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Charade
Weihnachtschallenge 2008
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Informationen
- Story: Charade
- Autor: JacquesLesBlagues
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Weihnachten, Challenge
Eine Historie zum Weihnachtsfeste anno domini MDCLXXXIV
Für Pierre-Philippe, den jungen Comte de Arrignac, begann heute das große Abenteuer. Draußen vor dem kleinen Landschloss seiner Eltern wartete bereits die Kutsche. Sein Diener, der ihn begleiten sollte, ging ungeduldig davor auf und ab. Zwar versuchte Jean-Baptiste gelassen zu wirken, so wie es einem Manne seines Alters und seiner Stellung zukam, jedoch war ihm seine Nervosität deutlich anzusehen. Seit Pierre-Philippe denken konnte war Jean-Baptiste um ihn herum gewesen. Aber der gute Mann entstammte einer Familie, die schon seit Generationen hier im Flecken Arrignac ansässig war. Die weiteste Reise, die er jemals unternommen hatte, lag bereits viele Jahre zurück. Und selbst damals waren sie nicht weiter als Bordeaux gekommen, das nur drei Tagesreisen entfernt lag.
Doch heute ging die Reise viel weiter, Richtung Paris, zum goldenen Zentrum Frankreichs, an den berühmt-berüchtigten Hof des Sonnenkönigs Louis XIV. Jean-Baptiste sollte ihm dort zur Seite stehen, aber Pierre-Philippe konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass eigentlich er selbst sich dort stattdessen um seinen Erzieher kümmern musste. Er war ein alter Mann, er ging wahrscheinlich bereits auf die Fünfzig zu. Sicher, er lebte hier im Schloss nicht das harte Leben der Landbevölkerung, aber der neue Hof und die modernen Zeiten und Sitten dort würden wahrscheinlich zuviel für ihn sein. Überall auf der Welt, selbst hier, in einem abgeschiedenen Winkel an der Dordogne, sprach man von den wunderbaren Zeiten, die in Paris angebrochen waren. Wissenschaften und Künste hatten einen ungeahnten Aufschwung genommen, Frankreich war auf dem Höhepunkt seiner Macht, die führende Nation der Welt. Und seit der König seinen Hof vor zwei Jahren nach Versailles verlegt hatte, lag dort das Zentrum der Macht.
Viele junge Adelige wurden von ihren Familien dorthin geschickt. Sie sollten dem König und den einflussreichen Ministern, Räten und Günstlingen nahe sein. So konnten sie Beziehungen knüpfen und Ruhm und Reichtum erwerben. Denn nur wer sich ständig in Versailles aufhielt konnte etwas werden. Pierre-Philippe brannte darauf, endlich die große weite Welt kennenzulernen. Schließlich wollte er nicht ewig hier auf dem Land versauern. Zwar führte er ein bequemes Leben, aber er wollte Abenteuer erleben, in den Krieg ziehen, für Gott und den König streiten. Er wollte die feinen Sitten des Hofs kennenlernen, sich von den Künsten verzaubern lassen. In aller Welt sollte sein Name bekannt werden. Und Versailles war dazu die Voraussetzung.
Allerdings wusste Pierre-Philippe nicht, dass er am Hof des Königs gleichzeitig eine Art Geisel war. Seine Anwesenheit dort würde das Wohlverhalten seiner Familie garantieren. Kein Herzog, kein Marquis würde es wagen, sich gegen den König zu erheben, solange sich der eigene Sohn und Nachfolger nicht in der Sicherheit des eigenen Schlosses, sondern in Versailles befinden würden – und ein einfacher Comte, der nur über eine kleinen, abgelegenen Flecken herrschte, schon gar nicht.
Pierre-Philippe verabschiedete sich von seiner Familie, bestieg die Kutsche und ließ sich in die Kissen fallen, die die Härte der Bank und das Schaukeln und Stoßen der Kutsche mindern sollten. Die Peitsche des Kutschers knallte und mit einem Holpern setzte sich das Gefährt in Bewegung. Pierre-Philippe sah ein letztes Mal aus dem Fenster, wo hinter ihm mit dem Familienschloss auch seine Kindheit verschwand. Er sah seinen Vater stehen, seine Mutter, seine jüngeren Brüder und Schwestern. Aber er hielt nach jemand anderem Ausschau. Seine Blicke suchten Delphine, die in der Küche arbeitete. Sie war vierzehn, ein Jahr jünger als er selbst – und sie hatte ihn vor ein paar Wochen zum Mann gemacht. Es war in einer abgelegenen Ecke des Gartens passiert, wo sie gerade Gemüse erntete. Pierre-Philippe kam zufällig vorbei. Sie hatte ihn angesehen, mit ihren dunklen Augen. Ihr Mund lächelte. Und bevor er wusste, was mit ihm geschah, hatte sie seine Hand ergriffen und ihn hinter eine Hecke gezogen.
Pierre-Philippes Neugier war befriedigt. Jetzt war er kein Jüngling mehr. Aber er konnte immer noch nicht verstehen, wieso sich der Blick der Männer veränderte, wenn sie von der Liebe sprachen – weder die Dichter, die in hehren Worten ihre flammenden Gefühle zu überirdisch schönen Frauen zu Papier brachten, noch die Männer, die nach Festessen mit weinschwerer Zunge derbe Grobheiten über dralle Mägde verbreiteten.
Delphine hatte ihn noch ein zweites Mal beglückt. Aber dieses Mal war etwas anderes. Die Aufregung, die das Unbekannte und Neue beim ersten Mal verursacht hatte, war verschwunden. Pierre-Philippe strich über Delphines pechschwarzes Haar. Es war weich. Ebenso wie ihre leicht olivfarben schimmernde Haut. Wie Samt. Er strich über ihren Körper. Aber es reizte ihn nicht.
Vielleicht hatte sie es bemerkt. Seitdem war sie abweisend und zurückhaltend zu ihm. Und sie bedeutete ihm nichts. Aber dennoch hätte er sie gerne ein letztes Mal gesehen.
Stattdessen dachte Pierre-Philippe jetzt an Versailles. Dort würde er Frauen sehen, neben deren Schönheit eine einfache Küchenmagd verblassen musste. Der Hof des Sonnenkönigs war berühmt für die Reize der Mätressen und für die Freuden, die sie bereitwillig schenkten. Dort würde Pierre-Philippe endlich sein Glück bei den Damen finden. Davon war er überzeugt. Denn das gehörte einfach dazu, wenn man ein galanter Edelmann werden wollte.
Die Reise nach Versailles verlief ohne größere Zwischenfälle. Aber je näher sie dem Hof des Sonnenkönigs kamen, desto mehr veränderte sich das Verhalten von Jean-Baptiste. Er ermahnte ihn, erinnerte ihn an den christlichen Lebenswandel, der von einem Edelmann aus altem Adelsgeschlechte zu erwarten war, sprach von Versuchung, Sünde und Standhaftigkeit. Der Diener kam aus dem Jammern und Wehklagen nicht mehr heraus.
Aber als Pierre-Philippe nachfragte, was er damit genau meine, verfiel der brave alte Diener in ein düsteres Schweigen. Er fragte sich nämlich, warum ihm diese Prüfung auferlegt wurde. Wieso gefiel es Gott, ihn in diese Höhle des Lasters zu führen? Er war alt, der Sündenpfuhl war keine Gefahr für ihn. Aber was war mit dem jungen, unschuldigen Pierre-Philippe? Er fürchtete um das Seelenheil seines Schützlings.
Die Kutsche hatte den Kamm eines Hügels erklommen, als sich der Blick auf Versailles öffnete. Schon von hier oben, noch aus der Ferne, war die Geschäftigkeit und Lebendigkeit dieses Ortes zu erahnen. Das Schloss war riesig, mit kühner Hand entworfen und erbaut, der unwegsamen Natur abgetrotzt. Überall waren Menschen zu sehen, die allerlei Verrichtungen nachgingen. Pierre-Philippe beobachtete das bunte Treiben erstaunt mit offenem Mund. Er versuchte auszurechnen, um wie viele Male Versailles größer war als das heimische Schloss seines Vaters. Jean-Baptiste sah mit unwillig zusammengezogenen Augenbrauen auf das sündige Treiben herab. Selbst wenn keine beunruhigenden Gerüchte an sein Ohr gedrungen wären, es gehörte nicht viel dazu, sich auszumalen, dass an einem solchen Orte, wo unzählige Menschen versammelt waren, Sünde und Laster herrschten.
Mit einem lauten Rattern fuhr die Kutsche ein. Pierre-Philippe und Jean-Baptiste entstiegen dem Wagen. Der alte Diener langsam, mit betont würdevollem Gang, der junge Edelmann mit schnellen Schritten, die seine hoffnungsvoller Erwartung verrieten.
Er blickte sich um. Und was er sah gefiel ihm. Hier pulsierte das Leben, hier konnte man etwas erreichen. Es war eine ganz andere Welt als die, die er von zuhause aus kannte.
Aber weshalb kümmerte sich niemand um sie? Er war von edlem Geblüte, er entstammte altem Schwertadel. Wieso liefen diese Burschen aus niedrigem Stande an ihm vorbei, ohne ihre Ehrerbietung zu bezeugen?
Pierre-Philippes Blick fiel schließlich auf einen Mann, dessen Aussehen weniger grob erschien als das der Knechte und Burschen.
"Ihr, heda!" rief er ihn an, "wieso lasset man den Sohn des Comte de Arrignac hier stehen wie einen einfachen Bauersmann?"
Der Angesprochene blieb kurz stehen und wandte seinen Kopf. Mit Verwunderung besah er sich diesen seltsamen Jüngling, der sich nicht zu benehmen wusste. Dann huschte ein Lächeln über seine Lippen.
'Ei, sieh an, ein Landei,' dachte der Mann belustigt. Schon seine Sprache verriet ihn. Der Junge sprach nicht das gestochene Französisch der Pariser, sondern einen Dialekt, der seine Nähe zum Okzidentanischen nicht verhehlen konnte.
'Jemand aus dem Süden,' schloss er daraus. 'Nun, man sagt, die Menschen dort seien heißblütig.' Sein Lächeln verbreiterte sich zu einem wollüstigen Grinsen. 'Ein Charakterzug, der genau zu Versailles passet.'
Er ließ das dumme Landei stehen, denn es gehörte nicht zu seinen Pflichten, sich darum zu kümmern. Aber er nahm sich vor, dieses Gesicht in Erinnerung zu halten. Das kastanienbraune Haar, das in der Sonne leicht rötlich schimmerte; die grün-grauen Augen; die ebenmäßigen Gesichtszüge; der volle Mund, der so weich wie der einer jungen Mätresse schien; die Nase war vielleicht ein wenig zu groß, auch ein wenig zu sehr ins Adlerhafte gebogen, aber das erschien dem Mann kein Makel – im Gegenteil, sie verlieh dem jungen Edelmann aus dem Süden etwas Kantiges, Kühnes. Er war noch jung, aber kein Kind mehr. Er strahlte etwas Herbes, Männliches aus.
Nach einigen Wochen hatte sich Pierre-Philippe bereits gut eingelebt. Er hatte schnell begriffen, dass seine Abstammung hier keine Bedeutung hatte. Fast schämte er sich, nur der Sohn eines einfachen Comte zu sein, dessen Schlösschen an den Ufern der Dordogne stand. Jeder einfache Stallbursche wusste besser, wie man sich am Hof des Königs verhalten musste und wie die Dinge hier liefen.
Zusammen mit einigen anderen Jungen seines Alters war er Antoine, einem jungen Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren zugeteilt. Antoine kümmerte sich um den ersten Schliff der Jungen und brachte ihnen die Dinge bei, die von Edelleuten erwartet wurden.
Sie gingen zusammen auf die Jagd, tätigten Ausritte oder übten sich in verschiedenen Waffen. Antoine brachte ihnen bei, wie sie Älteren oder Höhergestellten ihre Aufwartung zu machen hatten, wie sie sie beim abendlichen Diner bedienen mussten oder wie sie ihnen bei der Ankleide behilflich sein konnten.
Pierre-Philippe mochte dieses Leben. Zwar war er nicht mehr der Sohn des Comte, zu dem alle aufblickten, und dessen Wünsche Befehl waren. Aber er fühlte den betörenden Hauch der großen weiten Welt. Das Leben war nun einmal nicht dazu da, bloß auf einem Landgut zu versauern. Hier spielte sich die große Politik ab, hier gingen die wichtigsten Männer ein und aus. Und Pierre-Philippe war jetzt ein Teil dieser lauten, geschäftigen Welt – zwar nur ein winzig kleiner Teil, aber immerhin.
Jean-Baptiste hatte man schon einen Tag nach ihrer Ankunft wieder nach Hause geschickt. Die jungen Edelmänner sollten keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie haben. So waren sie leichter zu formen. Der König würde eine Generation von Adeligen heranziehen, die ihm treu ergeben waren. Aufstände und Rebellionen gehörten dann der Vergangenheit an.
Und Pierre-Philippe ließ sich willig formen.
Begeistert sah er zu Antoine auf. Er war fast einen Kopf größer, seine strohblonden Haare standen wild vom Kopf ab, sein modischer Spitzbart strahlte eine höfische Eleganz aus, obwohl er selbst nicht von edlem Geblüte war. In seinen wasserblauen Augen saß der Schalk, und sein Mund war ständig bereit zu lachen. Und mit seinem muskulösen, gestählten Körper konnte er jederzeit Unruhe oder Widerwillen seiner Schutzbefohlenen rasch beenden.
Pierre-Philippe wünschte sich, so wie Antoine zu sein, der für ihn das Bild des idealen Edelmannes verkörperte. Er bemühte sich, Antoine zu gefallen und ihm nachzueifern. Neidvoll blickte er zu Antoine auf. Und es machte ihm nichts aus, dass Antoine nicht aus edlem Geschlechte war.
Eines Tages befand sich die gesamte Gruppe auf der Jagd. Antoine befehligte seine Leute wie ein kühner Feldherr, der seine Truppen dem Feinde entgegen warf. Mit Begeisterung trieb Pierre-Philippe sein Ross an. Tollkühn galoppierte er durch das Gehölz und verfolgte das fliehende Wild. Im Sattel stehend legte er an und schoss. Ein kapitaler Hirsch fiel von seiner Hand.
"Mon Dieu," sagte Antoine bewundernd zu sich selbst, als er Pierre-Philippes Können sah, "der Bursche hat den Teufel im Leib."
Sein Gefühl hatte ihn damals nicht betrogen. Er hatte sich in dem einfachen, plumpen Landei, das soeben an den glänzenden Hof von Versailles gekommen war, nicht getäuscht.
Vielleicht war Pierre-Philippe der richtige Mann für ihn. Er besaß Mut. Er war unerschrocken und verachtete die Gefahr.
Nach der Rückkehr von dem Jagdritt stand Pierre-Philippe in einer kleinen Waschküche. Nur mit einem Tuch um die Lenden bekleidet beugte er sich über einen hölzernen Zuber. Er wusch sich den Schweiß und den Staub dieses Tages vom Leib.
Pierre-Philippe griff mit beiden Händen ins Wasser, und benetzte seinen Körper damit. Kalte Spritzer trafen seine nackte Haut, und kleine Rinnsale liefen seinen Körper hinab. Er tauchte den Kopf tief in den Zuber. Als er sich wieder erhob und das Wasser aus seinen Augen rieb, sah er Antoine im Bogen der Tür stehen.
Offenbar wollte er sich ebenfalls waschen. Weswegen wäre er sonst hier?
Aber Antoine bewegte sich nicht. Er stand nur in der Tür und sah ihn an. Seine blauen Augen strahlten, und Pierre-Philippe glaubte, ihren Widerschein auf seinem nackten Körper zu fühlen. Er spürte die Kälte des Wassers auf seiner Haut nicht mehr. Stattdessen stieg ein Gefühl der Wärme in ihm auf. Es begann irgendwo in seinen Lenden und breitete sich von dort über seinen ganzen Körper aus.
Pierre-Philippe wunderte sich über sich selbst. Das Gefühl erinnerte ihn an Delphine. Nur war nicht dasselbe. Es erfüllte ihn ganz, keine Faser seines Körpers konnte sich dem entziehen. Sein Kopf wurde leicht, wie nach dem Genuss von schwerem Wein.
Antoine lächelte ihn an. Schweißtropfen traten mit einem Mal auf Pierre-Philippes Stirn. Er fühlte sich an plötzlich auftretendes Fieber erinnert.
Mit einem langsamen Schritt trat Antoine näher in den Raum herein.
"Ich habe dich heute auf der Jagd beobachtet," sagte er. Pierre-Philippe war sich sicher, dass die Stimme anders klang als sonst.
"Du bist ein guter Reiter. Und auch der Umgang mit Waffen scheint dir leicht zu fallen."
Ein Kompliment von Antoine? Stolz erfüllte Pierre-Philippes Brust. Sein großes Vorbild hatte ihm ein Lob ausgesprochen!
Aber es lag noch etwas anderes in der Luft. Etwas, das Pierre-Philippe nicht beschreiben konnte.
"Du hast dich bereits gewaschen?" hörte er Antoine sagen.
Er nickte beflissen. Er wusste von Antoine, dass ein Edelmann großen Wert auf einen gepflegten Körper legte.
Mittlerweile war Antoine näher gekommen. Er stand direkt auf der anderen Seite des Zubers. Sein Blick musterte den Jüngling. Das nasse Haar, das ungezähmt vom Kopf abstand, die Haare unter den Achseln, der leichte Flaum auf der Brust, das Wasser, dessen Spuren auf der nackten Haut noch deutlich zu erkennen waren und die in dem weißen Lendenschurz versickerten.
In diesem Blick lag etwas, das Pierre-Philippe nicht deuten konnte. So etwas hatte er noch nie erlebt. Dieser Augenblick hatte etwas Zauberhaftes. Eine magische Verbindung bestand zwischen ihm und Antoine.
'Wieso kommt Antoine ausgerechnet zur mir?' fragte er sich. 'Wir sind doch sieben Pagen.'
Nach zwei weiteren Schritten stand Antoine neben dem jungen Comte de Arrignac. In der Hand hatte er plötzlich ein Leinentuch. Er legte es um Pierre-Philippes Schultern und begann, ihn sachte abzutrocknen.
Pierre-Philippe zuckte unwillkürlich zusammen. Er glaubte den Funken eines glühenden Feuers auf der Haut zu spüren. Aber es war nur eine zufällige Berührung von Antoines Hand.
Er erschauerte erneut. Zwei Finger strichen langsam eine Handbreit seinen Rücken hinunter, bevor sie innehielten.
Sein Herz schlug schneller, sein Atem beschleunigte sich.
Dann trat Antoine noch einen Schritt näher heran, sodass er Pierre-Philippes Rücken berührte. Bevor er etwas erwidern konnte, legte sich eine Hand auf seinen Bauch. Sie war kräftig und strahlte trotz ihrer vorsichtigen Bewegung etwas Forderndes und Verlangendes aus.
Pierre-Philippe hatte unwillkürlich die Luft angehalten. Antoines Hand hielt seinen Bauch, ein Finger erkundete seinen Nabel. Mit einem seufzenden Laut entließ er seinen zurückgehaltenen Atem.
"Gefällt es dir, mon cher?" Antoines Atem kitzelte ihn am Ohr.
Er wusste nicht was er sagen sollte. Es war eine Sünde, so von einem Manne berührt zu werden. Er musste Jean-Baptiste denken. War es das, was er mit seinen Andeutungen vom Sündenpfuhl und der Hure Babylon gemeint hatte?
Aber trotzdem wollte er nicht, dass es aufhörte. Er konnte nicht mehr klar denken. Er bestand nur noch aus einem Stück Haut, über das eine Hand strich. Langsam glitt sie an seinem Leib herab.
Delphines Berührungen und Liebkosungen kamen ihm in den Sinn. Aber das hier war anders. Völlig anders. Er spürte seinen gesamten Körper erbeben. Er selbst war ein einziges Brodeln. Nichts in Gottes weiter Welt existierte noch außer dieser Lust.
Das Leinentuch um seine Lenden fiel zu Boden. Er schloss die Augen. Er fühlte Antoines Lippen auf den seinigen. Weiche Barthaare berührten sein Gesicht. Sein Mund öffnete sich wie von selbst.
Pierre-Philippe versank in Antoine. Selbst wenn er jetzt mit einem Schlag in der Erde versänke und die ganze Ewigkeit über im schwefligen Höllenfeuer schmoren müsste und von den Teufeln gepeinigt würde – niemals hätte er freiwillig diesen Mund aufgegeben.
Doch Antoines Lippen lösten sich von den seinigen. Seine Zunge stieß ins Leere. Pierre-Philippe öffnete verwundert die Augen, wie aus einem schönen Traum erwachend. Sollte alles schon vorbei sein?
Er sah Antoines blondes Haar vor sich. Wie ein Engel sah er aus. Und dann wusste er plötzlich, wieso er aufgehört hatte ihn zu küssen. Eine Welle nie für möglich gehaltene Lust überschwemmte Pierre-Philippe, als er fühlte, wie Antoines Mund über seinen Körper glitt. Er schloss die Augen und legte seinen Kopf zurück. Antoine glitt tiefer und tiefer.
So musste sich die ewige Glückseligkeit anfühlen. Nein, so etwas Wunderbares konnte keine Sünde sein. Dahinter stand nicht der Teufel. Solche Gefühle mussten ein Geschenk Gottes sein.
Pierre-Philippe glaubte in Ohnmacht zu fallen. Seine Erregung konnte er nicht länger zurückhalten.
Langsam begannen seine Sinne, ihren Dienst wieder anzutreten. Er hörte Antoine atmen.
"C'était pour l'extase et l'extase n'est pas encore fini, mon petit Pégase.”
Antoine nannte ihn Pegasus? Seinen Pegasus? Er fühlte sich auch, als könnte er fliegen. Und die Ekstase sollte noch nicht vorbei sein? Was konnte jetzt noch groß kommen? Pierre-Philippe hätte nichts dagegen gehabt, jetzt einfach tot in Antoines Arme zu sinken.
Sein Geist versuchte immer noch, irgendwo Halt zu finden. Glücklich und erschöpft war Pierre-Philippe auf den Waschzuber vor ihm gesunken. Er musste sich mit seinen Händen abstützen, sonst wäre er einfach vorne übergefallen.
Wo war Antoine? Er sah ihn nicht, aber er konnte doch nicht einfach verschwunden sein. Nein, er war noch da. Pierre-Philippe atmete erleichtert auf. Er wollte, dass Antoine für immer bei ihm blieb. Er spürte seine Hand über seinen Rücken streichen. Beruhigt schloss er die Augen.
Doch dann spürte einen Schmerz. Einen ungewohnten Schmerz an einer ungewohnten Stelle, über welche die Dichter alter Zeiten peinlich berührt schweigen.
Pierre-Philippe riss die Augen weit auf. Sein Mund öffnete sich. Aber er spürte Antoines Hand, die beruhigend über seine Seiten strich.
"Reste calme, mon petit," sagte Antoine so salbungsvoll, als würde er ein Gebet sprechen.
Und er hatte Recht. Es gab keinen Grund, nicht weiter in exstatischer Leichtigkeit zu schweben. Er fühlte keinen Schmerz. Der Teufel musste ihm einen Streich gespielt haben. Er empfand nichts als Lust. Ein Gefühl der Grenzenlosigkeit bemächtigte sich seiner. Pierre-Philippe war nicht mehr nur er selbst. Er war auch Antoine und Antoine war er. Sie waren eins und außerhalb von ihnen gab es nichts mehr.
Nur langsam wurde die Wirklichkeit auch tatsächlich wieder wirklich, und erst als sich Antoine mit einem Kuss und einem verschmitzten Lächeln von ihm verabschiedete, setzte Pierre-Philippes Bewusstsein wieder ein.
Die nächsten Wochen vergingen für den jungen Comte de Arrignac wie im Rausch. Sein Herz bebte jedes Mal, wenn er Antoine erblickte. Er strengte sich nach Kräften an, um Antoine zu gefallen. Und immer wenn dieser seine Bemühungen mit einem Lächeln belohnte, dann war er glücklich. Manchmal raunte ihm Antoine etwas zu, und mit banger Erwartung verbrachte er dann die Zeit bis zu dem vereinbarten Rendezvous. Er fürchtete immer, dass Antoine nicht kommen würde, und wenn er etwas zu spät kam, dann brach seine Welt fast zusammen. Dann fragte er sich, wieso sein Geliebter so lange auf sich warten ließ. Er zweifelte an sich, an Antoine und der gesamten Welt. Vielleicht war er nicht gut genug für jemanden wie Antoine. Vielleicht gab es andere Männer, die viel schöner, kräftiger oder erfahrener waren als er selbst.
Aber dann kam Antoine, er enttäuschte ihn niemals. Ein Blick aus seinen engelsgleichen blauen Augen, ein Wort aus seinem verheißungsvollen Munde, ein Lächeln nur von diesen einladenden Lippen – und schon war alle Pein, die Pierre-Philippe ausgestanden hatte, vergeben und vergessen.
Pierre-Philippe war glücklich.
So verging der Sommer im Jahre des Herrn 1684, unter der weisen Herrschaft der Allerkatholischsten Majestät Louis XIV, des Königs von Frankreich.
Der bunte Herbst war bereits ins Land gezogen, als Antoine mit seiner Gruppe von einem Jagdausritt zurückkehrte. Pierre-Philippe hatte sich wie immer als bester Reiter und sicherster Schütze erwiesen. Und Antoine hatte ihm einen dieser anerkennenden Blicke zugeworfen, die Pierre-Philippe jedes Mal erzittern und schwach werden ließen, weil sie süße Verlockungen für die Nacht verhießen.
Pierre-Philippe erfüllte so schnell als möglich seine weiteren Pflichten, dann zog er sich ungeduldig in seine winzige Kammer zurück. Antoine würde mit Sicherheit bald kommen. Er hatte zwar nichts gesagt, aber Pierre-Philippe wusste es einfach.
Die Zeit verging quälend langsam. Pierre-Philippe saß auf seinem Bett und wartete. Doch lange konnte er nicht sitzen bleiben, dann musste er aufstehen und in seiner Kammer auf und ab gehen. Aber schon nach ein paar Schritten hatte er das Gefühl, meilenweit gegangen zu sein, und er ließ sich wieder nieder.
Er fragte sich, wo Antoine wohl blieb. Vielleicht war er durch etwas Unvorhergesehen aufgehalten worden. So musste es sein. Immerhin bekleidete Antoine eine wichtige Stellung am Hofe des Sonnenkönigs.
Das Gefühl, von Antoine versetzt worden zu sein, wich einem gewissen Stolz. Denn Pierre-Philippe konnte sich so in Antoines Ruhm sonnen. Und er fühlte sich wohl dabei.
Langsam wurde er von Müdigkeit übermannt. Er ging nicht mehr auf und ab, sondern wartete in seinem Bett sitzend auf seinen strahlenden Ritter.
Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen schlief er schließlich ein.
Doch plötzlich schreckte er aus dem Schlaf hoch. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er war und was passiert war. Dann wurde ihm langsam klar, dass er nur geträumt hatte. Er versuchte sich erinnern, was in seinen Träumen schreckliches passiert wäre, aber er kam einfach nicht darauf. Der Traum war weg.
Dann stellte er fest, dass Antoine nicht neben ihm lag. Wie spät mochte es bereits sein? Und wieso war Antoine nicht hier? Vor dem Einschlafen hatte er sich vorgestellt, wie Antoine leise die Tür zu seiner Kammer öffnete, auf Zehenspitzen hereinschlich, und ihn dann mit einem sanften Kuss wecken würde.
Der Mond stand bereits am Himmel. Pierre-Philippe musste mehrere Stunden geschlafen haben, denn es war bereits tiefste Nacht.
Ohne lange nachzudenken fasste er einen Entschluss. Er sprang auf, spülte den Geschmack des Schlafes mit einem Schluck eiskalten Wassers hinunter und verließ seine Kammer. Der dunkle Gang führte tiefer in das Schloss hinein. Alles war ruhig, fast schon gespenstisch still. Nur hinter einigen Türen waren eindeutige Geräusche zu vernehmen.
Doch unvermittelt drang der spitze Schrei eines Weibes an sein Ohr. Erschrocken blieb Pierre-Philippe stehen und wollte zu Hilfe eilen. Wie von selbst griff seine Hand an seine Seite, wo er bei seinen Ausritten den Dolch befestigt hatte. Aber in Versailles selbst durfte er natürlich keine Waffen tragen. Er ballte die Fäuste, denn ein echter Edelmann stürzte sich auch mit bloßen Händen in den Kampf gegen Ungerechtigkeit und stand tapfer den Schwachen und Hilflosen bei.
Aber dann vernahm er weitere Geräusche. Beschämt musste er sich eingestehen, dass er die Situation völlig falsch verstanden hatte. Niemand befand sich hier in Gefahr, niemand litt Schmerzen. Der Schrei der Frau war etwas völlig anderes.
Schnell ging er weiter. Denn niemand sollte merken, wie wenig er noch von der Welt wusste.
Schließlich erreichte er Antoines Kammer. Sein Herz begann schneller zu klopften. Gleich würde er die Tür öffnen, sich auf Zehenspitzen hineinschleichen, sich über Antoine beugen und ihn mit einem sanften Kuss auf die Lippen wecken. Wenn Antoine schlief sah er aus wie ein Engel.
Pierre-Philippe trat zur Tür, seine Hand berührte schon fast die Klinke. Doch dann hielt er inne. Er glaubte, ein schwaches Keuchen zu vernehmen. Und es gehörte eindeutig zu Antoine. Zu oft hatte er dieses schwere Atmen schon gehört, als dass er sich hier unsicher gewesen wäre.
Im ersten Augenblick wollte Pierre-Philippe die Tür aufreißen und Antoine zur Rede stellen. Doch dann besann er sich anders. Er beugte sich vor und spähte durch das Schlüsselloch hinein.
Das Herz blieb ihm bei diesem Anblick fast stehen.
Deutlich sah er Antoine auf dem Bett liegen, nackt wie Gott ihn geschaffen hatte. Und über ihn war jemand gebeugt. Es musste Frédéric sein, ein junger Page, des Sohn eines Adeligen aus der Bretagne, der ebenfalls zu Antoines Gruppe gehörte.
Pierre-Philippe wollte in die Kammer stürzen und diesen falschen Grafen mit den Fäusten Mores lehren. Wie konnte dieser nichtswürdige Bursche es nur auch wagen, sich derart schmeichlerisch an Antoine zu werfen! Wahrscheinlich war sogar sein Adelstitel nur gekauft.
Aber Pierre-Philippe hatte nicht die Kraft dazu. Mit einem Mal hatte ihn sein Mut verlassen. Ruckartig drehte er sich um und rannte mit zitternden Knien durch die Gänge von Versailles zurück in seine Kammer. Und es kümmerte ihn nicht, falls ihn dabei jemand sehen würde.
In dieser nach fand er keinen Schlaf. Er lag unruhig im Licht des Mondes auf seinem Bett. So sehr er sich auch dagegen wehrte, ständig hatte er das Bild vor Augen, wie sich Antoine unter Frédéric vor Wolllust wandte.
Sein alter Diener Jean-Baptiste kam ihm wieder in den Sinn. Wolllust war eine Sünde. Daran hatte er jetzt keine Zweifel mehr. Nur die Liebe zu einem anderen Menschen konnte die Lust des Fleisches rechtfertigen. Er liebte Antoine, und Antoine liebte ihn. Nicht diesen dahergelaufenen Burschen aus dem barbarischen Norden Frankreichs. Wenn man hier überhaupt von einem Franzosen sprechen konnte!
Schließlich hatte Morpheus ein Einsehen mit dem leidenden Pierre-Philippe und ließ ihn doch noch in einen unruhigen Schlaf fallen.
Mit Bangen sah der junge Comte de Arrignac am nächsten Morgen dem neuen Tag entgegen. Am heutigen Vormittag waren Übungen mit Waffen angesetzt, unter der Leitung von Antoine natürlich. Und Pierre-Philippe konnte sich nicht vorstellen, wie er ihn jemals wieder ansehen könnte, ohne an den Verrat von letzter Nacht zu denken.
Schließlich fand sich Pierre-Philippe in einem kleinen Hof zusammen mit den anderen wieder. Mit zusammengebissenen Zähnen sah er Frédéric an. Am liebsten hätte er diesen impertinenten Bretonen sofort zum Zweikampf herausgefordert.
Täuschte er sich, oder warf ihm Frédéric ein höhnisches Grinsen zu? Nein, jetzt hatte er sein Gesicht abgewandt. Es war offensichtlich, dass hier das schlechte Gewissen aus ihm sprach. Der Teufel sollte seine durchtriebene Seele piesacken!
Und dann kam Antoine. Mit federnden Schritten schritt er heran, der Wind zersauste sein Haar. Ging sein erster Blick zu Frédéric? Argwöhnisch beobachtete Pierre-Philippe auch die kleinste Regung von Antoine.
Aber er war wie immer. Er erklärte seiner Gruppe, was er heute von ihnen erwartete. Sie würden mit Degen den ehrenhaften Kampf Mann gegen Mann üben. Denn ein Edelmann sollte sich nicht nur seiner eigenen Haut erwehren können, sondern musste dabei auch noch die Regeln Ehre beachten.
Antoine verteile die Waffen, alte Degen die schon ziemlich stumpf waren. Denn natürlich sollte niemand ernsthaft verletzt werden. Pierre-Philippe sah ihm geradewegs in die wasserblauen Augen, als er seinen Degen ausgehändigt bekam. Antoine zwinkerte ihm verstohlen zu und deutete ein Lächeln an.
Also liebte Antoine ihn noch. Pierre-Philippe war wieder glücklich. Diese kleine Geste war Beweis genug. Und er hatte Antoine längst verziehen. Es war nicht seine Schuld, wenn dieser miese kleine falsche Adelige ihn verführte. Das Leben begann wieder in ihm zu fließen. Und sein Hass auf Frédéric wuchs.
Nach einigen Übungsrunden traf Pierre-Philipp endlich auf Frédéric. Schon die ganze Zeit über hatte er darauf gebrannt, endlich seinem Erzfeinde gegenüberzutreten. Und jetzt stand er unmittelbar vor ihm. Wie er diesen überheblichen Blick aus diesen falschen bretonischen Augen hasste.
Der Degen in seiner Hand fühlte sich mit einem Mal so lebendig an. Pierre-Philippe konnte seine Hand kaum noch zurückhalten.
Alles war bereit. Er stürzte sich mit der Kraft, die ihm der Hass und die Eifersucht verliehen, auf seinen Gegner. Pierre-Philippe führte seine Hiebe mit ungeheurer Kraft und Präzision, und Frédéric war darüber so erstaunt, dass er fast nach hinten übergefallen wäre. Nur mit Müh und Not konnte er sich des jungen Comte de Arrignac erwehren, dessen Schläge mit Wucht unablässig auf ihn herabprasselten und immer öfter durch seine eigene Deckung drangen. Sein Hemd war bereits an etlichen Stellen zerrissen. Dann spürte er plötzlich ein Brennen auf der Haut. Pierre-Philippes Degen hatte ihn am Arm verletzt.
Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er, sich weiterhin zu verteidigen. Aber als den Blick in den Augen seines Gegners sah, verkrampfte er völlig. Sein Herz rutschte ihm angesichts von Pierre-Philippes Entschlossenheit in die Hose. Noch nie war er jemandem begegnet, der ihn so offensichtlich vernichten wollte. Selbst der Gesichtsausdruck der Bauern auf den Ländereien seines Vaters, die einmal einen Aufstand versucht und das Schloss angegriffen hatten, wies keinen derartigen tödlichen Hass auf.
Erschrocken riss Frédéric in einer verzweifelten Bewegung seinen eigenen Degen nach oben um sich zu schützen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er um Hilfe rufen sollte. Doch damit würde er sich nur blamieren. Wahrscheinlich bildete er es sich ohnehin nur ein, dass ihm Pierre-Philippe ans Leder wollte. Er hatte ja bereits mitbekommen, dass der junge Comte de Arrignac immer mit ganzem Herzen bei der Sache war. Wahrscheinlich bekam er in der Hitze des Gefechtes überhaupt nicht mit, wie sehr er ihm zusetzte und ihn gefährdete.
Ein weiterer Hieb von Pierre-Philippes Degen durchbrach Frédérics Deckung. Er hörte, wie der Stoff seines Hemdes zerriss. Er spürte das Brennen des Stahls auf seiner Haut. Für einen Augenblick kniff er wie betäubt die Augen zusammen. Das konnte doch kein Spiel mehr sein.
Als er seine Augen wieder öffnete, nahm er undeutlich eine schwirrende Bewegung wahr. Er hörte das Klirren, wenn Metall auf Metall traf. Mit einem Mal war der Kampf beendet. Antoine hatte sich eingeschaltet und mit seinem eigenen Degen Pierre-Philippes Angriff pariert.
"Ça suffit!" hörte er ihn rufen.
Bewundernd sah er ihn an. Antoine hatte ihn gerettet. Er war ein Held!
Völlig außer Atem standen sich die beiden Kontrahenten gegenüber, die Waffen erschöpft gesenkt.
"Pierre-Philippe," sagte Antoine scharf und tadelnd, "was ist in dich gefahren? Du stehst hier keinem ungläubigen Heiden gegenüber, dessen verlorene Seele du durch einen schnellen Tod vor der ewigen Verdammnis retten musst. Das hier ist nur ein Übungskampf unter Standesbrüdern."
"Ich, ich, weiß nicht," stotterte Pierre-Philippe verlegen, "mir war nicht bewusst, dass ich…ich wollte auch nicht..."
Seine Worte versandeten im Nichts.
"Schon gut," erwiderte Antoine versöhnlich und mit einem Lächeln auf den Lippen, "in einem wahren Edelmann fließt die Leidenschaft".
Und er fügte schnell hinzu: "Besonders im Kampf. Deshalb tadle ich dich nicht, sondern lobe dich für deinen Mut und deine Fähigkeiten. Allerdings solltest du darauf achten, in Zukunft etwas vorsichtiger zu sein."
Antoine klopfte Pierre-Philippe freundschaftlich auf die Schulter, und wandte sich dann Frédéric zu.
"Bist du verletzt? Weißt du…"
Pierre-Philippe hörte den Rest nicht mehr. Seine Umgebung verschwamm, und er lief zurück in seine Kammer.
Er erinnerte sich daran, wie sehr er die Berührungen von Antoine genossen hatte. Aber das letzte Schulterklopfen hatte er einfach nicht ertragen. Es war nur eine gewöhnliche, freundschaftliche Berührung zwischen zwei alten Kameraden. Dabei sprühten keine Funken, in dieser Geste lag nichts Magisches. Und wenn er nur daran dachte, dass sich diese Hand erst vor wenigen Stunden noch mit Frédéric beschäftigt hatte…
Sollte der wunderbare Zauber, der ihn und Antoine verband, nicht mehr wirken? Und alles nur wegen eines miesen kleinen Bretonen? Bedeutete er Antoine wirklich nichts? War er tatsächlich nur ein Spiel, ein amüsanter Zeitvertreib gewesen?
Pierre-Philippe fühlte sich leer, vollkommen leer. Würde ihn auch die Hölle jetzt verschlingen, nichts konnte ihm gleichgültiger sein.
Wut und Verzweiflung stiegen in Pierre-Philippe auf. Er wollte etwas in die Hände nehmen und es dann zerbrechen. Er wollte es unmittelbar spüren.
Sein Blick fiel auf eine Tasse. Er hob sie auf. Mit den eigenen Händen wollte er sie zerbrechen. Er wollte sehen, wie sich sein Zorn in Kraft verwandelte, in die Kraft etwas zu vernichten. Selbst wenn ihn die Scherben in seine eigene Hand schnitten machte das nichts aus. Pierre-Philippe konnte das heiße Brennen fast schon spüren. Warmes Blut würde über seine Hände laufen. Der Schmerz wäre ihm willkommen. Denn dann würde er wenigsten noch etwas fühlen, etwas das ihm zeigte, dass er noch am Leben war.
Aber er stellte die Tasse zurück. Stattdessen warf er sich auf sein Bett. Er wollte es nicht. Antoine hatte das gar nicht verdient. Aber trotzdem füllten sich seine Augen mit Wasser, und hemmungslos liefen die Tränen über sein Gesicht.
Er wünschte, dass er niemals in dieses gottverdammte Schloss gekommen wäre. Sein getreuer Jean-Baptist hatte also doch Recht, als er vom Sündenpfuhl sprach. Oh wie gerne würde er jetzt seinen alten Diener sehen. Hier war er allein auf der Welt. Er hatte niemanden. Selbst wenn es ihn nicht gäbe, dann würde das bunte Treiben hier genauso weitergehen als wäre nichts geschehen.
Vielleicht wäre es tatsächlich besser, wenn er nicht mehr existieren würde.
Grimmiger Trotz verdrängte jetzt die Verzweiflung und das Selbstmitleid. Wenn die Welt schlecht und böse zu ihm war, wieso sollte ihm dann an der Welt noch etwas liegen?
Sich selbst zu entleiben war eine Todsünde, für die er auf ewig in der Hölle schmoren würde. Aber die Qualen dort waren mit Sicherheit nicht einmal halb so schlimm wie das, was er hier durchmachen musste.
Pierre-Philippe stellte sich vor, wie er sich seinen eigenen Dolch in den Leib stoßen würde. Der schwarze Sensenmann würde ihn sanft abholen. Sterben musste er ohnehin. Welche Rolle spielte es da schon, ob heute oder in dreißig oder vierzig Jahren? Was bedeutete schon Zeit, wenn er sie nicht mit Antoine teilen konnte.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
Das musste Gevatter Hein sein. Er kam, um ihn zu holen.
O Tod! O Wonne! Beende die Pein!
Es pochte erneut an der Tür. Aber wieso klopfte der Sensenmann? Weshalb kam er nicht einfach herein? Bauern und Könige, Soldaten und Gottesmänner, Christen und Ungläubige, Frauen und Männer, niemand konnte ihm entkommen. Und jetzt hielt ihn eine einfache Holztür auf?
Pierre-Philippes Gedanken wurden wieder klarer. Langsam richtete er sich in seinem Bett auf. Natürlich war er noch am Leben. Das war nicht der Tod. Er wusste selbst nicht, welcher Teufel ihn geritten hatte.
Die Tür ging auf, und engelsgleich kam Antoine herein. Seine hellen Augen strahlten wie das Licht der Sonne, sein roter Mund lächelte einladend und freundlich.
Antoine blieb stehen und fragte betont höflich: "Darf ich eintreten?"
Konnte das sein? Antoine wollte wirklich zu ihm?
Pierre-Philippes Herz machte einen Sprung. Er sprang auf und wollte ihn in seine Arme schließen. Aber dann erinnerte sich daran, wie Frédérics Arme Antoine Leib umschlossen gehalten hatten. Und im selben Moment wollte er Antoine wieder von sich wegstoßen.
"Bist du wütend?" hörte er Antoine mit sanfter Stimme sagen. "Auf mich vielleicht?"
Antoine hatte letzte Nacht natürlich gehört, wie jemand mit lauten Schritten von seiner Kammer weggelaufen war. Und es brauchte nicht viel um zu erraten, dass es der junge Comte de Arrignac gewesen sein musste.
Pierre-Philippe schluckte mit trockener Kehle. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Antoine hatte ihn hintergangen, ihn verraten und gedemütigt. Aber trotzdem, er konnte ihm nicht böse sein. Nicht wenn er dieses Gesicht sah. Nicht wenn er den Ton seiner Stimme hörte. Nicht wenn er direkt vor ihm stand.
"Du hast letzte Nacht vielleicht etwas gesehen," begann Antoine vorsichtig, aber Pierre-Philippes Miene blieb versteinert. "Etwas das dich beunruhigt hat. Du bist verstört und weißt nicht, was du machen sollst."
Antoine trat einen Schritt auf den jungen Comte zu. Und dieser wich nicht zurück.
"Aber glaube mir, was du sahst, hat nichts zu bedeuten. Du bist noch jung. Und du weißt noch nicht, wie es in der Welt zugeht."
Antoine nahm Pierre-Philippes Hand.
"Besonders weißt du noch nicht, was hier in Versailles alles passiert. Hier herrschen wahrlich Sodom und Gomorrha. Würde das Volk draußen wissen, wie verderbt die Sitten hier bei Hofe sind, dann würde es das Schloss erstürmen und den König samt seiner Mätressen und Günstlinge einen Kopf kürzen machen."
Pierre-Philippe erschrak. Wie konnte Antoine nur so über den König reden?
"Verzeih, wenn ich dir unverblümt die Wahrheit sage, aber ich sehe tagtäglich die Wahrheit. Auch wenn ich nur ein kleiner Niemand bin."
"Du bist kein Niemand," entgegnete Pierre-Philippe langsam, "für mich bist du alles. Aber wieso beteiligst du dich an diesem sündhaften Treiben? Dich mit einem anderen zu sehen, das ist für mich, als stieße man mir einen glühenden Dolch ins Herz und drehte ihn beständig herum. Ich dachte, du liebst mich."
Antoine nahm Pierre-Philippe in die Arme.
"Das tue ich, mein kleiner Comte. Das tue ich," sagte er sanft und gab dem Jungen einen Kuss. "Ich liebe nur dich. Aber trotzdem musst du verstehen, dass mein Leib nicht dir alleine gehört. Wir alle haben Verpflichtungen. Frédérics Vater ist nicht ohne Einfluss. Und wenn sein Sohn zu mir kommt, dann kann ich ihn nicht einfach abweisen und vor den Kopf stoßen. Das verstehst du doch sicherlich, oder?"
Antoine sah Pierre-Philippe mit seinen blauen Augen durchdringend an. Dieser nickte, auch wenn es ihm schwerfiel. Bei dem Gedanken an Antoine und Frédéric wurde ihm immer noch ganz anders. Und verlangte Antoine auch noch von ihm, dass er es akzeptieren musste, wenn sich andere an seinem wunderbaren Leib ergötzten?
"Ich weiß, dass das für dich schwer sein muss. Aber wir können das nicht ändern, selbst wenn wir uns zusammen gegen die ganze Welt stellen."
Pierre-Philippe sah seinen Geliebten an. Wahrscheinlich hatte er Recht. Er war so erfahren und weltmännisch. Dahingegen war er nur ein kleines Landei aus der tiefsten Provinz, der noch keine Ahnung vom Leben hatte. Insgeheim schämte er sich für sein Verhalten.
Dankbar und erleichtert küsste er Antoine. Er war froh, dass er ihn über die Tücken der weiten Welt aufklärte. Und dass er ihn trotzdem liebte.
"Ach ja," sagte Antoine, "auch du wirst vermutlich bald andere Erfahrungen machen, sei es mit Männern oder mit Frauen. Und ich rate dir, genieße es. Du bist doch jung. Nutze deine Jugend. Das ändert auch nichts an deiner Liebe zu mir."
Pierre-Philippe konnte sich zwar nicht vorstellen, die Liebe mit jemand anderem als seinem Antoine zu genießen. Aber er nahm sich die Worte seines Geliebten zu Herzen.
In den nächsten Wochen veränderte sich Pierre-Philippes Leben auf das Tiefgreifendste. Er wurde mit den frivoleren Seiten des Versailler Lebens bekannt. Er traf verschiedenste Männer und Frauen, bei denen er die l'Art d'aimer kennenlernte. Und meistens fand er es sogar ganz angenehm. Aber dennoch, Antoine war der einzige, mit dem ihm tatsächliche Gefühle verbanden. Und so sehr er es auch genoss, Antoine mit einer neuen Technik oder Ausgefallenheit zu überraschen, die er vor kurzem kennengelernt hatte – am stärksten wurde seine Leidenschaft durch seine Liebe angeregt.
Antoine stand ihm bei seinen Abenteuern tatkräftig zur Seite. Er wischte seine Bedenken beiseite und erklärte ihm, dass nichts dabei war, eine Nacht mit einer verheiratete Frau zu verbringen. Denn ihr Ehemann vergnügte sich ohnehin in fremden in Betten. Oder dass es keine Sünde war, wenn zwei Männer ein Fleisch wurden, weil Gott andernfalls dem Menschen nicht die Fähigkeit geschenkt hätte, Liebe und Glück zu empfinden.
Pierre-Philippe lernte, seinen Körper zu genießen. Allerdings wurde ihm dabei klar, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Seine Liebeleien mit Frauen waren lediglich Pflichtübungen, die er erfüllte, um den Anforderungen und Erwartungen anderer zu genügen, selbst wenn er vielen Frauen am Hofe eine nicht unbeträchtliche Attraktivität zugestehen musste. Aber trotzdem dachte er jedes Mal an Antoine und seinen wunderbaren, wie aus edlem Marmor gemeißelten Körper.
Eines Nachts hatte ihn eine Duchesse zu sich rufen lassen, die sich von seinem jugendlichen, Unschuld ausstrahlendem Charme angezogen fühlte. Es war das erste Mal, dass Pierre-Philippe so nahe mit einer Person von derart hohem Range zusammenkam.
"Sie war die Mätresse des Königs selbst," hatte ihm Antoine eingeschärft. "Wenn du sie triffst, dann ist das ungeheure Ehre für dich. Und nach dem König teilte sie ihr Bett unter anderem mit dem Kardinal de Bougy, dem Herzog de Beaumont, dem Heerführer Turenne und Seignelay, einem der reichsten und einflussreichsten Männer im Staate. Du befindest dich also in illustrer Gesellschaft. Du kannst stolz auf dich sein. Jetzt bist du endgültig in Versailles angekommen, und dir stehen alle Möglichkeiten offen."
Aber Pierre-Philippe dachte vielmehr mit einem Anflug von Ekel an all die vielen Männer, denen die Duchesse schon alle ihre Gunst gewährt hatte. Wie eine derbe Kuhmagd! Und um sich nichts anmerken zu lassen, hatte er Antoine gefragt: "Sie war die Mätresse eines Kardinals? Und wieso nahm sie ihr Gatte überhaupt zum Weibe, wenn sie schon so in Sünde gelebt hatte?"
Antoine hatte gelacht. "Mein edler kleiner Ritter, ich dachte, dir wäre mittlerweile klar geworden, dass die Sitten, die für das einfache Volk gelten, hier keine Bedeutung haben."
"Ja schon," hatte er einen Einwand versucht, "aber gleich ein Kardinal?"
"Ein Kardinal ist auch nur ein Mann, in dessen Adern das Blut pulsiert. Und die Gebote der Kirche gelten nur bis zu einem gewissen Rang."
Pierre-Philippe gefiel nicht, was er da zu hören bekam. Aber er schwieg und trat seinen Dienst bei der Duchesse an.
Ihr Gebaren und ihre Ausstrahlung zogen ihn sogleich in seinen Bann. Die zauberhafte, elfengleiche Eleganz der Duchesse, die klare Stimme, die perlendem Weine gleich den jungen Edelmann sirenenhaft umwob, das vollendete Ebenmaß ihres Gesichts – es war bei Gott kein Wunder, wenn selbst Könige dieser Versuchung erlagen.
Pierre-Philippe dachte nach. Wenn sie einst die Mätresse Turennes war, dann musste sich schon sehr alt sein, denn der Maréchal de France war schon seit über zehn Jahren tot. Auf jeden Fall war die Duchesse deutlich über dreißig. Wahrscheinlich ging sie bereits auf die Vierzig zu. Aber ihr Gesicht war immer noch das einer jungen Frau.
Pierre-Philippe fühlte sich, ganz gegen seine sonstige Natur, zu dieser edlen Dame hingezogen. Es war mehr als Lust. Es war ihr Charme, der ihn verzauberte. Die Säfte der Liebe und der Lust stiegen in ihm hoch, und die Nacht im Lager der Duchesse erschien ihm verheißungsvoll.
Doch als sich die Herzogin ihrer Kleider entledigt hatte und nackt wie Gott sie geschaffen hatte auf ihrem Bette saß, waren die Spuren der Zeit an ihrem Leibe deutlich zu sehen. Ein Teil des Zaubers, der sie umgab, war verschwunden.
Und als die Duchesse zu schwitzen anfing, verlief das filigran aufgetragene Kunstwerk aus Puder, Rouge, Masacra, Cremes und anderen Wundermitteln, die Pierre-Philippe nicht näher kannte, zu einem unordentlichen, unansehnlichen Allerlei. Das engelsgleiche Gesicht hatte sich eine teuflische Fratze verwandelt.
Der Charme, die damenhafte Eleganz, den erotisierenden Duft leichter Verruchtheit – alles was die Duchesse so anziehend erscheinen ließ, es war mit einem Mal verschwunden. Pierre-Philippe sah keine Adelige mehr vor sich, sondern ein altes, wollüstiges Weib, deren begehrenswerte Fassade nur mithilfe künstlicher Mittel aufrecht erhalten werden konnte und die schließlich wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen war.
"Schlappschwanz!" hörte Pierre-Philippes die Duchesse sagen. Ihre Stimme verriet Ärger, aber auch Hohn und eine Spur von Belustigung drang dabei durch.
"So jung, aber schon keine Kraft mehr. Bemerkenswert!"
Ihre Stimme nahm zuerst einen glucksenden Tonfall an und verwandelte sich schließlich in ein schallendes Gelächter.
Tief getroffen und gedemütigt sah der junge Comte de Arrignac zu Boden. Aber die Duchesse hatte ihre Aufmerksamkeit bereits anderen Dingen zugewandt. Sie griff zu einer kleinen silbernen Klingel, die immer neben ihrem Bett lag und läutete nach ihrer Kammerzofe. Eilig und beflissen kam ein junges Mädchen herein, kaum älter als Pierre-Philippe.
"Du kannst gehen, Bursche! Deine Dienste werden hier nicht mehr gebraucht!" befahl die Duchesse dem verdattert dastehenden Pierre-Philippe. Und an die eintretende Zofe gewandt fügte sie noch hinzu:
"Komm her zu mir und erfülle die Pflichten, die dieser impertinente Bursche nicht zu leisten vermag!"
Ohne sich weiter umzudrehen verließ Pierre-Philippe die Räume der Duchesse.
Mit einem schlechten Gefühl legte sich in seiner eigenen Kammer nieder. Er hatte die Duchesse enttäuscht und verärgert, und sie war eine mächtige Frau. Einst war sie die Mätresse einflussreicher Männer, ja sogar bis zum König selbst reichten ihre Verbindungen. Für Pierre-Philippes Fortkommen bei Hofe konnte das nur hinderlich sein. Deshalb nahm er sich vor, sich in Zukunft besser anzustrengen. Manchmal musste man eben auch Opfer bringen, besonders wenn man weiter nach oben wollte. Selbst wenn er dabei denen widerlichsten Verkommenheiten ins Auge sehen musste.
Aber die Duchesse war nun einmal kein Antoine. Schon bei dem Gedanken an dessen wunderbaren Körper, sein Gesicht, seine Liebkosungen regte sich bei Pierre-Philippe die Lust. Wieso hatte der Zauber vorhin bei der Duchesse nicht gewirkt?
Hin- und hergerissen zwischen banger Erwartung, was sein heutiges Versagen für seine Zukunft bedeuten würde, und süßen Gedanken an Antoine schlief Pierre-Philippe endlich ein.
Die nächsten Tage verliefen ereignislos. Niemand schien etwas über die Vorgänge bei der Duchesse zu wissen.
Doch dann kam Antoine zu Pierre-Philippe. Er küsste ihn und fragte ihn dann:
"Hast du jemanden gegen dich aufgebracht? Jemanden, der über beträchtlichen Einfluss zu verfügen scheint?"
Natürlich wusste Pierre-Philippe sofort, was hinter Antoines Fragen stand. Aber dennoch erwiderte er:
"Nicht dass ich wüsste. Aber wieso fragst du?"
"Weil ein Gerücht kursiert, wonach du hier in Versailles möglicherweise nicht mehr erwünscht bist. Ich habe sogar jemanden davon reden hören, dass du zurück nach Hause geschickt werden sollst. Und was das bedeutet, nun, ich glaube, das muss ich dir nicht weiter erklären."
Pierre-Philippe schluckte. Wenn er mit Schimpf und Schande hier davon gejagt würde, dann wäre sein Leben ruiniert. Er hätte die Erwartungen seiner Eltern enttäuscht, deren kleine Grafschaft nur mit Mühe die Beträge erwirtschaften konnte, die sein Aufenthalt in Versailles verschlang. Aus ihm selbst würde kein berühmter Heerführer werden, der im glorreichen Triumphzuge die Feinde des Königs und des Glaubens vor sich hertrieb. Nur das langweile, ereignislose Leben eines kleinen Landadeligen irgendwo in der tiefsten Provinz blieb ihm noch. Und er konnte sich nicht vorstellen, ein solches Leben jemals wieder zu führen, nachdem er gesehen und erlebt hatte, was an einem Ort wie Versailles alles passierte.
Und Pierre-Philippe würde Antoine niemals wiedersehen. Er würde niemals mit ihm in die Dordogne kommen. Er gehörte einfach hierher, in die große Welt. Diese Erkenntnis versetzte Pierre-Philippes Herzen einen Stich.
Vielleicht schon in ein paar Tagen würde er dieses Gesicht nie mehr wiedersehen, niemals mehr diese sinnlichen Lippen küssen oder diesen göttlichen Körper berühren.
Wasser stieg in Pierre-Philippes Augen auf. Durch einen Tränenschleier blickte er Antoine ins Gesicht. Mit erstickender Stimme sagte er:
"Aber ich will nicht verlieren. Dann wäre alles zu Ende. Ich könnte ohne dich nicht mehr leben."
Antoine nahm ihn liebevoll in seine Arme. Und Pierre-Philippe wünschte, dass die Zeit in diesem Moment für immer stehenbleiben würde.
"Ich glaube, dass ich eine Lösung dafür habe. Diese Intrige gegen dich kommt aus einer ganz bestimmten Ecke. Das sind hauptsächlich Leute, die den Kreisen um Seignelay und de Bougy angehören. Könnte das etwas mit der Duchesse zu tun haben, die ein Auge auf dich geworfen hat?"
Antoine hegte bereits gewisse Vermutungen, sagte aber nichts.
Pierre-Philippe sah beschämt zu Boden und nickte langsam. In stockenden Worten erzählte er seinem Freund, was sich vor kurzem ereignet hatte.
Als er damit fertig war, hörte er Antoine lachen.
"Eine absurde Geschichte. Aber so sind sie nun einmal, unsere Damen und Herren in den hohen Rängen. Sie halten sich für den Mittelpunkt der Welt, und alles, was auch nur nach der geringsten Beleidigung dieses gottgegebenen Status aussieht, wird sofort mit aller Macht verfolgt und ausgemerzt. Aber das lustige dabei ist, dass die Duchesse selbst aus ganz niederen Verhältnissen stammt. Nur weil sie so hübsch war und sich bereitwillig den hohen Herren hingegeben hat, ist sie jetzt selbst Teil dieser dekadenten Welt. Und deshalb muss sie auch nach allem treten, was im Rang unter ihr steht. Und wenn du jetzt, nun ja, also wenn ihre Schönheit auf dich nicht wirkt, dann fühlt sie sich dadurch in ihrer Ehre gekränkt. Und deshalb jetzt ihre Rache."
Und mit einem lausbübischen Grinsen fügte er noch hinzu: "Ach ja, ich kann es natürlich verstehen, wenn so ein altes, hässliches Weib keine Wirkung auf einen hübschen jungen Burschen wie dich hat."
Dabei fuhr seine Hand unter Pierre-Philippes Hemd und strich sanft über seine Brust. Und mit einem Mal waren alle Sorgen des jungen Comte wie weggeblasen.
Am Abend des nächsten Tages stand Pierre-Philippe vor den prächtigen Räumen des Marquis de Fronsac. Antoine hatte ihm alles erklärt: Das Fürstentum Fronsac war erst vor kurzem geschaffen worden, um den momentanen Günstling von Henri, dem Bruder des Königs, in den Adelsstand zu hieven. Der Marquis hatte es verstanden, Henri für sich einzunehmen und um den Finger zu wickeln, indem er dessen Leidenschaft für hübsche junge Männer ausnutzte. Antoine hatte Pierre-Philippe gegenüber bloß einige Andeutungen darüber gemacht, wieso der Bruder des Königs, der nun wirklich jeden Burschen, den er wollte, haben konnte, ausgerechnet auf den Marquis verfiel. Und eigentlich war er gar kein richtiger Marquis. Niemand wusste, wer seine Eltern waren. Niemand wusste, woher er kam. Nur dass er es irgendwie geschafft hatte, die Gunst Henris zu erringen. Dieser hatte ihn in den Adelsstand erhoben und ihn sein eigenes Fürstentum geschenkt. Immer weiter erklomm der Marquis die Ränge des Hofes und des Adels. Und der Einfluss seines Gönners ging schließlich soweit, dass der Marquis den Befehl über eine ganze Armee bekam, die im Elsass und am Niederrhein operierte. Allerdings waren seine militärischen Fähigkeiten nur sehr bescheiden, weshalb sich seine Soldaten meistens auf dem Rückzug befanden. Aber solange der Bruder des Königs seine schützende Hand über ihn hielt, waren Zweifel an seiner Feldherrenkunst gleichbedeutend mit Majestätsbeleidigung.
Und jetzt wartete Pierre-Philippe darauf, dass ihm dieser in so kurzer Zeit so mächtig gewordene Herr eine Audienz gewähren würde. Dann würde er vielleicht seinen Einfluss geltend machen, sodass Pierre-Philippe Versailles doch nicht verlassen musste. Immerhin hieß es, dass der Marquis im politischen Intrigenspiel ein Gegner der Duchesse und ihrer Gruppe sei und dass er diese Gelegenheit nutzen konnte, um seinen Rivalen zu brüskieren.
Gerade war Antoine noch beim Marquis, um ihm nähere Details dieser Affaire zu erklären.
"Très bien, très bien," sagte der Marquis mit einem süffisanten Lächeln, während er Antoine anerkennend zunickte. "Wir müssen sagen, du hast ganze Arbeit geleistet. Damit können unsere Pläne nun langsam Gestalt annehmen."
"Schon als ich den jungen Comte das erste Mal sah, war mir klar, dass er genau der Richtige ist. Für Euch und für Eure Ziele."
"Du hast uns treu gedient, Antoine. Und auf dein Urteil konnten wir uns immer verlassen. Deshalb glauben wir dir auch, dass uns der Junge noch sehr nützlich sein kann."
Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen.
"Und wenn er auch noch hübsch ist…"
Der Marquis sprach in angespannter Vorfreude und Erregung nicht weiter.
"Er ist sehr hübsch. Und er ist bereits zugeritten. Ein wilder Hengst, der jetzt folgsam und gefügig ist."
Antoine lachte und verließ die Gemächer des Marquis.
Draußen wartete bereits Pierre-Philippe. Antoine gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wangen und erklärte ihm dann mit leiser Stimme:
"Der Marquis ist bereit dich anzuhören. Und aus seinen Andeutungen entnehme ich, dass er dir wahrscheinlich auch helfen wird. Allerdings," Antoine senkte seine Stimme zu einem kaum mehr hörbaren Flüstern, "musst du dich ihm gegenüber auch wohl verhalten und ihm gefällig sein."
Pierre-Philippe sah seinen Freund an.
"Was soll das heißen?"
"Nun," antwortete Antoine ein wenig zögerlich, "er hat gerne junge Männer um sich. Und, wie soll ich es sagen, er langt auch gerne mal ein weniger fester zu."
"Fester? Ich verstehe dich nicht ganz.."
"Also," wand sich Antoine, "ich kann dir das jetzt nicht erklären, weil der Marquis schon auf dich wartet. Es ist nichts, wovor du dich fürchten müsstest. Ich habe es schließlich selbst schon erlebt," sagte mit einem Lächeln.
"Du selbst? Du und der Marquis?" fragte Pierre-Philippe bestürzt.
"Nun ja, du weißt doch mittlerweile, wie es hier in Versailles und bei den adeligen Herren zugeht. Also," er gab ihm einen aufmunternden Klaps auf die Schulter, "vergiss die Moral und sei ein Mann."
Und als er sich zum Gehen wandte fügte er noch hinzu:
"Ich warte in deiner Kammer auf dich."
Pierre-Philippe wusste nicht, was er davon halten sollte. In banger Erwartung horchte er, ob er aus den Gemächern des Marquis etwas vernehmen konnte – etwas, das ihm sagen würde, was ihn dort drinnen erwartete.
Schließlich öffneten sich die Türen. Überrascht bemerkte der junge Comte de Arrignac, dass dies nicht durch einen Lakaien geschah, sondern durch den Marquis selbst.
Pierre-Philippe sah sich einen schönen, attraktiven Mann gegenüber, vielleicht gegen Ende zwanzig. Dichtes dunkelbraunes Haar ragte unter seiner Perücke hervor. Ein kurzgeschorener Bart umrahmte sein kantiges, kraftvoll wirkendes Gesicht. Dunkle, fast schwarze Augen sahen Pierre-Philippe durchdringend an.
Diese Person hatte etwas Magisch-Anziehendes an sich, dem sich Pierre-Philippe nicht entziehen konnte. Nur zu gut verstand er jetzt, wieso sogar Philippe, der Bruder des Königs, diesen Mann um sich haben wollte.
Allerdings schmerzte es ihn zu wissen, dass auch Antoine seinen Körper dem Marquis geschenkt hatte. Aber Pierre-Philippe verstand mittlerweile genug von der Welt, und er machte Antoine deswegen keinen Vorwurf. Schließlich würde er jetzt dasselbe tun. Das war nun einmal der Preis des Erfolgs. Und wenn er dem Marquis gefiel, dann würde er ihn vielleicht auch weiterhin begünstigen. Der Gedanke daran gefiel Pierre-Philippe, und seine Furcht verflog. Denn er sah sich bereits als Offizier unter dem Marquis.
"Du also bist der Comte de Arrignac?" begann der Marquis das Gespräch.
"Oui, Sieur," antwortete Pierre-Philippe huldvoll und demütig.
"Du bist höflich und bezeugst Ranghöheren deinen Respekt. Das gefällt uns. Außerdem hat uns Antoine geschildert, über welch' außergewöhnliche Fähigkeiten du verfügst."
'Ein guter Anfang,' dachte Pierre-Philippe. Der Marquis schien ein umgänglicher Mann zu sein, trotz seiner hohen Stellung und der Gunst, die er beim Bruder des Königs genoss. Allerdings fragte sich Pierre-Philippe, wieso der Marquis keine Diener um sich hatte. Und wieso hier mehrere Reitpeitschen herumlagen.
"Wir wissen natürlich über deine Probleme Bescheid," fuhr der Marquis fort. "Und wir haben auch schon eine Lösung."
Hoffnung keimte in Pierre-Philippe auf. Erwartungsvoll sah er den Marquis an. Sollte es ihm dieser Mann tatsächlich ermöglichen, hier in Versailles am Hofe zu bleiben? Sodass es ihm weiter möglich wäre, in der Armee aufzusteigen? Und bei Antoine zu bleiben?
Vor Dankbarkeit gegenüber seinem Wohltäter wäre Pierre-Philippe fast auf die Knie gefallen.
Er hörte den Marquis weitersprechen:
"Wie würde es dir gefallen, wenn du zur Armee gehen würdest? Bei den Musketieren werden immer gute Leute gebraucht. Und Antoine hat uns berichtet, wie gut du reiten und schießen kannst."
Zur Armee? Eigentlich hatte Pierre-Philippe nur gehofft, dass es ihm irgendwie möglich sein würde zu bleiben. Aber wenn er jetzt auch noch zur Armee konnte, dann war das mehr als er jemals erwartet hätte. Es war das, was er schon immer wollte.
"Wir glauben deshalb, dass du bei den mousquetaires de la garde gut aufgehoben wärst. Dort könntest du deine Fähigkeiten deinem König und deinem Vaterlande zur Verfügung stellen. Natürlich musst du ganz unten anfangen und dich, wenn du dich bewährst, nach oben arbeiten."
Der junge Comte de Arrignac glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Sprach der Marquis tatsächlich von den Musketieren der Garde? Diese legendäre Einheit, die direkt dem König unterstand und die für seinen Schutz zuständig war? Und die von dem nicht minder legendären d'Artagnan kommandiert wurde. Nur die besten und zuverlässigsten Leute kamen zu dieser Truppe. Und jetzt sollte auch er dazu gehören?
Pierre-Philippe wurde vor Glück fast schwindlig. Sein Aufstieg beim Militär war damit nur eine Frage der Zeit. Und er würde hier in Versailles bleiben können – bei Antoine.
Er liebte Antoine. Umso mehr, als sich dieser beim Marquis offenbar für ihn eingesetzt hatte.
"Sieur," stammelte Pierre-Philippe dankbar, "ich weiß nicht, wie ich Euch…"
Mit einer knappen Handbewegung schnitt ihm der Marquis das Wort ab.
"Wir bemühen uns nur, unserem König so gut als möglich zu dienen. Und wenn du der richtige Mann für die Garde bist, dann sind wir es, die dankbar sein müssen, wenn wir unseren Herrscher mit unseren bescheidenen Mitteln unterstützen können."
Er trat einen Schritt auf Pierre-Philippe zu und sagte:
"Aber wir können dich nicht ohne weiteres für eine solche verantwortungsvolle Aufgabe empfehlen."
Er kam noch etwas näher und stand nun direkt vor Pierre-Philippe, sodass dieser seinen Atem spüren konnte.
"Nur die Besten und die Stärksten können Mitglied der mousquetaires de la garde werden. Möchtest du das?"
Pierre-Philippe nickte eifrig.
Der Marquis umfasste Pierre-Philippe Hüften und zog ihn näher zu sich hin.
"Deshalb müssen wir zuerst überprüfen, ob du diesen Anforderungen auch körperlich gewachsen bist."
Mit einer schnellen Bewegung riss er Pierre-Philippes Hemd entzwei. Der junge Comte de Arrignac ließ es willig mit sich geschehen. Nicht nur, weil davon seine Zukunft abhing, sondern auch, weil er den Marquis faszinierend und attraktiv fand. Er ließ sich ein paar Schritte weiter nach hinten drängen – dorthin, wo das breite Bett des Marquis stand.
Mit einer ruppigen Bewegung drehte ihn der Marquis um und warf ihn auf das Lager. Pierre-Philippe schloss die Augen, denn er wusste, was jetzt kommen würde.
Er dachte an Antoine.
Aber spürte nicht das, was er erwartet hatte. Er nahm ein leises Surren wahr, dann fühlte er ein Brennen auf seinem Rücken, als ihn eine Gerte traf.
Mit zitternden Knien begab sich Pierre-Philippe zurück in seine eigene Kammer. Dort wartete bereits Antoine auf ihn.
"Und?" fragte dieser erwartungsvoll.
Pierre-Philippe zögerte mit seiner Antwort. Denn er konnte immer noch nicht verstehen, was das, was er soeben erlebt hatte, mit Liebe zu tun haben sollte.
"Wie ich sehe, hast du eine ungewöhnliche Erfahrung gemacht," sprach Antoine schließlich langsam weiter.
Seine Stimme wirkte beruhigend auf Pierre-Philippe.
"Ich heiße die, nun ja, die exzentrischen Vorlieben des Marquis nicht unbedingt gut, aber das ist seine Art, Befriedigung zu finden."
Er schwieg einen Augenblick lang und fügte noch leise hinzu:
"Ich habe es selbst schon erlebt."
Pierre-Philippe sah seinen Freund mit großen Augen an. Antoine hatte die seltsamen Neigungen des Marquis am eigenen Leib erfahren? Die Welt war doch nichts weiter als ein Tollhaus, ein schmieriges Theater, in dem unsinnige Possen gespielt wurden.
"Du darfst nicht denken, dass es schlimm ist, was der Marquis macht. Henri, der Bruder des Königs selbst, sucht ihn sehr oft auf, um sich vom Marquis…das heißt, um mit dem Marquis zusammen zu sein. Ich habe selbst schon gesehen, wie Henry völlig nackt auf allen Vieren am Boden herumkroch. Und der Marquis saß, nur mit Reiterstiefeln bekleidet, auf seinem Rücken und gab ihm wie einem Pferd die Peitsche."
Sprachlos hatte Pierre-Philippe zugehört. Schließlich fand er seine Sprache wieder und brachte stotternd hervor:
"Ja, aber, wieso, ich meine, weshalb lässt sich Henri das bieten? Er ist doch der Bruder des Königs. Er könnte den Marquis ins Gefängnis werfen lassen."
Lachend erwiderte Antoine:
"Ich glaube, du hast ganz falsche Vorstellungen. Es gefällt Henri, wenn ihm der Marquis die Peitsche spüren lässt."
Pierre-Philippe schwieg lange. Er war sprachlos. Was Antoine gesagt hatte, wollte einfach nicht in seinen Kopf. Wie konnte jemand – und sogar der Bruder des Königs! – Gefallen daran finden, sich Schmerzen zufügen zu lassen? Gut, die Schmerzen waren nicht allzu schlimm, kaum mehr als ein leichtes Brennen. Als Pierre-Philippe als Kind einmal in vollem Galopp vom Pferd gefallen war, ja, damals hatte er erfahren, was echte Schmerzen bedeuteten. Er konnte sich mehrere Wochen lang kaum bewegen. Aber dennoch, das alles hatte nichts mit Liebe zu tun. Und wieso konnte es jemanden Lust bereiten, andere zu demütigen und zu kasteien? Im Krieg musste man anderen Menschen Leid zufügen, das stand natürlich außer Frage. Aber doch nicht in der Liebe!
"Du brauchst nicht weiter darüber nachdenken, mein kleiner Ritter," sagte Antoine liebevoll und nahm Pierre-Philippe in den Arm. "Der Marquis hat mir versprochen, dass du hier in Versailles bleiben kannst. Und das ist das einzige, was wirklich wichtig ist. Nicht wahr?"
Pierre-Philippe nickte. An der Seite von Antoine war er glücklich.
"Siehst du. Und manchmal muss man eben zu ungewöhnlichen Mitteln greifen. Im Krieg und in der Liebe ist schließlich alles erlaubt."
Pierre-Philippe wollte etwas erwidern, aber Antoine brachte ihn mit einem Kuss zärtlich zum Schweigen. Und in dieser Nacht verwöhnte Antoine seinen Freund so wunderbar, dass alle Unbill, die er erlebt hatte, nur noch wie ein weit entfernter böser Traum erschien.
Schon am nächsten Tag trat Pierre-Philippe seinen Dienst bei den mousquetaires de la garde an. Der Kommandant der Einheit, der legendäre d'Artagnan, hieß ihn persönlich willkommen. Mit stolzgeschwellter Brust stand der junge Comte de Arrignac in seiner Uniform vor seinem neuen Befehlshaber. Er schwor einen feierlichen Eid, seinem König treu zu dienen und selbst sein eigenes Leben für nichts zu erachten.
Und dann begannen der Drill und das Exerzieren. Zusammen mit den anderen neuen Soldaten der Garde lernte Pierre-Philippe, in Formation zu marschieren, zu reiten und zu kämpfen. Wie ein Mann hörte die Gruppe auf den Befehl der Offiziere und vollführte geschmeidige Maneuver. Im Verbund mit seinen Kameraden gab es kaum jemanden, der dieser perfekten Waffe hätte Widerstand leisten können. Und auch Pierre-Philippes Fähigkeiten als Einzelkämpfer, beim Reiten, beim Fechten und Schießen wurden immer besser, sodass er sich zu einem hervorragenden Soldaten entwickelte.
Auch seinen Kommandeuren fiel der Comte de Arrignac auf, und sie sahen ihn in einigen Jahren schon als Offizier, der seine eigene Einheit unter sich haben würde. Alles Militärische ging ihm leicht von der Hand.
Und Pierre-Philippe gefiel dieses Leben. Er war wie für das Soldatenleben geschaffen. Er mochte die Kameradschaft mit den anderen Soldaten, und manchmal wurde daraus sogar auch etwas mehr. Aber vor allem fühlte er, dass dies seine Welt war. Die Waffen, die Technik von Musketen und Artillerie, die taktischen Maneuver und Kampftechniken – er hatte den Eindruck, in seinem Leben noch nie etwas anderes gemacht zu haben.
Zwar war er jetzt weniger oft in Versailles selbst, weil er sich häufig mit seiner Einheit zum Üben und Exerzieren im freien Felde aufhielt, aber seiner Liebe zu Antoine tat dies keinen Abbruch. Im Gegenteil, Antoine liebte ihn offenbar mehr denn je. Er verhielt sich immer aufmerksamer, kümmerte sich rührend und liebevoll um ihn und gab ihm mehr denn je den Eindruck, er sei der einzige Mann, mit der glücklich werden konnte.
Pierre-Philippe war glücklich. Und die Zeit verging wie im Fluge. Der Herbst verabschiedete sich und der Winter zog ins Land.
Es waren nur mehr wenige Tage bis Weihnachten, und der junge Comte de Arrignac befand sich mit seiner Truppe wieder einmal im Maneuver. Es war klirrend kalt, der erste Schnee war bereits gefallen und ein eisiger Wind durchpflügte die Lüfte.
Pierre-Philippe freute sich schon darauf, wieder nach Versailles zurückzukehren, mit seinem Komfort und den angenehm warmen Räumen. Und natürlich auf Antoine. Er konnte es kaum erwarten, seinen Geliebten wieder in die Arme zu schließen.
Am 22. Dezember marschierte Pierre-Philippe mit seiner Einheit wieder zurück nach Versailles. Während er bei seinem eintönigen Marsch durch den Schnee stapfte, während ihm ein schneidend kalter Wind ins Gesicht blies und eine klamme Feuchtigkeit durch seine Kleidung auf seine Haut drang, stellte er sich im Geiste stellte er sich bereits vor, wie er in einem Waschzuber mit dampfend heißem Wasser sitzen würde. Die Kälte, die sich in seinen Gliedern eingenistet hatte, würde vollständig von ihm weichen. Antoine würde ihm den Rücken massieren, und dann zu ihm in den Zuber stiegen.
Und über die beiden Weihnachtstage würde er Zeit haben, um lange mit Antoine zusammen zu sein. Wie konnte doch das Leben schön sein.
Aber plötzlich brach ein furchtbarer Schneesturm los, und die Soldaten mussten ihren Marsch unterbrechen und irgendwo Schutz suchen. Die Offiziere requirierten einige armselige Bauernkaten, die das Pech hatten, in der Nähe zu stehen. Die Soldaten, unter ihnen auch Pierre-Philippe, konnten mit ihren Zelten nur provisorische Behausungen errichten, die sie lediglich notdürftig vor dem Unwetter schützten.
Dicht zusammengedrängt saßen die Musketiere in feuchten Zelten, und das kleine Feuer, das sie trotz der Nässe entzündet hatten, sorgte für deutlich mehr Rauch als es Wärme spendete. Heute würden sie nicht mehr vom Fleck kommen. Sie konnten sich erst wieder auf den Weg machen, wenn der Schneesturm nachgelassen hattee.
Für Pierre-Philippe bedeutete das, einen Tag länger von Antoine getrennt zu sein. Und das war viel schlimmer, als die Nacht sitzend in einem kalten, stinkenden Zelt verbringen zu müssen.
Pierre-Philippe fiel schließlich in einem unruhigen Schlag. Mehrmals wachte er auf, und alles was er hörte, war das Schnarchen seiner Kameraden und das Tosen des Windes. Er hatte den Eindruck, als würde diese Nacht nie mehr zu Ende gehen. Doch der Gedanke daran, Antoine bald wiederzusehen, ließ ihn alles ohne Klagen ertragen. Denn wo die Nacht am tiefsten scheint, dort ist der nächste Tag nicht mehr fern.
Die Sonne ging hinter dem Horizont auf und sandte ihre goldenen Strahlen über das Land. Golden brach der neue Morgen an, und von dem Unwetter in der Nacht war nichts mehr zu bemerken. Müde gruben sich die Soldaten aus ihren Zelten, die von den Schneefällen bis über die Hälfte hin eingeschneit waren. Erschöpft marschierten weiter sie nach Versailles, und schließlich kamen sie am frühen Nachmittag dort an.
Und als erstes lief Pierre-Philippe zu Antoine, den er schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Stürmisch wollte er ihn umarmen, aber Antoine wich einen Schritt zurück.
"Was ist mit dir? Freust du dich nicht, mich zu sehen?"
"Doch," erwiderte Antoine, aber es klang müde nicht ganz aufrichtig, "natürlich freue ich mich, dass du wieder da bist. Du warst ja auch lange genug weg. Außerdem hättest du ja schon gestern kommen sollen."
"Wir wurden durch einen Schneesturm aufgehalten und mussten…"
"Das ist jetzt nicht so wichtig," unterbrach ihn Antoine. "Wir haben jetzt viel dringendere Probleme."
Pierre-Philippe sah ihn erschrocken an.
"Was ist denn los? Du wirkst so, ich weiß nicht, so anders als sonst. Was ist denn passiert?"
"Erinnerst du dich an Frédéric, diesen kleinen Bretonen? Auf du so eifersüchtig warst?"
Pierre-Philippe schluckte. Natürlich hatte er diesen Vorfall nicht vergessen. Allerdings wusste er nicht, ob es schlimmer war, dass sich Antoine mit diesem Nichtsnutz eingelassen hatte, oder dass er deswegen so kindisch verzweifelt und eifersüchtig benommen hatte.
"Was ist mit ihm?" wollte er von Antoine wissen.
"Er ist offenbar mit seinem Stand hier in Versailles nicht zufrieden. Offenbar hatte er gehofft, er bräuchte nur hier aufscheinen und schon würden ihm alle Türen selbst bis zum König offenstehen. Aber er versteht einfach nicht, was es alles zu einem wirklichen Edelmann braucht – im Gegensatz zu dir, mein kleiner Ritter." Antoine warf seinem Freund einen zärtlichen Blick zu. "Deshalb hat sich dieser dumme Bretone offenbar bei seinem Vater beschwert. Und sein Vater ist, wie dir ja bereits bekannt sein dürfte, ein sehr einflussreicher Mann. Er hat die besten Verbindungen nach Versailles, sogar bis hinauf zum König selbst. Also, um es kurz zu machen, der König hat mich bestrafen lassen."
Bei diesen Worten zog er sein Hemd nach oben. An seinem gesamten Oberkörper waren rote Striemen zu sehen.
"Mon Dieu, das ist ja furchtbar!" rief Pierre-Philippe entsetzt. "Wer hat dir das bloß angetan?"
"Es geschah auf Befehl des Königs. Weil sich Frédéric doch in meiner Obhut befindet."
Antoines Stimme klang sehr überzeugend, und Pierre-Philippe glaubte ihm. Sein alter Hass auf Frédéric ließ in ihm nicht den geringsten Zweifel an Antoines Worten aufkommen.
Aber die Geschichte war eine Lüge. Antoine hatte Pierre-Philippe nicht gesagt, dass die Striemen die Spuren der vorletzten Nacht waren, die er mit dem Marquis de Fronsac verbracht hatte. Auch Frédéric war nicht darauf aus, Antoine bestrafen zu lassen – im Gegenteil, er hatte die Nacht mit Antoine und dem Marquis geteilt, weil er hoffte, dieser würde ihn protegieren und ihn auf seinem Wege nach oben unterstützen, wenn er sich ihm gegenüber willig zeigte. Und Frédérics Vater hatte mit dieser ganzen Sache ohnehin nichts zu tun. Er saß fernab in seinem Schloss in der Bretagne und machte sich Sorgen um seinen Sohn.
"Ich werde Versailles verlassen müssen," fuhr Antoine betrübt fort. "Auf Befehl des Königs."
"Nein! Das ist nicht wahr!" rief Pierre-Philippe verzweifelt und erschrocken. "Das darf einfach nicht wahr sein! Was soll ich nur ohne dich anfangen?"
Antoine nahm Pierre-Philippe in den Arm.
"Ich weiß, mein kleiner Ritter, es ist furchtbar. Aber das schlimmste ist, dass ich nicht nur Versailles verlassen muss. Ich werde aus Frankreich verbannt und auf unsere Kolonien in Westindien deportiert. Wir werden uns nie mehr wieder sehen."
Diese Worte trafen den jungen Comte de Arrignac wie ein Peitschenhieb. Der Schmerz bohrte sich in seinen Verstand und breitete sich von dort aus bis in den hintersten Winkel seines Leibes aus.
"Non," stammelte Pierre-Philippe entgeistert und wie von Sinnen, "non, non, non! Das dürfen wir nicht zulassen. Wie soll ich ohne dich weiterleben können?"
Antoine sah ihm fest in die Augen.
"Es gibt keinen Ausweg. Der Wille des Königs ist Gesetz. Selbst der Marquis kann nichts für mich tun. Ertrag es wie ein Mann. Dir, also uns, bleibt nichts anderes übrig. Alles andere wäre Hochverrat."
Pierre-Philippe starrte einige Zeit lang an Antoine vorbei an die Wand. In seinem Inneren kämpfte sein Gewissen einen erbarmungslosen Kampf mit sich selbst. Er hatte einen heiligen auf den König geschworen, als er den mousquetaires de la garde beigetreten war. Und dieser König wollte ihm jetzt alles nehmen, was in seinem eigenen Leben wichtig war.
Schließlich brachte Pierre-Philippe langsam hervor:
"Das ist mir gleich. Ob Hochverrat oder nicht, Unrecht bleibt Unrecht, selbst wenn es vom König begangen wird. Auch ein Herrscher darf sich nicht in eitlen Ränkespielen ergehen. Niemals werde ich zulassen, dass uns etwas trennen wird. Und wenn ich mich dem Teufel persönlich entgegenstellen müsste!"
Antoine sah ihn lange an. Nein, er hatte sich in dem jungen Edelmann nicht getäuscht. Schon als er ihn das erste Mal sah, gleich bei dessen Ankunft in Versailles, da hatte er gewusst, dass er der richtige Mann war.
"Vielleicht," er senkte seine Stimme und fasste Pierre-Philippe an den Schultern, "vielleicht gibt es einen Weg."
Der Comte de Arrignac sah ihn überrascht und erwartungsvoll an.
"Aber dieser Weg ist gefährlich, sehr gefährlich."
"Ich fürchte weder Tod noch Teufel," entgegnete Pierre-Philippe trotzig und entschlossen.
"Ich weiß nicht, ob ich dir davon erzählen soll. Vertraust du mir? Und liebst du mich?"
Antoine sah seinem Freund in die Augen.
"Aber natürlich! Quelle question!" brachte dieser entrüstet hervor. "Warum sollte ich dich nicht..."
"Schon gut," unterbrach ihn Antoine, "natürlich weiß ich, dass du mich liebst. So wie ich dich. Ich bin nur so, ich weiß nicht, es ist alles so schwierig."
"Sag mir, was du auf dem Herzen hast," forderte ihn Pierre-Philippe auf.
"Ich kann nicht. Es ist zu...es ist unmöglich," zierte sich Antoine.
"Vertraust du denn mir nicht?" wunderte sich Pierre-Philippe.
"Doch, doch. Natürlich," beeilte sich Antoine ihm zu versichern. "Es ist nur so, wenn wir einen anderen König hätten, wenn Henri anstelle seines Bruders herrschte, dann verliefe die Intrige des kleinen Bretonen und seines Vaters im Sande."
"Henri? Hat er denn von der ganzen Angelegenheit Kenntnis?" wunderte sich Pierre-Philippe.
"Nein, natürlich nicht. Woher auch? Aber wenn er König wäre, dann könnte der Marquis seinen Einfluss zur Geltung bringen und mich schützen. Ich müsste nicht in die Verbannung. Ich könnte hierbleiben, in Versailles, bei dir."
"Aber Henri ist nicht König," sagte Pierre-Philippe. "Leider."
"Doch wenn Louis etwas zustoßen würde?" orakelte Antoine. "Henri wäre dann der nächste in der Thronfolge."
"Was sollte ihm denn zustoßen?"
"Denkst du denn nicht auch, dass Henri der bessere König wäre?"
"Ich weiß es nicht. Aber zumindest könnten wir dann zusammenbleiben."
"Genau. Und was kümmert uns schon der Rest der Welt. Nur wir beide, du und ich, das ist alles was zählt."
Antoine gab Pierre-Philippe einen Kuss.
"Aber das ist alles eitle Träumerei," stellte der junge Comte nüchtern fest. "Louis erfreut sich bester Gesundheit. Henri wird niemals König werden."
"Vielleicht muss man dem Schicksal manchmal ein wenig auf die Sprünge helfen."
"Was willst du damit sagen?"
"Wenn wir nicht wollen, dass ich ans Ende der Welt geschickt werde, dann müssen wir handeln."
Antoine schwieg einen Augenblick lang uns sagte dann völlig ruhig:
"Wir müssen den König töten."
Erschrocken trat Pierre-Philippe einen Schritt zurück.
Was Antoine da sagte war Hochverrat. Falls ihnen jemand zugehört hätte, dann wäre ihr Leben bereits verwirkt gewesen.
"Du sprichst nicht im Ernst, oder? Den König zu töten, das wäre..." Pierre-Philippe fehlten die Worte.
"Der König ist auch nur ein Mensch," erwiderte Antoine ruhig. "Und er ist ein böser Mensch. Er hat unzählige Leben auf dem Gewissen. Er selbst führt das Leben eines wollüstigen und genusssüchtigen Verschwenders, und das Volk darbt unter der Last dieser ungerechten Steuern. Louis ist ein Tyrann! Es wäre für alle besser, wenn sein Bruder herrschte. Er ist maßvoll und gerecht."
Er sah Pierre-Philippe offen ins Gesicht.
"Und wir könnten zusammenbleiben. Stell dir nur vor, wenn Henri tatsächlich durch uns an die Macht käme. Er müsste uns ewig dankbar sein. Du würdest Oberbefehlshaber über eine ganze Armee wenn du das möchtest. Und ich müsste mich nicht mehr mit kindischen Pagen abgeben, die ohnehin nichts können. Ich könnte ständig bei dir sein. Ich würde dich auf deinen Feldzügen begleiten. Gemeinsam könnten wir unsterblichen Ruhm gewinnen. Hast du dir das nicht immer gewünscht?"
"Ich weiß nicht. Schon. Natürlich. Ich wollte schon immer Offizier werden. Aber doch nicht um den Preis, dafür zum Königsmörder zu werden."
"Tyrannenmörder," verbesserte ihn Antoine. "Louis ist ein unsäglicher Tyrann. Vergiss das nicht. Immerhin hat er mich willkürlich und ohne Anlass bestrafen lassen. Und jetzt will er mich auch noch in die Verbannung schicken."
"Ja, du hast Recht. Natürlich ist das ungerecht und schlimm. Aber deshalb zum Mörder werden?"
"Ich dachte du liebst mich," sagte Antoine enttäuscht und wandte sich zum Gehen um.
"Warte!" rief ihm Pierre-Philippe hinterher. "So habe ich das nicht gemeint. Nur, also, ich weiß nicht, so etwas kann ich doch nicht einfach beschließen. Was ist, wenn wir keinen Erfolg haben und gefasst werden?"
"Dann sterben wir gemeinsam!" erklärte Antoine heroisch und nahm Pierre-Philippe in die Arme und küsste ihn.
Als Pierre-Philippe am nächsten Morgen erwachte, hoffte er, dass alles nur ein böser Traum gewesen wäre. Aber Antoine lag noch so neben ihm, wie er auch eingeschlafen war.
Der gesamte gestrige Tag stieg vor Pierre-Philippe wieder hoch: Wie sehr er sich darauf gefreut hatte, Antoine wiederzusehen, die Enttäuschung und das Entsetzen über dessen Bestrafung und Verbannung, der aberwitzige und hochverräterische Plan, den Sonnenkönig zu töten, damit dessen Bruder auf den Thron käme – all das war wirklich geschehen.
Antoine drehte sich und murmelte etwas Unverständliches. Offenbar wurde er langsam wach.
Wie schön er doch war. Wenn er schlief sah er aus wie ein Engel, so zart und zerbrechlich, aber gleichzeitig kraftvoll und entschlossen.
Pierre-Philippe würde es nicht ertragen können, ohne Antoine zu sein. Und mit einem Mal stand sein Entschluss fest: Er würde den König als Tyrannen töten, mit bloßen Händen wenn es sein musste. Selbst wenn es das letzte wäre, was er tun würde.
Antoine schlug langsam die Augen auf. Er war einfach wunderschön. Wie eine Schneeflocke, deren Schönheit bei der kleinsten Berührung in sich zerfallen und für immer verloren sein würde.
Wieso konnte die Zeit jetzt nicht für immer stehenbleiben?
Mein Gott, der Anblick raubte Pierre-Philippe fast den Verstand. Am liebsten wollte er Antoine in die Arme nehmen und dann nie mehr aufhören, ihn mit Küssen zu bedecken.
"Oh, du bist schon wach?" fragte Antoine und rieb sich verschlafen die Augen. Aber Augenblicke später war er vollständig wach.
"Wir sollten aufstehen und den Tag genießen," sagte er, "in ein paar Tagen schon werde ich nicht mehr hier sein."
Pierre-Philippe küsste ihn, und flüsterte ihm dann ins Ohr:
"Um den Tag zu genießen wüsste ich etwas viel besseres als aufzustehen."
Und insgeheim dachte er sich: "Noch ist nicht aller Tage Abend. Wenn der König erst tot ist, dann wirst du für immer bei mir bleiben."
Aber später am Morgen kamen sie schließlich doch noch auf die Beinen.
"Ich habe nachgedacht," sagte Pierre-Philippe beiläufig, "und ich muss sagen, dass du Recht hast. Es wäre wirklich am besten, wenn Louis tot wäre und stattdessen Henri herrschen würde. Allerdings wird dies ohne einen glücklichen Zufall geschehen. Deshalb habe ich mich entschlossen, zusammen mit dir dem Schicksal ein wenig auf die Sprünge zu helfen."
Antoine sah seinen Freund an. Ein leises Lächeln huschte unmerklich über seine Lippen. Alles lief nach Plan.
Er trat schnell ein paar Schritte auf Pierre-Philippe zu, fasste ihn an den Schultern und sagte in Ton zwischen Überraschung und Erleichterung:
"Ich wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann. Jetzt wird alles gut!"
Pierre-Philippe wollte etwas erwidern, aber Antoine sprach weiter:
"Dann müssen wir schnell handeln. Ich werde losgehen, und alles Nötige arrangieren. Warte hier auf mich, ich komme dann wieder zu dir zurück."
Er gab ihm einen langen Abschiedskuss und verließ mit schnellen Schritten die Kammer.
Der junge Comte de Arrignac blieb alleine zurück. Und damit kehrten auch die Zweifel und Gewissensbisse zurück. Seine Gedanken begannen zu arbeiten. Sie folgten allen möglichen und unmöglichen Einfällen. Sie stießen auf Möglichkeiten und Abzweigungen, denen weitere Kreuzungen und Scheidewege folgten und deren einzelnen Pfade wiederum in neuen Weggabelungen mündeten. Ohne Ziel drehte er sich immerzu im Kreis, der kein Ende oder Ziel kannte.
Pierre-Philippes Gewissen meldete sich zu Wort. Er konnte doch nicht einfach den König töten – seinen eigenen König, den mit seinem eigenen Leben zu schützen geschworen hatte. Er wollte kein Mörder werden und das Leben eines Menschen als unauslöschliche Schuld auf seiner Seele mit sich herumtragen. Aber andererseits, der König war ein Tyrann, der ungerecht handelte, und ein Ausbeuter, dem seine Untertanen völlig gleichgültig waren. Und einen Menschen zu töten konnte auch nicht schwieriger sein, als Jagdwild zu erlegen.
Hin und her gerissen zwischen Zweifeln und Gewissheit, zwischen Glück und Angst, verbrachte Pierre-Philippe die nächsten Stunden.
"Schon sonderbar," sagte er leise zu sich selbst, "heute ist der 24. Dezember, da findet das große Réveillion de Noël statt, das große Weihnachtessen. Und morgen feiern wir die Geburt unseres Heilands und Erlösers. Da sollte ich mich eigentlich freuen. Jesus Christus ist für die Sünden von uns allen am Kreuze gestorben. Ob das auch für mich gilt? Wenn ich wissentlich und mit voller Absicht meinen eigenen, von Gott gesandten König töte?"
Pierre-Philippe kam zu keiner Lösung.
Wenn wenigstens Antoine da wäre. Der wüsste, was zu tun wäre. Er wusste immer, was richtig und falsch war. Ihm konnte er vertrauen. Auf ihn konnte er vertrauen. Er war alles für ihn.
Nach einigen Stunden, die Pierre-Philippe wie das Warten auf das Jüngste Gericht vorkamen, war Antoine wieder zurück.
"Komm mit," forderte er seinen Freund auf, "wir gehen in die Kirche."
"In die Kirche?" wunderte sich Pierre-Philippe.
"Natürlich, warum nicht? Schließlich feiern wir in diesen Tagen die Geburt Jesu Christi. Was ist daran so ungewöhnlich?"
"Ich, äh," stotterte der junge Comte de Arrignac überrascht und verwundert, "natürlich nichts. Ich dachte nur, ach, ich weiß es selbst nicht."
Zusammen gingen sie zur Kirche. Auf dem Weg dorthin und auch während der Messe schwiegen sie. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
Als sie nach dem Segen die Kirche verließen und nach Versailles zurückkehrten, blieb Antoine auf dem Weg plötzlich stehen und zog Pierre-Philippe zur Seite.
"Siehst du das Fenster dort oben? Im zweiten Stock? Ganz rechts außen?"
Er deutete mit dem Kinn in die entsprechende Richtung.
"Ja, natürlich. Was ist damit?"
"Darin wohnt ein Vertrauter des Marquis. Und der König kommt morgen auf seiner feierlichen Prozession zur Weihnachtsmesse unmittelbar darunter vorbei."
"Ich glaube, ich verstehe, worauf…" begann Pierre-Philippe, aber Antoine unterbrach ihn gleich wieder.
"Pst! Ich weiß dass du klug bist und was du sagen möchtest. Aber wir sollten in der Öffentlichkeit nicht so darüber reden." Antoine senkte seine Stimme zu einen kaum mehr hörbaren Flüstern. "Auf jeden Fall liegt schon eine Muskete bereitet, mit Pulver und Kugeln. Morgen früh also, wenn Louis sich auf seinem Weg zur Messe befindet…Denkst du, dass du es schaffst?"
"Auf diese Distanz? Mit Sicherheit!" Stolz schwang in Pierre-Philippes Stimme mit. Nicht nur, dass er damit Antoine retten würde, nein, er würde Teil der großen Geschichte werden.
"Aber es muss alles schnell gehen. Man darf dich nicht erkennen. Sonst kann dich auch der Marquis nicht mehr retten."
"Ich kann mich hinter dem Fensterrahmen und der Mauer verstecken. Ich kann auch von dort aus schießen. Das ist nicht schwierig. Niemand wird mich von außen erkennen. Aber ich frage mich, wie ich danach entkommen soll. Hier sind doch überall Wachen. Und wenn ein Schuss fällt, dann ist sofort klar, von wo das kam."
"Auch daran habe ich gedacht. Das Zimmer wird von außen verschlossen sein. Zur Sicherheit. Aber es gibt einen geheimen Durchgang in das Zimmer nebenan. Wir müssen nur…"
"Wir?"
"Natürlich wir. Ich werde bei dir sein, wenn du feuerst. Ich werde alle Gefahren mit dir teilen. Das ist doch überhaupt keine Frage!"
Jetzt wusste Pierre-Philippe endgültig, dass Antoine ihn liebte. Niemand würde ihn mehr davon abhalten können, den Tyrannen seiner verdienten Strafe zuzuführen.
"Also," sprach Antoine weiter, "wir begeben uns dann in den Raum nebenan. Dessen Tür öffnet sich in der anderen Richtung, sodass wir einen Vorsprung gewinnen. Außerdem ist es von dort aus nicht weit zu einem Treppenhaus. Dann laufen wir eine Etage tiefer und den nächsten Gang entlang. Dann kommen wir einen belebteren Flügel des Schlosses, und dort verhalten wir uns ganz unauffällig, also das heißt, wenn dann nach dem Tod des Königs überall Unruhe ausbricht, dann laufen wir einfach mit der Menge mit."
"Und das wird funktionieren?" fragte Pierre-Philippe zweifelnd.
"Todsicher."
"Und wenn nicht?"
"Dann sterben wir gemeinsam. Aber das ist immer noch besser, als den Rest des Lebens voneinander getrennt zu sein."
Jetzt war Pierre-Philippe glücklich. Das war der endgültige Beweis. Antoine liebte ihn so sehr über alles, dass er sogar bereit war, für ihn in den Tod zu gehen. Und der junge Comte de Arrignac war bereit, für diese Liebe zu töten.
"Was hältst du davon, wenn wir heute Abend richtig feiern?" wandte sich Antoine an seinen Freund. "Der Marquis gibt eine Gesellschaft, ein großes Réveillion de Noël sozusagen, anlässlich des Christfestes. Es wird ein rauschendes Fest werden. Er hat weder Kosten noch Mühen gescheut, um seinen Gästen die erlesenste Unterhaltung zu bieten."
"Ich weiß nicht," Pierre-Philippe zögerte, denn die Gedanken an das, was sie vorhatten, legten sich wie Blei über sein Gemüt.
"Komm schon," entgegnete Antoine fröhlich, "wer weiß was morgen sein wird. Vielleicht sind wir dann schon tot. Also sollten wir das Leben ein letztes Mal genießen, nicht wahr?"
"Große Lust habe ich keine, aber du möchtest, dass wir beide diese Gesellschaft besuchen, dann machen wir das."
"Du wirst sehen, es gefällt dir bestimmt," sagte Antoine und gab Pierre-Philippe einen Kuss.
Dann verließ Antoine Pierre-Philippe wieder, weil er, wie er sagte, für den Marquis und das Fest noch etwas vorbereiten musste.
So saß der junge Comte de Arrignac in seiner Kammer, alleine mit sich und seinen Gedanken.
Er dachte über sein noch junges Leben nach. Seine Eltern und seine Geschwister kamen ihm in den Sinn. Besonders sein Vater setzte große Hoffnungen in ihn. Sein Sohn sollte es bis weit nach oben bringen und einmal mehr sein, als ein kleiner Comte irgendwo in der tiefsten französischen Provinz. Auch Pierre-Philippe hatte dieses Ziel zu seinem eigenen gemacht. Er träumte davon, als schneidiger Offizier im ritterlichen Kampf seine Soldaten ins Gefecht zu führen, um seinem König, seinem Vaterland und seinem Gott zu Ruhm und Ehre zu verhelfen.
Doch dann hatte er Antoine getroffen. Nicht dass er deshalb seine Träume von glorreichen Schlachten aufgegeben hätte – aber seine Gefühle zu Antoine hatten in Pierre-Philippe etwas entfacht, das vorher nicht gekannt hatte und das auch nicht recht zu beschreiben war. Er konnte nicht verstehen, was eigentlich mit ihm passiert. Aber die Auswirkungen spürte er buchstäblich am eigenen Leibe. Antoine war wichtig für ihn. Wichtiger alles andere. Wichtiger als er selbst. Und er wusste nicht, wieso das war. Aber dass es das war, daran gab es keinen Zweifel.
Und jetzt hatte ihn seine Liebe zu Antoine dazu geführt, dass er den König töten würde. Er würde alle Ideale verraten, die er in seinem Leben gehabt hatte. Aber wieso fühlte er sich dabei nicht schlecht? War es die Aussicht, unter der Protektion des Marquis und unter einem König Henri schneller voranzukommen? Oder trieb ihn doch die Angst, seinen geliebten Antoine niemals wieder zu sehen?
Und war es das alles wert, den König zu töten? Den von Gott gesandten Herrscher, seinen eigenen Herrn, dem er unverbrüchliche Treue geschworen hatte? Aber wenn er daran dachte, wie ungerecht Louis Antoine behandelt hatte, und daran, dass er ihn niemals wiedersehen würde…
Plötzlich schwang sich die Tür zu seiner Kammer auf und Antoine kam herein.
Pierre-Philippe sah ihn lange nachdenklich an.
"Was ist mit dir?" wollte Antoine wissen.
"Ich weiß nicht. Ich frage mich nur, ob es richtig ist, wenn wir, also wenn der König…du weißt schon."
Antoine setzte sich zu ihm aufs Bett.
"Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Morgen ist noch so weit weg. Heute wollen wir erst einmal feiern!"
Er zog hinter seinem Rücken eine Flasche hervor, die eine bräunliche Flüssigkeit enthielt.
"Ich habe eine Überraschung für dich!" sagte er begeistert und hielt sie Pierre-Philippe hin.
"Was ist das?"
"Eine kleine Einstimmung auf heute Abend. Da wollen feiern und leben wie die Könige! Das hier ist Zuckerrohrschnaps."
"Zuckerrohrschnaps?"
Pierre-Philippe kannte verschiedene Obstbrände sowie Anisschnaps, aber was um alles in Welt war Zuckerrohrschnaps?
"Er kommt von den Westindischen Inseln," erklärte ihm Antoine. "Von einer Pflanze, die nur dort wächst. Wie er genau hergestellt wird, kann ich dir auch nicht sagen. Aber," und dabei lachte er lauthals auf, "ich kann dir sagen, das Zeug ist einfach fantastisch!"
Er griff sich zwei herumstehende Gläser und schenkte ein. Vorsichtig schnupperte Pierre-Philippe daran, allerdings konnte er den Geruch nicht einschätzen. Irgendwie fremdartig, und so ganz anders alles, was er bisher kannte.
"Auf die Gesundheit des Königs!" prostete ihm Antoine zu.
Doch der junge Comte achtete nicht auf diesen ironischen und zynischen Spruch, denn schon der erste Schluck dieses exotischen Getränks brannte wie Feuer in seinem Gaumen. Pierre-Philippe stammte zwar aus dem Süden, wo schon seit alters her schwere Weine gekeltert wurden. Aber gegen dieses Zeug waren selbst die stärksten Rebensäfte wie Wasser.
Pierre-Philippe verschluckte sich und musste husten. Antoine lachte, klopfte ihm auf den Rücken und sagte dann: "Nicht schlecht, was?"
Und zu seinem eigenen Erstaunen musste Pierre-Philippe ihm Recht geben. Ein angenehmer Geschmack erfüllte seinen Mund, ein wärmendes Gefühl breitete sich in seinem Leibe aus.
Er nahm einen zweiten Schluck, und dieses Mal fühlte er kein Brennen mehr, sondern nur noch eine anregende Hitze.
Ja, dieses Getränk war tatsächlich nicht schlecht. Der Marquis – und natürlich auch Antoine – hatte Geschmack, das musste man ihm lassen.
Pierre-Philippe trank das Glas aus, und schon sehr bald zeigte sich die Wirkung des Alkohols. Die Welt erschien ihm weniger grau, und irgendwie war alles besser. Sein Leib fühlte sich so leicht an, und auch sein Geist war lebendiger und weniger schwermütig.
"Noch einen kleinen Schluck?" fragte Antoine und schwenkte einladend die Flasche.
Pierre-Philippe nickte, und sein Freund goss nach. Begierig genoss der junge Comte des Arrignac die Segnungen, die die französischen Kolonien auf den Westindischen Inseln zu bieten hatten.
Nach dem zweiten Glas Zuckerrohrschnaps fühlte er sich einfach großartig. Allerdings hatte er nicht bemerkt, dass Antoine an seinem Glas nur genippt hatte.
"Komm mit," forderte Antoine seinen Freund auf, "jetzt gehen wir auf die Gesellschaft des Marquis. Du wirst sehen, es wird dir gefallen."
Antoine und Pierre-Philippe – dieser mit bereits leicht schwankenden Schritten – machten sich auf den Weg. Zwei livrierte Diener öffneten ihnen mit einer ehrerbietigen Verbeugung die Tür. Die beiden Flügel öffneten sich und gaben den Blick auf den Saal frei, in dem das Fest des Marquis stattfand.
Der junge Comte de Arrignac und sein Begleiter traten ein, und Pierre-Philippe glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Vor den riesigen Fenstern, die den Blick nach Außen erlaubten, tobte ein gewaltiges Schneegestöber. Der Schnee lag schon kniehoch und überzog alles mit einer dichten weißen Schicht. Draußen hatte sich eine klirrende Kälte über das Land gelegt, aber hier drinnen war es außerordentlich warm. Ganze Batterien von Öfen standen diskret im Hintergrund und heizten den Saal auf, ohne die Luft zu verpesten, denn die Abzüge waren so geschickt angebracht, dass der Rauch ins Freie abziehen konnte. Pierre-Philippe fühlte sich in die heißen Sommer seiner Kindheit im Süden Frankreichs versetzt.
Und dann fiel sein schon leicht getrübter Blick auf die Mitte des Saales: Dort hatte der Marquis ein Bassin im Boden versenken lassen, das bis zum Rand hin mit Wasser gefüllt war. Am Rand dieses Bassins hatte man feinen, hellen Sand aufgeschüttet, um so einen künstlichen Strand zu schaffen. Sogar Palmen hatte man, in riesigen Kübel stehend, aufgestellt, um so die Illusion zu schaffen, man würde sich nicht im winterkalten Frankreich, sondern auf einer der Westindischen Inseln befinden.
Überall befanden sich Tische, auf denen unzählige Karaffen, die randvoll mit Zuckerrohrschnaps gefüllt waren, herumstanden.
"Der Marquis gibt heute eine Gesellschaft, welche unsere Besitzungen in Westindien zum Thema hat," erklärte Antoine seinem Freund. "Und wie du siehst, hat er keine Kosten und Mühen gescheut, um uns auch im kalten Frankreich in den Genuss von karibischen Freuden kommen zu lassen. Er hat eine ganze Schiffsladung Zuckerrohrschnaps gekauft, den Sand mit Ochsenkarren vom Mittelmeer heranschaffen lassen und die Palmen aus Afrika einschiffen lassen. Und er ließ eigens ein Wasserbassin anlegen! Das nenne ich Tatkraft!"
Pierre-Philippe, dessen Sinne der Alkohol ohnehin getrübt hatte, nahm das alles nur wie durch einen Schleier wahr. Aber trotzdem kam es ihm völlig wahnwitzig vor, dass jemand so einen Aufwand trieb, nur um ausgefallenes Fest zu geben.
"Und schau nur," Antoine deutete diskret in eine bestimmte Richtung, "das hier ist schon ein Teil der Überraschung."
Pierre-Philippe folgte Antoines Hand uns sah dort mehrere Menschen, deren Körper ganz dunkelbraun war. Sie alle waren völlig nackt, einige von ihnen trugen allerdings eine Metallkrause um den Hals, so wie es bei Sklaven üblich war.
"Sind das Mohren?" wunderte sich Pierre-Philippe. Er hatte schon davon gehört, dass die Menschen in anderen Gegenden der Welt schwarz waren. Aber gesehen hatte er so jemanden noch nie.
"Ja," lachte Antoine, "sie kommen direkt aus Afrika. Gefallen sie dir? Ich finde, sie haben etwas Lüsternes und Verruchtes. Obwohl sie ja eigentlich furchtbar hässlich sind. Sie sehen aus wie Teufel. Kein gottesfürchtiger und ehrbarer Christenmensch kann so eine diabolische Farbe haben. Aber trotzdem, näher beschäftigen würde ich mich schon gerne mit ihnen."
Ein wollüstiges Grinsen entstellte Antoines Gesicht.
Pierre-Philippe aber empfand vielmehr Mitleid mit diesen sonderbaren Geschöpfen. Man hatte sie mit Gewalt aus ihrer Heimat gerissen, damit sie unter unmenschlichen Bedingungen als Sklaven auf den Pflanzungen ihrer Herren für deren Profit schufteten. Diese Mohren hier hatten vielleicht ein besseres Los getroffen, weil sie nicht zu harter körperlicher Arbeit gezwungen waren. Aber ihre dunklen Augen waren trotzdem traurig, leer und gebrochen. Alle zeigten deutliche Spuren von Misshandlungen. Helle Narben zeichneten sich auf ihren dunkeln Leibern ab, besonders am Rücken, wo sie wohl schon oft die Peitschen ihrer Peiniger gespürt haben mussten.
"Eigentlich sollten diese wilden Tiere nach den Westindischen Inseln verschifft werden, um dort auf den Zuckerplantagen zu arbeiten," setzte Antoine seine Erklärung fort. "Aber der Marquis hat einige von ihnen von einem Umschlagplatz auf den Kanarischen Inseln direkt nach Frankreich senden lassen. Jetzt sind sie hier und dienen als seine persönlichen Leibsklaven."
Antoine warf noch einen verstohlenen Blick auf die nackten Sklaven, nahm Pierre-Philippe bei der Hand, und setzte sich an einen der reich gedeckten Tische. Pierre-Philippe nahm neben ihm Platz. Antoine schenkte ihm noch einmal ein großes Glas Zuckerrohrschnaps ein. Er stieß mit ihm an, sah ihm tief in die Augen, und sagte: "Auf uns!"
Mit einem einzigen Zug leerte er sein Glas, und Pierre-Philippe tat es ihm nach. Die Wirkung des Alkohols setzte fast sofort ein. Pierre-Philippe fühlte sich gut, unglaublich gut – so leicht, so großartig, die Welt war nur mehr ein einziges großes Spiel.
Dann ertönte der Schlag eines Gongs.
Der Marquis stand auf einem etwas erhöhten Podest und sprach seine Gäste an:
"Meine lieben Freunde, wir freuen uns sehr, dass Ihr uns die Ehre erweist, zusammen mit uns Réveillion de Noël zu feiern. Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut, um Euch das Beste vom Besten, das Feinste vom Feinen, nur die erlesensten Köstlichkeiten aufzutischen. Deshalb bitten wir Euch: Greift tüchtig zu! Stärkt Euch! Kräftigt Euch und tuet Euch wohl an diesen Köstlichkeiten! Dies wird eine Gesellschaft, die Ihr nicht mehr vergessen werdet!"
Erst jetzt fiel Pierre-Philippe auf, dass die gesamte Gesellschaft nur aus Männern bestand, vielleicht fünfundzwanzig oder dreißig, die Diener, Lakaien und Sklaven nicht mitgezählt. Es war keine einzige Frau dabei. Sicher, begann es in Pierre-Philippes Kopf langsam zu arbeiten, der Marquis hatte ein ausgesprochenes Faible für Männer. Aber dass keine einzige Frau bei diesem Weihnachtsfest anwesend war…das kam Pierre-Philippe doch etwas sonderbar vor.
Auf ein Zeichen des Marquis hin öffneten sich die Türen, und die Bediensteten begannen, das Essen hereinzutragen. In nicht enden wollenden Reihen brachten sie unzählige Tabletts, Teller und Geschirr herein, richteten Delikatessen, wie sie Pierre-Philippe noch nie gesehen hatte, an, schenkten Wein und Zuckerrohrschnaps aus, löffelten mit großen Kellen dampfende Suppen in Schüsseln, schnitten Brot und verteilten Früchte und Obst.
Pierre-Philippe speiste wie ein König. Wahrscheinlich sah auch das Paradies so ähnlich aus, dachte er sich. Und Antoine flüsterte ihm leise ins Ohr:
"Morgen schon werden diese Genüsse jeden Tag erleben. Das hier ist nichts im Vergleich zu dem, was dem König jeden Tag aufgetischt wird."
Auf ein weiteres Zeichen des Marquis kam eine kleine Gruppe herein. Die Männer waren alle in lange, dicke rote Mäntel gekleidet und sie hatten härene Säcke auf den Rücken geschnallt. Und sie trugen graue Perücken. Allerdings nicht nur am Kopf, sondern auch ihre Gesichter zierten lange künstliche graue Bärte. In ihren Händen trugen sie verschiedene Musikinstrumente. Pierre-Philippe konnte Oboen erkennen, Hörner, Trompeten, Violinen, zwei Cellos und eine Guitarre. Einer der Männer nahm am Cembalo in der Ecke Platz.
"Meine lieben Gäste," sagte der Marquis, "wir sind außerordentlich erfreut, dass der geniale Jean-Baptiste Lully uns heute die Ehre geben wird. Wir hören heute ein Werk, das eigens für diesen Abend geschrieben wurde. Und der Meister selbst wird die Guitarre spielen."
Höflicher Applaus wurde den Musikern zuteil, die sich mit einer tiefen Verbeugung bei ihrem Publikum bedankten.
"Ach ja," fuhr der Marquis fort, "der Eine oder Andere mag sich über diese Kostümierung wundern. Es ist ein netter Brauch, den wir auf unseren Feldzügen im Elsass und den Alpen gegen die zahlreichen Feinde unseres geliebten Königs kennengelernt haben. Man glaubt dort, dass am Vorabend des Christfestes ein bärtiger Mann, angetan in einem roten Mantel, Geschenke an die Braven verteilt. Er hat übrigens einen Compagnon, der die Bösen mit der Rute straft. Und wer weiß, vielleicht waren einige ja auch böse müssen mit der Rute bestraft werden."
Bei diesen Worten blitzte ein Grinsen über das Gesicht des Marquis, und auch im Saal erntete er schallendes Gelächter.
"Aber jetzt, wohlan, ich erkläre das Fest für eröffnet!"
Jetzt setzte auch das kleine Orchester ein und begann mit der Erstaufführung von Lullys Achtem Gitarrenkonzert.
Die Festgäste begannen zu schmausen. Erst die Vorspeisen und leichter Weißwein, dann deftige Hauptgerichte mit schwerem Bordeaux. Nicht wenige allerdings griffen bereits jetzt schon zu dem bereitstehenden Zuckerrohrschnaps und der Alkohol floss in Strömen. Auch Pierre-Philippe hatte sein Glas stets gefüllt, denn Antoine kümmerte sich darum und schenkte immer wieder nach.
Pierre-Philippe nahm von dem Réveillion de Noël immer weniger wahr, denn seine Sinne verrichteten ihren Dienst nicht mehr wie gewohnt. Farben und Formen verschwammen und liefen ineinander, die Gitarre dieses komischen Weihnachtsmannes und seines Orchester vermischten sich mit dem Klappern von Tellern und Besteck, die Stimmen Einzelner waren nicht mehr unterscheidbar, sondern nur mehr ein auflösliches Gewirr.
Jedoch bemerkte Pierre-Philippe in aller Deutlichkeit, dass sich Antoines Hand in seinem eigenen Schoß bewegte. Er empfand dies nicht als unangenehm – ganz im Gegenteil! – allerdings fragte er sich, wieso Antoine dies in aller Öffentlichkeit tat.
Erst als er seinen Geist zwang, einen genaueren Blick in diese fidele Runde zu werfen, wurde ihm klar, dass sich die Wollust überall ihre Bahn brach. Er sah Männer, deren gierige Blicke den nackten Mohren folgten, Männer, die sich zwischen zwei Schlucken Weins küssten, Männer, deren Hände nach ihrem Nachbarn tasteten, erst zögernd und vorsichtig, dann immer kühner und fordernder.
Und über allem schwebte Lullys Gitarre.
Pierre-Philippe spürte die Finger seines Nebenmannes über seinen Rücken streichen, über seinen Nacken, sich immer weiter ihren Weg bahnend. Er sah zur Seite und blickte in das Gesicht eines Mannes, den er vor diesem Feste noch nie vorher gesehen hatte. Er wollte dessen Hand wegschlagen. Nur Antoine sollte ihn so berühren, nicht aber ein Fremder. Jedoch kam er nicht dazu, denn Antoine nahm seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Er zog den jungen Comte de Arrignac zu sich und küsste ihn. Die Hände des anderen Mannes hörten nicht auf, seinen Körper zu liebkosen.
Und Pierre-Philippe ließ es geschehen. Der Zuckerrohrschnaps zeigte seine Wirkung.
Es war ein sonderbares Réveillion de Noël.
Aus den Augenwinkeln sah Pierre-Philippe einige Männer, die sich ihrer Kleider entledigt hatten und die in dem Wasserbassin badeten. Andere lagen, ebenso unbekleidet, an den künstlich aufgeschütteten Sandstrand. Der Marquis, nur mehr in Kniestrümpfen bekleidet und ein Rutenbündel in der Hand haltend, vergnügte sich mit zwei Mohren.
Überall Verkommenheit! Soviel war Pierre-Philippe trotz seines trunkenen Zustandes klar.
"Non, Antoine," begann Pierre-Philippe, aber dieser schnitt ihm mit einem weiteren Kuss das Wort ab.
Als er seine Augen wieder öffnete, sah er Frédéric, den kleinen Bretonen, vor Antoines Stuhl knien.
Zuviel war zuviel.
Angewidert erhob sich Pierre-Philippe, aber er war nicht mehr Herr seines eigenen Körpers. Beim Aufstehen begann er zu taumeln, seine Beine gehorchten ihm nicht. Er fiel hin, genau seinem fremden Nachbarn in die Arme.
Es war bereits heller Tag als Pierre-Philippe langsam erwachte. Verwirrt blickte er um sich. Er war nicht in seinem eigenen Bett. Draußen vor dem Fenster ertönte Musik. Mühsam richtete er Körper auf und blickte hinaus.
Und dort sah er den König, der sich in einer feierlichen Prozession auf dem Weg zur Messe de Noël befand.
Natürlich, heute war das Fest der Geburt Christi. Langsam kehrten die Lebensgeister in Pierre-Philip zurück. Heute war der Tag, an dem der Tyrann sterben würde.
Pierre-Philippe sah sich um. Eine Muskete lag auf dem Tisch vor ihm.
"Vite," kam es Pierre-Philippe in den Sinn, "ich muß schnell handeln. Der König steht genau richtig. Ich kann ihn nicht verfehlen.
Er nahm das Gewehr in seine Hände. Die Waffe war bereits geladen. Alles lief wie am Schnürchen.
Ein Schuss, und Antoine wäre auf immer sein.
Aber wo war Antoine?
Er wollte eigentlich bei ihm sein, wenn sich das Schicksal entscheiden würde.
Wieso war Antoine nicht da?
Wirre Gedankenfetzen zogen durch Pierre-Philippes schmerzenden Kopf.
Er sah Antoine vor sich, wie er lachend Frédéric küsste. Er sah den Bretonen, der ihm ins Gesicht grinste. Er sah den Marquis mit den gefesselten Mohren. Er sah überall nackte Männerleiber. Er sah sich selbst auf dem Boden liegend.
Er fühlte sich besudelt und beschmutzt.
Das war nicht das Leben, das er sich an der Seite Antoines vorgestellt hatte.
Dann fiel Pierre-Philippes Blick auf einen Brief, der neben der Muskete auf dem Tisch gelegen hatte.
Das Lesen fiel Pierre-Philippe schwer, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er musste diesem teuflischen Zuckerrohrschnaps gestern ordentlich zugesprochen haben. Aber langsam erschloss sich dem Comte de Arrignac der Sinn des Geschriebenen.
'Geliebter Pierre-Philippe!
Es schmerzt mich ohne Ende, dass ich in dieser glorreichen Stunde der Gefahr nicht bei dir sein kann. Liebend gerne hätte ich die Gefahr mit dir geteilt. Ich würde mit dir in den Tod gehen, wenn dies dem Schicksal gefallen sollte. Doch jetzt trifft mich ein härteres Schicksal: Ich muss dich in dieser schweren Stunde alleine lassen. Denn offenbar hat jemand einen unbestimmten Verdacht geschöpft, weshalb ich nicht bei dir sein kann. Ich muss mich an einem unverdächtigen Orte – dem Himmel sei es geklagt! – fern von dir aufhalten. Andernfalls würde ich, auf dem der Verdacht lastet, dich in Gefahr bringen, und niemals würde ich dies übers Herz bringen. So bleibt mir nur mehr die Hoffnung, dass du unseren Plan alleine ausführen wirst. Aber ich vertraue auf dich. Selbst in dieser schweren Stunde wirst du mich nicht im Stich lassen. Tod dem Tyrannen! Vive la liberté! Du musst es tun, für Frankreich, für uns. Sonst werde ich dich nie mehr wiedersehen. Aber die Hand Gottes schützt die Tugendhaften, und ich bin mir sicher, dass ich bald in meine Arme schließen kann. Für immer.
In innigster Liebe verbleibe ich Dein'
Der Brief war mit der schwungvollen Unterschrift Antoines unterzeichnet.
Mit Sorge und Bekümmernis hatte Pierre-Philippe gelesen. Wenn tatsächlich jemand Verdacht geschöpft hatte, dann musste er schnell handeln.
Er nahm die Muskete und sah aus dem Fenster. Den König konnte er von hier aus immer noch leicht treffen.
Aber in Pierre-Philippe stiegen Zweifel auf.
Langsam und bruchstückhaft stiegen die Erinnerungen an letzte Nach wieder in ihm auf.
Antoine hatte ihn mit diesem teuflischen Getränk betrunken gemacht und in dann zu einer Orgie voller Unzucht mitgeschleppte. Er wusste nicht – und wollte es auch nicht wissen – wie viele Männer sich mit ihm vergnügt hatten.
Pierre-Philippe sah sich um. Er befand sich in einem luxuriös ausgestatteten Raum. Er ließ seinen Blick über die Wand schweifen, in der sich die geheime Tür befinden musste. Aber so sehr er sich auch bemühte, Pierre-Philippe konnte sie nirgendwo entdecken.
Pierre-Philippe legte seine Waffe wieder nieder und ging zu der Tür, die offenbar der einzige Zugang zu diesem Zimmer war. Er drückte die Klinke, aber die Tür blieb verschlossen.
Mit einem Mal war dem Comte de Arrignac klar, welches teuflische Spiel man mit ihm getrieben hatte.
Man hatte ihn gestern Nacht hergebracht und dann hier eingeschlossen. Es gab keinen geheimen Ausgang. Wenn er auf den König schießen würde, dann säße er in einer Falle, aus der es kein Entkommen geben konnte.
Antoine hatte gelogen. Er sollte den König töten, aber danach würde er sofort gefasst werden. Was dann mit ihm passieren würde, konnte er sich leicht ausmalen. Er war lediglich ein Bauernopfer in einem großen Schachspiel. Antoine plante gar keine gemeinsame Zukunft mit ihm. Denn für Pierre-Philippe würde es keine Zukunft geben. Er sollte alleine das Risiko und die Folgen des Anschlags tragen. Die Belohung würden andere einstecken. Und es war nicht schwer zu erraten, wer vom Tode des Sonnenkönigs profitieren würde. Sein Bruder würde den Thron besteigen und der Marquis zu einem der mächtigsten Männer Frankreichs aufsteigen.
Antoine liebte ihn nicht. Er hatte ihn lediglich für eine Intrige benutzt. Und zur Befriedigung seiner perversen Gelüste. Und zu der des Marquis.
Pierre-Philippes Welt brach zusammen. Alles, wovon er geträumt hatte – es zerfiel plötzlich zu Staub. Glühender Zorn brannte in ihm. Wut stieg in ihm auf. Wut auf Frédéric, auf den Marquis, auf die Männer der gestrigen Gesellschaft. Und auf Antoine.
Mit einem Mal wusste er, was er zu tun hatte.
Pierre-Philippe griff nach einem spitzen Gegenstand und machte sich damit am Schlüsselloch der Tür zu seinem Gefängnis zu schaffen. Er wusste nicht, wie lange er so beschäftigt war. Wie besessen arbeitete er an seiner Befreiung.
Schließlich sprang das Schloss auf.
Pierre-Philippe öffnete die Tür und lief den Gang entlang, so als wäre der Leibhaftige selbst hinter ihm her.
Am Abend des Weihnachtstages wurde Pierre-Philippe die Gnade einer Audienz beim König zuteil.
"Sire," sagte Pierre-Philippe ehrfurchtsvoll, während er demütig sein Haupt beugte, "ich wage es nicht, auf Eure Großmut und Gnade zu hoffen..."
"Unser getreuer d'Artagnan hat uns über alles berichtet ," unterbrach ihn Louis.
Pierre-Philippe war sofort und ohne zu Überlegen zu d'Artagnan gelaufen, dem Kommandeur der mousquetaires de la garde und einem Vertrauten des Königs. Tränenüberströmt hatte er ihm alles gestanden was vorgefallen war.
Der Offizier hatte schweigend zugehört, dann sagte er zu Pierre-Philippe: "Ich werde mich darum kümmern."
Das war alles gewesen. Irgendjemand hatte ihn zurück in seine eigene Kammer gebracht, wo er mehrere Stunden lang in völliger Erschöpfung geschlafen hatte.
Dann war d'Artagnan in seine Kammer gekommen, hatte gesagt: "Ruh dich aus. Der König erwartet dich heute Abend."
Jetzt stand er vor seinem König, den verraten hatte, obwohl er geschworen hatte, ihn mit seinem eigenen Leben zu schützen.
Pierre-Philippe erwartete seine Strafe. Und es war ihm gleichgültig, was kommen würde. Er hasste das Leben. Er hasste Antoine. Er hieß den Tod willkommen.
"Wir erkennen an, dass du uns einen großen Dienst erwiesen hast."
Aber selbst das würde Pierre-Philippe nicht mehr retten. Verrat war Verrat. Aber seit er Antoines Betrug erkannt hatte, war es ihm einerlei, ob er sterben würde. Das Leben hatte ohnehin keinen Sinn mehr.
"Wir nehmen ebenfalls zu Kenntnis, dass dir großes Leid widerfahren ist, und dass du Opfer von perverser Wollust wurdest. Und alles nur, um deinen König zu schützen."
Wovon sprach Louis? Das stimmte doch nicht.
"Und als von Gott eingesetzter König ist es unsere heilige Pflicht, unsere getreuen Untertanen für erlittene Unbill zu entschädigen, insbesondere wenn dieses in der Ausübung der Pflicht geschah. Weil du also den Auftrag unseres getreuen d'Artagnan so gewissenhaft ausführtest, ohne dabei auf deine eigene Person Rücksicht zu nehmen, nur an das Heil deines Königs dachtest, und so an der Aufdeckung dieses schändlichen Komplotts entscheidend beteiligt warst, gewähren wir dir huldvoll die wohlverdiente Belohung."
Erst jetzt verstand der junge Comte de Arrignac. D'Artagnan hatte die Sache so gedreht, dass es aussah, Pierre-Philippe hätte im Auftrag des Kommandeurs der Garde gehandelt.
"Wir ernennen dich deshalb zum Hauptmann ehrenhalber der mousquetaires de la garde. Sobald du alt genug bist und über die entsprechenden Fähigkeiten verfügst, wirst du dieses Amt auch tatsächlich ausüben. Wir hoffen, dass du deinem König auch weiterhin so treu dienen wirst."
Pierre-Philippe konnte es nicht glauben. Ein Traum ging in Erfüllung. Hauptmann der Garde! Der Beginn einer glanzvollen militärischen Karriere!
"Sire," stotterte Pierre-Philippe dankbar und immer noch fassungslos darüber, dass sich das Blatt so gewendet hatte.
"Ich weiß nicht, wie ich meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen soll."
Aber der König nickte bloß huldvoll, und damit war die Audienz beendet.
Zusammen mit d'Artagnan, der der Audienz schweigend zugehört hatte, verließ Pierre-Philippe den König. Er konnte immer noch nicht begreifen, was eigentlich geschehen war. Er hatte eingewilligt, den König zu töten. Er hatte Hochverrat begangen. Aber stattdessen wurde ihm eine Belobigung zuteil, wie er in seinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt hatte.
D'Artagnan schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
"Du wunderst dich über das alles, nicht wahr mein Junge?"
Pierre-Philippe nickte.
"Du bist noch jung. Dein ganzes Leben hast du noch vor dir. Aber wenn ich dem König die volle Wahrheit gesagt hätte, wer weiß was dann passiert wäre. Wenn du Glück gehabt hättest, dann hätte man dich nur des Hofes verwiesen und die Ländereien deiner Familie eingezogen. Im schlimmsten Fall wärst du am Galgen gelandet."
Pierre-Philippe hatte schweigend zugehört. Aber selbst die Vorstellung, ohne viel Federlesens gehenkt zu werden, erschreckte ihn sonderbarerweise nicht besonders. Denn ohne Antoine…
"Ich habe sofort gehandelt, als du mir alles gestanden hast" fuhr d'Artagnan fort. "Meine Leute durchsuchten die Gemächer des Marquis und sie fanden einige Dokumente, die alles beweisen. Er hatte tatsächlich geplant, dass unser König getötet und dann sein Bruder auf den Thron gelangen sollte. Damit wäre er zum mächtigsten Mann in Frankreich aufgestiegen, weil Henri bloß Wachs in seinen Händen gewesen wäre. Für unser Land wäre das ein Unglück sondergleichen gewesen. Denn seine Fähigkeiten hat der Marquis bei seinen unzähligen verlorenen Gefechten und Rückzügen bereits deutlich unter Beweis gestellt. Von seiner moralischen Abartigkeit und Verkommenheit gar nicht erst zu sprechen! Deshalb konnte ich es auch nicht zulassen, dass einer meiner besten Männer hier sinnlos verheizt würde. Außerdem trifft dich keine Schuld. Gegen die raffinierten und teuflischen Machenschaften eines derartigen Intriganten kann sich jemand wie du gar nicht zur Wehr setzen. Deshalb habe ich dem König in dem Glauben gelassen, du hättest in meinem Auftrag gehandelt."
Pierre-Philippe hatte nur halb zugehört, weil er mit seinen Gedanken bei Antoine war. Dieser hatte ihn belogen, betrogen und für eine teuflische Intrige missbraucht. Und er hatte es zugelassen, dass der Marquis seine perversen Gelüste an ihm auslebte.
Pierre-Philippe hasste Antoine dafür.
Aber gleichzeitig musste er immer an denken. Er war so liebevoll zu ihm und er hatte sich in der neuen Welt von Versailles seiner angenommen. Tief in seinem Inneren liebte er Antoine immer noch – dessen war er sich sicher.
"Und wie geht es weiter?" wandte er sich an d'Artagnan.
"Henri weiß natürlich von nichts. Deshalb bleibt zwischen ihm und seinem Bruder alles beim Alten. Der Marquis wird als Gouverneur auf eine der Westindischen Inseln geschickt, wo er keinen größeren Schaden mehr anrichten kann. Eine strengere Bestrafung ist nicht möglich, weil ansonsten die Beziehungen zwischen Louis und Henri, also ein fragiles politisches Gleichgewicht, zerstört würden."
"Dann muss also niemand dafür bezahlen, dass es ein Komplott gegen den König gab?" wunderte sich Pierre-Philippe.
"Doch," erwiderte der Kommandeur der Garde langsam. "Es ist nur so, dass so hohe Adelige einfach nicht bestraft werden können. Und deshalb muss jemand anders dafür bezahlen."
"Nein!" rief Pierre-Philippe entsetzt, als er begriff, was das bedeutete.
"Es muss sein. Du kannst es nicht ändern. Ertrag es wie ein Mann," tröstete ihm d'Artagnan mitfühlend.
Pierre-Philippe hatte schlecht geschlafen. Er konnte nicht aufhören, an Antoine zu denken. In seinem Kopf kämpften die widerstreitenden Erinnerungen einen gnadenlosen Kampf gegeneinander. All die Schrecklichkeiten, die ihm Antoine angetan hatte, kamen Pierre-Philippe wieder in den Sinn. Und gleichzeitig dachte an all das Schöne, das er mit Antoine erlebt hatte.
Er kam zu keiner Entscheidung welcher Teil nun überwog. Schließlich fiel Pierre-Philippe in einen unruhigen Schlaf, der ihm Albträume, aber keine Ruhe schenkte. Und als er am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich wie gerädert.
Heute war der Tag, an dem Antoine hingerichtet wurde. Der König hatte keine Zeit verloren und das Urteil gestern noch ausgesprochen. Antoine war natürlich sofort verhaftet worden, und Pierre-Philippe hatte ihn nicht mehr gesehen.
Er hatte nur den Galgen gesehen, den die Zimmerleute eiligst im Hof aufgebaut hatten. Schon alleine bei dem Gedanken daran, dass sein geliebter Antoine bald daran baumeln würde, lief es ihm kalt über den Rücken.
Eigentlich hatte Pierre-Philippe gehofft, dass er Antoine noch einmal sehen würde und mit ihm sprechen konnte. Er musste einfach wissen, ob Antoine ihn tatsächlich geliebt hatte, oder ob er bloß ein netter Zeitvertreib war, den man schließlich für größere Pläne opfern konnte.
Aber niemandem war es erlaubt, mit einem des Hochverrats Verurteilten zu sprechen.
Und so blieb Pierre-Philippe nur, zur Hinrichtung selbst zu gehen, wenn er seinen Geliebten noch einmal sehen wollte.
Mit unsicheren, zitternden Schritten machte sich der junge Comte de Arrignac auf den Weg. Er fragte sich, ob er es aushalten würde, Antoine sterben zu sehen. Aber musste ihn einfach noch einmal sehen. Er konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, dass seine letzte Erinnerung an Antoine nur der wirre, verwaschene Fetzen sein sollte, der ihm von der Orgie des Marquis noch im Gedächtnis war.
Pierre-Philippe betrat den Hof – und sofort wollte er wieder umkehren. Schon der leere Galgen war ein grausamer Anblick, den Pierre-Philippe nicht ertragen konnte. Wie würde es erst sein, wenn sein geliebter Antoine daran baumeln würde?
Er wusste nicht mehr, wie er die nächsten Stunden verbrachte. In seinem Kopf drehte sich alles.
Schließlich wurde der Hof, in dem die Hinrichtung stattfinden sollte, lebendig. Soldaten der Garde zogen auf, Handwerker vollzogen die letzten Handgriffe am Galgen, immer mehr Neugierige strömten herbei. Schließlich erschien der König selbst, demonstrativ von einer großen Schar Leibwächter umgeben. Auch der Marquis und Henri, der Bruder des Königs, waren zu sehen.
Alles war bereit, nur der Delinquent selbst fehlte noch.
Pierre-Philippe kam die Zeit endlos vor. Aber in Wirklichkeit waren es nur ein paar Minuten, bis ein Karren herangefahren wurde. Ein gefesselter Antoine stand darauf.
Und Pierre-Philippe rutsche das Herz in die Hose. Am liebsten hätte er sich sofort umgedreht und wäre davongelaufen.
Aber er blieb stehen.
Mit schreckensgeweiteten Augen sah er, wie Antoine von seinem Wagen herabgeführt wurde. Ein Priester trat an ihn heran und wechselte noch einige leise Worte mit ihm. Dann schlug er das Kreuzzeichen, und Antoine wurde auf den Galgen hinauf geführt.
Man legte ihm die Schlinge um den Hals. Und seltsamerweise war Pierre-Philippe froh, dass gleich alles vorbei sein würde.
Aber jetzt hob ein Herold des Königs an, der eine ellenlange Rede darüber hielt, wie es Verrätern erging, die sich dem Willen Gottes widersetzten und die sich an einer sakrosankten Person wie ihrer Allerchristlichsten Majestät dem König von Frankreich vergreifen wollten.
Pierre-Philippe hörte nicht hin. Er wollte einfach nur, dass es vorbei war.
Immer wieder sah er zu Antoine hinauf, der einen ruhigen und gefassten Eindruck machte.
Ja, so ging ein wahrer Ritter und Edelmann in den Tod. Er nahm die Folgen für sein Handeln ohne Murren auf sich. Nicht so wie dieser widerliche Marquis, dessen kleines, lächerliches Leben geschont wurde.
Pierre-Philippe war nur darüber enttäuscht, dass Antoine kein einziges Mal zu ihm herunter sah. Gut, er stand inmitten einer größeren Menge. Aber trotzdem…
Noch während Pierre-Philippe diese Gedanken durch den Kopf gingen, öffnete sich plötzlich die Klappe des Galgens und Antoines Körper fiel nach unten.
Mit einem hässlichen Knacken brach Antoines Genick.
Und Pierre-Philippe konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Nachwort
Diese Geschichte ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen oder Ereignissen sind rein zufällig. Natürlich. Der historische Hintergrund ist jedoch weitestgehend zutreffend gezeichnet, allerdings von mir mit einer gehörigen Portion dichterischer Freiheit verwendet. Henri ist an Philippe, den echten Bruder Ludwigs XIV. angelehnt, der tatsächlich homosexuell war. Jedoch ist über masochistische Neigungen seinerseits nichts bekannt. D'Artagnan existierte auch in Wirklichkeit, allerdings basiert seine Darstellung hier auf den Geschichten von Alexandre Dumas, der mit der Wahrheit recht großzügig umging. Jean-Baptiste Lully war der Mann, der die Musik am Hof des Sonnenkönigs über lange Jahre hin dominierte. Er war tatsächlich ein begnadeter Gitarrenvirtuose, auch wenn er kein Achtes Gitarrenkonzert geschrieben hat oder gar jemals im Weihnachtsmannkostüm aufgetreten ist.
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