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Trost 2

Kapitel 102-104

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 102

Die gesamte nächste Woche stand im Zeichen des Lernens für die Uni. Kai musste in der Geschichte der Medizin sein Referat halten, was ihm echt keinen Spaß machte, und seinen Zuhörern, so diese nach vier Vorgängern noch wach waren, sicherlich auch nicht. Er hatte am Donnerstag eine harte Nacht im LPP, weil Henrike ausfiel und Maya als Vertretung im Schneckentempo eher im Weg stand, als helfen konnte. Außerdem hatte Leon beschlossen, dass er Kai während der Motorradsaison jetzt immer nach Hause fahren würde, sodass Kai auch bis zum Abschließen bleiben musste.

Als er dann am Freitag vom anstrengenden Donnerstag im LPP noch komplett müde und für sein Empfinden viel zu früh am Morgen zu den Anschlägen am Schwarzen Brett schlappte, erfuhr er, dass er recht bald, nämlich gleich nach den Osterferien, für drei Wochen wieder täglich mit Jan in der Uni in einem Kurs zusammen sein würde. Neuroanatomie. Ein extrem lernlastiges Gebiet. Dazu war das der letzte Studienabschnitt. Es würde drei Wochen lang nur um Nerven und Hirnareale und dergleichen gehen. Kai sah viele Probleme und Stress auf sich zukommen. "Irgendwie hätte ich nicht gedacht, dass es doch mal wieder einen Kurs gibt, in dem wir zusammen sind. Hier steht, dass wir uns die Exponate zu fünft teilen. Wollen wir in eine Gruppe zusammen, Jan?"

"Ich schreib gern von dir ab, und wenn ich dazu nicht durch den halben Raum muss, ist es mir lieber."

Jan blickte auf den Listen entlang. "Dann nehmen wir den Vormittagskurs, okay? Trag uns ein."

Kai fügte sich seufzend und trug ihre Matrikelnummern auf der Liste ein. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Tini und Holger in der Nachmittagsgruppe waren. Überhaupt war Tini in dieser Woche kaum in der Uni zu sehen gewesen. Ebenso wenig wie Bianca, was nach dem turbulenten und schmerzhaften Wochenende kein Wunder war. Thilo hatte Jan hin und wieder Bericht erstattet. Offenbar hatte Bianca sich für ein paar Tage nach Hause begeben, um sich von den Eltern und der Oma verwöhnen zu lassen.

Kai folgte Jan zur Cafeteria und dort sah er dann doch Bianca und Thilo rumsitzen. Die letzten Klausuren hatten sie trotz der violetten Stirn angelockt. Offenbar hatte sie sich mit Thilo nicht nur vertragen, sondern war auch mit ihm zusammen, denn er saß eine Spur zu dicht für normales Beieinanderhocken. Zum Glück war er ein zu nüchterner Typ, um in der Uni permanent die Hand seiner Freundin halten zu müssen oder mit ihr rumzuknutschen.

Bianca winkte Kai und schob ihm eine kleine Tüte über den Tisch. "Hier, dein T-Shirt. Ich hab es auch gewaschen."

Kai nahm die Tüte entgegen und zögerte, sie blickte ihn an und meinte ein wenig zerknirscht "Sag mir doch noch mal, was das für ein Wecker war, Kai. Ich kaufe dir dann einen neuen, okay?"

Ein wenig besorgt trat er dichter zu ihr. "Nein. Das ist echt nicht nötig. Und wenn, sollte Jan das machen. Der hat den schließlich geschmissen. Ist alles in Ordnung? Heilt es gut? Soll ich draufsehen?" Ihre Stirn zeigte noch immer ein tüchtiges lilablaues Hämatom.

Sowohl Bianca als auch Thilo starrten ihn erst etwas perplex an, dann nickte Bianca und hob den Kopf. "Was meinst du?"

Kai lehnte sich über den Tisch, umfing ihr Gesicht mit einer Hand und schob ihre Ponyhaare mit der anderen vorsichtig von der Narbe zurück. "Hm. Ich hatte schon Angst, dass die Umstechung dir Ärger machen könnte." Er tastete das Hämatom ab. "Schaut aber nicht nach Infektion oder so aus."

Bianca begegnete seinem Blick und fragte leise "Wie ist das denn, darf ich die Haare einfach so waschen? Die Tage hab ich das immer vorsichtig gemacht, damit da kein Wasser ran kommt."

"Nö, du kannst einfach damit duschen. Das müsste okay sein." Er zupfte ihre Haare etwas zur Seite und seufzte, als er sie losließ. "Da bin ich ja froh, dass die Naht so gut geworden ist. Hab sie doch in die Haarlinie gebastelt bekommen. Das wird man in ein-zwei Wochen nicht mehr sehen."

Thilo starrte Kai noch immer aus seinen Katzenaugen an und hatte sogar den Mund etwas offen stehen. Jan lachte hinter Kais Rücken, der davon irritiert herumfuhr. "Ist was?"

"Du hast Bianca angefasst."

Kai sah zu Bianca zurück, sah eine Patientin in ihr und hatte kein Problem damit. "Und?"

Jan grinste breit. "Naja. Es sah richtig intim aus, wie du ihr so in die Augen gesehen und ihr zärtlich... Aua." Hopsend brachte Jan sein Schienenbein in Sicherheit.

Bianca stand etwas hektisch auf und zerrte fast schon mit der altbekannten Energie und Genervtheit an Thilos Hand. "Bis nachher im Kurs!"

Kai winkte ihr, dann kickte er Jan nochmal leicht gegen das Schienenbein, als der kichernd fortfuhr. "Kai, ich bin eifersüchtig, wenn du jetzt Frauen so anzuschauen beginnst..." Wütend auf seinen infantilen Freund stapfte er davon. Die Abteilung Abartigkeiten verhöhnte ihn auch, weil er doch tatsächlich im Patientenzustand keinerlei Angst vor Bianca zu haben schien. Jan verfolgte ihn, um sich zu entschuldigen, oder vielleicht auch zu rächen. Vorsichtshalber rannte Kai ihm deswegen weg. Sie kamen nur bis zu den breiten Treppen zum großen Hörsaal. Dort wurden sie ausgebremst, weil Tini auf sie zu gerannt kam. Sie trug eine rote Schlaghose und eine wild geblümte Bluse, die Kai beim Hinsehen Kopfweh bereitete.

Tini hielt ihn am Ärmel fest und starrte sie an. "Sag mal, Jan! Was habt ihr denn mit Bianca gemacht, meine Güte?!"

"Wieso?" Jan winkte zwei Mädchen, die ihm zuriefen, dass sie ihm einen Platz freihalten würden.

"Weil sie violettblau ist auf der Stirn?!" Tini stemmte eine Faust in die Seite. "Weil sie Kai cool findet, von jetzt auf hier?" Tini ließ Kai entkommen, aber trat noch dichter zu ihnen.

"Soll vorkommen." Jans Finger spielten mit einem Kugelschreiber, er blickte eher gelangweilt zu einigen seiner Unifreunde rüber.

"Sie fand ihn immer scheiße, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich durfte den Namen nicht mal erwähnen und jetzt meint sie zu mir, dass er cool ist? Außerdem hat sie eine riesenhafte Naht am Kopf und sagt, dass du das warst."

"War ein Unfall. Frag sie selber. Geht dich eh nix an!" Nicht sonderlich sozial machte Jan sein 'Verpiss dich'-Gesicht.

Tini war das bereits gewohnt von ihm und sah ihn mit schmalen Augen an. "Sie behauptet, dass du das warst, dass sie selber schuld ist, aber Kai total krass findet. Hallo? Das geht mich wohl was an! Was hat Kai gemacht?"

Unsicher streifte Jan Kai mit einem Blick. "Soll ich?"

"Mir egal. Tini kriegt es auch so irgendwann raus. Meinetwegen." Kai blickte zum Hörsaal hoch, dann zwischen Tini und Jan hin und her. "Erzähl du es ihr. Ich hab keinen Bock mehr auf das Thema." Aber er würde vorsichtshalber besser dabei bleiben. Nicht, dass die zwei indiskrete Sachen besprachen.

"Was denn? Das klingt aber spannend! Kommt, kommt! Ich geb euch ekeligen Kaffee aus!" Unternehmungslustig hakte Tini Kai unter und zerrte sie zur Cafeteria zurück, womit die Vorlesung sich für sie erledigte. Sie holte Kaffee für drei und dachte dabei gewissenhaft daran, Kai genug Milch dazu zu kippen.

Endlich ließ sie sich auf der Kante vom Plastikstuhl nieder und schlug die Hände zusammen. "Also, was war los?"

Jan erzählte es ihr, wobei er dann auch Teile der Unterhaltung mit Bianca, die Kai nicht hatte verstehen können, übersetzte. Es war interessant zu hören, dass nicht Thilo mit Bianca Schluss gemacht hatte, sondern umgekehrt sie mit Thilo. Wohl, weil sie Jan doch noch nicht so richtig überwunden hatte. Genau was Tini schon vermutet hatte.

Die nickte altklug und machte 'hmhm' dazu. Sie fummelte an ihrer rotgeblümten Bluse rum und wippte so heftig auf dem Stuhl, dass Kai ihre Schulter umfasste. "Jetzt hör mal auf mit der Hampelei! Gleich sitzt du auf dem Boden!"

Tini schob sich weiter hoch und stellte ein Bein auf den Sitz, um ihr Kinn darauf abzulegen. "Und wie ist der Unfall passiert?"

Jan leerte seinen Becher. Er ließ den Sex so halb außen vor, erwähnte nur, dass sie im Bett waren, als Bianca sie gestört hatte. "Tja… und dann hab ich in einer Kurzschlussreaktion nach Kais Wecker gegriffen und ihr den an den Kopf geworfen. War nicht so eine geile Nummer, aber... naja, immerhin hat Kai die Naht gemacht, und damit sind wir quitt."

Und damit beendete Jan die Unterhaltung, weil er zu seinem Seminar musste. Anders als sonst in der Uni lehnte er sich für einen kleinen Kuss auf Kais Wange dichter, weswegen Kai sich den restlichen Tag irgendwie unwohl und von allen beobachtet fühlte, obwohl niemand außer Tini es gesehen hatte.

Als Kai mit Tini zu ihrem Seminar ging und sie nervig und hibbelig neben ihm her hopste, fiel es ihm wieder ein. Sie war irgendwie weg gewesen. Sie hatte ihn die restliche Woche merkwürdigerweise sehr in Ruhe gelassen. Sie redeten nicht einmal mehr miteinander, oder nur über Unisachen. Kai begrüßte diese neue Stille zwar, aber es machte ihn auch hochgradig misstrauisch.

Jan hatte zu dem Thema nur zu sagen gewusst, dass Tini wohl dauernd bei Holger übernachtete. "Die ist sicherlich tief in dieser Hormonphase mit ihm und kann grad nicht einmal mehr an dich denken, Kai. Mach dir nichts draus."

Gereizt hatte Kai seine Arme verschränkt und ihn angeblafft, dass es ihm nichts weiter machen würde als Angst vor dem nächsten Überfall. Und der ließ natürlich nicht so lang auf sich warten.

Obwohl die Freitagsklausuren nicht mehr stressig für Kai waren, fühlte er den Stress, den sie noch für Jan darstellten, deutlich. Jan und Thilo, sowie Holger, der am Anfang allein durch sein Alter und die lange Lernpause einige Probleme mit der Stoffmenge gehabt hatte, kämpften sich tapfer durch die letzten Testate und Klausuren. Kai und Tini warteten gemeinsam vor dem Hörsaal, in dem geschrieben wurde. Kai nervös ohne Ende, Tini mit ihrem Handy beschäftigt und ein wenig unruhig hin und her wippend. Kai hatte mitgeschrieben und abgegeben, nachdem er mit Jan seinen Zettel getauscht hatte. Ihm reichten die paar Punkte, die Jan bis dahin geschafft hatte. Tini selber hatte für sich geschrieben, vermutlich die volle Punktzahl gemacht und harrte Holgers Erscheinen. Natürlich nahm sie das Thema Bianca dann doch wieder auf.

"Bianca hat es dann also endlich gerafft, was?" Sie blickte ihn intensiv an wie immer.

Kai nickte und grinste dann schief. "Ein Wecker gegen den Kopf kann das auslösen. Warum hat sie dir nichts erzählt?"

"Warum?"

"Weil du deine Infos alle von Jan bekommen hast, oder? Ist immerhin eine Woche her gewesen. War ihr Besuch bei uns nicht deine dämliche Idee?"

"Doch, sie hat mir gesagt, dass sie von Jan erzählt bekommen hat, dass du mit ihm schläfst. Ich hab ihr geraten, mit dir zu sprechen. In der Wohnung am besten."

"Warum?"

"Damit sie vernünftig mit dem Thema abschließt. Damit sie sieht, dass ihr nicht nur Mitbewohner seid, sondern richtig zusammen, und es sich nicht nur um Sex und Ausprobieren dreht bei ihm. Damit sie endlich glaubt, dass Jan schwul ist."

"Fängst du auch noch an damit! Ich dachte, dass du ihn für bi hältst."

Tini stellte ein Bein an und lehnte das Kinn auf ihr Knie. "Jetzt nicht mehr. Welcher bisexuelle Mann lässt sich denn... ehm..."

"Ficken?" Jan lehnte sich gegen den Pfeiler neben Tini und sie hatte den Anstand, rot zu werden. Dann nickte sie, starrte ihn aber böse an. "Was soll das denn mit der Anschleicherei, wir unterhalten uns hier über persönliche Dinge!"

"Ja. Meine!" Jan lehnte sich dichter zu Kai und sah ihm an Tini vorbei ins Gesicht. "Hör zu, ich muss jetzt noch mal eben wegen des Referats zum Kursraum Geschichte der Medizin, treffen wir uns am Wagen?"

Tini reckte sich und blickte Holger entgegen. "Kann ich mit euch in die Stadt fahren, Jan?"

"Muss das sein?" Misstrauisch blickte Jan ihr ins Gesicht, dann warf er Kai den Autoschlüssel zu und trabte davon, flankte widerlich fit über die Reling vor dem Gebäude und joggte zum Archiv- und Bibliotheksgebäude rüber.

"Ich hasse es, wenn er so auf sportlich macht." Gähnend erhob Kai sich.

Tini lachte und ließ sich von Holger drücken und knutschen. "Du, ich fahr mit Kai noch mit, sehen wir uns nachher bei dir?"

Holger legte den Kopf schief, blickte zu Kai, dann zu ihr zurück und nickte leicht. "Ich geh einkaufen. Was willst du nachher essen, Süße?"

Tini verzog den Mund in Überlegungen vertieft und meinte dann "Was du willst. Das passt. Okay, bis nachher." Sie schob mit beiden Händen an seiner kräftigen Brust. Er wehrte sich, fing sie mit einem Arm um die Taille und nutzte die Chance, sie zu tätscheln. Tini fing an zu lachen und ergab sich. Die beiden begannen rumzuknutschen und Holgers Hand wanderte unter ihrem Hintern entlang.

Kai wandte sich wortlos ab und ging. Tini holte ihn am Wagen von Jan ein. Die Sonne wärmte sehr angenehm, mit Pullover ließ es sich ohne Jacke aushalten, sodass sie sich nebeneinander gegen das Auto anlehnten und noch nicht einstiegen.

"Was willste jetzt schon wieder von mir?"

"Hm?"

"Du hast Holgi-Baby sitzen lassen, um zu reden. Wie ich dich kenne, über Sex zu reden. Also?"

"Du schläfst mit Jan?"

"Geht dich nix an, genau wie Bianca nicht, wie jeden außer uns nicht. Ich hab noch einen Wecker, Tini. Wenn du magst, hau ich dir den an den Kopf, damit das dann geklärt ist." Und so langsam erwog Kai, eine Panzertür mit Riegel am Schlafzimmer anzubringen.

Sie lachte vollkommen unbesorgt. "Macht er das nur, weil er so in dich verknallt ist?" Es klang anklagend und nervte ihn irgendwie durch die Andeutung, dass Jan etwas gegen seinen Willen tun musste. Etwas, von dem Kai zufällig wusste, dass es ihm sehr gut gefiel, mehr als sehr gut, wenn er sich so an die letzten Male erinnerte. Er verdrehte die Augen. "Er steht drauf. Hat er Bianca auch so gesagt."

Sie schwieg einen Augenblick lang, dann ging sie auf seine stumme Bitte ein und ließ das Thema ruhen. Sie starrte ihn aufgeregt an. "Ich hab es geschafft, wollte ich dir erzählen!"

"Was?" Missmutig kickte Kai ein Steinchen weg und sah zur Bibliothek zurück, ob Jan endlich kam.

"Ich hatte Sex mit Holger und es war total geiheil." Sie schlug die Hände zusammen, sprach viel zu laut und freute sich. Unsicher sah Kai sich um. Tini schämte sich kein Stück, das überließ sie ihm. Sie fuhr stattdessen fort "Jetzt weiß ich endlich mal, was die anderen immer für ein Gewese darum machen. Das war ja so so so... genial!" Summend hopste sie vor Kai auf und nieder.

"Okay. Thema durch, aus Mangel an Interesse!" Kai verschränkte die Arme und starrte sie sauer an. "Das wolltest du unbedingt mit mir bereden?! Spinnst du?"

Sie knuffte ihm fies in den Oberarm. "Das war wichtig für mich. Ich war vollkommen hin und weg deswegen, ja?!"

"Aua." Kai rieb sich die schmerzende Stelle. Um ein Thema verlegen, das geeignet war, sie vom Sex abzulenken, schwieg Kai und sah sich noch einmal nach Jan um. Doch dann fiel ihm seine Eifersucht wegen der dämlichen Melanie ein. "Sag mal, was machen die am Dienstag beim Krafttraining? Ist das schlimm?"

"Willste doch hin? Das ist eine Art Zirkeltraining. Die Geräte stehen am Hallenrand im Kreis, sind fest installiert. Dazwischen baut Melanie immer unterschiedliche Sachen auf, das ist recht abwechslungsreich. Man macht an jedem Gerät eine Minute oder so, keine Ahnung, dann gibt es ein Signal und alle tauschen im Kreis weiter. Du kannst drei Stunden lang kommen und gehen, wie du magst. Es ist auch nicht übermäßig voll, ist eigentlich immer ein Gerät frei, oder du machst in der Mitte irgendwelche Übungen, Sit-ups oder so." Pfiffig betrachtete Tini sein Gesicht. Sie wusste natürlich bereits, warum er so sportlich werden wollte. Wie ätzend. Sie grinste und sagte "Jan und die anderen vom Fußballteam sind zwar in der gleichen Halle, aber in einer Ecke an eigenen Geräten. Ich mach den Spinning-Kurs, das ist voll, aber du kannst bestimmt Zirkeltraining mitmachen! Au ja! Komm einfach mit hin!"

Kai dachte sich, dass es vermutlich das beste war und nickte. "Okay, Dienstag."

"Ich hol dich auch ab, ja? Mit dem Fahrrad?"

Ergeben nickte er wieder. "In Ordnung." Es war vermutlich auch besser, wenn er Tini hatte, um seinen Schweinehund zu überwinden. Sport und er harmonierten einfach nicht sonderlich gut. Der Gedanke an diese dämliche Melanie allein würde ihn sicherlich nicht ausreichend anspornen. Noch nicht. Träge das Gesicht in die Sonne haltend überlegte Kai, wie er Jan seine sportlichen Anfälle verkaufen konnte. Irgendwie wollte er nicht, dass sein Freund sich belagert, eifersüchtig verfolgt oder beobachtet vorkommen musste, wenn Kai dann auch noch beim Sport auftauchte.

Tini benahm sich, als hätten sie ein romantisches Date ausgemacht. Sie lächelte ihn sonnig an. "Toll, Kai. Ich freu mich. Was ist denn angesagt bei euch am Wochenende?"

"Wir fahren ans Meer hoch." Und die Sonne schien, das würde schön werden. Jan hatte bestanden und war gut drauf. Mit einem Mal freute Kai sich.

"Geiheil!" Tini hopste schon wieder so nervend energiegeladen.

Kai sah sie misstrauisch an. "Allein."

Tini lachte. "Ist ja gut." Sie lehnte sich dichter zu ihm und fragte leise "Hast du Bianca das verziehen?"

"Was?"

"Dass sie einfach zu euch rein ist, euch gestört hat und so?"

"Da gab es nichts zu verzeihen. Ich nehme ihr tatsächlich ab, dass sie angeklopft hat, und dass sie uns nur sagen wollte, dass sie sich ein Taxi nimmt."

Tini nickte. "Die war vielleicht sauer auf Jan! Erst sagt er ihr, dass er mit dir nicht schläft, sondern anders herum und dann erwischt sie euch genau dabei, von dem Wecker mal ganz abgesehen. Aber jetzt verstehe ich auch, warum sie so sauer war. Jetzt glaubt sie Jan ja erst recht nicht."

Leidend wandte Kai sich ab und seufzte leise. Da Tini nie Ruhe gab, sagte er mit flacher Stimme. "Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn sie uns anders herum erwischt hätte, aber wir machen, wonach uns ist und nicht, was jemand anderes sehen will. Die Meiersche hat uns anders herum erwischt, ruf den doch an, der teilt seine Erinnerungen gern mit dir."

"Bitte? Carlchen? Oh wie geil!" Tini drückte Kai einmal fest, dann lachte sie. "Okay, dann lasse ich dich mal in Ruhe."

Jan kam zu ihnen und blickte von ihr zu Kai, aber sagte nichts außer "Mein Referatthema ist Narkosen, Kai. Wie geil ist das denn? Da kann ich einfach deins nehmen, oder?"

Kai seufzte und verdrehte die Augen. "Faule Sau." Erleichtert sah er Tini nach, die bereits weiter hinten über den Parkplatz davon rannte, wo Holgers Geländewagen noch parkte.

Als sie zur Wohnung kamen, mussten Kai und Jan sich noch kurzfristig über das Packen von Taschen für ein Wochenende streiten, weil Kai viel zu viele Klamotten mitnehmen wollte. Der Disput endete damit, dass Kai sich zur Hälfte durchsetzen konnte, dann jedoch von Jan abgeführt und in den Wagen geworfen wurde, samt seiner Tasche, in der sicherlich etwas sehr wichtiges fehlte. Die Fahrt selber war jedoch sehr harmonisch. Sie redeten, nachdem sie sich daheim abreagiert hatten, im Wagen noch einmal in aller Ruhe über die Geldsorge von Kai.

Kai schaffte es, Jan von seiner Einstellung zu dem Thema zu erzählen und fühlte sich sofort erleichtert. Als würde allein das Geständnis, dass Geld ihm ganz offensichtlich mehr bedeutete als seinem Freund, das Problem bereits lösen können.

Jan gab es zu. Er wusste, dass Kai immer knapp bei Kasse war und er wollte deswegen mehr bezahlen, nicht gerecht teilen. Und Kai gab endlich zu, dass er sich nicht gekauft vorkam, nicht von Jan. "Aber ich hab trotzdem Angst, dass du aufrechnen könntest, Jan. Trotz allem. Obwohl Leon meinte, dass du reicher bist, als ich weiß."

Jan lenkte mit der linken Hand, die rechte hatte er in Kais Nacken gelegt und streichelte ihn dort sachte. "Tut mir leid, Baby. Es ist für mich auch alles noch so neu. Meine Eltern sind nicht arm. Mein Vater verdient gut, meine Mutter auch nicht so schlecht, aber mein Erbe von Hannah, das war mehr als ich mir habe vorstellen können. Selbst meine Mutter wusste nicht, dass Hannah so viel angesammelt hatte. Ganz ehrlich, ich glaube, dass auch Hannah die Übersicht verloren hatte."

"Aber wie denn? Hat die einen so lukrativen Job gehabt?"

"Nein. Sie war Sekretärin bei einem Notar. Damals, als Mama noch ein Kind war, hat es gerade so gereicht für sie beide. Dann hat sie eine kleine Erbschaft von ihrem Vater erhalten und investiert. Hannah lebte aber immer schon gern gefährlich, ein wenig abenteuerlustig. Ihre Urlaube mussten immer wie eine Safari sein. Sie hat irgendwann begonnen zu spekulieren. Sie hatte wohl einen guten Freund, der sich auskannte. Sie hat mit Aktien so nach und nach über die letzten vierzig Jahre ein Wahnsinnsgeld gemacht und das dann zum Teil in Häuser gesteckt. Eins davon ist das, in dem wir wohnen. In der Art hab ich noch zwei geerbt und ihr kleines Haus bei uns am Ort. Das vermieten wir gerade. Ich hab Verwalter dafür und Leon für die Geldgeschichten, die Aktien und so, weil Hannahs Freund, der das bislang gemacht hat, echt zu alt geworden ist. Daher kann ich das verdrängen."

Schockiert blinzelte Kai auf die Autobahn und die vorbeisausenden Lastwagen rechts von ihnen. "Es geht mich eigentlich ja nichts an." Und in seinem Kopf waberten die Gedanken recht kraftlos umeinander. Sein Freund hatte nicht nur genug Geld, um jeden Samstag in die teuren Discos ausgehen und den Mädchen dort die Getränke ausgeben zu können. Er hatte die Sorte Geld, die man sich nicht mehr mit klarem Verstand vorstellen konnte. Scheiße, das Leben war unfair! Über seine milde Eifersucht verärgert verschränkte Kai die Arme.

Jan entging diese Geste nicht. "Doch. Es geht dich schon was an, wenn ich dann Sachen zu bezahlen beginne, und du dich nicht mehr wohlfühlst mit mir. Ich versuche damit aufzuhören." Es klang wie ein zerknirschtes Geständnis und Kai lachte, brachte Jan damit auch zum Lachen und im Endeffekt konnten sie das Thema abhaken, auch wenn es nicht so richtig geklärt war.

Im Ferienort war alles wie bei ihren letzten Besuchen. Die Häuser standen zum Teil noch leer, an anderen wurde fleißig für die Saison geputzt und repariert. Das schöne Wetter hatte in der Reihenhaussiedlung schon etliche Besitzer angelockt. Jan stellte den Wagen in die Garage und musste erst einmal durchlüften und die Heizung überall hochdrehen. Schweigend bezogen sie das Doppelbett, dann rief Jan seine Eltern an und erzählte, dass er mit Kai da war, fragte, was im Garten oder am Haus zu tun war. Er nahm die Antwort, dass sie selber am Sonntag vorbei kommen würden, um dann die Woche zu bleiben, erstaunlich gelassen auf.

Kai dachte an das Bambi in ihrem Leben und frage Jan, als sie später an der Wasserkante entlang zum Hafen gingen. "Sollen wir deinen Eltern von Bardo erzählen?"

"Warum?"

"Weil der jetzt dauernd bei uns rumhängt, und dein Vater sicherlich von den Leuten rechts unten irgendwann die Meldung bekommt, dass wir verdächtigen Besuch haben."

"Verdächtig? Wieso?"

"Naja. Er ist hübsch, er ist... jung."

"Hübsch?"

"Ja. Findest du nicht?"

Prüfend blickte Jan Kai ins Gesicht und schob die Hände in seine Jackentaschen. "Das ist manchmal mein Problem, Kai. Ich steh wirklich nicht so richtig auf Jungs, nicht so. Beim Fußball finde ich manchmal, dass einer scharf ausschaut, aber mehr nicht. Nichts gefühlsmäßiges. Bislang fand ich nur dich anziehend. Ich meine, Mädchen, da hab ich schon die eine oder andere gemocht, mich verknallt, auch oft auf zweiten Blick. Es war Sex, das gebe ich zu, aber auch Sympathie. Verliebt? Da muss ich, wenn ich ehrlich bin, passen. In dich – sofort, auf den ersten Blick sogar. Das hat mich damals echt irritiert. Aber außer dir? Zip. Niemanden. Insbesondere schwule Männer. Lolli, Carl, Lukas vor allen Dingen... die nerven mich in der Regel auf die eine oder andere Art. Ich komm nicht klar mit ihnen."

"Du bist eben komisch. Wie Lolli so schön sagte 'du bist eben nicht so perfekt schwul wie ich'."

"Manchmal denke ich, dass ich wirklich komisch bin. Aber ich steh komplett auf dich. Und dann schläfst du mit mir und ich steh auch wirklich voll darauf, und dann denke ich einfach, dass ich neben dir derzeit niemanden sehen will."

Das Gespräch wurde viel zu gefühlsbeladen für die Öffentlichkeit, vor allem für den Strand, wo lauter Rentner und Familien mit Kindern unterwegs waren. Kai wechselte hastig das Thema. "Nicht mal Melanie?"

"Geile Titten hat sie schon..."

"Prolet! Hör auf ekelig zu sein!"

Jan grinste, dann wurde er wieder ernst. "Na ja, Gucken kost nix. Ich steh ehrlich gesagt auf alles andere von ihr nicht so. Insbesondere mag ich es nicht, wenn jemand so richtig anbaggert, nachdem er erfahren hat, dass ich in einer Beziehung bin. Als sei ich ein Preis, den man jetzt gewinnen muss. Spinnt die?"

Kai enthielt sich der Meinung. Er verriet vorsichtshalber auch nicht, dass er wegen der Melanie nun sportlich werden würde. Er wurde einer Antwort auch enthoben, weil sie am Fischlokal anlangten und sich den Sand von den Gummistiefeln traten. Beim Essen waren Jan und er wie immer, wenn sie unter Leuten waren. Sie sahen sich kaum in die Augen, berührten sich nicht. Sie alberten wie Kumpel herum, als sie wieder nach Hause gingen. Kai fand es entspannter, wenn sie sich nicht dauernd angaffen lassen mussten, und hatte Jan offensichtlich davon überzeugt.

Der Abend blieb erstaunlich friedlich. Sie versackten vor dem Fernseher. Kai pennte noch ein, während Jan irgendwelche Fußballspiele sah, und musste sich wecken und mit halbgeschlossenen Augen ins Bett schleifen lassen.

Der Samstag war tatsächlich wunderbar, wie ein Urlaubstag. Jan ließ Kai ausschlafen und lief zum Bäcker an der Ecke, während Kai in Ruhe duschen und sich eincremen und für Klamotten entscheiden durfte. Sie frühstückten in Ruhe, obwohl Jan davon ein wenig hibbelig wurde. Sie räumten gar nicht auf, bevor sie raus gingen. Seine Haare zu stylen, bevor sie an den Strand gingen, hatte keinen Wert, somit kamen Jan und Kai sich nicht in die Wolle deswegen. Und das Wetter war einfach nur geil. Blauer Himmel, strahlende, richtig wärmende Sonne. Diese brachte mit sich, dass Jan Kai im Badezimmer überfiel und mit Sonnenschutzlotion einpampte.

Im Flur vorn waren neue Gummistiefel aufgetaucht. Jan erklärte dies: "Ich hab dir letzte Woche deine eigenen besorgt. Dann musst du nicht immer welche von mir mit zwei Paar Socken tragen. Lohnt sich ja doch, wenn wir den Sommer über hier öfter herkommen."

Es wurde davon abgesehen den Vormittag über tatsächlich erholsam, wenn auch auf eine ziemlich aktive Art. Typisch für Jan hockten sie natürlich nicht einfach nett am Hafen und lästerten über Leute im Partnerlook oder Seniorenwandergruppen. Nein, sie wanderten durch das Watt und sammelten Muscheln wie bescheuert. Jan fing an, hatte sogar einen Eimer mit. Kai machte erst zögerlich, doch dann immer begeisterter mit. Es machte süchtig, schon bald konnte Kai sich nicht mehr davon abhalten, seine Beute nicht mehr hergeben zu wollen. Der Eimer füllte sich. Er beschloss, die Muscheln einfach Lolli mitzubringen. Der würde sicherlich etwas Tolles damit anfangen können. Und bevor Kai Hunger bekommen und nölig werden konnte, kehrte Jan um.

Auf dem Rückweg über den Strand blieb Jan beim Aufgang zur Holzpromenade stehen und vergrub seine Hände in den Jackentaschen. Kai blickte ihn forschend an, dann sah er den Strand an. Irgendwas war, aber er wusste nicht, ob es schlau war, seinen Freund anzusprechen. Um von seinem Unwohlsein bei Jans ernsthaftem Gesicht abzulenken, sagte er locker "Hier haben wir uns zum ersten Mal geküsst, Jan. War doch hier, oder?" Es sah ehrlich gesagt alles ziemlich gleich aus an der Promenade, aber Kai hatte sich eine Aussichtsplattform gemerkt, an der sie hatten vorbeigehen müssen.

Unbewusst hatte er das absolut richtige gesagt. Jan sah sich zu ihm um und grinste blöde. "Hier. Ich hab gerade daran denken müssen, wie nervös und bescheuert ich war. Gott, fast wärst du mir wieder abgehauen. Wegen mir hattest du den megamäßigen Sonnenbrand. Hab nicht genug auf dich aufgepasst, Baby."

Kai lächelte errötend. Das erklärte, warum Jan ihn am Morgen so rigoros mit Faktor 50 für Babyhaut attackiert hatte. "Das war auch meine eigene Schuld."

Jan lehnte sich dichter. "Aber... das war geil in der Nacht. Endlich war ich mir sicher, endlich war es... gut. Richtig."

Kai grübelte zurück. Sie hatten sich zum ersten Mal hier am Strand so richtig geküsst. Und es war gut gewesen. Vollkommen richtig. Wie immer zwischen ihnen. Die Diskussion im Strandkorb vorher war lustig gewesen. Kai musste mit einem Mal lachen, als ihm ihre Unterhaltung und deren Ende wieder eingefallen war. "Jan war so eifersüchtig... auf den Mallorcaschreck...", summte er grinsend. Im nächsten Moment hatte Jan schon diesen Jägerblick. Kai stellte hastig den Muscheleimer ab und rannte kreischend davon.

Jan war so fies, ihn nur zu scheuchen, nicht zu fangen. Außerdem schaffte er es, die Muscheln mitzunehmen. Es war schon fies, wie fit Jan war. Die Jagd führte sie bis zum Ferienhaus, wo Kai gegen die Haustür geworfen und in den Nacken gebissen wurde. Lachend, nach Luft japsend, ließ Kai sich umdrehen und an die Tür pressen. Er nutzte die Chance aber sofort aus und schob seine Hände unter Jans Wachsjacke auf seinen Hintern, um ihn sogar noch enger an sich zu ziehen. Jan küsste ihn, öffnete gleich den Mund und strich mit der Zunge an seiner Oberlippe entlang. Seufzend ließ Kai den Kopf etwas zur Seite sinken und begegnete ihm seinerseits mit der Zunge. Jan schmeckte immer so gut, ihn zu küssen machte Kai noch immer süchtig.

Aus einem Kai nicht bekannten Grund schaffte Jan es mitten in der Knutscherei auch noch, die Tür aufzuschließen. Die Gummistiefel flogen im Flur durch die Gegend, die Jacken hinterher, zugleich küssten sie sich wilder und zerrten einander die Pullover über den Kopf. Sie kamen nicht einmal mehr bis in das Obergeschoss. Jan hatte Kai die Hose von den Hüften gezerrt, noch bevor er die Treppe überwunden hatte, und stürzte sich auf dem Absatz zwischen den beiden Treppen auf ihn.

Kai wurde ganz mies in die Hüfte gebissen, Jans Dreitagebart schabte über seinen unteren Rücken und er wand sich kichernd fort. "Jan! Aua!" Im nächsten Moment strichen Jans raue Finger forschend herum und zwischen seine Beine, um seinen Penis zu umfangen. Mit zwei Fingern neckte er die Haut an der Spitze entlang.

Kai erschlaffte wehrlos. Er wollte sich umdrehen, aber wurde von Jan nicht gelassen. Der schob sich gegen ihn und brachte ein Knie zwischen seine Beine. Mit einem Ruck wurde Kai gegen den warmen Körper zurück gezogen und musste sich abstützen. Mit beiden Händen streichelte Jan Kai direkt und ziemlich gnadenlos, genau wie er es mochte. Zugleich küsste er seinen Hals und flüsterte ihm schon wieder so geil direkt ans Ohr.

Erst als Kai gekommen war, setzte ein gewisses Denken wieder ein. Er blickte sich ein wenig verwirrt und atemlos um, bemerkte, dass sie immer noch halb-an-ausgezogen auf der Treppe hockten. Dann sah er, dass sich das Muster vom Sisalteppich in seine Hände und Knie geprägt hatte, und musste lachen. Jan grinste ihn ebenfalls ziemlich albern an. Er zerrte Kai die Hose endgültig von den Beinen, dann hielt er seine Hand locker aus, um Kai aufzuhelfen und natürlich direkt zum Schlafzimmer weiter durchzuziehen.

Sie versanken im perfektesten Blümchensex aller Zeiten. Kai war schon gekommen und entsprechend entspannt und Jan hatte an diesem Tag genug Zeit und Geduld und Lust zu kuscheln und zu streicheln und zu necken und rumzuknutschen. Es war paradiesisch und zugleich machte es Lust auf mehr, ohne je genug sein zu können.

Die Krönung des Verwöhnprogramms war, dass Kai im Bett bleiben konnte, während Jan sich anzog, um dem Pizza-Mann die Tür zu öffnen. Im Bett zu essen, wenn man das Bettzeug einsauen konnte, weil es eh schon jenseits von Gut und Böse war, hatte wirklich auch was für sich. Und nachdem sie die Krümel raus hatten und die Cola alle war, pennte Kai vollgefuttert, seliggesoffen und rundherum befriedigt ein. Erst nach dem Mittagsschlaf konnte er sich aufraffen, etwas sinnvolles zu tun.

Die andere Hälfte des Tages verbrachte er wegen eines beginnenden Muskelkaters nach der Wattwandertour einfach weiter im Bett mit dem Neuroanatomie-Skript und Jan tobte erst mit dem Rasenmäher durch den Garten und befasste sich dann intensiv und konzentriert mit dem Fernseher, zwei Dosen Bier und Fußball. Am Abend war der Fußball zum Glück aus. So konnten Kai und Jan noch ausgiebig vor dem Kaminfeuer rumschmusen und sich darüber unterhalten und umgehend auch zeigen, wie lieb sie sich hatten. Ein unerschöpfliches Thema.

Sie hatten zwar dank der Ruhe reichlich Sex miteinander, aber weder wollte Kai mit Jan schlafen, weil es ihm ein Déjà-vu vom Bianca Desaster bereitete, auch nur daran zu denken, noch wollte Jan mit Kai schlafen, vermutlich aus genau demselben Grund. Jan wollte zwar darüber reden, aber Kai blockte ab. Er schob das Thema von sich, damit sie das Wochenende einfach mal ohne gruselige Diskussionen genießen konnten.

Kai war aber am Sonntagmorgen so großzügig, seinen Freund direkt nach der Dusche und der mittlerweile überfälligen Rasur zu sich ins Bett zu zerren und seinen Körper entlang zu küssen und zu lecken, bis Jans Atmung schwer ging und seine Hände ihn unwillkürlich in Richtung Schoß zu schieben begannen. Lächelnd ließ Kai nicht zu, dass Jan etwas machte, bevor er gekommen war.

Seinen Freund in aller Ruhe, ohne Störungen streicheln, erregen und genießen zu können, war herrlich nach all dem Stress und den grauenhaften Desastern der letzten Tage. Zusammen zu sein, war Luxus pur. Dabei allein zu sein, war himmlisch. Ohne Freunde, die vorbeikamen, das Bambi, das nebenan Musik hörte, Bianca, die irgendwie alptraumhaft hereinplatzte oder Jans Handy, das mittendrin mit SMS von Fußballkollegen oder schlimmer noch Mädchen vom Unisport störte.

Sie wurden erst am Sonntag spät am Nachmittag von Jans Eltern in dieser Zweisamkeit gestört, als sie gerade dabei waren, ihre Sachen zusammenzupacken. Kai legte die Bettwäsche zusammen, die sie den Tag über gewaschen hatten, und Jan brachte ihre Sachen schon ins Auto, als der schwere Mercedes auf die Auffahrt schaukelte.

Da die Eltern von Jan ihre Taschen und Bettwäsche in das Haus räumten, durch den Garten wanderten und sich die Familie über interne Dinge unterhielt, blieb es Kai fast erspart, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Jans Mutter grüßte ihn nur kurz und Lasse fragte ihn freundlich, aber auch etwas unkonzentriert, nach dem Studium.

Kai war erleichtert, dass Jan und er fast sofort in den Golf kletterten und nach Hause fuhren. Da Jan wohl auch irgendwie nicht mit seinen Eltern hatte zusammen sein wollen, kamen sie recht früh in ihrer Wohnung wieder an. Genau rechtzeitig, um noch sehen zu können, dass Leons Tochter für die Ferien vorbeigekommen war.

Kapitel 103

Leon und seine Tochter sahen sich dermaßen ähnlich, dass Kai kein Vorstellen brauchte. Sie hatte die gleichen intensiven dunklen Augen und dichte, sehr dunkle Haare. Sie war recht hochgewachsen und schlank. Der Typ Mädchen, der tatsächlich diese grauenhaften engen Jeans tragen konnte. Ihr Gesicht war sehr ähnlich geschnitten wie seins. Sie hatte ihre Haare vorn um das Gesicht herum mit einem dunklen Violett bearbeitet, trug je Seite zwei Ohrringe und sie war gerade dabei, ihren Vater um ein Bauchnabelpiercing anzubetteln, als sie sich auf dem Treppenflur begegneten.

Jan düste bereits per Handy mit irgendwelchen Freunden quatschend mit den Sporttaschen in der einen Hand und dem Blick auf seine Armbanduhr an den beiden vorbei, so blieb es an Kai hängen, sozial zu sein. Leon stellte Kai und seine Tochter einander fieserweise nur mit den Vornamen vor und er erzählte gleich, dass sich Anna vielleicht mal mit Bardo verabreden konnte. Davon wollte Anna natürlich nichts wissen. Allein der Name des Jungen machte diesen Plan zunichte.

Am Montagabend im LPP erneuerte Leon aber seinen Vorschlag, dass Kai das Bambi doch mal an seine Tochter ausleihen solle. Anna hing samt sauenger Jeans vollkommen cool an der Theke rum, starrte Kai an und trank teure, alkoholfreie Cocktails wie Wasser. Kai strafte sie mit Missachtung und überließ sie Henrike, die diese Anna irgendwie bereits gut zu kennen schien. Doch Leon hatte das Glück, dass das Bambi vermutlich per Zufall zu ihnen hereingewandert kam.

Bardo lächelte Kai zu und schob an seinem Cello herum. Kai lehnte sich über die Theke zu ihm hin und zog ihn dichter, um ihm ins Ohr zu flüstern "Das ist diese Anna... Leon ist ganz scharf drauf, dass du dich um die kümmerst. Er gibt dir sogar zu trinken aus was du willst, wenn du mit ihr redest. Wenn du das nicht willst, dann ergreife besser sofort die Flucht, Bambi."

Aber Bardo stellte sich für ein Freigetränk sehr mannhaft der Aufgabe und schob sich neben der betont zickigen, gelangweilten Anna auf einen Barhocker. Erst einmal musste er sich ignorieren lassen von ihr. Aus Hochachtung vor seinem Mut begann Kai daher eine Unterhaltung mit ihm, die natürlich zum Thema Musik abgehalten wurde. Das passierte bei Bardo einfach. Anna spitzte mit einem Mal die Ohren, wandte sich dem Bambi zu und innerhalb von Sekunden hatten die zwei sich in eine Diskussion über Musik gestürzt und tatsächlich schienen sie einen ähnlichen Geschmack zu haben.

Fasziniert beobachtete Kai, wie Bardo und Anna sich ihre Handys zeigten, für irgendwelche Musiker schwärmten und in Erzählungen über Konzerte ergingen. Im Endeffekt musste er das Bambi mal wieder an die Uhrzeit erinnern. Allerdings kam auch Leon gerade aus seinem Büro geschlendert und winkte Anna nach hinten durch, um sie nach Hause abzuführen.

Bardo winkte ihr zum Abschied zu und zog sich seine Jacke über. "Die ist gar nicht so doof, wie ich dachte, Kai. Ziemlich lustig, wir fahren beide dieses Jahr nach Wacken."

"Aha?" Das sagte Kai nichts, aber er hatte mit einer größeren Gruppe Leute genug zu tun und musste das Bambi stehenlassen.

Auf der Rückfahrt nach Hause erwähnte Leon jedoch, dass Bardo Anna mit einer irgendwie nebensächlichen Bemerkung von dem Bauchnabelpiercing abgebracht hätte und nun sein Held war. Kai musste grinsen, das Bambi schien sich doch auf seine Art gut durchzusetzen. Immerhin hatte Bardo jetzt tüchtig Schlag bei Anna und noch mehr bei deren Vater. So kurios das auch war.

Der Umstand, dass das Bambi bei Anna hatte landen können, führte dazu, dass er schon am Dienstag gegen Mittag, als Jan und Kai gerade zum Essen und für die Abschlusskurse vor den Ferien in die Uni fahren wollten, bei ihnen vorbeikam. Sie trafen im Hausflur aufeinander und er gab zu, dass er sich tatsächlich mit Anna verabredet hatte. "Ich muss vormittags immer lernen und Cello üben, weil ich nach Ostern zu diesem Konzert eingeladen bin. Aber nachmittags und abends hab ich frei. Sie hat mich zum Essen eingeladen." Bardo zögerte. "Wann wolltest du denn jetzt eigentlich in die Oper, Kai? Ich hab den nächsten Abend blockiert und muss die Karten sonst wieder freigeben."

"Ach du Scheiße! Das hab ich echt vergessen, Bardo. Tut mir leid. Hm. Jan kommt ohnehin nicht freiwillig mit."

Jan nickte dazu und machte sein 'Nur über meine Leiche'-Gesicht.

Kai verdrehte die Augen. "Ich müsste erst noch wen fragen. Allein mag ich auch nicht hin."

"Ich kann mitkommen. Ich kenne das Stück natürlich, aber es ist schön, mach ich gern."

Jemanden dabei zu haben, der sich auskannte, klang nicht verkehrt. "Wann denn?"

"Morgen Abend? Es ginge um sieben Uhr los." Und so hatte Kai von jetzt auf hier eine Verabredung mit dem Bambi. Verwirrt starrte er dem Jungen hinterher, der mit sicherer werdendem Schwung die Treppen in den dritten Stock hinaufrannte.

Am selben Abend musste Kai sich jedoch erst einmal einer anderen Verabredung stellen. Einer, die ihm viel mehr Angst bereitete. Tini holte ihn zum Sport ab. Sie kam mit ihrem beängstigend schnell aussehenden Rad vorbei.

Kai hatte nicht viele Sportsachen, daher war die Entscheidung für die Klamotten sehr einfach gewesen. Er hoffte, dass er mit der Shorts vom Volleyball und einem passablen T-Shirt nicht falsch gekleidet war. Als Kai sein Fahrrad aus dem Schuppen holte, sah er, dass Jans Rad fehlte. Erst jetzt erinnerte er sich siedend heiß daran, dass er vergessen hatte, Jan von seiner Sportattacke zu erzählen. Irgendwie hatte er Rückfragen befürchtet und wollte seine Eifersucht dieser Melanie gegenüber nicht noch einmal zum Thema machen, um Jan nicht zu nerven und sich selber nicht zu deprimieren.

Tini trug eine enge Radlerhose und einen umfangreichen Kapuzenpullover. Sie grinste ihn freudig an und begann das Training schon auf dem Weg zum Unisportzentrum mit einem sehr scharfen Tempo. Etwas aus der Puste langte Kai am Fahrradständer an und atmete nervös durch. Die Unisporthallen waren riesig. Kai hatte sich bei seinen ersten Versuchen mit dem Volleyball immer verlaufen. Auch jetzt war er froh, dass er Tini hinterhertraben konnte. Sie ging zielstrebig zu der Halle durch. Spinning fand in einer abgeteilten Ecke an der Seite statt. Dort waren zwanzig Ergometer im Kreis aufgebaut. Tatsächlich war Tini vorn auf einem Rad und sagte an, was die anderen nachmachen sollten.

Die Kraftgeräte der Vereine waren auf der anderen Seite und mit einem Schild gekennzeichnet. Die restliche Halle war für das Zirkeltraining vom Unisport vorbereitet. Das Zirkeltraining selber lief tatsächlich locker ab. Es lief Musik in Discolautstärke, immer mal durch einen Signalton und ein Lichtzeichen unterbrochen. Die Geräte standen im Raum an der Wand entlang verteilt und in der Mitte waren Matten, Bänke und Medizinbälle aufgebaut. Tini kannte Melanie und sprach sie gleich darauf an, dass Kai neu war. Er wurde von der sehr energischen Sportstudentin zu den Geräten geschleift und sehr gründlich in alle eingeführt.

Melanie hatte lange blonde Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden wild um ihren Kopf wippten, wenn sie, immer im Laufschritt, zwischen den Geräten hin und her düste. Sie hatte in der Tat einen nicht gerade kleinen Busen, was man ausgezeichnet sehen konnte, weil sie ein enges Sporttop trug. Sie redete schnell und hoch. Sprach gern auch mal direkt an sein Ohr, weil es so laut war. Die perfekte Nemesis für Kai. Sie wies ihn auf richtige und falsche Bewegungen hin, indem sie ihm mit überzogenen Bewegungen vorführte, was er falsch machte, war überhaupt nicht berührungsängstlich und ließ ihn insgesamt ziemlich leiden.

Nach fast einer halben Stunde überließ sie ihn jedoch sich selber und ging zu anderen Leuten, um bei denen Hilfestellungen zu leisten. Unbegeistert machte Kai die Übungen, die sie ihm empfohlen hatte, und spürte sofort, dass er Muskelkater haben würde. Nach einigen Wechseln, als er gerade warm geworden war und in seine eigenen Gedanken versinken wollte, entdeckte er mit einem Mal Jan samt seiner Fußballer. Es war auch nicht gerade so, als würden die sich in die Halle schleichen.

Sein Freund kam mit einer Gruppe anderer Jungs mit ihren großen Taschen, Getränken und lauten Sprüchen und Gelächter vermutlich vom Sportplatz in die Halle getrampelt. Jan grüßte einige andere, zog die Schnürsenkel seiner Hallenturnschuhe nach und lehnte sich dann mit seinem Trainer an die Wand neben den Geräten. Der Trainer hatte einen Laptop aufgeklappt, suchte in einer Tabelle und besprach offenbar, was sie zu absolvieren hatten. Jan zog die Beine am Fuß abwechselnd gegen seinen Po zurück, dehnte die Muskulatur.

Kai beobachtete sie, während er unmotiviert auf einer Tretmaschine rumhoppelte. Die Musik gefiel ihm und er mochte es, Jan so zu sehen. Ernsthaft, interessiert und nicht so dumm, wie er gern in der Uni tat. Er mochte es auch, wenn Jan so gut aussah, wie das mit den Sportklamotten immer der Fall war. Außerdem tat Jan ihm und vielleicht noch anderen einen großen Gefallen und zog sich sein T-Shirt aus, rieb sich mit einem Handtuch den Oberkörper ab und pellte sich ein sauenges Funktionshirt über. Er trank einen Schluck aus seiner Trinkflasche, streckte sich und stürzte sich dann auf eines der Geräte. Ein Ergometer.

Ein Teamkollege redete mit ihm und die Unterhaltung stockte nicht oder sah irgendwie atemlos aus, obwohl Jan ein beachtliches Tempo vorlegte. Scheiße, war der vielleicht fit! Kai schämte sich mal wieder, dass er so faul war, wenn es um Sport ging. Der Gong unterbrach ihn jedoch. Das nächste für ihn waren Sit-ups und er seufzte. Bauchmuskeln wie Jan würde er ohnehin nie im Leben bekommen. Da konnte er sich noch so anstrengen.

Nach drei Malen hochquälen hatte Kai schon keinen Bock mehr. Als er das vierte Mal hoch kam, sah er Tini ins Gesicht und schreckte zusammen.

"Na? Geht doch! Mach weiter. Ich helf dir." Sie war verschwitzt und hatte ein Handtuch um den Nacken gelegt. "Du musst nur regelmäßig was tun, dann wird das mit der Kondition", tröstete sie ihn gleich darauf und ruinierte seinen letzten Rest Selbstwertgefühl. Der Gong rettete ihn.

"Komm, lass uns in der Mitte rumhängen und quatschen, dann kannste Jan besser angaffen", schlug sie ihm schließlich nach drei weiteren Geräten, die sie sich geteilt hatten, unkompliziert vor. Tatsächlich saßen in der Mitte immer irgendwelche Leute, die was trinken wollten oder einfach nur so abwarteten. Tini warf sich auf den Rücken und legte die Füße auf einen Medizinball, dann reichte sie ihm ihre Trinkflasche. "Und? Gefällt dir das? Ist wie ein günstiges Fitnessstudio, oder?"

Kai nickte. "Die Musik ist gut." Mit Blicken folgte er Jan, der gerade Liegestütze machte. Ihm wurde schwindelig. "Mist, wieso ist der so fit?"

Tini lachte auf. "Also ehrlich. Du lebst doch mit ihm zusammen und weißt, dass er mehr hier wohnt als Zuhause. Montags Hallenfußball und hin und wieder Basketball, wenn denen noch wer fehlt, dienstags sehe ich ihn immer hier, und das nachdem er mit dem Team auf dem Platz war. Donnerstags gibt er selber Trainerstunden und taucht nicht selten noch hier auf danach, freitags ist auf jeden Fall Ausdauertraining, wenn er nicht spielen muss. Samstags und sonntags dauernd Spiele, nicht? Am Wochenende ist Holger außerdem total oft mit ihm zum Laufen verabredet. Samstags geht Jan dann auch noch auf Piste. Jedenfalls ist er total oft im Universum oder draußen in der Fabrik. Jeden Wochentag macht der Sport. Außer am Mittwoch, nicht? Jedenfalls mittwochsabends hat er frei... aber da seht ihr euch ja und da macht ihr bestimmt..."

"Danke, keine Details nötig!" Kai ließ den Kopf hängen. Jan war nicht nur fit, er war manisch fit.

Tini ließ den Ball unter den Füßen hin und her rollen. "Fußball und so sind nun mal sein Leben. Ich frage mich noch heute, warum der überhaupt Medizin studiert. Das Hirn dafür hat er ja, aber so richtig Bock hat er nicht, oder?"

Kai hob die Schultern. "Er scheint sich auf Neuroanatomie zu freuen."

"Abartig. Passt total zu ihm." Sie sprang auf. "Okay. Ich will los und geh schon mal duschen, willst du noch bleiben?"

Kai wollte gerade sagen, dass er Zuhause duschen würde, doch in dem Augenblick legten zwei kräftige Hände sich auf Kais Schultern und er blickte hoch und Jan ins Gesicht.

Mit neugierigem Blick sah Jan Kai über Kopf an, dann fragte er "Du? Hier?"

Kai winkte Tini zu, die sich rasch absetzte, dann nickte er und sah zu, wie Jan sich neben ihn fallen ließ. Sie saßen mitten im Raum, alle sahen sie an, daher rückte er hektisch etwas von seinem Freund weg. "Ja. Tini meinte, dass das fast wie ein Fitnessstudio ist hier. Ich muss was tun, sonst kann ich den Sommer nicht mehr an den Strand." Er warf einen Seitenblick auf Jan, der in dem engen Funktionsshirt einfach nur schweinegeil aussah und seufzte. "Jedenfalls nicht mit dir zusammen."

Jan lachte und warf sich zurück, um noch ein paar Sit-ups zu machen. Nebenbei unterhielt er sich noch mit Kai, der eine halbe Krise davon bekam. "Ist ja fantastisch, dass du was machen willst, Baby. Ich freu mich außerdem, dass wir uns hier mal sehen können."

"Jan! Scht." Hektisch sah Kai sich um, aber die Musik war so laut, die Leute mit sich selber beschäftigt, vermutlich hörte und sah um sie her keiner etwas.

Jan wusste das auch und lachte ihn aus. "Mach mit, ich helf dir, ja?"

"Was?"

"Na, wozu bin ich Trainer. Auf geht’s."

Und Kai musste wohl oder übel irgendwelche schweinisch schweren, total spaßfreien Halteübungen absolvieren, von denen Jan behauptete, dass sie gut für den Rücken waren.

Melanie trat nach einer kleinen Weile zu ihnen und unterbrach Jan, bevor es zu anstrengend werden konnte. "Na, Jan? Biste die Ferien über auch hier?"

"Klar. Ich fahr nur das Osterfest weg, wir haben zwei Spiele in der nächsten Woche." Jan streckte sich und nahm die Sit-ups wieder auf. "Das ist übrigens mein Freund Kai." Er wies mit einem Daumen neben sich.

Kai spürte, wie er rot wurde und sah, dass Melanie ganz und gar nicht in die richtige Richtung dachte. Sie nickte auch nur etwas uninteressiert.

Jan sah zu Kai rüber. "Melanie studiert Sport und macht den Raum hier."

"Wir kennen uns schon." Kai konnte die Kälte nicht aus seiner Stimme fernhalten, aber Melanie kniete sich neben Jan nieder und wies ihn auf irgendetwas an seiner Haltung hin, mal wieder ganz und gar nicht berührungsängstlich. Zum Glück kam in dem Moment der Fußballtrainer, um Jan zusammenzuscheißen, weil der, anstatt sein Pensum abzuarbeiten, rumeierte und Blödsinn machte. Mit einem leichten Haarewuscheln verabschiedete Jan sich von Kai und trabte zu der Ecke mit den Geräten vom Verein zurück.

Kai ergriff die Flucht, aber wurde an der Tür von seinem Freund aufgehalten. "Hey." Jan trat unangenehm dicht zu ihm. "Bitte warte noch, ich bin bald durch mit meinen Sachen, dann fahren wir zusammen, ja?"

"Was?"

"Fahr nicht allein, Kai, okay? Ich mach mir sonst Sorgen."

Kai spürte, wie er rot wurde. Dann lenkte er jedoch ein, als er sich daran erinnerte, wie die Panik ihn ausgefüllt und gelähmt hatte. "Ich warte vorn im Bistro und trinke noch was."

Kai hatte sich gerade mit seiner Cola in eine Ecke gequetscht, als Tini mit Trainingsanzug und ihrer Tasche vom Duschen kam. Sie stockte, dann ging sie zu ihm hin. "Na? Wollen wir zusammen zurückfahren?"

"Nee, ich muss auf Jan warten."

"Du musst?"

Kai zögerte, dann seufzte er und erzählte Tini von seiner jüngsten Panikattacke wegen Felix' Motorrad. Er nickte nach draußen. "Es ist schon dunkel und deswegen will Jan nicht, dass ich allein fahre."

Tinis Augen wurden eine Spur größer, dann ließ sie sich neben ihm nieder. "Ich weiß noch, wie du davon gesprochen hast, Kai. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist."

Unglücklich hob Kai die Schultern. "Den Winter über fahren kaum Motorräder in der Stadt rum, deswegen war es mir nicht mehr so aufgefallen. Aber Felix sagte schon, dass die Saison jetzt anfängt. Samstagnacht war Jan deswegen total anstrengend und jetzt darf ich nicht mehr allein nachts vom LPP nach Hause fahren und..." Er zog die Schultern an. "… offensichtlich auch nicht vom Sport."

"Du musst das loswerden, Kai! Es kann doch nicht sein, dass du jetzt immer mit Begleitung rausgehst, sobald Sommer ist. Das ist doch total ätzend! Außerdem kann so ein Trauma sich echt einschleifen. Schau mich an!" Sie legte den Kopf schief. "Hey! Du hast mir geholfen, soll ich dir helfen?" Sie nahm ihm die Cola weg und nippte einmal davon.

"Nein danke!" Kai nahm sein Glas zurück.

Tini lehnte sich neben ihm gegen die Wand. "Na ja, ich meine ja nur." Unruhig ruckelte sie herum. "War schon doof, dass ich nicht früher gerafft hab, dass es Latexallergie war. Holger war total cool, hat sofort gecheckt, warum ich so aus dem Bett gehechtet bin." ‚

"Er hatte echt Angst, dass du deswegen gar nicht mehr willst", erinnerte Kai sich und leerte seine Cola.

"Hat er dir das erzählt? Echt?"

"Hm. Für den Fall, dass du Schluss machst."

"Warum das denn?"

"Damit ich dich für ihn rumkriege natürlich!" Das Thema war Kai nicht geheuer und er wollte Holgers Vertrauen nicht hintergehen, daher stand er auf, um sein Glas wegzubringen.

Sie wartete am Tisch auf ihn und sah ihn gespannt an, wechselte zum Glück auch sofort das Thema. "Hast du dir eine Therapie überlegt für dich? Willst du vielleicht mal Motorrad fahren gehen? Mein Bruder hat einen Führerschein für so ziemlich alles, was Räder hat. Wir haben eine von seinen Maschinen in der Garage rumstehen."

"Was? Auf gar keinen Fall!" Unglücklich blickte Kai zu den abgestellten Fahrrädern auf dem Platz. Motorräder standen auch dort. Allein die Dinger anzusehen, machte ihm ein mulmiges Gefühl. Bevor Tini noch Ideen bekommen konnte, erlöste Jan ihn jedoch. Er kam mit Melanie und zwei Jungs vom Team zu ihnen und winkte Kai recht knapp, mit zu kommen.

Sie fuhren die ganze Strecke als Gruppe, diese Melanie hatte wohl denselben Weg wie Jan und die beiden fuhren hinter Kai und Tini her und unterhielten sich über irgendwelche Partys für die Ferien. Leider musste Kai auch allein vorweg fahren, nachdem Tini abgebogen war. Deswegen war Kai erst sauer auf Jan, weil er dann doch lieber allein gefahren wäre. Im Fahrradschuppen hinten war es jedoch so dunkel, dass er froh war, als Jan ihm sein Rad abnahm, um es drinnen anzuschließen, während er selber hastig mit den Taschen zum Hausflur voranging.

Kapitel 104

So viel Sport nach einer längeren Zeit der Faulheit auf dem Gebiet rächte sich natürlich. Kai hatte schon am nächsten Morgen Muskelkater. Außerdem war er müde, weil er mit durch das Arbeiten im LPP und dann noch Sport am freien Abend schon zu oft zu spät zum Schlafen gekommen war. Im Anschluss an den Sport war er zudem mit Jan duschen gegangen. Das war an sich immer eine gute Idee, war aber an diesem Abend sehr anstrengend geworden. Daher war Kai komplett übermüdet und muskelkaterkrank, als er die Wohnungstür für einen Störenfried öffnete, der ihn von seinem Milchkaffee wegklingelte. Es war Felix.

Felix lehnte in schwarze Ledersachen gekleidet in der Tür und sah Kai einmal forschend ins Gesicht. "So, Kai. Jetzt bist du fällig!"

Kai zuckte zusammen. "Was?"

Felix trat durch die Tür und lehnte sich in den Türrahmen. Sein Blick war auf eine anstrengende Art direkt und indiskret. Kai schämte sich sofort für seine alte Jeans, die er zum Putzen und Rumhängen in der Wohnung angezogen hatte.

Felix nickte endlich einmal und verkündete großspurig. "Ich werde dich jetzt mal von dieser peinlichen Hysterie befreien."

"Eh?" Kai stolperte rückwärts, als Felix sich an ihm vorbei in die Diele drängelte.

Ein Zeigefinger bohrte sich unangenehm in Kais Brust und Felix' Gesicht war mit einem Mal zu dicht vor ihm. Er roch nach Zigaretten, aber nicht angenehm, herb auf die Art, wie Lukas. Es war unangenehm und Kai wich zurück. "Es geht mir auf den Sack, wenn mein Macker dich jede Nacht nach Hause fahren muss, verstehen wir uns?!"

Erschrocken nickte Kai.

Felix war noch immer in Fahrt. Er schob sich die Haare hinter die Ohren. "Geht echt gar nicht mit dieser Tuckerei zwischen Leon und dir. Das macht mir Übelkeit!"

Die Abteilung kitschiges Schwulentum und schwuler Kitsch hasste Felix eine Runde an. Doch dann zwang Kais Vernunft ihn dazu, sich dem Schicksal zu ergeben. Er nickte leicht. Na klar verstand er Felix. Leon blieb wegen ihm abends länger. Offensichtlich nur, um ihn nach Hause zu kutschieren. Das musste seinem Freund auf die Nerven gehen. Eigentlich ging es ihm selber auch auf den Geist, aber hatte er eine Wahl?

Gleich darauf schritt Felix an ihm vorüber und bewies, dass die Wohnung gegenüber wie ihre aufgebaut sein musste. Ohne zu zögern riss Felix den Dielenschrank auf und besah sich die Jacken. Er wählte Kais Lederjacke und warf sie ihm zu. "Mach schon! Zieh die an und feste Schuhe. Bis gleich in der Garage."

Verwirrt starrte Kai Felix hinterher und fragte sich, wieso sein Leben immer so stressig sein musste. Doch dann raffte er sich auf und zog sich die Lederjacke und seine Stiefel an. Felix hatte recht. Tini auch. Diese Hysterie wegen der Motorräder, die musste weg. Es war nicht auszuhalten, wenn er jetzt dauernd Angst haben musste, wegen nichts, wegen einer Macke.

Er schlich sich dennoch mit Herzklopfen in die Garage runter. In der hintersten dunkelsten Ecke ausgerechnet sah er Felix' hellblonde Haare aufleuchten. Hinter ihm stand ein großes, schwarzes Motorrad. Unsicher ging Kai auf Felix und die schwere Maschine zu.

"Komm her. Das ist meine kleine Sportmaschine. Schau sie dir an."

"Das ist albern." Kai verschränkte die Arme.

"Willst du jetzt immer umkippen, wenn mal wer mit einem Motorrad an dir vorbei fährt? Ich stell mir das nervig vor. Also, was ist jetzt?" Unsicher trat Kai noch einen Schritt näher und Felix legte den Kopf schief. "Hast du etwa schon im abgestellten Zustand Angst davor?" Er trat zu Kai und zog ihn am Handgelenk dichter. "Fass sie an. Sie wird dich nicht beißen. Sieh es als so eine Art sexy Kaffeemaschine mit Rädern."

Kai tastete sich einige Schritte voran und legte eine Hand auf den Sitz. Leder. Es fühlte sich glatt an und warm. Felix stand recht dicht hinter ihm, vermutlich um zu verhindern, dass er flüchtete. Die Nähe zu dem ungeduldigen Körper war unangenehm, wie auch die Nähe zu der Maschine. Kai entwand Felix sein Handgelenk und runzelte die Stirn. Im abgestellten Zustand ging das Motorrad in Ordnung. "Okay."

"Steig auf."

"Was?!"

Felix klopfte ihm einmal unangenehm hart auf den Hintern. "Steig schon auf. Das darf doch nicht wahr sein! Du bist vielleicht eine Pussy, meine Herren!"

Kai sah Felix giftig an, dann nahm er sich zusammen und saß auf. Es fühlte sich merkwürdig an, rittlings auf dem Motorrad zu sitzen. Ein wenig konnte er mit einem Mal nachvollziehen, was den Reiz daran ausmachte. "Ich hab das noch nie gemacht, ist ungewohnt", versuchte er eine normale Unterhaltung einzubringen.

Bei Felix hatte er damit keine Chance. "Steht dir. Schaut an so einem süßen Püppchen irgendwie gefährlich aus, als wärst du auf dem Weg, jemanden umzulegen. Wir fahren jetzt mal eine Runde. Setz den Helm auf. Lass mich aufsitzen."

"Nein! Oh Gott!" Hastig sprang Kai vom Sitz herunter und sprintete drei Schritte weit weg, bevor Felix ihn, mit unglaublich guten Reflexen, eingefangen hatte. "Oh nein, mein kleiner Psycho... weiter geht’s, du bleibst schön hier!"

"Du Arsch! Lass mich in Ruhe, ich will nicht..."

Doch Felix zerrte Kai zu sich und stülpte ihm einen schwarzen Helm auf den Kopf, was seine Rede abschnitt. Er schleifte ihn zum Motorrad hin und klappte Metallteile an den Seiten runter. "Auf diese kleinen Bügel stellst du deine Füße, okay? Das ist wichtig, konzentrier dich, verdammt!" Gereizt schlug Felix einmal gegen den Helm und klappte das Visier runter. Dumpf hörte Kai seine Stimme im Inneren "Das ist mein Gasthelm. Da er Leon ganz gut passt, denk ich, dass er dir etwas zu groß ist. Wird schon gehen für die kleine Strecke." Der Helm roch in der Tat ganz leicht nach Leons Aftershave, nicht unangenehm. Im nächsten Augenblick machte es klick und Felix zog den Gurt unter Kais Hals enger. Kai bekam umgehend Panik. Sie wallte zunehmend in ihm auf, bestimmte seinen Herzschlag, seine Atmung, schaltete sein Denken aus.

Felix saß auf und schob das Motorrad an, dann startete er den Motor. Kai hatte am Helm gezerrt und wollte gerade abhauen, einfach rasch weglaufen. Der Motor heulte auf und Kai wurde kalt. Eiskalt. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Er blickte auf den Ausgang, der erschien ihm zu weit fort, seine Beine wurden weich, der Boden und die dämmrigen Lichter weiter vorn in der Garage begannen sich um ihn zu drehen. Er bekam den Helm nicht runter. 'Scheiße!' Es war schmerzhaft, sich das einzugestehen, aber aus der kleinen Furcht vor dem Geräusch war eine ausgewachsene Störung entstanden. Er wollte zu diesem heulenden Mistding hingehen, wollte sich sagen, dass es kein Problem war, dass er mit einer Maschine doch wirklich umgehen konnte. Nichts weiter als eine laute Kaffeemaschine auf Rädern. Aber er schaffte es nicht, sich in Bewegung zu setzen.

Zu seinem Glück war Felix nicht die Sorte Mann, die so schnell aufgab. Der Motor erstarb und Kai atmete auf. Erst jetzt hörte er, dass Felix mit ihm sprach. "…Hey! Hörst du mich? Du bist vielleicht durch! Meine Güte. Okay. Setz dich hinter mich, halt dich fest. Ist zwar anstrengend, so zu starten, aber dann muss das eben mal gehen."

Kai versuchte einen Schritt zu tun, aber es gelang ihm nicht. Erst als Felix ihn harsch am Handgelenk griff und zu sich zerrte, schaffte er es, sich zu bewegen. Fast wäre das Motorrad bei der folgenden Rangelei umgekippt, aber endlich schaffte Felix es, Kai hinter sich auf den Sitz zu bekommen. Fluchend und schimpfend startete er gleich die Maschine wieder und fuhr an. Kai krallte sich erschrocken fest und kniff die Augen zu.

Die Fahrt dauerte nicht lang. Schon auf dem Parkplatz vor dem Biergarten am Waldrand hielt Felix wieder an, aber er ließ den Motor laufen und schob nur sein Visier hoch. "Na? Lebst du noch? Du kannst dich jetzt mal weniger festkrallen. Ich bin doch fast Schritttempo gefahren."

Kai blinzelte die Umgebung scharf und lockerte seinen Griff um Felix' Taille beschämt ein wenig. Das friedliche Brummen unter ihm hatte nichts gemein mit dem Heulen und Jaulen, das ihm sonst immer solche Angst machte. Felix tätschelte seinen Handrücken und ließ ihm noch einen Moment, um sich besser hinzusetzen, dann fuhr er wieder an.

Der nächste Halt war auf der anderen Seite des Waldes, wo die großen Seen begannen. Die Wiesen waren gerade gemäht worden und es duftete nach frischem Gras. Aber es war noch leer zwischen den groben Holztischen und am Badestrand. Jetzt im Frühling waren nur einige Jogger und Leute mit Hunden unterwegs. Hier würden sich bald wieder ungezählte Jugendliche und Studenten mit Bier und Einmalgrill, Familien mit Picknickdecken und plärrenden Kindern, alternative Gruppen mit Gitarren und Paare zum Baden und in der Sonne liegend zusammenfinden.

Im Sommer war hier nachts zudem ein Treffpunkt für Leute, die es gern im Freien taten. Jedenfalls hatte Lolli das Kai mal verraten. Lolli selber hatte das nur einmal ausprobiert. Es hatte mit Ameisenbissen am Hintern und Mückenstichen überall sonst ein eher jähes und nicht sonderlich befriedigendes Ende gefunden. Wenn es auch später für Lachkrämpfe bei der Meierschen und Kai gesorgt hatte, denen Lolli dringend von romantischen Ideen zum Thema Freiluftsex abgeraten hatte.

Felix bockte die Maschine auf und half Kai beim Absteigen. Fürsorglich löste er auch den Riemen am Helm für ihn. Geschafft zerrte Kai am Helm und stellte gereizt fest, dass dieser ihm die Frisur komplett ruiniert hatte. Er sah Felix in die zufrieden funkelnden Augen. "Das war gemein. Ich hasse dich."

Außerdem sah Felix nach der ekeligen Fahrt komplett entspannt und erholt aus. Offensichtlich machte es ihm Spaß, auf einem Motorrad durch die Stadt zu jaulen und sich die Haare zu zerknautschen. Na gut, Felix' Haare waren von der Sorte weizenblond und sonnengebleicht, wie man sie bei Surfern erwartete. Dazu gehörte eine Nicht-Frisur, es passte zu ihm. Felix zog sich die Motorradjacke aus, dehnte seine Schultern und hockte sich auf die Lehne einer nahen Parkbank. Gemütlich stellte er die Füße auf die Sitzfläche. Nachdem er sich die Haare einmal hinter die Ohren geschoben hatte, begann er sich eine Zigarette zu drehen und nickte endlich einladend auf den Platz neben sich.

Kai gehorchte und stellte den Helm vorsichtig ab. Nach einem kritischen Blick auf den Zustand der Bank setzte er sich neben Felix und wartete mit Blick auf die Seen, was der andere Mann neben diesem Höllenritt noch so von ihm wollte.

Erst einmal lobte Felix ihn. "Das ging doch sehr gut. Nächstes Mal fahren wir eine längere Strecke. Macht doch Spaß, nicht?"

"Nein." Knurrig stützte Kai sein Kinn in die Hände und die Ellenbogen auf die Knie.

Felix rauchte eine Weile, dann sagte er leise "Danke, dass du mit Leon hin bist zu der... Therapie."

"Wenn das der Dank war, mach ich das nie wieder!"

Felix hob eine Braue, sah pfiffig aus, dann lachte er leise. "Du süße Zuckerpuppe. Mach dir nicht ins Hemd." Er zog an der Zigarette und senkte den Kopf wieder. "Ich... hab irgendwie genauso bescheuert auf Leons Krankheit reagiert wie du auf Motorräder." Er fing einen Blick von Kai auf und schüttelte den Kopf. "Nein, ich bin nicht umgekippt, aber ich hatte Panik. Ich konnte nicht mehr schlafen, hab ständig Alpträume gehabt, hab ihn sterben sehen und so. Ich konnte ihn nicht einmal mehr ansehen."

Er schnippte Asche von der Zigarette und klemmte sie sich in den Mundwinkel. "Die Flucht war sogar Lukas' Idee... bestimmt, weil er mich nicht mehr aushalten konnte mit meiner beknackten Panik jede Nacht. Ich hab immer Lukas angerufen oder bin sogar hin zu ihm, um Leon nicht zu wecken. Aber das nächtliche Gequatsche kommt nicht so toll, wenn man am anderen Morgen fit auf der Arbeit sein muss. Außerdem ist es schwer, mit Lukas keinen Sex zu wollen, wenn man ihn so geil und verständnisvoll vor sich sitzen hat. Scheiße, der Mann ist so..."

Kai nickte dazu pauschal, konnte sich genau vorstellen, wie Lukas war. Aber auch wie genervt Lukas gewesen war. Felix blickte ihn von der Seite her an. "Ihr hattet mal was, kann ich mir gar nicht vorstellen. Er und du? Du bist viel zu..."

"Passte auch nicht."

"Er sieht das anders. Nennt dich Engel. Immer noch."

"Wir sind Freunde." Und das stimmte.

Felix nickte das ab, aber sprang im Thema zurück. "Jedenfalls hätte ich diese Arztpraxis nicht ertragen. Leon hat mir in Spanien davon erzählt. Von seiner eigenen Angst vor dem Raum, vor dem Eingesperrtsein, vor der Maschine. Und er hat mir erzählt, dass du unglaublich warst. Total cool und souverän. Hast einfach seine Hand genommen und ihn pissig angesehen, als ob er ein Kleinkind ist, das nicht hören will. Er meinte, dass er sich vor dir zugleich geschämt hat und es okay fand. Bizarr. Das macht dir echt nichts aus, hm? Diese ganzen Sachen? Nadeln, Chemo, der Geruch überall, diese Bestrahlungsmaschine?"

"Nö. Ich fühl mich damit wohl."

"Solange es nicht dein Freund ist, der da liegt, oder?"

"Nein. Ich glaube, dass ich in jedem einen Patienten sehen kann. Gerade bei meinen Eltern oder Freunden würde ich mir noch mehr Mühe geben, um ihnen zu helfen. Das kommt mit dem Berufswunsch, denke ich."

"Echt? Sind alle Medizinstudenten so distanziert?"

Kai hob den Kopf und überlegte. "Glaube ich nicht. Bei Jan bin ich mir nicht so sicher." Jan konnte sich nicht distanzieren, oder doch? Kai dachte daran zurück, wie Jan ihm eine Spritze gegen Übelkeit verabreicht hatte. Da hatte sein Freund diesen klinischen, entfernten Blick gehabt. "Jan kann das, aber er kann auch anders sein."

Felix sah ihn von der Seite her an. "Stimmt. Ich hätte das nicht gedacht, aber Jan ist ja komplett ausgerastet, als du umgekippt bist."

Resigniert zupfte Kai an seinen Haaren rum. "Du hättest ihn mal sehen sollen, als ich im letzten Sommer zusammengeschlagen worden bin. Zum Glück war er nicht dabei."

"Nein, danke. Ich dachte schon immer, dass Leon heftig ist, aber Jan würde mir Angst machen."

"Warum?"

"Er ist komplett auf hundertachtzig, wenn es um dich geht und total ernsthaft dabei, spaßfrei. Ich hätte Angst, dass er das dann von mir auch erwarten würde, damit sozusagen die Messlatte festlegt."

"Wenn du Treue meinst, dann muss ich sagen, das tut er. Deswegen wohnen wir zusammen. Damit er mich besser im Auge behalten kann. Er ist auch nicht glücklich, wenn ich im LPP angeflirtet werde."

Felix löschte die Zigarette an der Parkbank aus und schnippte sie weg. "Dein Leben will ich nicht haben, ganz ehrlich nicht."

Kai trat wieder dichter an das Motorrad heran und berührte den Lenker mit den Fingerspitzen. "Hat Leon dich hierzu angestiftet?"

Felix lachte und stand auf. "Gott bewahre. Der weiß nichts davon. Für ihn bist du sowas wie... wie sein Designersofa. Da darf auch kein Kratzer ran. Wehe dir passiert was! Ich hab jetzt schon Bammel, was passiert, wenn er rauskriegt, dass ich dich einfach so entführt habe." Natürlich sah Felix ganz und gar nicht aus, als habe er irgendwelche Befürchtungen.

Kai sah ihn von der Seite her an. "Dann bring mich mal ganz schnell wieder nach Hause." Der Gedanke, dass er dazu wieder auf diesem Motorrad sitzen musste, war nicht sonderlich schrecklich. Erleichtert dachte Kai, dass er somit schon mal einen Schritt in die richtige Richtung unternommen hatte und dazu gleich wieder daheim sein würde und weiterputzen konnte. Und in genau dem Moment fiel ihm ein, dass er vor Schreck über Felix' Aktion keinen Wohnungsschlüssel mitgenommen hatte. "Ach, Scheiße! Ich hab keinen Schlüssel mit, weil du mich so gestresst hast! Außerdem weiß ich nicht, wann ich Jan wieder sehe! So ein Mist!"

Felix reichte Kai den Helm. "Habt ihr niemandem einen Schlüssel gegeben? Für Notfälle?"

"Nein... doch!" Erleichtert seufzte Kai auf. Bardo hatte einen Schlüssel zur Wohnung und es waren Schulferien. Vielleicht war er da. "Dann musst du mich jetzt zum Goetheplatz fahren. Zur Fröhlich-Apotheke."

Kommentarlos stieg Felix auf und schob den Helm auf seinem Kopf zurecht. Kai setzte erst den Helm auf, dann seufzte er abgrundtief, bevor er sich vorsichtig wieder auf den Sitz wagte. Die zweite Fahrt ging schon besser, auch wenn Kai sich sofort darüber klar wurde, dass er diese Art der Fortbewegung absolut nicht mochte. Und die Nähe zu Felix war daran kein unwesentlicher Teil.

Er betete die Fahrt über, dass Bardo daheim war oder zumindest der Schlüssel, denn sein Handy hatte Kai natürlich auch nicht mit. Davon einmal abgesehen, dass er Bardos Nummer nicht hatte. Jan, das war Kai klar, würde ihm nicht helfen können, bis er am Nachmittag aus der Uni kam. Anders als Kai hatte Jan erst ab dem Nachmittag Osterferien. Er musste noch durch den Pflichtkurs durch und ein Nachtestat mit dem Assistenten in der Physiologie bestehen.

Die Fröhlich-Apotheke war in einem sehr hübschen Altbau am Goetheplatz untergebracht. Der Platz war einmal ein Marktplatz gewesen, aber nun ein von Bäumen umrahmter kleiner Treffpunkt für Rentner aus den nahen zwei Seniorenheimen und die Schüler der Theaterschule gleich vorn. Das LPP war eine Straße weiter in Richtung Bahnhof und somit hatte Kai noch eine zweite Möglichkeit, seine Zeit in der Nähe rumzubekommen.

Felix ließ Kai vor der Apotheke vom Motorrad. "Soll ich hier warten?"

Doch Kai winkte ab. Er hatte seinen Ausweis in der Hosentasche, was ein Glück im Unglück war "Nein. Ich fahr mit dem Bus nach Hause. Soll ich den Helm mitnehmen?"

"Nein, gib her." Felix verstaute den Helm rasch am Lenker. "Bis zum nächsten Mal, Püppi."

Kai kam nicht mehr dazu, ihm zu sagen, dass er darauf verzichten konnte, schon war Felix um die Ecke gerauscht.

Kai richtete vor dem schönen Altbauhaus noch ein wenig an seinen Haaren, dann klingelte er bei dem Schild, auf dem nicht nur der Familienname, sondern auch ein Hinweis auf die 'Kindermusikgruppen, Musiktherapie Merle Fröhlich' zu finden war. Ein Türsummer ließ ihn ein, eine Gegensprechanlage schien es nicht zu geben.

Kai erklomm die knarzenden Holzstufen in den ersten Stock und stand in der Tür ganz offensichtlich Nantwin gegenüber. Es konnte nicht sein, dass dieser unglaublich hübsche Junge jemand anderes war, als der von Bardo als 'kleiner Prinz' bezeichnete Bruder. Sonnenlicht fiel durch die Buntglasfenster im Flur auf den locker in der Tür lehnenden Jungen und verstärkte den märchenhaften Eindruck.

Nantwin zeigte trotz der jungen Jahre schon die Fitness, die er sicherlich vom vielen Tanztraining hatte, das sah man besonders gut, weil er in einer Trainingshose und einem engen T-Shirt steckte. Außerdem hampelte er auf den Zehenspitzen herum. Sein Gesicht war dem von Bardo recht ähnlich, aber feiner gezeichnet, wie modelliert. Die Wangenknochen, das Kinn, die Stirn. Alles perfekt proportioniert. Zudem hatte er eine makellose Haut, keine Sommersprossen, wie sie bei Ansgar und Bardo auf der Nase zu finden waren. Die hellen Lippen und die zarten Augenbrauen sahen wie mit einem Pinsel gemalt aus, die Augen selber waren jedoch misstrauisch verzogen.

Hastig stellte Kai sich mit Namen vor und fragte nach Bardo. Er hatte Glück. Nantwin wirbelte herum und lief durch eine Milchglastür zu einer Holztreppe, um mit lauter Stimme hinaufzubrüllen. "Bar-doooooh, für dihiiiiich!"

Der Hausflur war aufgeteilt. Auf einer Seite kam man zu den Räumen für die Musikgruppen, hinter der Tür war Gesang zu hören, auf der anderen Seite kam man durch die Glastür offenbar zur Wohnung der Fröhlichs. Alles war mit honigfarbenem Massivholz ausgekleidet, die Möbel fügten sich ebenfalls ein. Vor Kai stand ein Schuhregal mit einer verwirrenden Anzahl Schuhen und Hausschuhen darin, die Öko schrien.

Bardos Kopf erschien oben auf der Treppe, im nächsten Moment wurde er schon rot. "Kai?" Hastig lief er die Treppe herunter. Es sah bei seinen langen Beinen ziemlich gefährlich aus. Auch er trug Ökoschlappen an den Füßen. Sein restliches Selbst steckte in den für ihn üblichen schwarzen Jeans und einem T-Shirt mit hässlichen blutigen Schädeln.

Nebeneinander gestellt konnte Kai wirklich verstehen, wie Bardo davon ausgehen konnte, dass er nicht hübsch war. Nantwin stellte ihn komplett in den Schatten. Und wie das Leben so spielte, war Nantwin sicherlich überhaupt nicht schwul. Was für eine Verschwendung.

"Hey... ehm, das ist mein Bruder Nantwin. Winni, hau ab." Ein Stoß mit dem Ellenbogen begleitete diesen Auftrag und der kleine Bruder fügte sich erstaunlicherweise. Allerdings lief er nicht normal davon, sondern drehte sich auf jeder zweiten Treppenstufe um sich selber, sehr zufrieden vor sich hin summend.

Bardo sah ihm seufzend nach. "Beachte Winni nicht, der ist immer so bescheuert."

"Ich hab mich ausgesperrt und bräuchte den Schlüssel."

"Ah, okay. Magst du noch was trinken? Was essen? Ich bin gerade beim Mittagessen gewesen."

"Hm... irgendwie hab ich eben schon das Essen verpasst." Außerdem war Kai noch nicht zum Frühstücken gekommen.

"Dann komm, endlich kann ich mich mal revanchieren. Allerdings gibt es hier keine Cola, dürfen wir nicht."

Das war nicht öko genug, schon klar. Unsicher blickte Kai zu den vielen Hausschuhen. "Soll ich die Stiefel ausziehen?"

"Ja... das wäre gut. Komm dann einfach mit durch in die Küche." Hastig lief Bardo an der Treppe vorbei und verschwand.

Als Kai ihm gefolgt war, betrat er eine typisch für diese Altbauwohnungen riesengroße Wohnküche. Die Familie hatte sich auch hier komplett öko eingerichtet. Die Schränke und Möbel wirkten altmodisch, eine antike Wäschemangel diente als Beistelltisch. Ein Massivholztisch mit farbigen Filzkissen auf einer breiten Bank rundete das Bild ab.

An der Wand waren Fotos und gemalte Bilder von den Kindern zu sehen. An einem Bord neben der Spüle hingen dicke Steingutbecher mit den Vornamen der Familienmitglieder. Bardo schöpfte die Suppe in eine kleine Terrine und Kai besah sich die Fotos. Die Fröhlich-Kinder waren alle nicht unattraktiv. Nantwin schoss natürlich den Vogel ab. Auf einem Bild war er in einem sehr eng geschnittenen Ballettanzug zu sehen, an der Hand ein Mädchen auf Spitzenschuhen. Der Junge würde Herzen brechen in sehr naher Zukunft, wenn ihn die Pubertät in Ruhe passieren ließ.

Bardo erhitzte einen Teller Suppe in der Mikrowelle. "Wenn du dir den Teller mitnimmst, dann bring ich dir dein Wasserglas mit. Ich esse oben, bei mir. Wir versorgen uns in den Ferien immer selber, weil alle so viel vorhaben."

Sich umblickend folgte Kai Bardo über die Treppe und eine Galerie mit Blick in ein geräumiges, mit Musikinstrumenten vollgestopftes Wohnzimmer, in sein Zimmer hoch. Dort war es erstaunlich gemütlich, wenn auch, weniger erstaunlich, noch immer sehr öko eingerichtet. Auch hier Massivholzmöbel, ein Bett mit Bettkasten, aber auch eine Art Sofaecke mit Couchtisch. Musik spielte in Bardos Leben eine zentrale Rolle. Noten stapelten sich neben dem Sofa, im überquellenden Bücherregal waren etliche Bücher über Gesang und weitere Notensammlungen zu finden. Kai entdeckte, dass er nicht einen, sondern zwei Cellokästen rumstehen hatte.

Die Balkontür stand offen und Kai konnte bei einem kleinen Blick hinaus in einen Garten im Hinterhof sehen, der sehr gepflegt wirkte. Auf dem Couchtisch neben einem Teller mit Suppe flimmerte Bardos Laptop und zeigte das Kinoprogramm. "Anna hat mich überredet, mit ihr in so einen Frauenfilm zu gehen. Der läuft Donnerstag an. Ich weiß nicht, ob ich dazu Lust hab, aber andererseits bezahlt ihr Papa alles."

"Die ist nicht so übel, wie es scheint."

"Ja, voll! Wir haben den gleichen Musikgeschmack und so, und sie ist wirklich lustig. Total mutig." Bardo löffelte seinen Teller in Überschallgeschwindigkeit leer und Kai tat es ihm nach. Es schmeckte lecker und er sagte es Bardo auch, aber der winkte ab. "Ortrud hat das gekocht."

Kai blickte sich noch einmal um. Über dem Bett entdeckte er halbnackte Männer auf einem Poster, aber sie schienen zu einer Heavy Metal Band zu gehören. Die üblichen Details, lange Haare, schwarze Klamotten und gemein-entschlossene Gesichtsausdrücke passten gut. Allerdings hielten die Männer jeder ein Cello in der Hand.

Bardo war seinem Blick gefolgt. "Von denen hab ich neulich das Stück gespielt. Ich freu mich schon total auf das Konzert. Ansgar schenkt mir das zum Geburtstag."

"Habt ihr euch vertragen?" Kai trank sein Wasser und bemerkte, dass Bardo ihm Eiswürfel hineingetan hatte. Lächelnd nippte er noch einen Schluck.

"Ja. Ich glaub schon." Bardo seufzte leise. Es klang etwas deprimiert. "Mama und Papa mussten ein wenig mit ihm schimpfen, wie damals als Nantwin in die Ballettschule wollte. Aber jetzt ist er wieder normal und hat mir versprochen, dass wir da zusammen hinfahren werden. Ich darf natürlich nicht... du weißt schon... Männer erwähnen oder Jungs oder... euch." So allmählich pendelte Bardos Stimme sich auf einem tieferen aber nicht unangenehmen Niveau ein.

"Deine Stimme hangelt sich zurecht, nicht?"

Bardo seufzte deprimiert auf. "Ja. Ich werde vielleicht gar beim Tenor hängen bleiben, aber die hohen Töne zu singen... das fehlt mir. Es war so ein kribbeliges Gefühl im Kopf irgendwie."

"Damit kenne ich mich leider nicht so aus. Ich kann nicht singen." Kai blickte auf die Uhr und seufzte noch einmal. Felix hatte ihn echt Zeit gekostet. Er bat Bardo erneut um den Schlüssel und dieser meinte pragmatisch. "Ich komme einfach gleich mit zu euch. Wir müssen ja ohnehin um halb sieben schon wieder zur Oper rüber fahren. Von euch ist das sowieso näher dran und... du willst dich bestimmt noch mal umziehen, oder?"

Kai blickte unglücklich an seinem Schlabberzeug zum Wohnungsputzen runter und berichtete Bardo dann von Felix mit der bescheuerten Therapie-Idee. Wenig drauf musste er von seiner Panik im Dunkeln berichten und gleich darauf dann davon, wie das überhaupt gekommen war. Schockiert starrte Bardo ihn an und fragte erstaunlicherweise sehr logische Dinge nach. Sie waren gerade dabei, sich für den Abflug zu sammeln und die Teller zusammenzustellen, als Merle Fröhlich um die Ecke ins Zimmer blickte. "Bardo, ich habe... oh. Kai, hallo."

Kai erhob sich rasch, um ihr die Hand zu geben. "Ich habe mich ausgesperrt und da ist mir glücklicherweise eingefallen, dass wir Bardo einen Schlüssel von uns gegeben haben."

"Ah. Ja. Das hat er uns erzählt."

"Wir wollten gleich los, Mama." Bardo war ein wenig abweisend geworden.

Merle Fröhlich war natürlich nicht die Sorte Mutter, die sich davon beirren ließ. "Kai, hat er dir die Choraufnahme gezeigt?"

"Mama!"

"Vielleicht kannst du ihn doch überreden. Der Chorleiter hat dir die Aufnahme extra vorbei gebracht. Schau, Schatz, irgendwann musst du dich verabschieden." Bardos Mutter hob eine DVD hoch, die auf dem Regal gelegen hatte. "Was meinst du? Willst du Kai nicht mal den Kirchenauftritt zeigen?"

Unsicher blickte Kai zwischen den beiden hin und her. Aber Bardo nahm ihr die Hülle ab und legte den Kopf schief. Endlich nickte er, aber hob den Kopf wieder und sah sie an. "Allein."

Sie lächelte. "Schon gut. Ich bin noch einmal zur Musikschule rüber. Wenn Halvar kommt, erinnerst du ihn bitte daran, dass er nachher noch seine Zahnspange nachstellen lassen muss?" Und anders als Bardo zuvor schloss sie die Tür, als sie in den Flur zurücktrat.

Kai sah unsicher auf die verschlossene Tür und wünschte sich jetzt eigentlich auf die andere Seite. Auf Gesang hatte er keinerlei Lust. Andererseits war der Verlust der Stimme ja vielleicht die passende Antwort auf seine Motorradgeschichte. Er stieß Bardo mit dem Ellenbogen in die Seite. "Komm, ich hab dir von meinem Überfalltrauma erzählt. Das schaun wir jetzt schnell an und dann fahren wir zur Wohnung."

Bardo ließ sich seufzend an seinem Laptop nieder. Er legte die CD ein und schloss den Laptop mit einem Kabel an seine nicht gerade billig aussehende Musikanlage an. "Das ist eine Aufnahme von der letzten öffentlichen Aufführung. Das war meine letzte richtige Aufnahme bevor die Stimme weg war. Wenn du meinst, lass uns kurz reinhören. Immerhin kannst du dann vielleicht verstehen, warum ich so traurig war."

Kai verschränkte unsicher die Arme. Bardo sah schon wieder so traurig aus. Das war ihm eigentlich zu viel, zugleich waren Musik und er eher weniger eng im Kontakt. Für ihn war Musik immer ein Hintergrundgedüdel gewesen, nicht so ein Lebensmittelpunkt, wie es in der Fröhlich Familie der Fall war. Er bezweifelte stark, dass er den Verlust würde beurteilen können. "Sei doch froh, dass deine Stimme jetzt tiefer ist. So passt sie viel besser zu dir", versetzte er. "Zeig schon her."

Das Video war nicht schlecht. Gute Qualität und gar nicht verwackelt. Der Chor war komplett in dunkle Anzüge gekleidet. Bardo erklärte dies gleich mit leiser Stimme. "Das war der Kirchengeburtstag. Der Chor gehört historisch gesehen noch immer zur Kirche dazu, wir singen auch oft noch auf Messen. Die Aufnahme hat ein Fernsehsender gemacht. Das war schon aufregend. Das war jetzt im Februar. Ich hatte vorher schon wochenlang Alpträume, dass meine Stimme genau an dem Tag versagen könnte."

Kai stand eigentlich nicht auf klassische Musik. Sie war angenehm, wenn sie im Hintergrund lief, aber sonst strengte sie ihn immer eher an, als dass er sie mochte. Doch offenbar war es etwas anderes, wenn man jemanden kannte, der die Musik machte. Bardo war zudem nicht irgendwo im Chor versteckt. Er stand vor den anderen direkt vor dem Orchester. Erstaunlich, dass dieser scheue Junge mit derart viel Selbstbewusstsein auftreten konnte. Der Schwenk durch die Kirche zeigte diese voll besetzt.

Das erste Lied war klerikal und gefiel Kai nicht sonderlich, zudem sang der Chor gemeinsam, irgendwie zu mächtig und kaum zu verstehen. Doch beim zweiten Lied sangen die Solisten, drei Jungs, strophenweise allein oder auch einmal nur zu dritt. Und auch ohne dass Kai ihn gekannt hätte, hätte er Bardos Stimme eindeutig für die schönste gehalten. Und sie war verdammt hell. Beim Sprechen hätte er das nicht gedacht. Mit einem Mal fiel ihm etwas auf, als die Kamera die Gesichter abfuhr. "Hey, das sind alles Jungs?"

"Hm." Bardo stoppte das Video. Er zog ein Bein an und stützte das Kinn auf sein Knie. "Ich bin in dem Knabenchor der Kirche gewesen. Deswegen bin ich ja auch raus dort. Jetzt muss ich zu den Männern zum Proben. Es heißt immer, dass die Stimmen reiner sind als Mädchenstimmen. Seit ich vier Jahre alt war, hab ich bei meiner Mutter im Kinderchor der Oper gesungen. Mit sechs hab ich im Knabenchor angefangen, seit ich sieben bin, war ich Solist. Bis zum Stimmbruch war ich der beste Solist, ein hohes C war kein Problem für mich. Naja, meistens nicht. Ganz früher hat man Jungs kastriert, um ihre Stimmen so hell zu halten. Also im Grunde bin ich schon froh, dass mir das nicht so geht. Die meisten erwischt der Wechsel früher, mit elf oder zwölf wie Nantwin. Ich bin ja fast fünfzehn und hatte mehr Zeit zum Proben und war schon größer, hatte mehr Lungenvolumen, mehr Kraft auf der Stimme. Das war das Ungewöhnliche bei mir. Das nächste Stück ist etwas kitschig... willste das echt auch noch sehen?"

"Was? Klar. Ich bin schwul, immer her mit dem Kitsch!"

Bardo startete den Film erneut. Diesmal war nur er zu sehen und sang auch fast ganz allein. "Bach, Air... oder Aria, eigentlich für Geige gedacht. Meine Mutter musste immer heulen, wenn ich das geübt hab." Er lachte leise.

Kai konnte nicht mehr antworten, weil er damit befasst war, sich darauf zu konzentrieren, nicht den Mund offen stehen zu lassen. Er war nicht in der Lage, einen sinnigen Kommentar zu machen, bis das Stück aus war. Es war unglaublich, dass ausgerechnet das linkische Bambi so etwas konnte, einfach so, es sah leicht aus. Und hätte er das Video nicht gehabt, er hätte es vermutlich nicht geglaubt. Endlich seufzte er. "Ich kann doch verstehen, dass du der Stimme nachgetrauert hast. Irgendwie kaum zu fassen, dass Menschen so singen können. Übst du viel?"

"Drei Abende in der Woche bin ich zur Probe. Zweimal im Knabenchor, einmal im Opernchor. Dazu kommen ja noch Cello und Klavier. Ich bin extra auf einer Schule mit Musikschwerpunkt deswegen." Bardo stand auf und klaubte aus seiner Schreibtischschublade eine CD heraus. "Hier, schenk ich dir. Kannst du deiner Oma weiterschenken. Das ist eine Aufnahme von Liedern, die wir als Familie mal bei Ansgar gemacht haben... vor eineinhalb Jahren war das. Air ist auch drauf. Ist alles total kitschig."

Kai hatte die CD gerade entgegengenommen, als auf dem Balkon noch so ein kastanienfarbener Schopf auftauchte. Der Junge war zum Glück keineswegs so hübsch wie Nantwin und trug seine Haare viel zu lang und wuschelig um den Kopf. Er grinste Bardo und Kai an, dann verkündete er "Bardo hat 'nen Freu-heund!"

Bardo wurde rot und verschränkte die Arme. "Hau bloß ab! Ich bin noch sauer auf dich!"

Halvar... Und er machte seinem Ruf auch sogleich Ehre und ging Kai mächtig auf den Geist. Er wiederholte seine Feststellung wie einen Singsang und fügte dem nach ein paar Runden, vielleicht auch weil er keine zufriedenstellende Reaktion hervorgebracht hatte, ein "Knutschen, Knuuutschen! Knuuhuuhuuhuuuutschen!" hinzu.

Wütend knallte Bardo die Balkontür zu und zog den Vorhang vor. "Blöder Idiot."

Kai grinste. Kleine Brüder waren ganz offensichtlich die Pest. Die Stimme kam noch immer durch die Balkontür durch. "Kein Wunder", meinte er und stand auf. "Dass du zu uns geflüchtet bist, meine ich." Er zog den Vorhang wieder auf und sah Halvar in das freche Gesicht, da dieser noch vor dem Fenster förmlich klebte. Von dem Rotzlöffel und seinem Einfluss auf sein eigenes Leben gereizt, öffnete er die Balkontür. "Geh und lass deine Zahnspange nachstellen!"

"Oho... Knutschheeeeheeen."

"So? Willst du? Dann komm her!" Kai machte einen Schritt auf Halvar zu, der miepte erschrocken und raste über den Balkon davon.

Bardo lachte und blickte seinem Bruder hinterher. "Feigling!"

Halvar war jedoch aus anderem Holz. Er bremste ab. "Selber! Selber!"

Kai sah zwischen den Brüdern hin und her. "Na, wenn du zu feige bist. Bitte!" Gereizt schnappte er Bardo um die Schulter, zog seinen Kopf mit einer Hand dichter und knutschte ihn auf die Wange. Mit schmalen Augen blickte er zu Halvar, der mit offenem Mund zu ihnen starrte. "Schieb ab, du Kröte, wir haben zu tun." Komischerweise düste Halvar um die Ecke davon.

Kai drehte sich zur Tür. "Bin ich froh, dass ich ein Einzelkind bin. Also, wollen wir los? Weiß deine Mutter, wohin du unterwegs bist?"

"Hm." Bardo blickte seinem Bruder noch immer rot im Gesicht hinterher, dann starrte er Kai an. "Ich... äh, ich zieh mich eben schnell noch um."

Das war durchaus ein Vorhaben, das Kai begrüßte. Er ging vorweg. Auf der Galerie zum Wohnzimmer blieb er stehen und blickte verwirrt hinunter. Halvar, die oberfreche Mistkröte, hockte unten auf einem Klavierhocker vor einem schwarzen, etwas angeschlagenen Flügel und spielte ein nicht gerade einfach klingendes Stück. Die kräftigen Finger, samt dreckiger Fingernägel, glitten scheinbar mühelos über die Tasten. Konzentriert starrte der Junge auf die Noten vor sich und unterbrach sich hin und wieder, um neu anzusetzen, wenn er nicht perfekt genug war.

Bardo trat neben Kai. "Wird aber auch mal Zeit, dass Halvar das Stück hinbekommt. Meine Güte."

"Gott, spielt ihr alle irgendwas?"

"Natürlich. Wir machen alle Musik auf die eine oder andere Art. Halvar spielt Klavier und Querflöte." Er war jetzt obenrum mit einem dunkelgrünen Pullover bekleidet, der ihm sehr gut stand. Die schwarzen Jeans hatte er jedoch anbehalten. Also war es in der Oper nicht so edel mit Vorführklamotten?

Sie gingen zum Schuhe anziehen in den Flur, nachdem Kai noch einmal sichergestellt hatte, dass Bardo auch den Schlüssel dabei hatte. Der kleine Prinz war auch im Flur. Er war in einen dicken Trainingsanzug versteckt damit beschäftigt, eine große Sporttasche zu packen. Kritisch beäugte er Ballettschlappen und warf sie dann eher achtlos in die Tasche. Er musterte Kai nicht unbedingt mit freundlichen Blicken, aber Bardo gegenüber war er ziemlich respektvoll. "Bardo, ich leihe mir dein Fleece aus, ist das okay?"

"Ist dir das nicht zwei Nummern zu groß, Winni?"

"Nö. Bin gestern gewachsen. Schau!" Nantwin zog sich die Jacke über und zeigte an der Ärmellänge, dass er nur einmal umkrempeln musste. Sie lachten und kloppten sich im Flur um die Jacke, bis Bardo seinen Bruder mit der Beute davon ziehen ließ. Neidisch fragte Kai sich, was passiert wäre, wenn er einen Bruder oder eine Schwester gehabt hätte. Ob ihm Pascal dann weniger gefehlt hätte, als dieser sich nach ihrer Pleite nach dem ersten Kuss so zurückgezogen hatte? Und die Gedanken an Pascal schufen das alte Bauchwehgefühl, sodass Kai schweigsam mit Bardo im Schlepp zu der Wohnung fuhr.

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