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Wie im Märchen
Weihnachtschallenge 2009
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Informationen
- Story: Wie im Märchen
- Autor: Ike
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Weihnachten, Challenge
„Autsch!“ Mühselig rappelt sie sich wieder vom Boden auf. „Scheiß Blitzeis!“ Vor Wut schäumend schmeißt sie das Regal mit den Weihnachtskeksen um.
Mich immer noch vor Lachen krümmend, helfe ich der Fee vom Boden auf.
„Du solltest dich langsam daran gewöhnt haben, dass hier einiges anders ist als bei uns. Immerhin machst du deinen Urlaub nicht zum ersten Mal hier.“
„Ach, halt die Klappe, Ariel!“, wettert sie weiter. „Ich schwöre mir jedes Jahr wieder, dass ich nicht hierher kommen werde, aber irgendwie haben es mir die Menschen dann doch angetan.“
„Ich weiß, was du meinst“, sage ich und denke an die vielen schönen Dinge, die es in der Menschenwelt jedes Jahr zur Weihnachtszeit zu bestaunen gibt. All die bunten Lichter in den verschiedensten Formen, die leckeren Naschereien, Musik, die von überall in meine Ohren dringt, die märchenhafte Stimmung, die auf Allem zu liegen scheint und nicht zu vergessen die Vorfreude aufs Weihnachtsfest, die man den meisten Menschen ansehen kann. Das alles verursacht immer ein ganz merkwürdiges Kribbeln in meinem Körper und von Jahr zu Jahr fällt es mir immer schwerer, mich von dieser Faszination loszureißen und in meine eigene Wirklichkeit zurück zu kehren.
„Würdest du einer alten Dame vielleicht mal eine helfende Hand anbieten, bevor du völlig in deiner Traumwelt versinkst?“
„Sollten Feen nicht eigentlich liebe und stets zuvorkommende Geschöpfe sein?“, frage ich, biete ihr aber trotzdem meinen Arm zur Stütze an, damit wir endlich weiter gehen können.
„Wenn du erst mal so alt bist wie ich, junger Luftgeist, wird es dir auch schwer fallen, dich ohne deine Flügel fortzubewegen. Erst recht, wenn der Boden so spiegelglatt ist wie hier. Ich finde, dann darf man auch mal etwas ausfallender werden.“
„Aber sicher.“
„Gut. Gehen wir einen… wie heißt das doch gleich?“
„Kaffee?“
„Ja, genau. Ich kann mir diese ganzen Begriffe für die heißen Getränke einfach nicht merken. Gehen wir einen Kaffee trinken?“
„Ja, das ist eine gute Idee.“
Wir bewegen uns langsam vorwärts, um nicht wieder einen Sturz zu riskieren und sehen uns dabei den wunderschönen Schmuck der Stadt an. Wie sind die Menschen nur darauf gekommen, Lichter in einen Baum zu hängen? Und warum tun sie es jedes Jahr wieder? Bei uns in der magischen Welt, verändert sich alles täglich. Nie sieht es an einem Tag so aus wie am Tag zuvor. Manchmal verschwinden sogar ganze Wälder oder auch Häuser und tauchen einfach wieder irgendwo anders auf. Durch Zauberei ist eben vieles möglich, aber das fasziniert mich alles nicht mehr. Ich hätte gern etwas mehr Beständigkeit in meinem Leben und deshalb bewundere ich die Menschen. Sie erleben immer wieder dasselbe, aber sie genießen es trotzdem. Sie freuen sich sogar, wenn morgens alles noch so ist wie am vergangenen Abend. Und jedes Jahr zu Weihnachten schmücken sie alles wieder und sind glücklich dabei. Bei uns ist das absolut undenkbar. Nichts ist von Dauer und das wird es auch nie sein. Genau aus diesem Grund zieht es mich jedes Jahr wieder hierher und ich freue mich immer wieder aufs Neue, obwohl ich das alles doch schon kenne. Allerdings habe ich noch nie an einem Weihnachtsfest teilgenommen, weil man das hier mit der Familie feiert und ich nirgendwo dazu gehöre. Ich wüsste nur zu gern, was da passiert. Was geschieht zum Beispiel mit all den Sachen, die die Menschen kaufen? Das scheint etwas sehr Wichtiges zu sein. Immerhin rennen einige sogar noch mal am Weihnachtstag los und kaufen etwas.
„Was hältst du hiervon?“, fragt Belinda und deutet auf ein Haus, in dem man sich hinsetzen kann, um etwas zu essen oder zu trinken. Ich glaube die Menschen nennen es ein ‚Café‘.
„Ja, meinetwegen.“
Wir betreten das Café, suchen uns einen Tisch aus und dann kommt auch schon jemand, der uns nach der Bestellung fragt. Er sieht ein wenig gestresst aus, ist aber trotzdem freundlich.
„Ich kann überhaupt nicht verstehen, was die Menschen an Schnee und Eis so toll finden. Mein Hintern tut immer noch weh.“
„Es sieht schön aus und man kann viel damit machen“, antworte ich. „Es gehört einfach dazu.“
„Trotzdem rutscht man darauf aus. Ich finde die Leute in den Streuwagen sollte ihre Arbeit etwas ernster nehmen. Wozu gibt es sie denn sonst?“
„Du bist aber schlecht gelaunt heute. Ist was passiert?“
„Nein. Der erste Tag vom Urlaub ist nur immer der schwerste. Ich muss mich eben erst mal daran gewöhnen, plötzlich nicht mehr immer und überall zaubern zu können. Das ist mein Beruf, das lässt sich nicht so einfach abschalten.“
„Vielleicht ist es in deinem Zustand gerade ganz gut.“
„Hast du Angst, ich würde dich verhexen?“, fragt sie und lacht.
„Ein bisschen schon. Wär ja nicht das erste Mal.“
„Nimmst du mir das etwa immer noch übel? Es war nur ein einziger Kuss, dann hab ich es doch wieder aufgehoben.“
„Das war aber zufällig mein erster Kuss. Ich hätte den Moment gerne selber ausgewählt und die Person auch.“
„Du warst verliebt in das Mädchen, reicht das nicht?“ Sie schmunzelt und nippt an ihrem Kaffee.
„Aber nur, weil du mich dazu gebracht hast. Ehrlich, du solltest das mit den Liebeszaubern lieber weiterhin Amor überlassen.“ Der weiß zumindest auch, auf welches Geschlecht man steht, füge ich in Gedanken hinzu. Belinda hätte mich noch so viele Mädchen küssen lassen können, es hätte mir nie besonders gut gefallen.
„Ach, der ist auch schon alt.“
„Ja, aber es wird ihn immer geben.“
„Du bist viel zu romantisch, Ariel. Das hält ja niemand aus. Du brauchst wirklich jemanden, bei dem du das ausleben kannst.“
„Was du nicht sagst“, murmel ich gefrustet. Als ob sie mich darauf aufmerksam machen müsste. Ich würde so gerne mal mit jemandem Weihnachten feiern. Mit jemandem, den ich liebe. So wie die Menschen es tun. Das Problem ist nur, dass es diesen Jemand nicht gibt und ich nicht weiß wie man Weihnachten richtig feiert. Stattdessen hocke ich jedes Jahr in meinem Hotel oder wandere durch die leeren Straßen der Stadt. Dann ist irgendwann der Urlaub vorbei und im nächsten Jahr erwartet mich wieder genau dasselbe.
„Du findest schon noch die Richtige“, sagt Belinda und klopft mir aufmunternd auf die Schulter. „Aber vielleicht sollten wir jetzt erst mal zurück ins Hotel gehen. Es wird schon dunkel und ich hab keine Lust, mir noch mehr blaue Flecken zu holen.“
„Okay. Wieder ein langweiliger, einsamer Abend im Hotelzimmer.“
„Wir können ja auch noch ein bisschen durch die Häuser ziehen.“
„Ich glaube, du meinst um die Häuser ziehen. Sei nicht böse, aber wahrscheinlich würde mir das nicht besonders helfen.“
„Ja ja, schon gut. Ich weiß selber, dass ich zu alt dafür bin.“
Sie winkt der Bedienung und nachdem wir bezahlt haben, machen wir uns auf den Weg. Wahrscheinlich ist heute einer dieser Tage, an denen die meisten Menschen nicht arbeiten müssen. Es sind nämlich ziemlich viele unterwegs. Die meisten haben entweder einen von diesen Bäumen dabei, die sie dann zu Hause schmücken oder so viele Taschen, dass sie sie kaum noch tragen können. Belinda und ich fallen aus diesem Bild ziemlich raus. Wir schleppen nichts und haben es auch nicht eilig. Manchmal werden wir freundlich gegrüßt, obwohl uns hier wohl niemand kennen dürfte und einmal dreht sich sogar jemand nach uns um. Er grinst ganz merkwürdig und ich frage mich sofort, was denn so lustig sein soll. Menschen können echt verwirrend sein. Sie sind so undurchschaubar. Wahrscheinlich werde ich sie nie ganz verstehen.
Der Mann hinter dem Tresen der Hotel-Rezeption ist gerade damit beschäftigt ein paar Kerzen anzuzünden, als wir nach unseren Schlüsseln fragen.
„Sie haben noch eine vergessen“, sage ich und deute auf die vier Kerzen, von denen nur drei brennen.
„Oh nein, heute ist doch erst der dritte Advent.“
„Advent?“
„Ja, heute ist Sonntag, der 13. Dezember.“ Er lächelt freundlich und setzt sich dann vor seinen Computer. Scheinbar geht er nicht davon aus, dass ich es immer noch nicht verstanden habe. Warum auch nicht? In seinen Augen bin ich ein Mensch wie er.
Belinda nimmt meinen Arm und zieht mich mit zu den Fahrstühlen. „Also wirklich Ariel“, sagt sie. „Jetzt bist du schon das vierte Jahr hier und weißt immer noch nicht, was Advent bedeutet?“
„Ich hab davon halt noch nichts gehört. Du kannst dir ja nicht mal das Wort Kaffee merken.“
Als der Fahrstuhl hält, wünschen wir uns eine gute Nacht und gehen in unsere Zimmer. Zuerst überlege ich mir, den Fernseher einzuschalten oder ein Buch zu lesen, aber dann entscheide ich mich dafür, doch noch mal rauszugehen. Ich kann mich hier im Zimmer einfach nicht beschäftigen und wenn ich mehr über die Menschenwelt lernen will, muss ich schließlich auch daran teilnehmen. Ich schnappe mir also wieder meinen dicken Mantel und verlasse das Hotel. Draußen schlendere ich genauso langsam durch die Straßen wie eben schon, aber dieses Mal nehme ich mir mal wieder mehr Zeit alles zu betrachten. Als ich um eine Ecke biege, stehe ich auf einmal am Rande eines großen Platzes, auf dem ein Weihnachtsmarkt aufgebaut wurde. Mir steigen sofort diese typischen Gerüche in die Nase, die ich allerdings noch nicht richtig zuordnen kann und ich muss ein bisschen lächeln. Da ist nämlich wieder dieses kribbelnde Gefühl in mir, das mich alles andere vergessen lässt.
Ich schaue mir die Sachen an, die bei den vielen Ständen angeboten werden und muss mein Lachen angestrengt zurückhalten, als ich die Nachbildungen von verschiedenen magischen Geschöpfen sehe. Das wäre was für Belinda. Ich muss ihr unbedingt mal diesen Weihnachtsmarkt zeigen.
Besonders haben es mir aber die Schneekugeln angetan. In meiner Welt gibt es keinen Schnee, dann wäre so eine Kugel doch die perfekte Erinnerung. Außerdem sieht es so schön aus wie der Schnee in der Kugel auf die kleinen Figuren fällt. Aber ich könnte mich nie für ein Motiv entscheiden. Es gibt welche mit spielenden Kindern, mit Tieren, natürlich auch mit dem sogenannten Weihnachtsmann und mit einem komischen Wesen, das aus drei weißen Kugeln besteht. Ich glaube das ist so ein Ding, das die Kinder hier immer aus Schnee bauen.
„Die haben es dir ja ganz schön angetan, wie es aussieht.“
Ich drehe mich zur Seite und sehe in ein freundlich lächelndes Gesicht. Irgendwie kommt es mir bekannt vor, aber ich weiß nicht warum.
„Ja, die sind toll“, erwidere ich ebenfalls mit einem Lächeln.
„Dann musst du unbedingt eine haben.“
„Ich könnte mich nie für eine entscheiden.“
„Das ist natürlich ein Problem. Ich bin übrigens Erik.“ Er hält mir seine rechte Hand entgegen.
„Ariel.“
„Ariel? Das ist aber ein ungewöhnlicher Name. Hey, das ist ja fast wie Arielle und Erik.“
Ihn scheint diese Erkenntnis sehr zu belustigen, denn sein Lächeln ist jetzt ein breites Grinsen. Ich weiß nur leider überhaupt nicht, wovon er redet.
„Kennst du nicht „Arielle, die kleine Meerjungfrau“?“
„Hier gibt es Meerjungfrauen?“, frage ich überrascht.
Erik sieht mich mit großen Augen an und prustet auf einmal los. „Du bist ja ein Scherzkeks. Das ist ein Märchen für Kinder.“
„Ach so“, sage ich ziemlich leise. Wie peinlich. Gott sei Dank hat er mich nicht ernst genommen.
„Und Erik ist der Prinz, in den sie sich verliebt. Allerdings ist der ein Mensch und damit sie zusammen sein können, muss Arielle auch ein Mensch werden.“
„Und das tut sie einfach so? Dann muss sie ja ihre Welt verlassen.“
„Na ja, sie liebt ihn halt. Und sie wollte ja sogar schon bei den Menschen leben, bevor sie Erik kennengelernt hat.“
„Ach so.“
Das kommt mir doch sehr bekannt vor.
„Hast du Lust einen Glühwein mit mir zu trinken?“, fragt Erik. „Ich lade dich auch ein. Das heißt, natürlich nur, wenn du dich nicht um deine Oma kümmern musst.“
„Meine Oma?“
„Ja, die Frau, mit der du vorhin unterwegs warst.“
Ich überlege angestrengt, wo er uns gesehen haben könnte und dann fällt mir auf einmal auch wieder ein, warum mir sein Gesicht so bekannt vor kam.
„Du warst der, der sich nach uns umgedreht hat“, stelle ich fest.
„Ja, genau.“
„Warum hast du uns so merkwürdig angesehen?“
„Ich hab nur dich angesehen.“
„Warum?“
„Weil ich dich niedlich finde.“
Er grinst wieder und ich merke schlagartig, dass mir auf einmal gar nicht mehr kalt ist. Das kann er doch nicht einfach so sagen. Das hat mir noch nie jemand gesagt. Ein anderer Junge schon mal gar nicht. Aber vielleicht meint er es ja gar nicht so wie ich es verstanden habe. Vielleicht ist das nur so eine komische Eigenart der Menschen.
„Wie meinst du das?“, frage ich deswegen.
Ihn scheint die Frage etwas aus der Bahn zu werfen. „Na, wie man so was eben meint, wenn man es sagt. Ich glaube du hast das schon ganz richtig verstanden, wenn ich mir deine Gesichtsfarbe mal ansehe.“
Okay, offensichtlich meint er es doch so wie ich es verstanden habe. Ich wende meinen Blick wieder den Schneekugeln zu.
„Und, wie sieht’s aus? Glühwein?“
„Ähm, nein danke. Ich… ich muss wieder zurück.“
„Zurück unter Wasser?“, lacht er.
„Ja, so ähnlich.“
„Okay, dann ein anderes Mal.“
„Aber, du weißt doch gar nicht…“
„Ich finde dich schon.“
Er kommt näher, berührt mit seinen Lippen ganz leicht meine Wange und verschwindet. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hatte, aber ich bin sicher, dass er das nicht ernst gemeint haben kann. Und selbst wenn doch, wir werden uns bestimmt kein zweites Mal zufällig über den Weg laufen. Nicht in so einer großen Stadt zur Weihnachtszeit. Außerdem muss ich sowieso bald wieder nach Hause.
Ich trenne mich widerwillig von dem Stand mit den Schneekugeln und mache mich auf den Rückweg ins Hotel. Obwohl ich schneller laufe als vorhin, kommt es mir so vor, als ob ich viel länger brauche. Und weil ich in Gedanken doch noch so ein ziemlich hübsches Gesicht mit großen, braunen Augen vor mir sehe, rutsche ich auch einmal auf dem glatten Boden aus. Ich verfluche mich selber dafür, dass ich so schwach bin und mir wünsche, ich wäre doch mit ihm mitgegangen. Es ist doch ganz klar, dass ich mich darauf nicht einlassen kann. Ich bin schließlich nicht Arielle. Und ich bin auch nicht verliebt. Das Kribbeln in mir ist ganz normal. Das hab ich immer, wenn ich in dieser Welt bin. Und dass er so unheimlich gut nach einem dieser Weihnachtsgewürze gerochen hat, ist auch nicht weiter wichtig. So riecht schließlich alles hier. Nichts Besonderes. Und vielleicht ist es hier ja auch üblich, dass man sich zum Abschied auf die Wange küsst. Das hab ich schon oft gesehen.
Am nächsten Tag machen Belinda und ich eine Schifffahrt. Durch die Kanäle der Stadt und zurück zum Hafen. Also so was Beknacktes hab ich wirklich noch nie mitgemacht. Meine Nase, meine Ohren, meine Hände, meine Füße… alles ist total taub. Es ist Winter. Es ist schweinekalt. Wer zum Henker setzt sich bei dem Wetter auf ein Schiff und freut sich dann noch über die schöne Aussicht? Da hört es bei mir echt auf. Keine Ahnung wie Belinda dabei immer noch glücklich lächeln kann.
„Du läufst als hättest du ne Gardinenstange im Hintern“, sagt sie prustend und hakt ihren Arm bei mir unter.
„Ich glaube du meinst einen Besenstiel.“
„Ist doch egal.“
„Und warum muss ich dir dann beim Gehen helfen?“
„Weil du zwei junge, gesunde Beine hast.“
„Von denen ich aber nicht mehr viel spüre“, sage ich genervt.
„Ach, jetzt hör schon auf. Du bist schließlich freiwillig mitgekommen. Was ist überhaupt heute los mit dir? Gestern Abend warst du noch nicht so mies drauf.“
„Ich hab einfach schlecht geschlafen. Kann man nicht mal einen schlechten Tag haben?“
„Doch natürlich, aber meistens hat das bei dir immer einen guten Grund. Also, was ist es?“
„Ich will nicht darüber reden.“
„Dann muss es etwas sein, das dir peinlich ist.“
Ich trete gegen einen Stein, der mir im Weg liegt. Natürlich hat sie recht. Wie immer. Erik geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Die ganze Nacht hab ich eine Diskussion mit mir selber geführt, ob ich ihn wiedersehen möchte oder nicht. Man sollte meinen, dass ich weiß, was ich will, aber das ist in dieser Situation eben etwas schwieriger. Ich würde ihn ja gerne wiedersehen, aber ich will mich auch nicht zu sehr reinsteigern und nachher enttäuscht sein, wenn ich wieder nach Hause muss. Das würde garantiert passieren. Ich kenn mich ja.
„Du hast mir sonst auch immer alles gesagt, Ariel. So schlimm kann es doch nicht sein.“
„ Da liegst du ziemlich falsch. Und ich hab dir nicht immer alles erzählt.“
„Also geht es um etwas, das du schon länger mit dir rumschleppst?“
„Belinda, du nervst!“
„Tue ich das nicht immer?“
Woran liegt es eigentlich, dass mich nie jemand ernst nimmt, wenn ich mal etwas lauter werde? Ich kann doch auch mal sauer sein und will dann wie jeder andere auch in Ruhe gelassen werden. Nur leider traut mir anscheinend keiner zu, dass ich auch richtig ausfallend werden kann.
„Ich bin gestern noch mal durch die Stadt gegangen und hab da jemanden getroffen“, erkläre ich seufzend.
Es könnte daran liegen, dass ich immer viel zu schnell aufgebe.
„Aha“, sagt Belinda nickend. „Und jetzt geht dir diese Person nicht mehr aus dem Kopf, aber du machst dir Gedanken, weil du bald wieder nach Hause musst.“
„So in etwa, ja.“ Ich halte es nicht für nötig ihr zu sagen, dass es sich dabei um einen anderen Jungen handelt. Wenn sowieso nichts daraus werden kann, muss sie es auch nicht wissen. Falls ich irgendwann tatsächlich mal einen Freund haben sollte, kann ich sie immer noch einweihen. Ich glaube nicht, dass sie damit ein Problem hätte, aber ich will das jetzt nicht breittreten.
„Na, dann würde ich ganz klar sagen, dass du die Finger davon lässt. Sonst gibt es nachher zwei gebrochene Herzen und ich weiß jetzt schon, wer sich um das eine kümmern darf.“
„Wie gut, dass du nicht egoistisch bist“, sage ich und verdrehe die Augen.
„Das ist das Alter.“
„Na klar, was auch sonst? Übrigens wurdest du gestern für meine Oma gehalten.“ Bloß schnell das Thema wechseln.
„Wer hat das gesagt?“
„Das hat einer gemurmelt, der uns gestern auf der Straße entgegen kam.“ Kleine Notlüge. Aber es scheint zu funktionieren. Belinda vergisst vollkommen, dass wir eigentlich über mein Problem reden wollten und fragt mich stattdessen, ob sie wirklich so alt aussähe. Sie schimpft auf die Menschen, dass sie immer alles so oberflächlich sehen würden und irgendwann muss ich nicht mal mehr zuhören, weil sie ohnehin nur mit sich selber spricht. Sie ist so vertieft, dass sie auch gar nicht mitbekommt wie ein junger Mann an uns vorbei geht und mir dabei grinsend zuzwinkert. Ich drehe mich sofort um, aber da ist Erik auch schon wieder verschwunden. Zwischen den vielen Menschen kann ich ihn nicht mehr sehen. War das ne Halluzination?
„Willst du da Wurzeln schlagen?“
„Äh… nein.“
„Na dann komm. Im Hotel gibt’s bestimmt schon Abendessen.“
„Ich komm ja schon.“
Auf dem Weg drehe ich mich noch ein paarmal um, aber dieses eine Gesicht sehe ich nicht wieder.
Im Hotel gibt es tatsächlich schon Abendessen, also stellen wir uns beim Buffet an und setzen uns dann an einen freien Tisch.
„Und? Wie ist sie?“, fragt Belinda auf einmal.
„Wer?“
„Na, das Mädchen, das dir so den Kopf verdreht hat.“
Ich fasse es nicht. Jetzt fängt sie wieder damit an.
„Ich denke ich soll die Finger davon lassen. Warum ist das dann so wichtig?“
„Es interessiert mich eben. Also, wie sieht sie aus?“
In meinem Kopf taucht Eriks Gesicht auf. „Schwarze Haare, braune Augen und ein umwerfendes Lächeln.“
„Also genau das Gegenteil von dir.“
„Sehr freundlich. Und jetzt würde ich gerne essen und das Thema wechseln.“
„Ja ja.“
Nachdem wir gegessen haben und sich Belinda von mir verabschiedet hat, verlasse ich das Hotel wieder. Ich halte es einfach nicht aus hier zu sitzen, wenn ich sowieso nur an Erik denke. Im Moment ist es mir auch egal, dass ich wahrscheinlich einen großen Fehler mache, und es mir nachher viel schlechter gehen wird als jetzt.
Ich gehe also wieder zu dem Weihnachtsmarkt, weil ich mir vorstelle, ihn hier am ehesten wieder zu finden, und sehe mich um. Heute ist es nicht so voll wie gestern, aber trotzdem könnte ich ihn zwischen den anderen leicht übersehen. Zweimal glaube ich, ihn gesehen zu haben, aber es war immer jemand anderes. Hoffentlich kommt er heute überhaupt hier her. Ich wüsste nicht, wo er mich sonst finden will. Ich schaue mir wieder kurz die Schneekugeln an, probiere einen Spekulatius an einem Stand, der verschiedene Gebäcksorten anbietet und bleibe schließlich vor der Bühne stehen, auf der diese schöne Weihnachtsmusik gespielt wird. Ich schaue mich immer wieder um und will die Hoffnung schon fast aufgeben, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippt.
„Suchst du mich?“, fragt jemand hinter mir und ich drehe mich erschrocken um.
Da steht er. Die Hände in den Jackentaschen, einen dicken Schal um den Hals gewickelt und die Wangen ganz rot von der Kälte. Mir ist nicht kalt, aber meine Wangen dürften trotzdem ein wenig Farbe haben.
„Ja“, gebe ich leise zu.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich heute schon wieder finde.“
„Hast du mich denn gesucht?“
„Allerdings, und ich wollte gerade aufgeben. Hast du jetzt noch was vor?“
„Nein, ich wüsste auch gar nicht was.“
„Du kommst nicht von hier, oder?“, fragt er, ohne dass es sich nach einer Frage anhört.
„Ist das so offensichtlich?“
„Du wirkst so ein bisschen verloren. Als ob du dich nicht richtig auskennst.“
„Ja, das stimmt.“
„Na dann, komm mit. Ich zeig dir alles, damit du dich nicht verläufst. Und ein bisschen Bewegung ist bei der Kälte auch nicht schlecht.“
Er macht ein paar Schritte zurück und ich folge ihm. Wir laufen einmal durch die ganze Stadt und ab und zu erzählt er mir etwas zu den Sehenswürdigkeiten. Er redet ziemlich viel, aber das stört mich nicht, weil ich ihn währenddessen einfach nur ansehen kann.
„Was machst du denn hier?“, fragt er mich.
„Urlaub. Ich komme jedes Jahr hierher.“
„Mit deiner Oma?“
„Nein, sie ist gar nicht meine Oma. Sie ist eine Freundin.“
„Eine Freundin? Das ist aber ungewöhnlich.“
„Ich kenne sie schon ewig und wir verstehen uns gut“, erkläre ich.
Erik lächelt mich an, so dass ich schnell meinen Blick abwenden muss.
„Feiert ihr auch Weihnachten zusammen?“
„Ja.“
„Willst du nicht mit deiner Familie feiern?“
„Nein, bei uns wird Weihnachten gar nicht gefeiert. Aber ich finde alles, was damit zu tun hat so schön, also komme ich jedes Jahr hierher. Wie feierst du denn Weihnachten?“
„Das weiß ich noch nicht. Letztes Jahr hab ich bei meinen Eltern gefeiert und dieses Jahr wollte ich eigentlich mit meinem Freund zusammen sein, aber dann haben wir uns vor einem viertel Jahr getrennt.“
„Warum?“, frage ich neugierig.
„Ach, das Übliche. Wir haben uns auseinander gelebt. Was ist mit dir? Hast du einen Freund?“
„Nein.“
„Warum nicht? Willst du nicht?“
„Doch schon, aber es hat sich nie ergeben. Die meisten, die ich getroffen habe, begnügen sich mit einer Nacht und dann hört man nie wieder etwas von ihnen.“
„Schade“, sagt er und lächelt mich an. „Ich würde dich bestimmt nicht wieder hergeben.“
„Dafür müsstest du mich ja erst mal haben.“
„Ja, das stimmt. Meinst du das könnte schwierig werden?“
„Das kann ich dir nicht sagen.“
Wir laufen gerade wieder am Hafen entlang und ich erinnere mich, dass er gar nicht so weit von dem Weihnachtsmarkt entfernt ist. Unser kleiner Spaziergang kann also nicht mehr so lange dauern. Was er dann wohl vorhat?
Nach einer Weile biegen wir in eine kleinere Gasse ein, an deren Ende ich schon wieder viele Lichter sehe. Die Musik kann ich auch schon hören.
„Sehen wir uns morgen wieder?“, fragt Erik.
Wie jetzt? Er will sich schon wieder verabschieden?
„Ähm… ja.“
„Okay, dann kann ich dich auch endlich auf einen Glühwein einladen. Heute wird das leider nichts mehr.“
Er beugt sich vor, um mir, wie ich glaube, wieder einen Kuss auf die Wange zu geben, aber dieses Mal treffen seine Lippen meinen Mund. Ganz kurz nur, aber bevor er sich wieder weiter von mir entfernen kann, greife ich nach seinem Schal und ziehe ihn wieder an mich und küsse ihn etwas länger. Wir stehen immer noch im Schatten, so dass niemand sehen kann wie er seine Hände an meine Hüften legt und unser Kuss immer intensiver wird. Seine Zunge stupst fordernd gegen meine und seine Arme schlingen sich fester um meinen Körper. Spätestens jetzt kann ich mir nicht mehr einreden, dass das Kribbeln in mir ganz normal ist.
„Das war jetzt aber nicht besonders schwierig“, flüstert er.
„Soll das heißen, dass das nur ein Trick war?“
„Ja, ein bisschen schon.“
„Und willst du jetzt immer noch gehen?“
„Ich muss an einer Hausarbeit weiterschreiben. Ich studiere noch.“ Er legt seine Hände an mein Gesicht. „Und du solltest dich auch lieber ein bisschen aufwärmen.“
„Und ich dachte, du würdest mich nicht so schnell wieder hergeben.“
Einen Kuss bekomme ich noch, dann flüstert er „Bis morgen“ und lässt mich allein. Die Wärme und die Sicherheit, die ich eben noch gespürt habe, nimmt er mit und bei mir macht sich das schlechte Gewissen breit. Es ist, als ob mir jemand mit einem Ruck die rosarote Brille von der Nase gerissen hätte. Ich bin eindeutig zu weit gegangen. Das hätte nicht passieren dürfen. Ich muss bald wieder zurück, dann kann ich mich doch hier nicht so an jemanden hängen. Ich muss verrückt gewesen sein, ihn zu küssen. Wer weiß, was ich noch getan hätte, wenn er nicht gegangen wäre.
So schnell wie möglich laufe ich zurück zum Hotel. Ich muss ihm morgen unbedingt sagen, dass wir uns besser nicht mehr sehen. Oh Gott, das schaffe ich doch nie. Ich muss ja nur an ihn denken und schon ist mir alles andere egal. Wie soll das denn erst werden, wenn ich ihm gegenüber stehe? Das kann ja nicht gut ausgehen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen sieht mich Belinda die ganze Zeit prüfend von der Seite an. Mist. Sie ahnt bestimmt wieder irgendwas. Vielleicht hat sie auch mitbekommen, dass ich gestern noch mal weggegangen bin. Ich versuche sie zu ignorieren, aber schon ein paar Minuten später halte ich es nicht mehr aus.
„Was ist? Frag mich einfach, wenn du was wissen willst, ansonsten lass mich bitte in Ruhe frühstücken.“
„Du siehst ziemlich unausgeschlafen aus. Ist wohl spät geworden gestern, oder?“
„Nein, ist es nicht.“
„Ich hab dir doch gesagt, dass das nicht gut gehen kann, Ariel.“
„Das weiß ich selber“, gebe ich genervt zurück. „Aber es ist ganz allein meine Sache.“
„Na gut, aber dann beschwer dich nachher nicht bei mir.“
„Werd ich nicht. Ich klär das heute.“
„Okay. Und was hast du sonst heute vor?“
„Noch gar nichts.“
„Dann kannst du mich ja ins Theater begleiten. Letztes Jahr war das so toll, das lass ich mir nie wieder entgehen“, schwärmt sie.
„Nein, danke, da wirst du wohl alleine hingehen müssen.“
„Du Banause.“
Was ich den ganzen Tag mit mir anfangen will, weiß ich allerdings auch noch nicht. Draußen ist es heute eigentlich ganz schön, weil die Sonne mal wieder scheint und den Schnee überall glitzern lässt, aber was sollte ich denn schon machen? Die Stadt kenne ich ja jetzt schon und über den Weihnachtsmarkt zu laufen, macht auch nur im Dunkeln wirklich Spaß. Vielleicht sollte ich einfach mal loslaufen und mir unterwegs Gedanken machen. An der frischen Luft lassen sich doch auch Probleme besser lösen, oder nicht? Vielleicht bekomme ich ja einen Gedankenblitz wie ich Erik am besten beibringe, dass wir uns nicht mehr sehen können, und dass es dumm von mir war, ihn zu küssen. Ich befürchte nur, dass ich dafür mehr als nur frische Luft brauchen werde. Das muss schon was Radikaleres her.
Ich verlasse also kurz nach Belinda das Hotel und ziehe mir erst mal schnell meine Handschuhe an, als ich merke wie kalt es heute wieder ist. Sonne im Winter heißt ja leider nicht unbedingt, dass es auch warm ist. Wär ja auch blöd, sonst würde der schöne Schnee wieder schmelzen.
Ich überlege kurz und gehe dann einfach in irgendeine Richtung. Von der Stadtführung gestern scheint allerdings nicht mehr viel hängen geblieben zu sein. Aber es war ja auch dunkel und ich war ein klitzekleines bisschen abgelenkt. Abgelenkt von braunen, strahlenden Augen, von weichen, gierigen Lippen und einer verführerischen Stimme, die mir den Verstand geraubt hat.
Plötzlich wird es dunkel vor meinen Augen und ich fühle etwas Weiches an meinem Gesicht. Ich greife nach dem, was meine Augen verdeckt und drehe mich um.
„Hab ich dich doch noch gefunden“, sagt Erik mit einem breiten Grinsen und drückt mir ein paar Schuhe mit so was wie Schienen darunter in die Hand.
„Äh, hallo. Was ist das?“, frage ich verwirrt. Jetzt kann ich zwar wieder sehen, aber in meinen Ohren pocht es auf einmal verdächtig laut. Ich hab nicht damit gerechnet, ihm jetzt schon zu begegnen. Ich bin doch noch gar nicht richtig vorbereitet. Warum ist er eigentlich immer genau da wo ich auch bin? Der gibt mir aber auch gar keine Chance, von ihm loszukommen.
Er zieht die Augenbrauen zusammen. „Das? Das sind Schlittschuhe. Sag nicht, dass du die noch nie gesehen hast.“
„Doch doch, natürlich.“ Schon wieder eine kleine Notlüge. „Aber ich hab sie noch nie benutzt.“ Verdammt. Hoffentlich erklärt er von sich aus, was es mit diesen Dingern auf sich hat, sonst hab ich ein Problem. Ich hab nämlich keine Ahnung, was ich damit anfangen soll.
„Du bist noch nie Schlittschuhe gelaufen?“
„Nein.“
„Na, dann wirst du es heute lernen“, sagt er fröhlich. „Komm.“
„Wohin?“
„Na, zum See.“
Zum See? „Musst du nicht studieren?“
„Nein, ich schwänze heute. Und du bist schuld.“
Er lacht und zieht mich mit sich, weil ich mich immer noch keinen Millimeter vom Fleck bewegt habe. Ich hab so das Gefühl, dass ich es heute nicht schaffe, mit ihm zu reden. Er ist viel zu gut gelaunt und ich genieße es viel zu sehr, bei ihm zu sein. Ich hätte es von Anfang an sein lassen sollen.
Am See angekommen, bekomme ich erst mal einen riesigen Schreck, als ich sehe, dass einige Menschen auf dem Eis laufen. So langsam dämmert es mir, was Erik vor hat. Aber das kann ich unmöglich tun. Das ist doch verdammt glatt. Da lieg ich ja sofort auf der Nase. Und dann auch noch mit diesen merkwürdigen Schuhen.
Erik ist schon dabei seine anzuziehen und fordert mich dann auf, dasselbe zu tun.
„Na los. Es ist nicht so schwer wie es aussieht. Wenn du fällst, fange ich dich auf.“
„Das sagst du jetzt. Ich befürchte, dass ich nicht mal eine Sekunde auf diesen Dingern stehen kann.“
„Das wird schon gehen.“
Von wegen. Noch nicht mal auf normalem Boden kann man mit den Dingern richtig gehen. Wie soll das denn auf dem Eis aussehen? Aber bei Erik sieht es dann doch ziemlich leicht aus, also wage ich mich auch auf die spiegelglatte Fläche. Allerdings gleite ich nicht so elegant übers Eis wie er, sondern sitze nach wenigen Sekunden schon auf meinem Hintern. Er kommt lachend auf mich zu, um mir hoch zu helfen und ich muss mich gezwungenermaßen an ihm festhalten.
„Siehst du. Von wegen du fängst mich auf.“
„Tut mir leid, von jetzt an weiche ich dir nicht mehr von der Seite.“
Tatsächlich lässt er mich erst mal nicht mehr los und schiebt mich langsam vor sich her. Seine Hände liegen wieder auf meinen Hüften, während er mir Anweisungen gibt wie ich meine Füße richtig bewegen muss. Seine Lippen sind dabei wieder gefährlich nah an meinem Ohr, so dass ich nicht viel von seinen Anweisungen behalte. Dementsprechend tollpatschig stelle ich mich dann auch an. Meine Füße wollen einfach nicht so wie ich das will.
„Hey, lachst du etwa über mich?“, frage ich, als ich es neben mir kichern höre.
„Ja.“
„Das hier war deine Idee, also beschwer dich nicht.“
„Ich beschwere mich ja gar nicht. Ich hab dich gerne so nah bei mir.“
Seine Hände wandern von meinen Hüften über meinen Bauch, während er – wahrscheinlich rein zufällig – meinen Hals küsst.
„Allerdings glaube ich, dass du jetzt auch ein paar Schritte allein machen kannst.“
Er löst sich von mir und fährt mit etwas Abstand vor mir her.
Nachdem ich dann tatsächlich eine Weile allein laufen konnte, ohne hinzufallen, fängt es auch an mir Spaß zu machen. Ich vergesse vollkommen, dass ich mich besser nicht so wohl in seiner Nähe fühlen sollte und ihn erst gar nicht so nahe kommen lassen dürfte. Ich genieße das Gefühl, neben ihm übers Eis zu gleiten und halte mich öfter an ihm fest als ich es eigentlich müsste. Das führt dann dazu, dass wir beide unvorsichtiger werden und uns irgendwann gegenseitig zu Fall bringen. Wir lachen und rangeln ein bisschen herum, bis Erik sich auf einmal über mich beugt und seinen Mund auf meinen drückt. Ich bin noch so euphorisiert und ins Verdrängen vertieft, dass ich mir nichts dabei denke, und ihn zurück küsse. Und als ich erst mal angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören. Das ist mir noch nie passiert, ich kann mich nicht gegen ihn wehren.
„Du hilfst mir doch bestimmt dabei, die Schlittschuhe wieder weg zu bringen, oder?“, fragt er, ohne sein Gesicht sehr weit von meinem zu entfernen.
„Klar, wo hast du sie denn her?“
„Aus meiner Wohnung.“
In dem Augenblick fahren zwei kleine Jungs an uns vorbei und sehen uns mit großen Augen an. Erik richtet sich auf und hilft mir dann beim Aufstehen.
„Da ist es auch auf jeden Fall wärmer als hier, also, kommst du mit?“, fragt er und klopft ein bisschen Schnee von meiner Jacke.
Ich nicke und dann wechseln wir die Schuhe, bevor wir zu seiner Wohnung gehen. Ich schwanke ein bisschen, weiß aber nicht, ob es daher kommt, dass ich die ganze Zeit auf diesen Schlittschuhen stand oder weil mich immer wieder selber davon anhalten muss, ihn anzustarren oder ihn zu berühren.
Eriks Wohnung liegt fast im Zentrum der Stadt und ist überhaupt nicht das, was ich erwartet hatte. Ich bin es aus meiner Welt so gewohnt, dass man viele kleine Räume hat, die man je nach Bedarf benutzen kann. Es gibt Zimmer zum Schlafen, zum Kochen, zum Essen, zum Lesen, zum Spielen, zum Fernsehen, zum Waschen und natürlich auch einen Stauraum, in dem alles gelagert wird. Und wie ich ja schon erwähnt habe, bleibt es nie so wie es mal war. Es kann sich jeder Zeit einer dieser Räume in Luft auflösen oder es entsteht ein neuer. Je nach dem, was man gerade braucht. Hier ist alles fast in einem einzigen Raum untergebracht. Es gibt nur einen großen Raum mit einem Sofa, einem Tisch und Stühlen, mehreren Regalen, einem Fernseher und einer Kochstelle, dann noch ein Bad und ein Schlafzimmer. Also nur drei Zimmer. Ich hätte nie gedacht, dass sich die Menschenwohnungen so von unseren unterscheiden. Bisher hab ich ja nur das Hotelzimmer gesehen und da war mir klar, dass man nicht jedem Gast so viele Räume zur Verfügung stellen kann. Aber mir gefällt Eriks Wohnung. Überall stehen verschiedene Dinge, die einfach schön aussehen und die ihn vielleicht an irgendetwas erinnern. Die Wohnung wirkt dadurch ziemlich voll, aber auch lebendig. Ich bin fasziniert.
„Setz dich doch einfach irgendwo hin. Ich mach uns einen Glühwein. Ich bin dir schließlich immer noch einen schuldig.“
„Okay“, sage ich, setze mich aufs Sofa und schaue mich weiter um. Ich bin in letzter Zeit wirklich sehr leicht abzulenken. Ich hab schon wieder vollkommen verdrängt, dass ich eigentlich mit ihm reden wollte und ihm aber trotzdem auf dem Eis wieder viel zu nahe gekommen bin. Aber wie gesagt, er muss mich nur ansehen…
„Vorsicht, heiß“, sagt Erik ein paar Minuten später und stellt zwei dampfende Tassen vor mich auf den kleinen Tisch. Er setzt sich aber nicht neben mich aufs Sofa, sondern auf meinen Schoß und legt seine Hände in meinen Nacken. Seine Augen funkeln mich fröhlich an und lassen mein Herz schneller schlagen. Wenn ich nicht aufpasse, fange ich auch noch an zu dampfen.
„Was musst du auch hier auf meinem Sofa sitzen und so unverschämt gut aussehen?“, fragt er und streicht mit seinen Fingern durch meine Haare.
Das einzige, das ich mich dummerweise frage, ist, warum seine Lippen immer noch so weit von meinen entfernt sind, aber die Frage hat sich glücklicherweise im nächsten Augenblick erledigt. Er küsst mich. Und zwar noch viel gieriger als die letzten beiden Male. Vielleicht weil wir jetzt unter uns sind und uns niemand beobachten kann. Das heißt aber auch, dass mich niemand aufhalten kann, und dass wir beide keinen Grund haben, abzubrechen. Deswegen kann ich auch meine Hände unter seinen Pullover schieben und zulassen, dass sich seine in meine Haare krallen. Ich kann ihn streicheln und mich streicheln lassen und ich kann seine Zunge so lange mit meiner umkreisen wie ich möchte. Langsam zieht er mir den Pullover samt T-Shirt über den Kopf und verteilt viele warme, weiche Küsse auf meinem Hals und meiner Schulter, während meine Hände über seinen Rücken, seinen Hintern und schließlich über die Innenseiten seiner Oberschenkel streichen. Sein Atem wird schneller und er rutscht dichter an mich heran. Seine Finger öffnen den Knopf meiner Hose und schlüpfen an meinem Rücken unter den Bund. Nachdem ich ihn auch von seinem Pullover befreit habe, lasse ich mich aufs Sofa zurück fallen und ziehe ihn mit mir. Sein Körper schmiegt sich an meinen und er küsst mich wieder. Es dauert nicht mehr lange, bis auch die letzten Kleidungsstücke gefallen sind und ich mich ihm vollkommen hingebe. Ich bin überhaupt nicht mehr fähig an irgendetwas zu denken, ich kann nur noch meinem Verlangen nachgeben und in vollen Zügen genießen.
„Der Glühwein ist jetzt kalt“, sagt er ganz dicht an meinem Ohr und ich kann schon fast hören, dass er lächelt.
„Ist nicht schlimm. Ich brauche nichts mehr zum Aufwärmen.“
„Das hab ich mir gedacht. Dabei hatte ich gar nicht vor, dich so aufzuwärmen.“
„Nein, natürlich nicht.“
„Na gut, vielleicht hab ich ganz kurz mal drüber nachgedacht, aber letztendlich warst du schuld.“
„Ich hab mich nur auf dein Sofa gesetzt, so wie du es gesagt hast.“
„Aber ich hab nicht gesagt, dass du mich so verführerisch anschauen sollst“, sagt er und kuschelt sich an mich.
„Da musst du dich verguckt haben.“
„Ja, das hab ich dann wohl.“ Seine Augen funkeln mich ganz merkwürdig an und ich habe das Gefühl, dass wir gerade über zwei verschiedene Sachen reden. Aber nein, das bilde ich mir bestimmt nur ein. Er wollte mir bestimm keine Liebeserklärung machen. Das kann nicht sein. Allerdings holt mich dieser Gedanke wieder ein Stück in die Realität zurück. Das würde nämlich alles nur noch komplizierter machen. Das würde bedeuten, dass ich ihn verletzen müsste. Aber komme ich denn überhaupt daran vorbei? Irgendwann muss ich ihm sagen, dass ich bald wieder nach Hause fahre und er wird nicht verstehen, warum das so ein großes Problem ist. Warum wir uns nicht ab und zu sehen können. Und ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen. Oder doch? Es ist nicht direkt verboten einen Menschen einzuweihen, aber es wird auch nicht gerne gesehen. Eigentlich kommt es zu diesem Konflikt nie, weil niemand aus unserer Welt jemals das Bedürfnis hat, sich einem Menschen anzuvertrauen. Die wenigsten waren überhaupt schon mal in der Menschenwelt. Also würde ich wohl nicht bestraft werden, aber wahrscheinlich würde Erik mir gar nicht erst glauben. Er wird mich eher für verrückt halten.
„Hey, was ist? Du siehst aus als wärst du grad ganz weit weg.“
Noch nicht, denke ich. „Ich hab nur über etwas nachgedacht.“
„Worüber denn? Hat es was mit mir zu tun?“
„Ähm, ja. Auch.“
Er sieht mir wohl an, dass es etwas Ernstes ist, denn er rutscht ein Stück von mir weg und sieht mich fragend an. „Tut mir leid, wenn ich dich überrumpelt hab. Vielleicht war es ein bisschen früh dir das zu sagen.“
Oh nein, er hat es wirklich ernst gemeint. Und wie komme ich hier jetzt wieder raus?
„Nein, das war es nicht. Zumindest nicht nur“, versuche ich zu erklären. „Ich hab nur daran gedacht…“
„Dass du nicht mehr lange hier bist, weil du nur Urlaub machst?“
„Ja.“
„Daran hab ich auch schon gedacht. Aber nachdem du mich geküsst hast, war es mir egal. Wohnst du denn so weit weg?“
„Ja, kann man so sagen.“
„Aber schon noch in Deutschland, oder?“, fragt er, ohne es wirklich ernst zu meinen.
„Nein.“
„Wie nein? Du lebst nicht in Deutschland?“
Ich schüttele den Kopf. Oh man, ich würde es ihm so gerne sagen. Ich kann mir doch so schnell ohnehin keine gute Ausrede einfallen lassen. Aber ich kann auch nicht einfach sagen, dass ich kein Mensch, sondern ein Luftgeist bin, der nicht auf der Erde, sondern über den Wolken lebt. Dass ich eigentlich zwei Flügel habe, mit denen ich mich normalerweise fortbewege, und dass ich zaubern kann. Wer würde das schon glauben? Da kann ich ja gleich behaupten, dass ich Arielle die kleine Meerjungfrau bin.
„Okay“, sagt er gedehnt. „Und wo lebst du dann?“
Ich zögere. „Das kann ich dir nicht sagen.“
„Warum nicht? Ist es verboten?“
„Nein, eigentlich nicht. Aber du würdest es mir nicht glauben und mich wahrscheinlich für verrückt erklären.“
„Was soll ich denn da bittschön nicht glauben? Du willst mir ja wohl nicht erzählen… Oh nein.“ Er hält sich die Hand vor den Mund und reißt seine Augen weit auf. Mir rutscht das Herz in die Hose.
„Willst du mir erzählen, dass du doch unter Wasser lebst und ich gerade mit einem Mädchen geschlafen habe?“
Er lacht, während ich damit beschäftigt bin, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Hätte ich mir doch bloß eine gute Ausrede einfallen lassen. Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass er nicht auf eine Antwort besteht.
„Ist es denn so wichtig?“, frage ich vorsichtig.
„Na klar.“
„Warum?“
„Ariel…“, sagt er und anstatt mir eine Antwort zu geben, küsst er mich auf den Mund. „Es ist wichtig, weil ich wissen möchte, wo du bist, wenn du nicht mehr hier bist. Und ob wir uns überhaupt wiedersehen können. Aber wie es aussieht, ist dir das nicht so wichtig.“
„Doch, ist es.“
„Warum sagst du mir dann nicht einfach, wo du wohnst?“
Er setzt sich auf und lehnt sich mit dem Rücken ans Sofa. Ich setze mich neben ihn.
„Weil du es nicht glauben würdest und du könntest mich dort sowieso nie besuchen.“
„So langsam glaub ich echt, dass du verrückt bist. Was willst du mir sagen?“
Okay, raus damit. Aber ansehen kann ich ihn dabei nicht, deshalb schaue ich lieber auf meine Finger.
„Ich will dir sagen… dass ich nicht auf dieser Erde lebe, und dass… ich kein Mensch bin. Zumindest nicht genauso wie du es dir vorstellst.“
„Aha. Und weiter?“
Er glaubt mir nicht. Natürlich nicht.
„Ich weiß, dass sich das bescheuert für dich anhört, aber es ist wahr. Das ist kein Scherz. Ich bin kein richtiger Mensch, obwohl ich so aussehe. Ich bin ein magisches Wesen und ich mache hier nur Urlaub, weil ich die Weihnachtszeit so schön finde. Bei uns gibt es das nicht. Bei uns…“
„Du kannst zaubern?“, fragt er skeptisch.
„Ja, ein bisschen. Nicht so gut wie die Feen und die richtigen Zauberer, aber ja.“
„Willst du mich verarschen? Glaubst du das alles wirklich?“
„Ich kann es dir beweisen.“
„Nein, danke“, sagt er und steht auf. Er zieht sich so schnell wie möglich seine Sachen wieder an und wirft mir meine zu. „Ich verstehe nicht, was das jetzt soll. Wenn dir das mit uns zu schnell geht oder wenn du überhaupt gar nicht mit mir zusammen sein willst, dann kannst du mir das auch sagen. Du musst dir keine Märchen ausdenken, um mich loszuwerden.“
„Aber es ist die Wahrheit. Und ich will dich nicht loswerden, im Gegenteil. Ich hab dir das erzählt, weil ich mit dir zusammen sein will, aber ich weiß nicht wie das gehen soll.“
„Du willst mir also allen Ernstes erzählen, dass du kein Mensch bist?“
„Ja.“
„Das ist doch verrückt.“
„Ich bin nicht verrückt.“
„Wenn du das sagst. Ich hätte es trotzdem lieber, wenn du jetzt gehen würdest.“
„Ich hab ja gesagt du würdest mir nicht glauben.“
„Wie soll ich das denn glauben, Ariel? Schlimm genug, dass du es tust. Du kannst mir doch nicht wirklich erzählen wollen, dass es Feen wirklich gibt.“
„Doch. Meine Freundin Belinda ist eine Fee.“
Er verdreht nur die Augen und nimmt die zwei Tassen mit dem kalten Glühwein vom Tisch. Also gut, denke ich, wenn er mir nicht glauben will… Eine nach der anderen fliegen die Tassen aus seinen Händen und landen wieder auf dem Tisch. Erik bleibt wie angewurzelt stehen und starrt auf seine Finger. Dann dreht er sich zu mir um und sieht die Tassen wieder auf dem Tisch stehen.
„Schwebezauber kann ich besonders gut“, sage ich vorsichtig und warte auf eine Reaktion von ihm.
„Geh jetzt. Ich will dich nicht mehr sehen“, ist allerdings alles, das ich von ihm höre, bevor er im Schlafzimmer verschwindet.
Ich bin verwirrt. Warum glaubt er mir nicht? Er hat es doch gesehen. Und er kann mich doch nicht wirklich nie wieder sehen wollen.
Langsam ziehe ich mich an und hoffe insgeheim, dass er es sich doch noch mal anders überlegt. Die Tür zum Schlafzimmer bleibt allerdings zu, also tue ich, was er gesagt hat und verlasse seine Wohnung.
„Ich hab vorhin ein lustiges neues Wort gelernt. Es heißt ‚Unimog‘. Rate mal, was das ist.“
Seit einer halben Stunde sitze ich mit Belinda beim Abendessen im Hotel und sie redet ununterbrochen. Eigentlich ist das ganz praktisch, weil ich bisher noch nichts von meinem Tag erzählen musste, aber mit der Zeit geht es mir schon tierisch auf die Nerven.
„Kein Ahnung“, grummel ich also vor mich hin.
„Ich musste gleich an unseren Unimag denken. Du weißt schon, die Feen-Prüfung, die ich machen musste, aber bei den Menschen ist das ein Fahrzeug.“
Sie kichert als hätte sie noch niemals etwas Lustigeres gehört, während ich in meinem Essen rumstocher und warte, dass dieser grausame Tag vorbei geht. Ich möchte mich nur noch ins Bett legen und morgen früh aus diesem Alptraum aufwachen.
„Okay, ich geb’s auf. Was ist los?“, fragt sie auf einmal.
„Gar nichts.“
„Von wegen. Du siehst aus wie ein Kind, dem man gerade erzählt hat, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt.“
„Woher willst du denn wissen, wie so ein Kind aussieht?“
„Ich hab das letztes Jahr mitbekommen. Aber das war noch gar nichts im Vergleich dazu, wie du dich gerade aufführst.“
„Ich will nicht darüber reden“, sage ich seufzend.
„Das schon wieder. Also hat es etwas mit deiner Angebeteten zu tun. Wolltet ihr euch nicht eigentlich erst heute Abend treffen?“
„Belinda, das geht dich nichts an.“
„Aber ich sehe doch, dass dir was auf der Seele liegt und ich möchte dir gerne helfen. Du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst.“
„Ja.“
„Also?“
Ich schaue sie an und merke, dass sie Recht hat. Ich konnte wirklich immer alles mit ihr besprechen und vielleicht ist es auch an der Zeit, dass ich mein größtes Geheimnis mit jemandem teile. Auch wenn es nicht einfach ist. Ich vertraue Belinda so weit, dass ich davon ausgehen kann, dass sie mich danach auch noch gern hat.
Ich erzähle ihr also die ganze Geschichte von Anfang an, wobei der Teil, dass Erik eben ein Junge ist, nur stückchenweise über meine Lippen kommt. Umso erleichterter bin ich, als Belinda mir versichert, dass es für sie keinen Unterschied macht und sie mich deswegen nicht weniger lieb hat.
Allerdings ist sie weniger begeistert, als ich ihr erzähle, dass Erik weiß, wer ich bin und woher ich komme.
„Was hätte das denn bringen sollen? Du musst doch verstehen, dass ihn das total überfordert. Für ihn existiert keine Zauberei.“
„Was hätte ich denn sonst machen sollen?“, frage ich verzweifelt.
„Du hättest es gar nicht erst so weit kommen lassen dürfen.“
„Das weiß ich selber, aber ich konnte einfach nicht anders. Du weißt nicht wie es ist, wenn er mich ansieht oder mich küsst.“
„Ich kann dich doch verstehen. Du bist verliebt, aber du musst jetzt auch mit den Konsequenzen zurechtkommen. Das kann einfach nicht klappen zwischen euch.“
„Ich könnte hier bleiben“, sage ich leise, weil ich weiß, dass sie davon absolut nichts halten wird.
„Was?“
„Ich könnte auch in dieser Welt leben.“
„Das ist nicht dein Ernst. Du willst dein ganzes bisheriges Leben wegwerfen? Nur weil dir ein Kerl den Kopf verdreht hat?“
„Er ist nicht nur ein Kerl und ich hab schon öfter daran gedacht, dass ich hier vielleicht glücklicher wäre. In unserer Welt bin ich das nicht und ich wäre nicht der erste, der sich so entscheidet.“
„Und wenn Erik gar nicht mit dir zusammen sein möchte? Dann wärst du hier ganz allein. Wo willst du denn wohnen und wovon willst du leben?“
„Ich würde meine Zeugnisse so umschreiben lassen, dass sie auch hier gültig sind. Dann kann ich hier arbeiten und suche mir eine Wohnung. Das haben die anderen auch so gemacht und keiner hat es bereut.“
„Du bist doch verrückt.“
„Das hab ich heute schon mal gehört“, seufze ich.
„Ariel, das ist doch jetzt nur so eine Kurzschlussreaktion. Dieser Erik will dich nicht, aber ich bin mir sicher, dass du zuhause jemanden finden wirst, der dich nicht für verrückt hält.“
„Vielleicht überlegt er es sich ja noch mal.“
„Darauf würde ich mich nicht verlassen. Er hat doch gesagt, dass er dich nicht mehr sehen will.“
„Ja, vielen Dank für die Erinnerung“, sage ich und stehe auf.
„Hey, tut mir leid, ich wollte dich nicht ärgern. Wo willst du hin?“
„Ich gehe raus.“
„Willst du ihn suchen?“
„Nein, er wird sowieso nicht da sein. Ich muss einfach an die frische Luft. Gute Nacht.“
Bevor sie noch etwas sagen kann, gehe ich. Draußen ist es schon dunkel und natürlich schweinekalt, aber das stört mich gerade nicht. Insgeheim hoffe ich natürlich doch, dass ich ihn irgendwo treffe, aber besonders optimistisch bin ich nicht. Belinda hat es ja gesagt, er will mich nicht sehen. Vielleicht muss ich das wirklich akzeptieren, aber das will und kann ich einfach nicht. Ich kann ihn nicht einfach vergessen und wieder nach Hause fahren als wäre nichts gewesen. Ich möchte hier bleiben und ich möchte mit ihm zusammen sein.
Aber auch nachdem ich einmal quer durch die Stadt gelaufen bin, hab ich ihn noch nicht gesehen und beschließe zurück ins Hotel zu gehen. Es ist einfach zu kalt, um nach jemandem zu suchen, der nicht gefunden werden möchte. Das verbraucht zu viel Energie. Morgen ist ja auch noch ein Tag. Ich werde Belinda überreden, dass sie mit mir auf den Weihnachtsmarkt geht, das wollte ich sowieso. Und wenn Erik uns dann über den Weg laufen sollte, sieht es nicht so aus, als hätte ich ihn gesucht. Außerdem will ich nicht, dass Belinda denkt ich wäre sauer auf sie. Das kann ich gar nicht und sie hat ja eigentlich auch recht. Es ist schließlich nicht ihre Schuld, dass ich so dämlich war, mich in einem Menschen zu verlieben.
Belinda lässt sich nur allzu gern überreden mich auf den Weihnachtsmarkt zu begleiten, allerdings muss ich vorher noch mit ihr durch alle möglichen Einkaufscenter latschen. Danach sind meine Füße dann so platt, dass es mir schon vor dem Gang über den doch recht großen Weihnachtsmarkt graut. Dabei kann es sich dann ja nur noch um Stunden handeln und mich beschleicht die Vermutung, dass sie mich ablenken will.
Wie ich vermutet hatte, macht sie sich ausgiebig über die kleinen Figuren lustig, die als Feen oder Elfen betitelt sind und regt sich – natürlich – darüber auf, dass die ja alle so jung aussehen.
„Glauben die Menschen etwa, dass wir ewig so jung bleiben? Schön wär’s.“
Ich lasse sie einfach reden und schaue mich immer wieder heimlich um. Erik kann ich allerdings nirgendwo entdecken. Warum sollte er auch hier sein? Er kennt den Markt bestimmt schon in- und auswendig und er will mir bestimmt nicht über den Weg laufen. Ich könnte natürlich auch zu ihm gehen, aber ich glaube, dass das eher nach hinten losgehen würde. Wahrscheinlich ist der letzte Fehler, den ich jetzt machen sollte, ihn zu bedrängen.
Dieser Tag geht also vorbei, ohne dass ich etwas von ihm gehört oder gesehen habe. Schon merkwürdig. Seit ich hier bin, hab ich ihn jeden Tag gesehen und jetzt fehlt er mir schon. Und das wird in den nächsten Tagen auch nicht besser. Ich gehe immer raus, weil ich hoffe ihm irgendwo über den Weg zu laufen, aber wie es aussieht, tut er alles, um genau das zu verhindern. Er will mich wohl wirklich nicht mehr sehen.
„Einen frohen vierten Advent wünsche ich Ihnen“, sagt der Mann hinter der Rezeption des Hotels freundlich und deutet auf den Kerzenkranz. „Sehen Sie, jetzt sind alle vier Kerzen angezündet.“
„Ja, sieht viel schöner aus, wenn alle brennen.“
„Das finde ich auch. Und es bedeutet, dass bald Weihnachten ist.“
„Ja, Weihnachten…“, seufze ich und verlasse wie die letzten Tage auch das Hotel, um überall nach demjenigen zu suchen, der dieses Fest sicherlich nicht mit mir verbringen möchte. Wär ja auch zu schön gewesen.
Heute ist der Weihnachtsmarkt wieder sehr voll und ich muss ziemlich lange warten, bis ich mich endlich zu dem Schneekugelstand durchgekämpft habe. Ich hab mich nämlich entschieden doch eine zu kaufen. Welche, weiß ich noch nicht, aber ich werde nicht eher gehen, bevor ich nicht eine Kugel habe. Irgendeine Erinnerung brauche ich ja, denn ohne Erik hat es tatsächlich keinen Sinn hier zu bleiben. Belinda hatte mal wieder recht. Außerdem finde ich diese Kugeln aus irgendeinem Grund total faszinierend. Sie beruhigen mich irgendwie.
So schwer es auch ist ein Motiv auszuwählen, letztendlich entscheide ich mich für einen wunderschön geschmückten Tannenbaum, weil ich den am meisten mit Weihnachten verbinde. Wenn der Schnee in der Kugel darauf liegen bleibt, sieht es fast aus wie in echt. Auf dem Rückweg drehe ich die Kugel immer wieder herum, um die weißen Flocken in Bewegung zu bringen und bin so gefesselt, dass ich fast nicht mitbekommen hätte, wer da alles an mir vorbei läuft. Ich schaue nur zufällig hoch und sehe Erik direkt vor mir. Er lächelt mich aber nicht an wie sonst immer, sondern senkt schnell seinen Blick und geht an mir vorbei. Ich sehe ihm nach, aber er läuft einfach unbeirrt weiter. Mein Herz schlägt schon wieder ganz schnell, aber dieses Mal fühlt es sich nicht gut an. Es macht mich traurig.
Von da an kann ich mich nicht mehr an sehr viel erinnern. Ich muss wohl ins Hotel zurückgegangen sein, denn da wache ich am nächsten Morgen mit höllischen Kopfschmerzen auf. Belinda ist auch da und hält mir einen Kaffee unter die Nase, als ich meine Augen aufschlage. Der riecht ziemlich gut, also setze ich mich auf und nehme die Tasse entgegen.
„Das nenn ich mal einen Totalabsturz“, sagt sie und sieht mich vorwurfsvoll an. „Ich hoffe du hast ordentlich Kopfschmerzen.“
„Ja“, krächze ich.“
„Na gut. Du hast scheinbar die ganze Hotelbar leergesoffen.“
„Die was?“
„Die Hotelbar. Der Raum da unten, wo du so viel Alkohol getrunken hast. Ein ziemlich genervter Mann hat mich um ein Uhr nachts auf meinem Zimmer angerufen und mich gebeten dich abzuholen. Du hast ohne Punkt und Komma geredet, das war echt anstrengend.“
„Was hab ich denn gesagt?“, frage ich ängstlich.
„Zuerst war da was mit einem Baum, dann alles Mögliche über Erik, auch Dinge, die ich eigentlich gar nicht so genau wissen wollte, dann etwas über eine Meerjungfrau und dann noch irgendwas über einen Schololadenhase. Frag mich nicht, was das sein soll. Den Teil hab ich nicht kapiert, aber vielleicht hab ich dein Genuschel auch einfach falsch verstanden.“
Oh nein, wie peinlich. Gut, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Ich will mir gar nicht vorstellen, was ich ihr über Erik erzählt habe. Aber warum hab ich denn überhaupt so viel getrunken? Ach ja, ich hab Erik auf der Straße gesehen und er ist einfach an mir vorbei gegangen. Das hat mir wohl den Rest gegeben.
„Ich muss wohl nicht erst fragen wie es dazu gekommen ist, oder?“, fragt Belinda und sieht mich halb mitleidig und halb tadelnd an.
„Ich hab ihn gesehen.“
„Aber er hat dich ignoriert.“
„Ja.“
Sie nickt nur, als wüsste sie genau, was das für mich bedeutet.
„In fünf Tagen sind wir wieder zu Hause. Vielleicht solltest du dich langsam damit abfinden.“
Aber in Wirklichkeit hat sie keine Ahnung.
„Mir ist klar, dass du das nicht so siehst, aber du kannst auch nicht jeden Tag zu diesem Weihnachtsmarkt gehen und dich betrinken, wenn du ihn dann tatsächlich mal siehst.“
„Ich kann machen, was ich will.“
„Ja. Dann überleg dir aber gut, was du willst.“ Sie steht vom Fußende meines Bettes auf und geht zur Tür. „Ich bin jetzt mit einer Kollegin verabredet, die ich gestern getroffen habe. Sie ist auch über Weihnachten hier und hat darauf bestanden mich zum Essen einzuladen. Trink deinen Kaffee, bevor er kalt wird.“
„Ja, sicher.“ Was sollte mich auch davon abhalten?
„Bis später.“
Ich zwinge mich zu einem kleinen Lächeln und dann ist sie auch schon verschwunden. Nachdem ich meinen Kaffee getrunken habe, vergrabe ich mich wieder unter der Bettdecke und denke darüber nach, den ganzen Tag einfach hier liegen zu bleiben. Am besten gleich den Rest des Urlaubs. Hier ist es schön warm und ruhig und… einsam und langweilig. Das kommt also nicht infrage. Stattdessen kommt mir ein anderer Gedanke. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob das so schlau ist, aber ich weiß auch nicht wie ich sonst in der Sache unternehmen kann. Ich muss einfach mit Erik sprechen und da er mir ja nicht über den Weg laufen will, muss ich ihn wohl dazu zwingen.
Aber erst mal werde ich duschen und dann etwas frühstücken beziehungsweise Mittag essen. Mein Kopf protestiert zwar ziemlich heftig, aber auf den kann ich jetzt nicht hören.
Eineinhalb Stunden später bin ich auf dem Weg zu Eriks Wohnung. Keine Ahnung, ob er da ist, aber irgendwann muss er ja zurück kommen. Am Ziel angekommen, muss ich erst mal nach der richtigen Klingel suchen, aber glücklicherweise gibt es in diesem Haus nur einen Erik. Ich drücke also den Knopf neben seinem Namen und springe erschrocken einen Schritt zurück, als ich kurz darauf von irgendwoher seine Stimme höre. Ich sehe mich um, aber ich kann ihn nirgendwo sehen.
„Hallo?“, fragt er.
„Äh… hallo?“
„Wer ist da?“
„Hier ist Ariel. Ich möchte gerne mit dir reden. Wo bist du?“
Dieses Mal antwortet seine Stimme nicht. Heißt das jetzt, dass er zuhause ist? Vielleicht kommt er gerade runter, um mir die Tür aufzumachen. Oder er wird mich wieder ignorieren. Ich warte also, aber es passiert nichts. Nach ein paar Minuten setze ich mich auf die Treppe vor dem Haus und überlege, ob es sinnvoll wäre, einfach hier zu warten, bis er runter kommt. Aber wer weiß schon, ob er heute überhaupt noch mal rausgeht.
Noch eine Weile später höre ich hinter mir ein Klacken und drehe mich um. Erik steht ein paar Schritte von mir entfernt vor der Haustür und sieht mich prüfend an.
„Okay. Wenn du kein Mensch bist, was bist du dann?“, fragt er.
Heißt das, er glaubt mir?
„Ich bin ein Luftgeist.“
„Was heißt das? Bist du sonst durchsichtig?“ Ich kann sehen, dass er sich selbst für verrückt hält, weil er mir solche Fragen stellt. Ich bin nur froh, dass er überhaupt mit mir spricht.
„Nein, aber ich habe Flügel. Ansonsten sehe ich immer genauso aus wie jetzt.“
„Wo lebt ihr?“
„Über den Wolken.“
Er lacht. „Wie im Märchen? Willst du mir auch noch erzählen, dass dein Nachbar der Weihnachtsmann ist?“
„Nein, den gibt es nicht.“
„Ach was.“
„Aber es gibt ganz viele andere Wesen, von denen ihr auch glaubt, dass sie nicht wirklich existieren. Und die meisten unterscheiden sich gar nicht so sehr von euch. So wie ich.“
„Machen denn viele hier Urlaub?“
„Nein, die meisten interessieren sich nicht für euch.“
„Und warum du?“, fragt er skeptisch.
„Weil ihr auch ohne Magie glücklich seid. Euer Leben ist einfacher, weil sich ganz viel wiederholt, aber auch schwerer, weil ihr nicht zaubern könnt. Das finde ich spannend.“
„Du meinst das wirklich ernst, oder? Hast du deswegen gefragt, ob es hier Meerjungfrauen gibt? Hast du das wirklich geglaubt?“
„Ja.“
Er schüttelt den Kopf. „Das kann ich nicht glauben.“
„Ja, ich weiß.“
„Und du kannst hier auch zaubern? Ist das nicht verboten oder so?“
„Nein, es sollte nur möglichst nicht auffallen.“
„Und deine Flügel? Wo sind die jetzt.“
„Weggezaubert. Hier brauche ich sie ja nicht.“
„Könntest du sie auch jetzt wieder herzaubern?“, fragt er und sieht mich herausfordernd an. Offensichtlich möchte er jetzt doch einen Beweis.
„Ja, aber nur, wenn es sonst niemand sieht. Und… äh… ich muss dafür meine Sachen ausziehen.“
„Warum?“
„Na, weil die nicht unter meinen Pullover passen.“
„Wie machst du das denn bei dir zuhause?“
„Da gibt es spezielle Kleidung, aber meistens ist es sowieso so warm, dass man gar nichts anziehen muss.“
„Und wenn wir in meine Wohnung gehen würden, würdest du mir dann deine Flügel zeigen?“
„Ja“, sage ich.
Er überlegt. Wahrscheinlich versucht er herauszufinden, ob er mir vertrauen kann. Dabei sieht er mich so intensiv an, dass ich mich nur schwer davon abhalten kann, ihn an mich zu ziehen und ihn zu küssen. Dieses Verlangen hat also nicht abgenommen, es ist eher noch größer geworden.
„Okay“, sagt er irgendwann und schließt die Haustür wieder auf. Wir gehen hoch und ich betrete zum zweiten Mal seine Wohnung. Hoffentlich werde ich dieses Mal nicht wieder rausgeworfen.
Erik setzt sich auf das Sofa und wirkt ziemlich nervös. Wirklich ruhig bin ich auch nicht, also ist die Atmosphäre in diesem Raum gerade mehr als angespannt. Ich ziehe erst mal meine Jacke aus und hänge sie über einen Stuhl. Danach kommt der Pullover und schließlich das T-Shirt. Eriks Blicke kleben an mir als hätte er Angst irgendwas zu verpassen.
„Brauchst du nicht so was wie einen Zauberstab?“, fragt er irritiert.
„Nein“, sage ich und muss lachen. „Das gibt es wirklich nur im Märchen.“
„Wie machst du es dann?“
„Ich stelle mir etwas vor und das passiert dann. Je nachdem wie mächtig man ist, kann man auch mehr verändern.“
„Also stellst du dir nur vor, dass deine Flügel wieder da sind und dann sind sie es auch?“
„Ja, pass auf.“
Ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf das Gefühl in meinem Rücken. Ich kann fühlen wie alles langsam anfängt zu kribbeln und dann spüre ich auf einmal zwei weitere Körperteile. Wie zwei zusätzliche Arme. Ich höre Eriks schnellen Atem und öffne die Augen wieder. Er starrt gebannt auf meinen Rücken und bewegt sich nicht einen Millimeter. Er sieht aus wie versteinert.
„Glaubst du mir jetzt?“
Ich spanne meine Flügel einmal ganz auf, damit er sie auch richtig sehen kann und schlage sie dann wieder hinter meinem Rücken zusammen.
Erik nickt langsam.
„Soll ich sie wieder wegzaubern?“
„Nein. Kann ich… darf ich…“
„Klar.“
Er steht zögernd auf und geht einmal um mich herum. Seine Finger streichen ganz vorsichtig über die Federn.
„Sie sehen genauso aus wie wir sie uns bei Engeln vorstellen.“
„Ja, ich weiß. Aber irgendwas an euren Geschichten muss ja auch wahr sein.“
„Fühlst du das, wenn man sie berührt?“
„Ja. Es ist genauso wie wenn dir jemand über den Kopf streicht.“
Er steht jetzt wieder direkt vor mir und sieht mich mit seinen schönen, braunen Augen an. „Das ist total verrückt.“
„So ging es mir auch, als ich das erste Mal hier war. Ich kann verstehen, dass dich das verwirrt.“
„Verwirrt ist noch ziemlich untertrieben.“
„Ist dir das denn jetzt Beweis genug?“
„Ich denke schon. Immerhin hab ich bisher noch nie gesehen wie jemandem Flügel wachsen“, sagt er und da ist auch wieder dieses Lächeln, das ich so liebe. „Warum hast du mir das gezeigt?“
„Weil ich nicht wollte, dass du mich für verrückt hältst.“
„Das hab ich aber.“
„Ja, ich weiß.“
„Aber warum hast du dann überhaupt erst davon angefangen? Du hättest dir auch einfach eine Ausrede einfallen lassen können. Eigentlich hättest du auch überhaupt nichts sagen und einfach verschwinden können.“
„Das wollte ich aber nicht.“
Er scheint zu verstehen, was ich damit sagen will und kommt noch ein Stück näher.
„Also wolltest du mich nicht loswerden?“ Eine seiner Hände streicht jetzt über meine Brust.
„Nein, ich will einfach nur bei dir sein. Du musst mich ja nur ansehen und schon ist mir alles andere egal.“
„Alles andere?“
„Ja.“
„Das geht mir auch so.“
„Also haben wir es uns jetzt schwer genug gemacht?“, frage ich.
„Ich denke schon. Aber eine Frage hab ich noch.“
„Und zwar?“
„Soll ich uns einen Glühwein machen?“, fragt er breit grinsend.
„Der wird doch sowieso wieder kalt.“
„Das ist alles, was ich hören wollte.“
Er schlingt beide Arme um mich und küsst mich.
Vier Tage später sitze ich neben Erik auf seinem Sofa und bestaune den wunderschönen Weihnachtsbaum, der so herrlich glitzert und funkelt. Ich durfte nicht beim Schmücken helfen, weil mein lieber Freund mich überraschen wollte, und jetzt bekomme ich nicht genug von dem Anblick.
„Muss ich mir Gedanken machen, weil du den Baum öfter ansiehst als mich?“, fragt Erik.
„Nein. Dich hab ich noch viel lieber.“
Zum Beweis krabbele ich auf seinen Schoß und kuschel mich an ihn. Seine Hände wandern über meinen Rücken und schlüpfen ein kleines Stück unter meinen Pullover.
„Wollt ihr zwei lieber allein sein?“, fragt Belinda, die gerade den Tisch deckt und Erik übrigens sofort ins Herz geschlossen hat, nachdem ich sie einander vorgestellt hatte.
„Nein nein, er kann es nur immer noch nicht glauben, dass da manchmal Flügel sind und manchmal nicht.“
„Dann wird er ja in den nächsten Jahren genug Zeit dafür haben. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du tatsächlich hier bleiben willst.“
„Du kannst mich jederzeit besuchen kommen.“
„Das ist nicht dasselbe“, sagt sie traurig.
„Ich weiß. Aber ich kann hier jetzt nicht mehr weg.“ Erik lächelt mich an. „Nein, vollkommen unmöglich.“
Sie wird sich daran gewöhnen. Genauso wie ich mich daran gewöhnen werde, dass von jetzt an vieles gleich sein wird. Diese Wohnung wird sich nicht verändern, ich werde jeden Tag neben der Person aufwachen, neben der ich eingeschlafen bin, und ich werde jedes Jahr einen Tannenbaum schmücken und mit meinem Freund, den ich über alles liebe, Weihnachten feiern. Sicherlich muss ich auch noch viel lernen und es wird wohl eine ganze Weile dauern, bis ich mich hier zurechtfinde, aber hey, was Arielle kann, kann ich schon lange!
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