstlose Seite hat er eigentlich nicht. Aber ich hab mich ja schon öfter bei ihm geirrt.

„Was?“, fragt er nach einer Weile angespannt. Vielleicht hab ich ihn etwas zu lange angesehen.

„Wie geht’s dir eigentlich?“

Er schnauft. „Ich komme auch ganz gut ohne dich zurecht, falls du das meinst.“

„Ja, das glaub ich…“

„Und warum fragst du dann?“

„Small Talk?“, schlage ich vor.

„Lass es“, entgegnet er und macht es sich jetzt in Rückenlage gemütlich.

Ich sehe ihm vom Sessel aus dabei zu und entscheide, seine Bemerkung einfach zu überhören. „Was ist eigentlich mit deinem Vater?“

Er dreht seinen Kopf in meine Richtung. „Wieso interessiert dich das auf einmal? Und sag jetzt nicht Small Talk.“

„Äh… nur so? Ich hab dich zugetextet, jetzt bist du dran.“

Dennis rollt mit den Augen. „Er ist dement.“

„Ist er dafür nicht noch zu jung?“

„Wenn man alles in Schubladen stecken könnte, wäre das Leben doch langweilig.“

Er verzieht nicht eine Mine, während er davon erzählt. Jemand anderes würde das vielleicht kaltherzig nennen, aber ich weiß, was dahinter steckt. Seine Familie ist alles für Dennis. Er kümmert sich um seinen Opa und seinen Vater. Nur würde er das nie zugeben. Er macht es einfach, ohne sich zu beschweren, dass er seine Bedürfnisse wahrscheinlich öfter mal hinten anstellen muss. Vielleicht ist er deswegen so zynisch geworden. Und bestimmt hat er deswegen unsere lockere WG-Beziehung so genossen. Da wurden seine Bedürfnisse immer befriedigt…

„Willst du noch mehr wissen oder war’s das mit dem Gefühlsaustausch?“

„Was willst du denn stattdessen tun?“, frage ich ganz unschuldig, aber natürlich kommt es bei ihm nicht so an.

Er verschränkt die Arme hinter seinem Kopf. „Normalerweise habe ich nur eine Antwort auf diese Frage…“

Normalerweise?

„… aber das wäre jetzt wohl keine gute Idee.“

Ehe ich mich versehe, bin ich vom Sessel aufgestanden und hocke über Dennis gebeugt auf dem Bett.

„Mit Ablehnung kannst du nicht wirklich gut umgehen, oder?“, fragt er ganz cool.

„Das sagt der Richtige.“

„Ach ja? Wieso? Wer wurde denn gerade zum hundertsten Mal von seinem ach-so-tollen Ex abgeschossen und bildet sich jetzt ein, dass ich mal wieder für sämtliche sexuellen Bedürfnisse herhalte?“

Meine Hände schließen sich um seine Handgelenke. „Erstens bin ich nicht deswegen hier…“

„Das sehe ich.“

„… und zweitens weichst du mir doch nur aus, weil du mit meiner Ablehnung nicht umgehen kannst.“

„Na und? Ich versuche von Menschen loszukommen, die mich zurückgewiesen haben. Du gehst mit ihnen ins Bett.“

Ich schnaufe. „Und seit wann bist du der Heilige in dieser Geschichte?“

„Seit du die Rolle des Egoisten übernommen hast, würde ich sagen.“

Wir funkeln uns gegenseitig böse an, allerdings ohne das aufregende Knistern, das es sonst zwischen uns gegeben hat. Von unserer lockeren Beziehung haben wir uns wohl verabschiedet. Auf einmal reden wir über das, was zwischen uns passiert ist. Unheimlich.

„Ich bin egoistisch?“

„Ja“, sagt er als gäbe es nichts Offensichtlicheres.

„Und deine Verführungstricks bei mir waren immer total selbstlos, ja?“

„Hab ich dich gezwungen? Siehst du. Und wer hängt hier übrigens gerade über wem?“

Ich sehe kurz an unseren Körpern hinunter, beschließe aber nicht aufzustehen. „Sag nicht, dass dir das auf einmal unangenehm ist.“

„Das hab ich schon, aber egoistisch wie du bist…“

Ich lache. „Du bist echt ein Arschloch.“

„Wieso? Weil ich dich nicht mehr ranlasse? Weil du auf einmal zugeben musst, dass nicht immer alles nur von mir ausging? Passt gar nicht in das Bild, das du von dir hast, hm?“

Jetzt reicht’s mir. Er wird noch ewig darauf rumreiten, wenn ich ihn lasse. Ich rappel mich auf und suche meine sieben Sachen zusammen.

„Sei froh, dass er ehrlich zu dir ist“, sagt Dennis. „Wenn du es schon nicht bist.“

„Wer?“

„Na Lukas.“

„Ich denke er ist ein Idiot?“, frage ich spöttisch, eine Hand bereits auf der Türklinke.

„Ja, ist er. Er hätte dich endgültig in den Wind schießen sollen, bevor du dich wieder an ihn klettest wie…“

Ich schließe die Tür lautstark hinter mir und kann daher leider nicht mehr hören, womit er mich vergleicht. Ich verlasse das Haus, in dem ich tatsächlich mal gewohnt habe. Laufe die Straße entlang. Biege um die eine oder andere Ecke. Und verlasse mich einfach darauf, dass mich meine Beine in die richtige Richtung tragen. Das war wohl alles ein bisschen viel heute. Marie, Andreas, Dennis…

Warum hat Lukas Marie nicht darum gebeten, mir etwas auszurichten? Oder ihr gesagt, dass ich zurückrufen soll? Es muss doch einen Grund für seinen Anruf gegeben haben.


Meine Beine haben mich nach Hause getragen. Was vermutlich auch richtig war. Da hab ich mich dann in mein Zimmer verzogen, Maries Klopfen an meiner Tür ignoriert und die Anrufliste auf meinem Handy gelöscht. Lukas, Lukas, Lukas, Marie, Lukas, Lukas, Lukas… Ich weiß gar nicht, was der jetzt noch von mir will. Was will er so dringend loswerden, dass er tausendmal anruft. Alles, was ich hören musste, habe ich gehört. Laut und deutlich.

„Janni, wenn du jetzt nicht die Tür aufmachst, trete ich sie ein!“, ruft Marie draußen.

„Versuchs doch!“, brülle ich zurück.

Schritte entfernen sich und ich denke schon, dass ich gewonnen habe. Aber dann kommen die Schritte zurück, zusammen mit Maries Stimme.

„Mach auf oder ich rufe Lukas an!“

„Halt dich da raus!“

„0-1-5-1-6…“

„Und was willst du ihm bitte sagen?“, frage ich etwas alarmiert.

„Ich sage ihm, dass du ihn gerne sehen willst und er sofort herkommen soll.“

Ich springe auf und öffne die Tür. „Tickst du nicht mehr ganz richtig?!“

„Du glaubst doch auch alles“, sagt sie, quetscht sich an mir vorbei und macht es sich auf meinem Bett gemütlich.

„Komm doch rein“, nuschel ich.

„Lass mich raten“, fängt sie an. „Andreas ist ein Arsch?“

„Nicht so sehr wie Lukas, aber ja.“

„Dafür warst du aber ganz schön lange bei ihm.“

„Ich war noch bei Dennis.“

Jetzt wirkt meine liebe Schwester auf einmal wie eingefroren. „Dennis?“

„Ja.“

„Warum?“

Ich schwöre, dass die Temperatur im Zimmer ganz plötzlich unter den Gefrierpunkt gefallen ist.

„Wir… sind jetzt zusammen“, plappert es aus meinem Mund.

„Nein.“

„Doch.“

„Und was ist mit Lukas?“

„Dem kann das doch nur recht sein. Ich werde ihn ab sofort nicht mehr mit meinen Gefühlen belästigen.“

Marie hat jetzt vollkommen die Sprache verloren, was mir die Zeit gibt, über mein spontanes Statement nachzudenken. Eigentlich ist der Plan gar nicht so schlecht. Wenn alle denken, dass ich einen neuen Freund habe, werden sie mich in Ruhe lassen und ich kann mir die Zeit nehmen, um über Lukas hinwegzukommen. Ja, genau. Und Dennis wird mir auch nicht in die Quere kommen, weil wir uns in nächster Zeit wohl nicht sehen werden. Er hat ganz offensichtlich genug von mir und ich von ihm sowieso.

„Wie lange schon?“, fragt Marie.

„Seit heute.“

„Das ist doch total bescheuert, Janni. Du liebst ihn nicht, er liebt dich nicht. Was soll dann…“

„Doch, er liebt mich.“

„Hat er das gesagt?“ Sie glaubt mir nicht.

„Nicht direkt mit den Worten, aber ja. Deshalb bin ich damals bei ihm ausgezogen.“

Marie schüttelt den Kopf. „Ich weiß echt nicht, was ihr für ein Problem habt. Lukas und du. Langsam wird es lächerlich.“

„Schön, dass wenigstens einer darüber lachen kann. Würdest du mich jetzt wieder alleine lassen?“

„Janni…“

„Jetzt“, sage ich mit Nachdruck.

Sie verdreht die Augen und verlässt mein Zimmer.

„Wenn du Lukas anrufst, rede ich nie wieder mit dir“, rufe ich ihr nach und schlage die Tür zu.

Hat sie mir wirklich abgenommen, dass ich mit Dennis zusammen bin? Hab ich mich in letzter Zeit so verändert, dass man mir das ohne Weiteres zutrauen würde? Dennis Worte spuken durch meinen Kopf. Vielleicht bin ich wirklich egoistisch. Ich hab Andreas mit seinen Problemen allein gelassen, Dennis‘ Gefühle nicht ernst genommen und habe Lukas mit meinen Gefühlen in die Ecke gedrängt. Vielleicht konnte er da gar nicht anders als sich von mir zu distanzieren. Na ja, jetzt hat er genug Distanz.


Die nächsten Tage und Wochen verbringe ich mit vielen Schichten in der Videothek, der Suche nach interessanten Studiengängen und einsamen, deprimierenden Spaziergängen im Schnee. Warum die Spaziergänge? In der Zeit gebe ich vor, bei Dennis zu sein. Da ich aber natürlich nicht bei Dennis bin, muss ich etwas anderes tun. Manchmal gehe ich auch ins Kino oder schwimmen oder versuche, mir irgendwo einen hübschen Jungen zu angeln. Letzteres mit einer Erfolgsquote von ziemlich genau null Prozent. Jeden Abend schaue ich dann auf mein Handy, um die Anrufe von Lukas zu löschen, und in meinen Computer, um den Maileingang von Lukas‘ Nachrichten zu befreien. Ungelesen versteht sich.

Seit ein paar Tagen bekomme ich allerdings weder Anrufe noch Mails von Lukas, was mich komischerweise noch mehr deprimiert als die beknackten Spaziergänge, bei denen ich mir jedes Mal den Hintern abfriere. Gerade starre ich wieder ungläubig auf mein Handy, das mir nur die Uhrzeit und die Qualität meines Netzempfangs mitteilt. Bescheuertes Teil. Vielleicht wurde Lukas automatisch gesperrt?

„Jan?“, ruft mein Vater von unten.

„Was ist?“, brülle ich zurück. Ich hab doch schon gesagt, dass ich keinen Hunger habe.

„Dein Freund ist hier.“

„Was?!“

Ich springe vom Bett auf, laufe auf den Flur und da kommt auch schon Dennis die Treppe hoch. Er sieht genauso verwirrt aus wie ich mich fühle.

„Wieso sagt dein Vater…?“

„Warte“, unterbreche ich ihn und schubse ihn unsanft in mein Zimmer.

„… dass ich dein Freund bin?“, fährt er fort, nachdem ich die Tür geschlossen habe.

„Ich musste meiner Familie irgendwas sagen, damit sie aufhören, mich wegen Lukas zu nerven.“

„Und wann wolltest du mir davon erzählen, Schatz?“

War ja klar, dass er sich darüber lustig machen würde.

„Wie geht’s deinem Vater?“, frage ich, weil er Smalltalk ja bekanntlich nicht ausstehen kann.

„Besser. Wie geht’s den Vollidioten Nummer 1 und 3?“

„Die Reihenfolge hat sich geändert.“

„Ach, hast du endlich selber das Siegertreppchen bestiegen?“

„Ja.“

Er grinst sein übliches Grinsen und mir fällt auf, dass ich ihn tatsächlich etwas vermisst habe. Mit niemandem kann ich so reden wie mit Dennis. Selbstverständlich wird er das aber nie erfahren.

„Was willst du?“, frage ich stattdessen.

„Meinen Freund besuchen.“

„Hast du nicht gesagt, dass du von mir loskommen willst?“

„Ja, aber du fehlst mir.“

Er sieht mich direkt an. Ohne Grinsen. Und ich kriege nichts anderes als ein langgezogenes „Äh“ heraus. Er macht ein paar Schritte auf mich zu und legt eine Hand auf meinen Bauch. „Das neulich war eigentlich gar keine schlechte Idee.“

„Ist das ein Test?“, frage ich skeptisch.

„Nein.“ Sein Atem streift meinen Hals.

„Willst du mich verarschen?“

„Nein.“ Seine Hände schieben sich jetzt in die Hosentaschen an meinem Po.

„Bist du immer noch…“

„Verliebt in dich?“

Ich nicke.

„Keine Ahnung.“

„Dann sollten wir das vielleicht besser… sein lassen.“ Scheiße. Wie soll sich sowas ernst anhören, wenn er währenddessen an meinem Hals leckt? Mein Kopf dreht sich ganz von allein nach links, um Dennis auf der rechten Seite mehr Platz zu lassen. Das letzte Mal ist eindeutig zu lange her.

„Ich kann schon auf mich aufpassen“, flüstert er.

„Ja, aber…“

„Hältst du jetzt endlich mal die Klappe?“

Ich schlucke. Und als er mich küsst, gehen mir eh sämtliche Argumente aus. Wie immer sind seine Küsse fordernd und einfach perfekt und…

„Janni? Ich wollte… Ach du scheiße!“, kommt es von der Tür. Marie steht da und sieht uns erschrocken an.

„Hi“, sagt Dennis ganz cool, während ich am liebsten im Boden versinken würde. Was ist das denn für ein Tag?

„Ich wollte dich fragen, ob du noch was aus der Stadt brauchst“, nuschelt Marie und starrt unbehaglich auf ihre Füße.

„Nein“, sage ich mit belegter Stimme.

Sie dreht sich um und will gerade gehen. „Ich dachte, das war ein Scherz.“

„Was?“

„Das mit dir und ihm.“

„Nein, ist es nicht“, schaltet Dennis sich ein. „Ich schlafe heute hier.“

Marie funkelt ihn böse an und lässt uns endlich allein.

„Deine Lüge war ja offensichtlich nicht sehr überzeugend“, meint Dennis. Er geht zur Tür und dreht den Schlüssel einmal um.

War das peinlich. Meine Wangen fühlen sich immer noch heiß an.

„Weiter im Drehbuch?“, fragt Dennis und stellt sich wieder direkt vor mich. Ich zögere. Er grinst und legt eine Hand an meine Wange. Ich rieche das Duschgel auf seiner Haut und spüre die Wärme, die von ihm ausgeht, und die er immer nur kurz mit jemandem teilt. Seine Zunge stupst kurz gegen meine Oberlippe, während seine Hände längst wieder auf dem Weg zu meinem Hintern sind und mich immer dichter zu ihm heran ziehen. Ich kann nicht anders, als meinen Kopf ein Stück vorzulehnen und ihn so dazu einzuladen, mich wieder zu küssen. Und das tut er auch. Zuerst auf den Mund und dann wieder meinen Hals entlang. Verdammt, verdammt, verdammt! Kann ich das hier wirklich schon wieder machen? Lukas… Nein! Der hat damit gar nichts zu tun. Ich will das hier – offensichtlich – und Dennis muss auf sich selber aufpassen. Er hat damit angefangen und er muss die Konsequenzen für sich tragen.

„Soll ich oder willst du?“, flüstert er nah bei meinem Ohr und entfernt sich etwas von mir. „Überleg’s dir.“ Er setzt sich aufs Bett und stützt sich nach hinten mit seinen Händen ab. Ich folge ihm und setze mich auf seinen Schoß. Meine Finger vergraben sich gierig in seinen Haaren und ich küsse ihn wieder. Das ist so berauschend, dass ich am liebsten nie wieder damit aufhören würde. „Mach du“, hauche ich in einer Atempause.


In der Nacht wache ich auf, vielleicht habe ich auch gar nicht geschlafen, und mein Blick fällt auf Dennis. Er hat mir zwar den Rücken zugewandt, aber seine Hand hält immer noch meinen Arm fest, der über seiner Schulter liegt. Sein Oberkörper hebt und senkt sich langsam und sein Atem streift immer wieder meine Hand. Ich weiß ganz genau, dass er nicht Lukas ist, aber ich habe trotzdem das Bedürfnis mein Gesicht in seinem Nacken zu vergraben und die ganze Nacht über seine weiche Haut zu streichen. Irgendwas stimmt hier nicht. Und zwar seit gestern Abend. Ich kann nicht genau sagen, wann es angefangen hat und was es ist, aber irgendwas ist anders.


Dennis scheint am Morgen wieder ganz der Alte zu sein. Er beschwert sich nach dem Aufwachen zwar nicht über meine Nähe, aber er hat auch offensichtlich nicht das Bedürfnis länger hier zu bleiben. Seine Kleidung hat er schneller an als ich mir den Schlaf aus den Augen reiben kann und ein Frühstück will er auch nicht.

„Bis bald, Schatz“, sagt er mit seinem ganz eigenen Grinsen und drückt mir noch schnell einen Kuss auf die Wange. Ich fühle mich verarscht und muss trotzdem lächeln als ich mich zurück ins Bett fallen lasse.

Das Frühstück mit meiner Familie ist dann allerdings weniger angenehm. Ich weiß, dass sie alle eigentlich gerne eine ganz bestimmte Frage stellen würden, aber offenbar traut sich niemand. Es herrscht betretenes Schweigen.

„Warum ist Dennis nicht zum Frühstück geblieben?“, macht mein Vater schließlich den Anfang.

Ich seufze. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte er keine Lust auf diese Horrorstimmung hier.“

Die drei tauschen vielsagende Blicke.

„Schläft er diese Nacht wieder hier?“, fragt jetzt meine Mutter.

„Eher nicht. Aber Marie kann ja nachher einfach mal reinplatzen und nachsehen.“

Wieder Stille.

„Könnte mal jemand endlich fragen, was ihr wirklich wissen wollt, damit ich meine Ruhe habe?“, frage ich genervt.

„Was könnten wir denn wissen wollen?“, fragt Marie herausfordernd.

„Woher soll ich das wissen? Für mich ist alles ganz klar.“ Na ja…

„Und was ist mit Lukas? Ist Dennis jetzt sein Ersatz oder was?“

Ha, ich wusste es! Das ist es nämlich, was sie wissen wollen. Wie konnte ich nur den tollen Lukas durch den unsympathischen Dennis ersetzen?

„Erstens kennt ihr Dennis gar nicht und zweitens geht es euch überhaupt nichts an, mit wem ich was tue!“

Das ist jetzt wieder so ein Moment, in dem ich gerne meinen Mülleimer wieder hätte. Er soll mir sagen wie bescheuert meine Familie ist, dass sie sich aber ja nur Sorgen um mich machen, und vor allem will ich wissen, was zum Kuckuck eigentlich mit mir los ist. Er wüsste es. Er wusste es immer. Aber meinen Mülleimer gibt es nicht mehr, denke ich, als ich mich auf mein Bett fallen lasse, das immer noch ein bisschen nach Dennis riecht. Irgendwo in mir zwickt etwas, aber ich hab keine Ahnung, ob es wegen Dennis oder wegen Lukas ist.

Ich greife nach meinem Handy und wähle eine Nummer. Am anderen Ende schnauft jemand etwas Unverständliches in den Hörer.

„Was?“, frage ich nach.

„Macht es dir irgendwie Spaß, mich immer so früh zu wecken?“

„Es ist kurz nach elf“, stelle ich ganz nüchtern fest.

„Was willst du?“

„Wie geht es ihm?“

Ich höre das Rascheln einer Bettdecke. „War schon mal besser“, sagt Toni. „Die letzten News haben ihn ziemlich umgehauen.“

„Welche News?“, frage ich verwirrt.

„Dass du einen neuen Freund hast.“

„Wer sagt das?“

„Na Luki. Stimmt das gar nicht?“

„Na ja, doch, keine Ahnung“, stammel ich. „Aber woher weiß er das?“

Eine Vermutung hab ich ja und die wird mir auch ein paar Sekunden später bestätigt. Ich renne also die Treppe wieder runter und stürme wütend in die Küche.

„Kannst du dich nicht einmal aus meinen Angelegenheiten raushalten?!“, fahre ich Marie an.

„Hä?“

„Ja ‚hä‘! Ich hab dir gesagt, dass du Lukas nicht anrufen sollst! Warum mischst du dich da ein? Das geht dich alles einen feuchten Dreck an!“

„Ich hab Lukas nicht angerufen“, versucht sie sich rauszureden.

„Ja klar. Und woher weiß er dann von mir und Dennis?“

„Er hat mich angerufen, weil du Vollpfosten dich ja weigerst mit ihm zu reden!“, giftet sie jetzt zurück.

Meine Eltern sind so schlau, sich da rauszuhalten. Sie sitzen nur perplex daneben und sehen sich das Schauspiel an. Ich hab mal wieder das Gefühl, ein Alien in diesem Haus zu sein. Warum kann nicht einmal etwas, was ich tue einfach akzeptiert werden, ohne dass ich mich so einem Verhör unterziehen muss und vor allem, ohne dass alle meinen, sich einmischen zu müssen? Manchmal weiß ich nicht ganz, was ich tue, ja, aber wem geht das nicht mal so? Ich sage doch auch nicht allen, was sie zu tun und zu lassen haben. Ich gucke auch niemanden mit hochgezogener Augenbraue an und sage: Na das solltest du dir aber noch mal überlegen.

„Ist es dir schon mal in den Sinn gekommen, dass ich einen guten Grund habe, nicht mit Lukas zu reden? Ich habe keinen Bock mehr auf dieses Hin und Her mit ihm! Er hat gesagt, dass er nicht mehr mit mir zusammen sein will und damit ist das für mich gegessen. Schluss! Wenn er trotzdem unbedingt mit mir reden will, dann wird er schon einen Weg finden, aber das ist nicht deine Aufgabe!“

Im Flur schnappe ich mir eine von meinen Jacken, schlüpfe in ein Paar Schuhe und stelle leider erst draußen fest, dass diese Sachen nicht wirklich schneetauglich sind. Meine Ohren sind nach drei Sekunden vereist, meine Nase abgestorben und meine Lungen vollkommen zusammengeschrumpelt. Meine Füße spüre ich auch nicht mehr, aber ich schaffe es wie durch ein Wunder bis zu Dennis‘ Haus. Wenn er mich jetzt zur Schnecke macht, weil ich ihm seinen Freiraum nicht lasse, soll mir das recht sein. Hauptsache er lässt mich dafür rein.

„Ich weiß, dass wir uns vorhin erst gesehen haben“, plapper ich drauf los, als Dennis die Tür öffnet, „und ich will dir auch nicht auf den Keks gehen, aber…“

„Hab ich irgendwas gesagt?“

„Äh…“

„Jetzt komm schon rein, bevor du zum Schneemann wirst.“

„Danke“, sage ich erleichtert und gehe hinter ihm her ins warme Haus.

„Willst du drüber reden?“, fragt er auf dem Weg nach oben.

„Nein.“

In seinem Zimmer setzt er sich aufs Bett, mit dem Rücken gegen die Wand, und nimmt einen Playstation-Controller in die Hand. Er fragt nicht, was passiert ist, warum ich jetzt hier bin oder wie lange ich bleiben will. Er sagt mir auch nicht, was ich machen soll oder erklärt, was er macht. Er sitzt einfach da und spielt sein Spiel weiter. Trotzdem weiß ich, dass er aufhören würde, wenn ich ihn darum bitte.

„Was spielst du?“

„Harry Potter.“

„Harry Potter?“, frage ich kichernd.

„Was dagegen? Ist gar nicht so einfach.“

Ich setze mich neben ihn und sehe ihm eine Weile zu. Dann kommt die Kälte allerdings wieder durch und ich verkrieche mich unter der Bettdecke. Ohne weiter darüber nachzudenken, lege ich meinen Kopf auf Dennis‘ Schoß und sehe ihm weiter beim Spielen zu. „Verdammt!“, schimpft er ab und zu und legt für ein paar Augenblicke den Controller zur Seite. Dann versucht er mir zu erklären, warum er an der Stelle nie weiter kommt, und dass daran natürlich nur das dämliche Spiel schuld ist. „Siehst du? Ich will geradeaus springen, aber der dreht immer irgendwie nach links.“

„Ja, scheiß Spiel“, stimme ich ihm lachend zu.

„Du hast ja keine Ahnung.“

„Über sowas würde ich mich nicht so aufregen.“

„Ja, weil du keine Ahnung hast“, behauptet er wieder und wenige Minuten später landet der Controller endgültig auf dem Fußboden. „Da soll einer Spaß dran haben“, murmelt er gefrustet und kriecht zu mir unter die Decke.

„Ist wohl nicht unser Tag heute.“

„Nee.“ Seine Arme schlingen sich um meinen Körper und sein Gesicht vergräbt er an meiner Schulter. „Ist dir noch kalt?“

„Nein.“

„Gut. Einen Tee hättest du dir auch selber holen müssen.“

„Ich trinke keinen Tee.“

„Ist mir doch egal.“

Jeder andere hätte sich wohl über so viel Unfreundlichkeit aufgeregt, aber ich muss darüber nur schmunzeln. Dennis ist so weit von einem Kuschelfanatiker entfernt wie es ein Mensch nur sein kann. Bei ihm geht sowas hier nur mit ein paar Beleidigungen und ein bisschen vorgetäuschter emotionaler Kälte. Trotzdem genieße ich es und bin froh, dass ich so den Stress von zuhause vergessen kann. Meine Finger kraulen wie selbstverständlich Dennis‘ Nacken und streichen über seinen Rücken. Er liegt nur da und rührt sich nicht. Scheinbar ist es ihm auch nicht ganz unangenehm.

Unten im Flur sind Geräusche zu hören und kurz darauf kommt jemand die Treppe hoch. Es klopft an der Tür und sofort stellen meine Finger ihre Tätigkeit ein. Dennis gibt keinen Mucks von sich, also schließe ich meine Augen und tue einfach als würde ich schlafen. Die Zimmertür öffnet sich mit einem leisen Knarren, etwas anderes ist nicht zu hören. Wer auch immer da seine Nase durch den Türspalt schiebt, sieht bestimmt nicht das, was er oder sie erwartet hat. Ich lausche angestrengt, bis ich wieder das leise Knarren höre und entspanne meine verkrampften Muskeln.

„Du kannst jetzt wieder atmen“, flüstert Dennis.

„Ich werde halt nicht gerne beobachtet.“

„Ist doch nichts passiert.“

„Aber…“

„Halt die Klappe“, murmelt er.

„Aber…“

Sein Gesicht taucht plötzlich vor meinem auf. „Wenn du nicht still sein kannst, werfe ich dich raus.“

„Okay“, gebe ich nach. Ich sage ihm also auch nicht, dass ich gerade das Bedürfnis habe, ihn zu küssen. Und ich tue es auch nicht. Dennis kuschelt sich wieder an mich und ich bin verwirrt.


„Hallo?“

„Wenn du Lukas auch nur einen Ton davon sagst, dass ich angerufen habe, schneide…“

„Oh hey, Janni“, trällert Toni fröhlich. Ich muss wohl noch etwas an meinen Drohungen arbeiten.

„Hast du verstanden, was ich gerade gesagt habe?“

„Voll und ganz. Was willst du?“

„Wissen, ob ich verrückt bin.“

Ich erzähle ihm alles, was neuerdings zwischen mir und Dennis abgeht und hoffe, dass er mich nicht auslacht oder anschreit. Ich würde es machen. Ich schreie mich ständig innerlich an und lache mich aus. Was anderes erscheint mir im Moment nicht angebracht. Ich meine, was will ich eigentlich? Bis vor Kurzem wollte ich unbedingt Lukas zurückgewinnen, dann war ich sauer auf ihn und jetzt ist er mir irgendwie egal. Nicht vollkommen egal natürlich, aber ich denke nicht mehr ständig an ihn. Und ich vermisse ihn nicht mehr. Stattdessen – und das ist der Grund, warum ich an meinem Geisteszustand zweifle – fange ich neuerdings an Dennis zu vermissen. Das ist ein ganz übles Ziehen im Bauch, das manchmal sogar auftaucht, wenn ich noch bei ihm bin. Dennis ist immer noch der Meinung, dass man nicht ständig aneinander hängen sollte. Also sitze ich häufig da, starre ihn an und wünschte, ich könnte mich einfach an ihn lehnen. Schon komisch. Dabei ist es mittlerweile fast so, als wären wir wirklich zusammen.

„Hört sich ja toll an“, sagt Toni sarkastisch.

„Ich weiß, dass es nicht perfekt ist, aber wir verstehen uns einfach gut.“

„Dann ist doch alles im grünen Bereich.“

„Also bin ich nicht verrückt?“, frage ich.

„Nö, wieso auch? Dann biste jetzt eben mit Dennis zusammen.“

„Ja…“

„Glücklich scheint dich das aber nicht zu machen.“

„Doch, es ist schon okay. Nur irgendwie anders.“

„Hast du vor, in nächster Zeit mal mit Luki zu reden?“

„Nein“, sage ich bestimmt.

„Ich glaube, dass euch eine Aussprache ganz gut tun würde.“

„Ihm vielleicht, mir nicht.“

„Er hat es nicht so gemeint, was er…“

„Ich muss auflegen“, sage ich schnell und tue das auch.

Ich schließe die Haustür auf, schlüpfe aus meinen Schuhen, schlurfe die Treppe hoch, ziehe meine Jacke aus und werfe mich auf Dennis‘ Bett. Ja, ich habe einen Schlüssel. Wieder. Aber es ist nicht so wie beim letzten Mal. Dieses Mal wohne ich nicht wirklich hier. Wenn einer von uns seine Ruhe braucht, gehe ich nach Hause. Jetzt komme ich gerade aus der Videothek oder, wie ich sie neuerdings nenne, aus der Hölle und will auf keinen Fall auch noch auf meine Familie treffen. Sie haben sich zwar abgewöhnt, mich auf Dennis oder Lukas anzusprechen, aber die Blicke sind eindeutig. Sie verstehen alle nicht, was ich an Dennis finde. Natürlich nicht. Er ist eben nicht so ein Vorzeige-Schwiegersohn wie Lukas und deshalb gibt sich auch niemand Mühe damit, ihn kennenzulernen. Ganz schön schwach, wie ich finde. Aber Dennis ist das nur recht. Vielleicht denkt er, dass das mit uns sowieso nicht lange hält.

Dennis ist nicht da. Keine Ahnung, wo er sich rumtreibt. Manchmal erzählt er es mir, manchmal nicht. Aber ich mache mir keine Sorgen. Auch wenn wir keine direkte Vereinbarung haben, weiß ich, dass er sich nicht mit anderen trifft. Er mag ja ein paar Macken haben, aber mit der Zeit fallen mir immer wieder kleine Dinge auf, die ihn total liebenswert machen. Er nimmt sich immer Zeit für mich, wenn es mir nicht so gut geht, auch wenn er dabei versucht möglichst kühl zu bleiben. Er sagt mir immer ehrlich und direkt, was er denkt. Und er würde nie jemanden, der ihm wichtig ist auf irgendeine Art betrügen.

Dann bin ich wohl doch nicht verrückt, oder? Ich ziehe die Bettdecke über mich und versuche, noch ein bisschen zu schlafen.

Irgendwann später höre ich, dass noch jemand im Zimmer ist. Dennis sitzt an seinem Schreibtisch und tippt etwas in seinen Computer.

„Ich hab vorhin mit Toni gesprochen“, sage ich und setze mich auf.

Dennis hält kurz inne, dreht sich aber nicht zu mir um. „Und? Wie geht’s Lukas?“, fragt er, während seine Finger schon wieder über die Tastatur huschen.

„Darüber haben wir nicht gesprochen.“

„Worüber dann?“

Warum erzähle ich ihm das jetzt? „Über uns.“

„Uns?“, fragt Dennis sichtlich überrascht und wendet sich endlich von seinem Computer ab. „Dich und mich?“

„Ja.“

„Und jetzt willst du darüber mit mir reden?“

„Ja.“

Er seufzt und steht auf. „Ich dachte da wäre alles klar.“

„Ja, schon, aber…“

„Du musst wieder alles kompliziert machen, oder?“, fragt er und setzt sich auf meinen Schoß. „Wenn du dich unwohl fühlst, kannst du jederzeit gehen. Ich halte dich nicht auf.“

„Kannst du mir nicht einmal sagen, was du willst?“

„Wenn du ein Beziehungsgespräch führen willst, bist du bei mir an der falschen Adresse.“

„Aber wir sind doch quasi zusammen“, stelle ich fest.

„Ja. Schön, dass wir darüber gesprochen haben“, entgegnet er und versucht, mich zu küssen. Ich halte ihn zurück. „Was denn noch?“

Ich zögere. Eine Frage fällt mir noch ein, aber ich bin mir auf einmal nicht mehr sicher, ob ich die Antwort hören will.

„Nichts.“

Dennis grinst und küsst mich.


Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegt Dennis auf dem Bauch neben mir und liest ein Buch. Ich robbe dichter an ihn heran und stütze mein Kinn auf seine Schulter. Er scheint nichts dagegen zu haben. Ich lese ein paar Zeilen mit, verliere aber schnell das Interesse als ich merke, dass es um Politik geht. Heute habe ich endlich mal wieder einen freien Tag ohne Höllen-Videothek. Vielleicht gehe ich mal wieder schwimmen oder fahre in die Stadt. Dennis brauche ich gar nicht erst fragen. Er hat nie zu irgendwas Lust, schon gar nicht, wenn ich das Wörtchen „zusammen“ benutze.

„Willst du immer noch wissen, was ich will?“, fragt er plötzlich, ohne von seinem Buch aufzusehen.

„Hä?“

„Oh, da muss wohl erst mal einer Zähne putzen.“

„Vielen Dank“, entgegne ich und ziehe mich ein Stück zurück. Das war bestimmt nur ein Trick, um mich loszuwerden.

„Also?“, fragt er.

„Was?“

„Willst du es noch wissen?“

Meint er meine Frage von gestern? Er hat sich nicht wirklich die ganze Nacht Gedanken darüber gemacht, oder? „Ja. Klar.“

Jetzt klappt er sein Buch zu und dreht sich auf den Rücken. „Ich will nicht mehr über Lukas reden.“

Oh, das ist neu.

„Und ich will auch nicht, dass du ständig an ihn denkst.“

„Ich denke gar nicht…“

„Und ich will, dass du heute mit mir zu meinem Opa gehst.“

„Was?“, frage ich und fühle mich, als wäre ich gerade mindestens aus allen Wolken gefallen.

„Das war’s. Erst mal.“

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