zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

World Wide Worries

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

 

Übers Internet. So habe ich ihn kennengelernt. Warum hab ich mich überhaupt darauf eingelassen? Na ja, ich hab mich einfach geschmeichelt gefühlt. Wer wird schon von der Chatbekanntschaft seiner besten Freundin zu einem Date eingeladen? Tja... ich! Und das hat mich irgendwie total aus der Bahn geworfen.

Chrissi war auch etwas geschockt, hat sich aber erstaunlich schnell damit abgefunden, dass ihr Schwarm nicht so sehr auf Mädchen stand wie sie dachte. Angeblich hatte er unnatürlich viel über mich wissen wollen, seit er erfahren hatte, dass ich schwul war. Meine liebe Freundin gibt nämlich gerne mal damit an. Keine Ahnung warum!

Ich war jedenfalls total platt, als sie mir seine e-Mail-Adresse überreichte und sagte, er wolle mich näher kennenlernen. Mich! Wo ich doch fest davon überzeugt war, niemals jemanden zu finden, mit dem ich mein einsames Leben teilen konnte. Immerhin war mir das in den letzten siebzehn Jahren auch nicht gelungen. Ok, es gab nichts, das ich mir mehr wünschte, aber wenn man sich etwas zu sehr wünscht, ohne dass es in Erfüllung geht, gibt man die Hoffnung irgendwann auf. Bei mir war es schon fast soweit, obwohl sich auch etwas in mir dagegen sträubte. Schließlich muss man sich seine Träume doch bewahren, oder nicht? Und mein Traum war es nun mal, von jemandem in den Arm genommen zu werden, ohne dass sich diese Berührung auf Begrüßung, Abschied, Glückwünsche oder Trost beschränkt. Ich wollte dabei etwas spüren, mich wohlfühlen und fallen lassen können. Doch dieses Gefühl hatte mir bisher noch niemand geschenkt. Und dann tauchte Marko, mit der Aufforderung ihm zu schreiben, auf.

Ich war mir schon damals nicht sicher, ob es schlau war, mich darauf einzulassen, aber immerhin gab es die Möglichkeit, dass er der Richtige für mich hätte sein können. Die Tatsache, dass ich nicht wusste, was mich erwartete, und dass er eine gute Fahrstunde von mir entfernt wohnte, verdrängte ich so gut wie möglich und... schrieb ihm. Bereut habe ich es nicht und das hat sich auch bis heute nicht geändert. Trotzdem weiß ich nicht, ob ich irgendetwas hätte anders machen können, um ihn jetzt bei mir zu haben. Verliebt hatte ich mich nämlich sofort und war geradezu am Boden zerstört, als mir langsam klar wurde, dass er nicht mehr als Freundschaft im Sinn hatte. Zumindest gab er mir nie das Gefühl, jemand Besonderes für ihn zu sein – außer am Anfang:

Bei unserem ersten Treffen ist er mit dem Zug zu mir gekommen, ich habe ihn vom Bahnhof abgeholt und wir sind ganz klassisch ins Kino gegangen. Er sah toll aus! Und ich habe sogar meine Scheu überwunden und ihn zur Begrüßung umarmt. Geschmolzen wär ich dabei fast, weil er so gut roch und überhaupt! Es war zwar wieder mal nur eine Umarmung zur Begrüßung, aber immerhin war es nicht irgendjemand: Marko war mein Date! Und zwar mein Erstes! Seine Hände auf meinem Rücken fühlten sich einfach wunderbar an und wenn ich die Zeit hätte anhalten können, hätte ich es getan.

Es war Winter, Mitte Dezember, und so stapften wir durch den Schnee aufs Kino zu. Eigentlich waren wir uns ja völlig unbekannt, aber trotzdem redeten wir ununterbrochen wie alte Freunde miteinander. Ob er nervös war, konnte ich beim besten Willen nicht sagen, er machte nicht den Eindruck, aber ich war es auf jeden Fall. Ich musste die ganze Zeit daran denken, dass er mir übers Internet gesagt hatte, er wolle mir Liebesnachhilfe geben, weil ich ihm gebeichtet hatte, noch nicht besonders viel Erfahrung darin zu haben. Was er sich wohl darunter vorstellte? Oder war es nur ein Scherz?

Abgesehen davon fühlte ich mich absolut wohl in seiner Gegenwart. Sein Lachen fand ich wunderschön, wie überhaupt alles an ihm, und er lachte wirklich sehr oft. Er hatte etwas längere Haare, die in mir den unwiderstehlichen Drang auslösten, sie zwischen meinen Fingern hindurchgleiten zu lassen. Aber ich tat nichts dergleichen. Überhaupt berührten wir uns nicht mehr, bis wir im Kinosaal nebeneinander saßen. Und wenn ich daran denke, was geschah als der Film anfing, wird mir jetzt noch ganz flau im Magen. Marko hat die Armlehne zwischen unseren beiden Sitzen hochgeklappt, mir seinen linken Arm um die Schultern gelegt und mich vorsichtig an sich gezogen, so dass ich kurz darauf mit meinem Kopf an seiner Schulter lehnte. Zuerst war ich total überrascht und vollkommen verkrampft, aber als mir klar wurde, wer mich da gerade an sich zog, kuschelte ich mich noch dichter an ihn und konnte überhaupt nicht fassen, was gerade passierte. Zum Glück saßen wir in der hintersten Reihe, so dass wir niemandem unangenehm auffielen. Ich hätte mich auch um nichts in der Welt wieder normal hinsetzen wollen, denn genau nach dieser Berührung sehnte ich mich schon seit Jahren. Wahrscheinlich kann man meine Freude über eine so kleine Geste nur schwer nachvollziehen, aber es war nunmal das erste Mal, dass mir jemand auf diese Weise seine Zuneigung zeigte. Dafür brauchte ich keinen Kuss oder eine Liebeserklärung, zumindest vorerst nicht. Mir genügte es für diesen Augenblick, dass er mir nicht auswich und mich in seiner Nähe sein ließ.

Die ganzen zwei Stunden hatte ich seinen süßen Geruch in der Nase, auch wenn wir zwischenzeitlich mit etwas mehr Abstand nebeneinander saßen, weil er meinte, sein Arm sei eingeschlafen.

Manchmal bilde ich mir ein, ihn immer noch riechen zu können, obwohl unser letztes Treffen jetzt schon fast ein halbes Jahr zurückliegt. Und es gibt immer noch Tage, an denen es mir wirklich mies geht, weil ich ihn so vermisse. Eigentlich ist zwischen uns nie etwas gewesen, abgesehen von einigen Umarmungen und vereinzelten, flüchtigen Berührungen. Wir haben uns nicht ein einziges Mal geküsst und auch nie darüber geredet, was wir füreinander empfinden. Einmal habe ich ihn gefragt, ob wir uns nicht öfter treffen wollen, aber er hat nur gesagt, dass er zu sehr mit seinem Abi und dem, was danach kommt, beschäftigt sei. Zu dem Zeitpunkt hatten wir uns dreimal gesehen und zwischendurch gechattet. Das dritte war auch unser letztes Treffen gewesen und der Kontakt übers Internet brach auch langsam ab. Irgendwann hatte ich ihn darauf angesprochen wie es weiter gehen sollte, aber auch da kam von ihm keine sehr hilfreiche Antwort. Es sei einfach ein mieser Zeitpunkt für mich.

Nachdem ich ein paar Tage nicht mit ihm gechattet hatte, war mir irgendwie die Lust vergangen und je länger der Moment unseres letzten Gesprächs zurücklag, desto unwohler war mir bei dem Gedanken, wieder mit ihm zu reden. Ich vermisste ihn zwar, sogar sehr, aber diese leeren Unterhaltungen wollte ich mir einfach nicht mehr antun. Zum Schluss hatten wir uns gerade mal noch begrüßt, ein paar langweilige Fragen gestellt und irgendwann „Gute Nacht“ gesagt. Das war mir einfach zu wenig, also wollte ich lieber gar nicht mehr mit ihm reden, als ständig gefrustet zu sein, weil er mich so gut wie ignorierte. Geplant war es zwar nicht, den Kontakt völlig abbrechen zu lassen, aber irgendwann war es Wochen und dann Monate her, dass ich das Chatprogramm das letzte Mal geöffnet hatte. Chrissi hat mir erzählt, dass Marko weiterhin immer online war und sogar einmal nach mir gefragt hatte, aber ich hielt mich trotzdem zurück. Im Nachhinein bereue ich es, dass ich ihn nicht direkt darauf angesprochen habe und frage mich ständig, ob ich vielleicht zu voreilig gehandelt habe. Wer weiß, vielleicht war es wirklich nur ein sehr schlechter Zeitpunkt? Egal wie es auch sein mag, ich vermisse ihn ganz schrecklich und kann mich nur selten mit dem Gedanken trösten, dass es auf die Entfernung nie funktioniert hätte. Wie vergisst man jemanden, von dem man sich nie wirklich verabschiedet hat, und der einem immer noch so unheimlich viel bedeutet? Meine Freunde und Familie verstehen nicht im Geringsten, warum ich noch so an ihm hänge und ich verstehe es ja selber nicht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich seitdem niemandem mehr so nahe war, aber was weiß ich?! Ich kann ihn einfach nicht vergessen, obwohl es jetzt schon so lange her ist.

Gestern war sein Geburtstag, das habe ich mir gemerkt, weil er genau eine Woche nach mir Geburtstag hat. Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und ihm einen Brief geschrieben. Er war nur sehr kurz, weil ich ihm nicht mein ganzes Herz ausschütten wollte, aber ich habe ihm geschrieben, dass es mir leid tut, dass ich den Kontakt damals einfach so abgebrochen hatte. Ich hätte, als ich einmal angefangen hatte, mir am liebsten alles von der Seele geschrieben und ihm endlich gesagt, dass ich ihn liebe, aber stattdessen habe ich es bei einem knappen „Ich mochte dich wirklich sehr“ belassen. Meine Hände haben fürchterlich gezittert, als ich den Brief bei der Post eingeworfen habe, weil ich nicht wusste wie er reagieren würde.

Jetzt sitze ich hier und denke bei jedem Anruf, dass ich gleich seine Stimme hören werde. Natürlich war es immer jemand anderes, und trotzdem schrecke ich jedes Mal wieder auf und renne zum Telefon. Auch wenn es unten an der Haustür klingelt, flitze ich runter und erhoffe mir jedes Mal, Marko endlich wieder in den Arm nehmen zu können. Doch wahrscheinlich kam mein Brief dafür viel zu spät. Ein halbes Jahr. Sicher hat er jemanden kennengelernt und denkt schon gar nicht mehr an mich. Tja, was soll ich machen? Ich hab´s geschafft den ersten Menschen, den ich geliebt habe zu vergraulen, weil ich zu ungeduldig war.

Eigentlich haben alle anderen recht: ich sollte mich nicht so gehen lassen und Marko endlich vergessen, damit ich etwas Neues anfangen kann. Er wird sich auf den Brief wahrscheinlich sowieso nicht melden. Zu meinem Geburtstag hat er auch nichts von sich hören lassen. Warum auch? Ich mache ihm jedenfalls keine Vorwürfe. Ich hätte es einfach akzeptieren sollen, dass er in dem Moment keine Zeit für mich hatte. Stattdessen habe ich mich abgewendet und ihm die Schuld in die Schuhe geschoben. Das war wirklich dämlich von mir, aber ändern kann ich es jetzt nicht mehr.

Manchmal schaffe ich es ihn für ein paar Tage zu vergessen, aber wenn ich dann am Bahnhof oder am Kino vorbeilaufe, denke ich daran wie glücklich ich an diesen Orten noch vor sechs Monaten gewesen bin. Unbewusst schleichen sich dann diese Bilder in mein Gedächtnis und ehe ich es richtig bemerke, bin ich schon schlecht gelaunt und wahnsinnig traurig. Dass ich in dieser Sache häufig etwas zu sensibel reagiere, weiß ich, aber ändern kann ich es trotzdem nicht. Ich versuche wirklich alles, um wieder auf den richtigen Weg zu kommen, und doch gibt es Momente, in denen ich mich absichtlich gehen lasse und in meinem Leid zu ertrinken versuche.

Ob es noch mehr Menschen auf der Welt gibt, die in genau diesem Augenblick dasselbe fühlen wie ich? Bestimmt ja! Immerhin ist Liebeskummer eine weltweit verbreitete Krankheit, die vor keiner Art Grenze zurückschreckt. Für mich ist es trotzdem schwer vorstellbar: Wenn man selber in der Situation ist, kann man sich einfach nicht vorstellen, dass es anderen gerade genauso ergeht. Man fühlt sich von allen missverstanden und glaubt, dass dieser Schmerz einzigartig ist.

Wie viele Leichen diese Chatprogramme wohl schon im Keller haben? Bestimmt finden die wenigsten Nutzer auf diese Weise jemanden, mit dem sie glücklich werden. Ich zumindest werde in Zukunft die Finger davon lassen. Dieses Kennenlernen übers Internet ist einfach zu ungewiss. Ich möchte lieber wissen, mit wem ich es zu tun habe, bevor ich mich mit ihm treffe. Eigentlich komisch, dass ich bei Marko überhaupt nicht daran gedacht hatte, ein Treffen abzulehnen. Mir war von vornherein klar, dass ich ihm persönlich gegenüberstehen wollte. Nicht einmal hatte ich daran gezweifelt, dass wir uns sofort verstehen würden, und trotzdem hatte es nicht funktioniert. Wie es dann wohl denen geht, die sich vorher schon Sorgen machen? Na ja, wenigstens können die sich nachher sagen „Ich wusste es“. Vielleicht hilft das ja. Ich dagegen kann nur in meinem Selbstmitleid versinken.

Ganz fies ist es, wenn ich dann auch noch davon träume, Marko bei mir zu haben, seinen Körper ganz nah an meinem zu spüren und seinen Geruch in jeder Sekunde zu genießen. Wenn er mir dann sagt, dass er mich liebt und mich von Zeit zu Zeit sogar küsst, kann ich meine Tränen unmöglich zurückhalten, sobald ich aufwache und mit der Realität konfrontiert werde. Einmal bin ich im Traum in meinem Bett aufgewacht und durch meine geöffnete Zimmertür fiel ein heller Lichtstrahl. Chrissi beugte sich zu mir hinunter und flüsterte, dass Marko hier sei, kurz bevor sie plötzlich verschwand. Ich stand auf, sah mich im Zimmer um und tatsächlich lag da ein Pullover, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich roch daran und wusste sofort, dass es Markos Duft war. Das Knarren der Treppe riss mich aus meinen Gedanken und kurz darauf trat ein Schatten in den Türrahmen. Mein Herz klopfte wie wild, es war alles so real, doch dann wachte ich auf. Die Gewissheit, dass es niemals so sein würde, erdrückte mich fast und am liebsten hätte ich laut geschrieen. Eine Woche ist seitdem erst vergangen und vielleicht habe ich mich deshalb auch dazu entschlossen, Marko zu schreiben. Ich wollte endlich einen Schlussstrich ziehen. Meldet er sich bei mir, habe ich Grund zur Hoffnung. Tut er es nicht, weiß ich endgültig, dass es aus ist, und ich mich damit abfinden muss. Ich finde die Idee gar nicht so schlecht, aber wann ist der richtige Moment gekommen, um ihn aufzugeben? Wie viel Zeit soll ich ihm für eine Antwort lassen? Egal, was ich tue, es scheint immer einen Haken zu geben.

Die Tage verstreichen und meine Hoffnung schwindet von Stunde zu Stunde immer mehr. Er hat sich nicht gemeldet. Weder per Post, noch übers Telefon, noch sonst irgendwie. In den ersten Tagen habe ich mich noch damit getröstet, dass er vielleicht umgezogen ist und der Brief erst weitergeleitet werden muss, aber jetzt warte ich schon seit dreiundzwanzig Tagen auf eine Antwort. Chrissi war unglaublich verständnisvoll in der Zeit. Sie hat mir zugehört und ich hatte seit langem wieder das Gefühl, dass sie das, was ich ihr erzählte, nachvollziehen konnte. Das hat mir schon mal sehr geholfen und ich habe mich tatsächlich langsam besser gefühlt. Zwar vermisse ich Marko immer noch und das wird wohl auch noch eine Weile so bleiben, aber ich glaube, dass ich ihn jetzt, nach dieser langen Zeit, endlich vergessen kann. Ganz wird er aus meinen Gedanken natürlich nie verschwinden, immerhin war er meine erste richtige Liebe, aber er wird jedenfalls nicht mehr an erster Stelle stehen. Manchmal überkommt mich noch diese Sehnsucht nach seinen zarten, liebevollen Berührungen, aber auch hier fällt es mir immer schwerer zwischen dem Verlangen nach seinen Berührungen und dem allgemeinen Wunsch nach Zärtlichkeit zu unterscheiden. Bald wird es mir hoffentlich möglich sein, mich ganz und gar von ihm abzuwenden und auf jemand Neues zuzugehen. Dieselben Fehler werde ich jedenfalls nicht noch mal machen!

ENDE

Lesemodus deaktivieren (?)