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Trost 2
Kapitel 111-113
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Informationen
Inhaltsverzeichnis
111
Es war gut gewesen, dass Kai sich über Ostern so durch und durch erholt hatte. Die nächste Woche war nicht ohne. Täglich kamen neue Herausforderungen auf ihn zu. Am Montag begann die Sache schon sehr anstrengend mit einer Unterhaltung über Intimsphäre. Mit Leon. Bei Leon.
Dazu fuhr Kai mit Wohlfühlklamotten bewaffnet eine Stunde früher in das LPP und stellte sich seinem überheblichen und schweinisch gut gekleideten Chef. Er war allerdings so schlau, dass er Leon in seinem Büro zu sich auf das Designsofa bestellte, so dass sie sich nicht an dem Schreibtisch gegenüber sitzen mussten und Leon wohlmöglich währenddessen noch auf seinen Computerbildschirm blickte.
Leon begann die Unterhaltung. Er ließ sich neben Kai nieder und reichte ihm ein teures Wasser aus seinem Kühlschrank. "Du hast es Felix gepetzt."
Kai trank einen Schluck und sah ihn missmutig an. "Du hast es Jan gepetzt."
"Felix hat meine Beweggründe in Ruhe angehört und mich verstanden." Leon lächelte und zupfte seine Manschetten gerade. Er trug ein braunes Hemd, das seinen Augen den stechenden Ausdruck nahm und sie zugleich vorteilhaft betonte.
"Jan hat mich ausgelacht und gesagt, dass er sein Geld auf mich wettet in diesem... Kampf." Frustriert senkte Kai den Kopf. "Dein Freund ist irgendwie netter zu dir."
Leon lehnte sich dichter. "Nein. Ganz und gar nicht. Genau das mag ich ja so." Der Blick, der diese Bemerkung begleitete, war irgendwie zu direkt auf Kais Gesicht gerichtet.
Kai spürte, dass er begann, über die möglichen Bedeutungen dieses Satzes nachzudenken. Er spürte es daran, dass er rot wurde. Hastig wechselte er die Tonart. "Ich möchte hier gern länger arbeiten, aber wenn du so weiter machst, muss ich mir eine andere Bar suchen."
Sofort hob Leon seine Hände, als wollte er sich ergeben. "Ich entschuldige mich und werde dich in Ruhe lassen. Aber... ein Bild nur?"
"Was für eins?"
"Das steht leider nicht zur Diskussion. Ich will Bennis Idee umgesetzt haben, anders gefällt mir das nicht."
"Zeig her den Scheiß!" Oh Gott, das würde er so sehr bereuen. Auf seiner Reueskala gab es dafür sicherlich schon keine Einzeichnungen mehr.
Leon stand auf und brachte einen Ausdruck mit. Es waren Zeichnungen darauf zu sehen. Die Buchstaben LPP in verschiedenen Formen und mit verschiedener Betonung. "Meine Vorgabe lautete: Die drei Buchstaben LPP müssen drauf sein, es muss glatt und stylisch aussehen und sexy. Der letzte Vorschlag war aus Benjamins Sicht eher eine Art Scherz, er konnte nicht ahnen, dass ich das am passendsten finde." Leon reichte Kai die Skizze. Die Buchstaben waren groß, nahmen die ganze Seite ein. Sie waren zudem durchsichtig, mit einer sprudelnden Flüssigkeit gefüllt. Menschen umgaben die Buchstaben, in der Regel mehr oder weniger unbekleidet. In einem P stand eine nackte Figur von hinten zu sehen. "Lena also hier?"
"Genau. Das war meine Idee dazu, Benjamin fand den Gedanken sehr gut. Und du wärst hier. Es ist natürlich Fotomontage oder wie er das hinbekommen will."
Das L lag umgekippt und auf der langen Rückfläche des Ls lag ausgestreckt, seitlich zu sehen eine Figur. "Man würde kaum was erkennen, nicht? Aber es wäre schon besser, wenn du nackt wärst auf dem Bild, sonst stören Klamotten den schlanken, puristischen Look der Sache. Schöne Idee, oder?"
"Das kannste doch echt mit jedem machen, Leon. Kannst du bitte, bitte von mir abrücken, und mich in Ruhe lassen?"
"Benjamin hat mich erst auf dich gebracht. Er hat dazu geschrieben. 'Die letzte Idee ist schwer umzusetzen, aber ich wollte sie Ihnen nicht vorenthalten. Sie ist mir in den Kopf gekommen, nachdem ich Kai hinter dem Tresen hab stehen sehen.' Und ich konnte dich sofort in diesem Bild sehen. Dich und Lena. Es wäre perfekt!"
Kai ballte eine Hand zur Faust. "Benni ist sowas von fällig. Ich bring ihn um! Das schwöre ich!"
Leon lachte auf. "Er hat sich mittlerweile, weil du so abgeneigt warst, ein blondes Model besorgt. Henri natürlich, kennst du Den? Er ist ziemlich schön anzusehen, das geb‘ sogar ich zu. Ausziehen ist für Henri kein Problem, erst recht nicht für Geld, aber er ist ... gewöhnungsbedürftig."
"Dann bin ich raus aus der Nummer?" Dieser Henri war Kai egal.
"Es ist schade, aber ja."
"Dein Glück. Ich wollte dich gerade noch eine Runde erpressen."
"Oh?" Leon schien die Idee sehr amüsant und angenehm zu finden. Er erhob sich und blickte Kai gespannt an.
"Ja." Kai stand auch auf. "Anna weiß nichts von deiner Erkrankung, nicht?" Er schraubte die Wasserflasche zu. "Da sie total auf Bardo steht und mit ihm rumknutschen will, ist die sicherlich bald mal wieder da." Er ging zur Tür. "Ich geh dann mal arbeiten."
Leon blickte ihn mit einem kleinen Lächeln an. "Ich fahre dich nach Hause." Es klang merkwürdig respektvoll.
Und nach dieser Unterhaltung kehrten sie zu ihrem alten Verhältnis, überheblicher Chef und pissige Barmaus, zurück. Oder fast. Leon machte seine Ankündigung, dass er Kai hier und da ein wenig anflirten wollte, wahr. Es war ein Spiel, das wusste Kai sofort. Eines, das überhaupt nichts bedeutete, und eines, das zugleich wirklich hinhaute. Die Atmosphäre wurde hitzig, sobald Leon sich neben ihn an den Tresen lehnte.
Kais Art, ihm zu lang in die Augen zu sehen, weil es ihm nichts ausmachte, schuf offensichtlich genau die Art Stimmung, die Leon haben wollte. Er holte sich jedenfalls sein Teewasser und das Essen an diesem Abend selbst von vorn und nutzte die Gelegenheit, Kai bei der Arbeit im Weg zu stehen, ihn zu lang anzusehen und ihn unnötig zu berühren. Doch mehr tat Leon nicht und das Thema Bilder war vom Tisch. Kai war das sehr recht. Die Unterhaltung auf der Rückfahrt drehte sich um das Verschwinden aller roter T-Shirts, was Kai begrüßte, wenn auch die anderen Kellner das merkwürdig fanden, und die Mieter rechts unten, die noch immer gelegentlich Beschwerden gegen Leons Nachtaktivität einreichten.
Henrike hatte zwar mitbekommen, dass etwas gewesen war, aber Kai konnte ihr die Sache als Nachbarschaftsstreit verkaufen und hatte seine Ruhe. Sie war ohnehin aufgeregt und nicht bei der Sache, weil sie für den nächsten Samstag ein tolles Date vor sich hatte. Kai dachte an sein Date mit Lena, Benni und der scheiß Kamera von dem und freute sich gar nicht. Aber er hatte Benni gesagt, dass er kommen würde und Lena hatte ihm schon eine Nachricht geschickt, dass er sie wegen der Foto-Geschichte noch einmal anrufen sollte. Es sah ganz so aus, als säße er in dem Foto-Date fest. Am schlimmsten war, dass Jan bereits auf eine Saunarunde verabredet war und vorher ein Spiel hatte. Somit fehlte ihm sicherlich die Zeit für Kai. Vor allen Dingen, um sich das Gejammer vorher anzuhören, oder, um ihn hinterher zu retten.
Am Dienstag wurde Kais Leben eigentlich nur etwas anstrengend. Es war der Sporttag der Woche. Er wurde von einer sehr energischen Tini abgeholt und dann von einer energischen Melanie zum Glück ignoriert. Wieder lief laute Musik, der Zirkel aus Geräten und Übungen mit Bällen, Bändern und ähnlichem war wieder gut ausgewogen aufgebaut und wurde an diesem Tag kaum genutzt. Die meisten schienen noch in den Ferien zu sein.
Deswegen starrten sich die wenigen Anwesenden auch gegenseitig an. So empfand Kai es zumindest. Da konnte er nicht abschlaffen, sondern musste das Programm so gut es ging durchziehen. Er war dementsprechend schon etwas verschwitzt und genervt, als Jan mit dem Fußballteam in die Halle getrampelt kam.
Es waren Ferien und die Atmosphäre war ein wenig anders, das merkte man allein daran, dass jemand vom Fußballteam als Erstes die Musik änderte. Indie-Rock ballerte Kai nervig um die Ohren. Als nächstes kam Jan zu ihm und nervte ihn noch mehr mit fiesen Übungen für den oberen Rücken und den Schultergürtel. Die Begründung war irgendetwas mit Haltungsfehlern, was Kai beleidigt versuchte, aus seinem Hirn zu löschen.
Als nächstes entstand ein unglaublich peinlicher Streit zwischen Tini und Jan, ob Kai auf Jan warten sollte oder mit ihr schon nach Hause fahren konnte. Kai, ohnehin gereizt und von dem Hick-Hack genervt, ließ sie beide stehen. Er schnauzte Jan an, dass er sehr wohl mit Tini fahren konnte und stapfte raus. Tini hingegen hängte er einfach ab, als die ihre Tasche holen ging. Hastig schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr ganz allein nach Hause. Ohne einem Motorrad zu begegnen und folglich ohne umzufallen.
Doch daheim lief er postwendend Felix in die Arme und damit dann auch seiner nächsten Überraschungssitzung in Sachen Motorradabhärtung. Kai war gerade dabei, sein Fahrrad abzuschließen, als von hinten ein Schal um seine Augen gelegt und festgezogen wurde. Als er wild um sich schlug, hielt Felix ihn fest und sprach summend an sein Ohr. "Ganz ruhig, Püppi. Ich bin‘s nur, dein Therapeut."
"Du Arsch! Du hast mich gerade zu Tode erschreckt, Felix! Lass mich endlich..."
"Komm mit."
"Ich kann nix sehen."
"Darum geht es. Komm, lass dich führen. Heute machen wir eine andere Übung." Felix verknotete den Schal noch fester und meckerte, als Kai ihn von den Augen reißen wollte: "Du willst geheilt werden, mach mit, oder du musst dir doch für viel Geld wen kaufen, der dir von kindlichem Trauma was vor labert, okay?"
Kai ergab sich in sein Schicksal. Er gab es vor sich und der Abteilung für Abartigkeiten zu. Er machte nur mit, weil er von der Abhängigkeit, die diese Störung ihm brachte, von Leon, von Jan, von Tini sogar, total genervt war. Er wollte Motorräder ansehen können, hören können und nur laut finden und doof, aber nicht mehr ängstigend.
Ihr Weg führte sie eine Treppe hinunter, Kai nahm an, dass es in die Garage ging und behielt Recht. Der kalte chemische Geruch nach Benzin und abgestandenem Wasser, weil es die Tage so viel geregnet hatte, war eindeutig.
Felix führte ihn einige Schritte hinein, dann ließ er ihn los. "So. Dein Job ist es, ganz ruhig stehen zu bleiben. Genau hier. Ich möchte..." Felix' Stimme kam von der Seite, Kai konnte hören, wie er um ihn herum ging. "… ich möchte, dass du mir vertraust. Soweit, dass du einfach mit zugebundenen Augen stehen bleibst. Ich bin gleich ein paar Schritte weiter weg, aber ich werde nicht ganz weggehen."
Felix' Stimme hatte sich entfernt und Kai wurde komisch. Die Situation machte ihm Angst. Unsicher drehte er den Kopf, dann hob er die Hände an den Schal, um ihn von seinen Augen zu ziehen. "Felix, ich hab keinen Bock, hier mit..." Ein Motorrad wurde angelassen. Sehr dicht neben ihm. Er bekam Panik und fummelte hastig an dem Knoten. Das Geräusch wurde lauter und kam zu ihm, Kai wusste, dass er hyperventilierte, dass er gleich umkippen würde, aber er konnte nicht damit aufhören. Er spürte, dass ihm schon wieder komisch wurde, ein Sausen auf den Ohren begann, seine Finger wurden kraftlos.
Er bekam Angst, dass er umkippen würde, als das Geräusch auch schon wieder fort war und Felix ihn ansprach. Leider hielt er auch seine Hände fest. "Na, das war nicht so berühmt. Dann sehen wir uns die Sache mal bei Licht an." Der Schal wurde weggenommen und Kais Blick fiel verschwommen und gegen das grelle Licht erst einmal mit zusammengekniffenen Augen auf Felix und sein großes schwarzes Motorrad.
Das Motorrad röhrte auf und Kai starrte die Maschine an. Es tat sich nichts. Er war sauer auf Felix, aber er hatte keine Angst.
Felix schien es genau so erwartet zu haben. "Es ist also die Dunkelheit."
Kai starrte das Motorrad an und nickte endlich. Es war so. Bei Licht, vor allen Dingen in so reichlich Licht wie hier in der Garage, machte ihm das Geräusch nicht viel aus. Es nervte ihn, aber die nackte Angst war weg.
Felix ließ von seiner Maschine ab und das Geräusch erstarb, es stank in der Garage nach Abgasen, aber ansonsten fühlte Kai sich wieder etwas wohler. Er seufzte leise und Felix erklärte es ihm. "Das ist ein Kontrollproblem. Du hast Angst vor dem Verlust der Kontrolle über dich, über die Situation. Ganz so, wie es damals bei dem Überfall war. Du hattest keine Kontrolle über den Angriff, über deine Lage. Ein Problem mit dem Gefühl der Ohnmacht. Bestimmte Dinge lösen deine Angst wieder aus. Das Geräusch von Motorrädern. Dunkelheit vor allen Dingen auch. Du hast in der Dunkelheit Angst, weil du dich nicht auf deine Sinne berufen kannst und die Urangst dann deine Reaktion diktiert. Wir machen jetzt Übungen, um dir diese Kontrolle zurück zu geben, klar soweit?"
Jan kam die Treppe runter. "Kai?! Gott, ich hab dich gesucht! Ich hab mir vielleicht Sorgen gemacht!"
Kai verschränkte die Arme. "Ich arbeite an meinem Kontrollproblem, was dagegen?" recycelte er rigoros die Wortwahl von Felix, der zufrieden feixte.
Jan war beeindruckt. Er kam sofort zu ihnen gelaufen und rief "Super Idee! Finde ich ja toll, dass du das so energisch angehst, Kai!"
Felix freute sich ebenso wie Jan. "Gut, dass du da bist. Einen Helfer könnte ich brauchen." Im Folgenden erklärte Felix Jan mit ruhiger Stimme und einer Unmenge an unverständlichen Ausdrücken, was er mit Kai vorhatte. Interessiert fragte Jan das eine oder andere nach.
Dann wurde Kai wieder zu ihnen gezerrt und ihm wurden erneut die Augen verbunden. Jan bot sogar an, die Sicherung für die Garagenlichter raus zu nehmen und Felix war dafür. "Geile Idee! Nächstes Mal machen wir das. Jetzt ist der Schal völlig ausreichend." Felix knotete den wieder richtig fest, dann fragte er Jan "Kannst du Motorrad fahren?"
"Hm. Hab den Führerschein mitgemacht." Es war nervig, wie einig die beiden sich waren und noch nerviger war es, dass sie Kai gar nicht mehr in ihre Unterhaltung mit einbezogen. Schritte hallten davon.
Felix berührte Kai am Arm und rief unangenehm laut in sein Ohr. "Dann wirf meine Mieze mal an und lass den Motor laufen. Keine Sorge, Kai, ich bleibe bei dir."
Kai machte sich aber Sorgen und kein geringer Teil davon rührte daher, dass Felix so dicht bei ihm stand. Er konnte die Ausstrahlung des anderen Mannes nicht sonderlich ab. Und Felix fasste ihn im nächsten Moment auch noch an. Noch war es still, also war Jan noch nicht mit dem Motorrad zu Gange. Felix legte jedoch seine Hand auf Kais Bauch, gleich wo die Rippen sich trafen. "Hör auf, dich so weg zu winden! Halt etwas still. Du fühlst meine Hand, richtig? Leg deine eigene Hand genau dort hin. Jetzt atme in die Hand, stell dir vor, wie der Atem bis an die Hand streicht und lass ihn wieder gehen." Felix legte seine Hand über Kais und presste ihn gegen sich zurück. "Konzentrier dich!"
Kai wollte ihn gerade anfauchen, dass er sich gefälligst mit etwas mehr Abstand begnügen sollte, als das Motorrad aufjaulte. Er erstarrte und schaltete sofort auf Panik und Flucht und begann an dem Schal zu zerren und hysterisch zu schnell zu atmen, alles wie zuvor. Felix trat von ihm zurück und es wurde still.
Enttäuscht biss Kai sich auf die Unterlippe. Er war durch den Test durchgefallen, oder? Doch er hörte im Hintergrund Stimmen murmeln, im nächsten Moment wurde er erneut fest umarmt. Felix sagte direkt an sein Ohr "Noch einmal. Diesmal konzentrierst du dich erst auf die Atmung und bist später pissig auf mich. Leg die Hand noch einmal dort hin. Lass dich festhalten, das gehört dazu. Atmen. Besser so?"
Kai lauschte auf sich, auf seinen Körper und fühlte sich dieses Mal wohler. Er nickte leicht, der Schal wurde noch einmal fester gezogen, dann sagte Felix "Dann machen wir es jetzt noch einmal. Atme in deine hohle Hand, stell dir vor, wie die Luft bis an die Hand fließt und wieder hinaus. Noch einmal, mach so weiter."
Kai wurde noch immer fest umarmt, aber er fühlte sich nicht mehr von einem unruhigen Körper bedrängt, sondern in Sicherheit. Er atmete so, wie Felix es ihm gesagt hatte und im nächsten Moment heulte der Motor auf. Er atmete stur weiter. Die Umarmung festigte sich eine Idee mehr, aber er kniff die Augen zusammen und atmete weiter, obwohl das Geräusch sogar auf ihn zu kam. Er hörte nicht mehr auf, bis wieder Stille herrschte.
Felix sprach ihn gleich darauf an, während er an dem Schal fummelte. "Wie war das?"
"Besser."
"Interessant. Mit dir fühlt er sich sicher."
Im nächsten Moment sagte Jan direkt an sein Ohr. "Bei mir ist er sicher."
Kai erstarrte erst, dann lehnte er sich sogar noch eine Spur enger an Jan heran. Es war wahr. Er fühlte sich wohl mit der Nähe und er fühlte sich nicht verarscht oder bedrängt wie bei Felix. Dessen Stimme zerschnitt seine Freude über den gelungenen Versuch. "Wir machen das jetzt noch einmal, aber du musst dieses Mal allein zurechtkommen. Atmen nicht vergessen. Jan, drei Schritte zurück."
Jan drückte ihn einmal kurz, dann ließ er ihn los und die Sicherheit verschwand. Kai spannte sich sofort an.
Felix rief zu ihm rüber "Jan steht nur drei Schritte hinter dir, stell dir vor, wo er ist, wie er dich jederzeit erreichen kann. Finger weg vom Schal! Atmen nicht vergessen." Im nächsten Moment röhrte das Motorrad wieder los.
Kai verfiel umgehend in Panik. Eben noch hatte er das mit dem Atmen raus gehabt, von jetzt auf hier wurde jeder Gedanke in einen Fluchtreflex umgewandelt. Mit zitternden Fingern kämpfte er dagegen an. Er begann, zu schnell zu atmen, ihm wurde schwindelig. Seine Knie gaben schon wieder nach. Im nächsten Moment wurde er von Jan umarmt. Die Sicherheit kam zurück, Kai fühlte sich mit einem Mal von dem Motorgeräusch nicht mehr bedrängt. Er atmete auf. Er schaffte es, sich auf die Atmung zu konzentrieren und wurde wieder ruhiger. Das Motorradgeräusch erstarb.
"Das ging schon viel besser! Wir machen Schluss für heute." Das war auch gut so. Kai war komplett verschwitzt und fertig. Mit zitternden Fingern fummelte er den Schal von seinen Augen fort und blinzelte in das grelle Licht. Felix trat zu ihnen und nahm Kai den Schal ab, um ihn sich locker um die Schultern zu legen.
Kai blickte Jan unsicher an. "Tut... tut mir leid, dass ich so doof bin."
Jan hob eine Augenbraue, dann lächelte er. "Ganz und gar nicht. Wir bekommen das hin. Ich bin mir sicher."
Felix grinste und blickte von einem zum anderen. Mit ausgebreiteten Armen verkündete er "Hiermit seid ihr Gestörter und Therapeut! Sie dürfen ihren Psycho jetzt küssen."
Er bekam von Jan und Kai zugleich den Mittelfinger gezeigt und musste derart lachen, dass er einen kleinen Hustenanfall bekam. Jan schob seine Finger in Kais verschwitzte Hand: "Wir gehen duschen, für heute langt es."
Kai war dermaßen erledigt, dass der Gedanke an Sex seine peripheren Nervenbahnen nicht für eine nähere Betrachtung verlassen wollte. Er pennte außerdem nach einer Dusche mit Jan ein, bevor er überhaupt über ein Abendbrot hatte nachdenken können.
Als Kai am Mittwoch blinzelnd erwachte und sich an den Beginn der Uni erinnerte, der ihn dazu zwang, sich aus der Wärme zu quälen, tat ihm alles weh. Die Arme und Beine, der Po, überall Muskelkater vom zu heftigen Rumhoppeln auf den verdammten Geräten. Der ganze Rücken schmerzte von Jans verdammten Übungen und seine Finger und Schultern taten ihm weh, weil er sich bei Felix Schockgeschichte total verspannt hatte.
Und Jan trug nicht zu seiner Entspannung bei. Er begrüßte Kai mit den Worten: "Wir haben ja heute Nachmittag keinen Kurs mehr. Das passt gut. Mein Vater kommt und geht mit uns essen. Er bringt mir den Wagen von meiner Mutter runter und nimmt Hannahs Düse wieder mit."
Lasse würde vorbeikommen. Kai mochte den Mann, aber er hatte zugleich auch Angst vor ihm. Unsicher stand er später vor dem Kleiderschrank und konnte sich nicht zu der einen oder anderen Kombination Klamotten durchringen.
Sie brachten den letzten Termin mit Scheinvergabe hinter sich, dann fuhr Kai mit Tini auf dem Rad nach Hause, aber schasste sie vor der Tür mit der Ankündigung, dass er putze müsse. Jan musste länger in der Uni bleiben, um eine Nachprüfung zu überstehen und so war Kai allein im Haus, als Bardo bei ihnen herein schneite. Er stakte, nachdem er einmal geklingelt hatte, samt schwarzer enger Jeans und Grusel-T-Shirt, seinem Cello und dem Wohnungsschlüssel am Lederband um seinen Hals herein. Kai war gerade damit befasst, nach einem Mittagessen die Wohnung zu putzen, um sich nicht schämen zu müssen. Bardo machte erst dem Rest Nudeln von Kai den Garaus, dann half er ihm beim Staubsaugen und trocknete in der Küche die Töpfe vom Mittagessen ab.
Das Bambi kam dann endlich, als Kai einen Kaffee und Teewasser aufsetzte, zu dem Grund für seinen Besuch. Er hatte eine schulische Frage.
"Ich soll ein Referat in Bio halten. Über die Funktion der Lunge. Kann ich mir was aus einem Lehrbuch von dir rausschreiben, Kai?" Treu blinkerte er ihn an.
Kai brachte Bardo das Anatomiebuch, das Physiologiebuch und Jans kleines Biochemiebuch an den Esstisch und ließ sich bei ihm nieder. "Aber so genau muss das doch nicht, oder?"
Bardo klappte seufzend seinen Laptop auf. "Doch. Wir haben so ein paar Megastreber, die haben in der letzten Woche vor den Ferien das Referat zur Leber gehalten. Schau dir das mal an." Gemeinsam beugten sie sich über den Bildschirm, über den eine verdächtig professionelle Präsentation flimmerte.
"Bambi, das ist alles geklaut!"
"Und? Kann ich doch nix für. Jetzt ist das der Standard und ich muss mich daran halten, oder? Ich bin als erster gleich nach den Ferien."
"Wenn du so etwas selber hinbekommst, dann bist du sau gut. Gibt es Noten?"
"Hm. Nee, aber es geht in die schriftliche Note als Gewichtung ein, oder sowas in der Art." Unglücklich kaute Bardo auf seinem Lederband.
Kai hakte einen Finger in das Band und zupfte es ihm aus dem Mund. "Das ist ekelig, nicht rumsabbern, bitte. Du bist doch kein zahnendes Kleinkind mehr, oder doch?!"
Bardo lachte auf und sie sahen sich gerade in die Augen, als Jan mit seinem Vater in die Wohnung kam. Die beiden starrten Kai und das Bambi an und Lasses Augenbrauen wanderten eine Spur nach oben. Kai spürte, wie er rot wurde, hastig ließ er das Lederband los und stand auf. Unsicher blickte er Jan in die Augen und flehte ihn stumm an, etwas zu tun, ihn zu retten.
Jan grinste und winkte: "Na, Bambi? Alles klar?"
Kai hätte Jan erdolchen können. Scheiße! Hätten sie mal was gesagt! Jetzt mussten sie Bardos Anwesenheit erklären. Nervös reichte er Lasse die Hand.
Lasse blickte auch gleich ihr Bambi genauer an, konnte als Kinderarzt sicherlich das Alter gut schätzen, seine Augenbrauen wanderten erneut nach oben, dann wandte er sich an Jan.
"Und wen haben wir hier? Aus deinem Fußballverein?"
Jan stellte Bardo vor und legte Kuchen auf den Tisch. "Wir trinken erst noch Kaffee, ja?"
Lasse zog sich den blauen Pullover über den Kopf und legte ihn auf einen der hohen Stühle an der Bar. Er lehnte sich zu Jan hin und begann Kauderwelsch zu reden. Es ging um Bardo, das war sicher.
Jan schüttelte den Kopf. "Nee, dat Jung lassen wi hier slapen af un an."
"He es een Naver?"
"Nee."
"Keen Student."
"He es fofftein, oh nee, veertein."
"Oh Jan. Dat is een fein tass tee, dat du... he es veertein? Het ji versökt un het snack tofödders met de Ollern, het ji?"
"Ja, dat weer sogor so, dat we förste sach fragt het. De het nix gegen."
"Kieken wer moal. Jan, dat is typisch for di."
Bardo blinzelte verwirrt. "Ich... versteh kein Wort."
Kai seufzte einmal und flüsterte Bardo zu "Gewöhn dich dran, die reden immer so komisch."
Bardo nickte beeindruckt, dann schlug er die Bücher auf und begann, sich Notizen zu machen und Kai schaffte es, Lasse Bardos Besuchsausrede mit dem Referat zu verkaufen.
Jan bekam noch einen kleinen plattdeutschen Vortrag, vielleicht ging es auch nur um irgendwelche Nachbarn oder Grüße von der Mutter. Dann war Kai an der Reihe. Lasse fragte ihn, nervend gelassen, über die Uni aus. Die letzten abgeschlossenen Kurse, der nächste Kurs, wie Kai sich das mit dem Physikum vorstellte, ob er schon Interesse an einer Doktorarbeit habe. Jan half Bardo dabei, ein Bild von der Lunge einzuscannen.
Die Möbel wurden erst danach angesehen. Lasse bewunderte Lollis Kunst und riet Jan doch tatsächlich auch dazu, das große Bett anpassen zu lassen. Kai bekam fast einen Schluckauf vor Schreck. Scheiße! Das Bett war nicht gemacht! Das ganze Schlafzimmer hatte er durch schlichtes Türenschließen besuchertauglich gestaltet. Ihre Sachen lagen dort rum, oder seine vielmehr. Es war auf jeden Fall klar, dass sie zusammen dort schliefen! Scheiße! Sein eigenes Bett war nicht einmal bezogen.
Hastig wollte er sich zum Schlafzimmer verabschieden und wenigstens eine halbe Ordnung herstellen, als Jan und sein Vater bereits vorweg gingen, um noch einmal prüfend zu sehen, ob das Mahagonimonster nicht vielleicht mit frischer Beize besser aussehen konnte.
Bardo und Kai blieben zurück. Bardo konzentriert dabei, ein Schaubild aus Kais Buch abzukupfern und Kai mit rotem Gesicht und dem dringenden Wunsch, seinen Kopf auf die Tischplatte zu schlagen.
Kaum waren Lasse und Jan fort, als Bardo sich dichter lehnte und zischelte. "Wer ist das denn?"
Düster blickte Kai ihn an. "Professor Doktor Bawenhop. Jans Vater."
"Oh. Und warum bist du jetzt so sauer?" Unsicher rückte Bardo ein wenig ab. "Ich wusste wirklich nicht, dass ihr Besuch bekommt. Soll ich gehen?"
"Nein. Du störst nicht. Es ist nur so. Ich hab hier überall aufgeräumt, aber im Schlafzimmer nicht... konnte nicht ahnen, dass Jan seinen Vater da rein schleift!"
"Meinst du, es ist so schlimm, wenn es etwas unordentlich ist?"
Im Hintergrund murmelten Jan und sein Vater rum. Unsicher lauschte Kai auf die Tonlage, aber es klang fröhlich, als würden die sich kabbeln, vielleicht ging es darum, dass Jan echt schlechten Geschmack in Sachen Möbeln hatte. "Darum geht es nicht. Wir haben dort zusammen geschlafen, mein Bett ist nicht mal bezogen!" Zum Glück hatten sie es nicht geschafft, Sex zu haben. Fehlte ja noch, dass Kondompackungen auf dem Nachttisch lagen!
Bardo blinzelte, dann raffte er Kais Problem. "Du, ich glaube, dass es Jans Vater nicht schockiert, wenn ihr das macht. Nicht, nachdem du Jan eben wieder so angesehen hast."
Kai senkte den Kopf. Hatte er? Gott, Bardo war echt nervig, wie er ihn immer beobachtete. Und er musste sich das mit dem 'Jan-Angucken' echt abgewöhnen, das wurde gefährlich. Die Abteilung Abartigkeiten begann Kai selber abartig zu finden. Das Erziehungsgen freute sich über Bardo bei den Hausaufgaben.
Doch die beiden anderen kamen zu ihnen zurück, ohne ein Wort zur Unordnung oder Schlafordnung. Sie tranken Kaffee, die Unterhaltung betraf Autos, Unfallversicherungen und Details zu den Häusern. Das Haus von Hannah musste dringend eine neue Heizungstherme bekommen und Jan überlegte, welche günstiger wäre. Lasse wollte das dem Verwalter überlassen, Jan fand den Typen nicht sonderlich schlau und wollte sich da selber belesen.
Nach einer Weile dieses Hin und Hers brachen sie dann auf, um gemeinsam mit Lasse essen zu gehen. Bardo war bei seinem Referat recht weit gekommen und erhielt den Auftrag, hinter sich abzuschließen, wenn er ging. Kai zog sich seine helle Übergangsjacke an und trug Bardo auf, an das offene Fenster zu denken. "Und geh nicht ans Telefon!" Er fing einen Blick von Jan auf. "Was?!"
Jan kicherte los. "Ja, Mama... aua!"
Beleidigt ging Kai, nachdem er Jan passend geboxt hatte, vorweg in die Garage. Sie würden eine Abschiedsfahrt mit Hannahs Wagen machen und dann beim Restaurant mit Lasse tauschen. Es ging wieder zu demselben Restaurant weiter draußen, bei dem sie schon einmal gewesen waren.
Im Wagen verschränkte Kai die Arme. "Sag jetzt bitte nichts!"
Jan fuhr über ihre Straße zum Stadtring raus. "Wozu?"
"Ich hab die restliche Wohnung aufgeräumt und geputzt. Kann ich ahnen, dass du deinen Vater ins Schlafzimmer schleppst?"
Jan sah ihn kurz an, dann lachte er. "Du, das war glaube ich sehr gut so wie es war."
"Es war schrecklich unaufgeräumt und wir hatten uns deine Decke wieder geteilt und das sah man doch voll! Scheiße, war das peinlich!"
"Mein Vater fand es, glaube ich, besser als den Gedanken, dass wir nur so zusammen wohnen, ich es als Beziehung sehe und du nicht."
"Was?"
"Na. Vorurteile. Meine Eltern haben, glaube ich, voll Angst, dass du nicht treu bist und mich..." er zögerte.
Kai blickte Jan abwartend an. "Dich was? Betrügst? Verletzt?"
Jan seufzte leise. "Nein. Ansteckst."
Kai schloss stöhnend die Augen. Scheiße, daran, dass Jans Eltern jetzt ja im Prinzip das gleiche Hobby hatten wie Merle Fröhlich und seine eigene Mutter, hatte er nicht gedacht. "Deine Mutter surft sich jetzt auch durch diese Mütterforen?"
"Schlimmer. Meine Mutter ist Wissenschaftlerin. Sie sucht sich die passenden deprimierenden internationalen Studien raus. Ich hab ihr Ostern erst haarklein erzählen müssen, wie vorsichtig wir sind. Meine Güte! Wir haben safer-Sex, dass es schon langweilig wird! So vorsichtig war ich bei meinen ganzen Freundinnen nie und nimmer. Kondome, klar, daran hab ich gedacht, hab die aber durchaus auch weggelassen, wenn sicher war, dass sie die Pille nimmt, oder wenn wir nur so gefummelt haben. Meine Güte! Aber wir passen ja auch zusätzlich beim Oralsex auf, obwohl wir beide doch nachweislich sauber sind. Mein Test vom Februar war das und deiner vom Blutspenden auch."
Kai runzelte die Stirn. Das war also das Problem. Deswegen wollte Jan nicht, dass Kai mit seiner Mutter reden musste. "Glaubst du, dass deine Mutter mir einen Vortrag halten würde?"
Jan hob die Schultern. "Nein. Ich glaube, dass sie dir sagen würde, was sie mit dir macht, wenn du mich mit irgendwas ansteckst."
"Was?!" Erschaudernd kroch Kai in seine Jacke zurück. Jans Eltern setzten sich bemerkenswert verschieden und zugleich doch irgendwie genau wie seine Eltern mit dem Thema auseinander. Sie informierten sich, bauten Schutzmauern auf, waren misstrauisch und besorgt. Wenn Jan eine feste Freundin gehabt hätte, mit der er zusammenziehen wollte, dann wären all diese Dinge, Krankheiten, Zukunftsvisionen und die Organisation des Zusammenseins gar kein Thema. Dann würde es sicherlich Ostern beim feinen Essen um allgemeine Themen gehen, den nächsten Urlaub, vielleicht um die weitere Lebensplanung, vermutlich jedoch nicht einmal das.
Kurz dachte Kai an Tini und Holger zurück. Er musste sie doch glatt am nächsten Dienstag mal fragen, wie das eigentlich bei ihr daheim ablief. Musste Holgi-Baby antreten? Musste er Rede und Antwort stehen zu seinen sexuellen Gewohnheiten? Sehr wahrscheinlich nicht. Das war verdammt unfair. Seit der Pubertät wurde Kai jetzt schon mit diesen bescheuerten schwarzen Sachen von der Liebe abgehalten. Er konnte ja wirklich von Glück reden, dass er so dermaßen in Jan verknallt war, dass er sich überhaupt was traute! Missgelaunt starrte er aus dem Fenster. Doch dann hob er kampfbereit das Kinn. "Na gut. Soll sie doch! Scheiße, diese Art Vortrag bin ich ja wirklich gewohnt! Ich bin dir treu und zwar hoch zehn. Ich telefonier nicht einmal mehr mit Lukas, verdammt noch mal!"
Jan bog auf den Parkplatz ab und grinste Kai an. "Ich hab dich auch lieb, Baby." Er beugte sich dichter und küsste Kai lange auf den Mund.
Erst als sie eine Bewegung vor der Windschutzscheibe wahrnahmen, zuckten sie auseinander. Es war Lasse, der im nächsten Moment kurz an das Fenster klopfte. Mit rotem Kopf, aber nicht unfroh über den Verlauf der Diskussion krabbelte Kai aus dem Wagen.
Das Essen über drehte sich die Unterhaltung langweiliger Weise um Fußball, um Häuser und die Urlaubsplanung der Eltern von Jan. Endlich, als sie beim Kaffee angekommen waren, erzählte Lasse recht langatmig über ein Projekt, das er demnächst starten würde. Es ging um verschiedene Operationstechniken im Vergleich. Als er bezahlt hatte und sie zu zweit zu den Wagen raus gingen, weil Jan noch zur Toilette abgebogen war, überraschte Lasse Kai mit der Frage, ob er sich vorstellen könne, bei dieser Studie mitzumachen. "Jan hat mir erzählt, dass du gern operieren magst. Wenn du Lust hast, kannst du deine Doktorarbeit daraus machen."
Unsicher blickte Kai Lasse an. Der lächelte einmal beruhigend. "Ist keine Pflicht. Ich dachte nur, dass ich dich frage, bevor ich lange nach jemandem dafür suchen muss. In den nächsten Semesterferien könntest du das als Famulatur ansehen, wenn du willst, Kai."
Erleichtert nickte Kai dazu. "Das will ich mir gern überlegen."
"Dann kannst du gemeinsam mit Jan bei uns wohnen. Der wird sicherlich auch eine Famulatur bei uns im Krankenhaus absolvieren wollen."
Etwas von der, nervend korrekten, Annahme, dass er nur mit Jan gemeinsam Famulatur machen würde, verärgert, nickte Kai nur knapp. Dann waren sie an Jans neuem Auto angekommen. Ein dunkelgrüner, etwas in die Jahre gekommener Mercedes. Ein Kombi. Nicht so groß wie der andere, aber ein Schiff. Jan kannte den Wagen gut, hatte ihn sich schon häufiger ausgeliehen, aber für Kai stellte die Größe schon bei dem Gedanken an den knappen Parkraum an der Uni eine Zumutung dar.
Kai verabschiedete sich nicht ungern von Lasse. Jans Vater machte ihm zwar kaum noch Angst, aber die Unterhaltungen mit ihm waren immer verteufelt anstrengend. Allein das Angebot jetzt. Meinte er das ernst? Wollte er nur nett sein? Und, was noch wichtiger war, wollte Kai das?
Dankbar rutschte Kai in den etwas zu weichen Sitz auf der Beifahrerseite und war froh, dass Jan schweigsam blieb. Jan verstellte die Radiosender für ihre Frequenzen und seinen Geschmack und schien über Dinge nachzudenken, die sein Vater zu ihm gesagt hatte. Ein Glück, dass Lasse nicht nur für Kai anstrengend war, sondern auch mal für seinen Sohn. Kai freute sich nach dem Putzen und den anstrengenden Gesprächen jedenfalls jetzt auf einen ruhigen Mittwochabend mit Jan vor dem Fernseher. Daraus wurde nichts.
Ihr freier Mittwoch ging leider für einen Trinkabend mit Thilo, Holger und ein paar anderen Jungs drauf. Eine Kartenparty war bei Thilo in der Wohnung in Vorbereitung. Als Jan in die Garage einfuhr, wurde er per SMS darauf hingewiesen und wendete direkt und ohne Kai zu fragen, um auf die andere Seite der Stadt zu fahren.
112
Etwas sauer verschränkte Kai die Arme. Er war sich sicher, dass es ein grauenhafter Abend mit dummen Witzen, scheelen Blicken und viel zu viel Bier werden würde. Er ließ sich nur unter Protest die Stufen in Thilos Wohngemeinschaft schleifen und fand dort auch genau das Setting vor, das er alptraumhaft vor Augen gehabt hatte.
Der Fernseher lief, Fußball natürlich. Laute, recht unbekömmliche Musik plärrte ihm um die Ohren. Sie bogen zunächst in die Küche ab, wo ein stabiler Esstisch die eine Wand einnahm und zwei Kühlschränke die andere. Einer der Kühlschränke war ausschließlich für Getränke vorgesehen. Eine Neonröhre verbreitete Bahnhofshallencharme. Eine typische Jungs-WG. Kai blickte in den Getränkekühlschrank und seufzte. Es gab Bier in zwei verschiedenen Sorten und sonst nur eine Flasche Cola.
"Jan?" Kai zog seinen Freund am Ärmel noch einmal dichter zu sich. "Was soll ich hier? Ich hab keinen Bock auf so eine bescheuerte..."
Jan schob sein Gesicht gegen Kais Hals, eine Gänsehaut erfasste ihn. "Baby, tut mir leid. Bitte, bleib noch etwas. Ich will nicht immer ohne dich sein."
"Karten spielen und Bier saufen kannste doch jetzt echt ohne mich!" Betont zickig starrte Kai Jan ins Gesicht. Ein Fehler.
Unglaubliche Hundeaugen erweichten sein Herz in Sekunden. Jans Finger spielten mit einigen Haarsträhnen in seinem Nacken und verstärkten seine Gänsehaut noch weiter. "Bitte. Immer sind wir getrennt unterwegs. Du gehst ja immer nur in dieses öde LPP und dann auch noch nüchtern auf Arbeit. Ich muss immer beim Weggehen auf dich verzichten. Thilo will eh nicht so lange machen. Ich spiel nur drei-vier Runden, dann fahren wir heim, okay?"
Kai hmpfte in perfekter Tini-Imitation, dann nickte er grätzig und ließ sich auf die Wange küssen. Weil Thilo gerade in die Küche gewandert kam, um für Getränke zu sorgen, fuhren sie auseinander, bevor es zu nett werden konnte. Da Jan ihm zum Abschied die Wagenschlüssel in die Hand drückte, war klar, dass Kai abstinent bleiben würde. Er nahm sich ein Glas Cola und folgte seinem Freund.
Gereizt betrat Kai das Zimmer und sah sich dort nach einer Ecke zum Verkriechen um. Thilo lebte sehr nett eingerichtet, das musste man mal sagen. Ein maß genau eingepasstes Hochbett mit Treppe, die sich im Halbkreis hinauf wand und passendem Schreibtisch mit Bücherregal schufen reichlich Raum. Alles aus honigfarbenem Massivholz. Der Kleiderschrank war aus demselben Holz und sah auch aus wie von einem Tischler hergestellt. Dazu wirkten die Möbel noch sehr neu. Beeindruckt strich Kai mit der Hand einmal über die Tischplatte.
Jan warf seine Jacke auf den Bürostuhl und sagte "Thilos Opa und Onkel haben eine Tischlerei. Geile Möbel, oder?"
Geil waren die Möbel schon, aber leider gab es nicht viele Ecken. Zum Verkriechen schon gar nicht. Neben dem Schreibtisch stand ein Schlafsofa, das als Hauptsitzgelegenheit bereits von Holger und Matze belegt war. Die beiden begrüßten Jan mit Johlen, da er offenkundig als vierter Mann für Doppelkopf dringend gebraucht wurde. Kai wurde mit bedauernden und ein wenig verwirrten Blicken angesehen und versicherte hastig, dass er weder Skat noch Doppelkopf spielen könne. Er nahm sich stattdessen mit möglichst wenig leidender Miene das Neuroanatomie-Skript von Thilo und verzog sich damit in eine Ecke neben der Eingangstür.
Doch recht bald nahm der Abend eine überraschende Wendung. Die Jungs waren etwa bei der dritten Partie und die meisten beim dritten oder vierten Bier, als es an der Tür klingelte.
"Ich geh schon!" Kai erhob sich rasch, froh, dass er etwas zu tun bekam. Es war Bianca. Mit Minirock und ihren Stiefeln bewaffnet wand sie sich hastig an Kai vorbei in den Flur.
Kai drehte den Kopf und holte Luft, um Thilo zu rufen, im nächsten Moment hielt Bianca ihm den Mund zu. "Scht. Wir wollen die Süßen ja nicht zu früh warnen, nicht wahr?"
Kai begegnete ihrem neckischen Blick und seufzte. Er nickte, wurde in die Freiheit entlassen und meinte unsicher "Ich kann die Tür zumachen. Was hast du vor?"
"Wir machen Cocktails. Caipi, die machst am besten du. Du kannst das wenigstens. Die anderen kommen auch gleich." Sie schwenkte eine Flasche Sekt in der einen und eine Literflasche Pitu in der anderen Hand. Tini, Nadine, Renate und ihre Mitbewohnerin trampelten die Treppe rauf. "Wir haben nur noch vier Netze Limetten bekommen, aber Renate und Tini haben beim Mac an der Autobahn einen ganzen Sack voll Eis für lau ergattert. So genial!"
Tini lachte fröhlich auf. "Hey! Wie geil ist das denn? Kai ist da!" Sie knutschte ihn umgehend auf die Wange und drückte ihm einen Karton Gläser in den Arm.
Renate sah anders aus als sonst. Sie trug einen schwarzen Pulli und einen Rock. So ausstaffiert betonte sie ihre hellblonden Haare einmal richtig und ihre Beine ebenso. Sonst verschwand Renate immer mit merkwürdig gemusterten Klamotten und eher schlecht sitzenden Jeans und Cordhosen rein optisch im Nirvana der Leute, die Kai nicht gern ansah und deswegen auch nicht beachtete. An diesem Abend ging sie in Ordnung. Schwarz war echt eine gute Farbe für sie. Und sie war fröhlich. Das war sie auch nicht wirklich oft. Kichernd hakte sie sich bei Tini unter und ließ sich von Bianca für die Klamotten loben. Kai beobachtete sie ein wenig und musste für sich festhalten, Jan hatte Recht gehabt. Renate hatte ganz niedliche Grübchen, wenn sie mal lachte.
Hastig brachte Kai sich in Sicherheit vor den wildgewordenen Tussen. Aber er hielt Wort. Er stellte die Gläser in die Küche, brachte den Jungs noch Bier in das Zimmer, dann schloss er möglichst unauffällig die Tür, so dass die Mädels, die nach und nach immer mehr wurden, freie Bahn in der Küche hatten.
Er ließ sich für die Herstellung der Cocktails einspannen und von Tini anfummeln. Die erklärte ihm ernsthaft, dass Thilo sich am Telefon betreffend der Kartenparty verplappert hatte. Daraufhin hatte Bianca beschlossen, dass dieser Mittwoch fällig sei. Spontanparty war angesagt und es schien sich so nach und nach auch rumgesprochen zu haben.
Nachdem Kai etwa zehn Cocktails fertig hatte, musste Matze aufs Klo und entdeckte die Verschwörung. Eigentlich war es auch nur dank der Musik in Konkurrenz mit Fußball aus Thilos Zimmer vorher noch nicht aufgeflogen. Die Mädchen waren nicht sonderlich leise.
Bianca kam Matze zuvor, so dass die anderen nicht vorgewarnt waren, als sie sich samt einiger anderer ins Männerdomizil stürzte. Aus dem Zimmer von Thilo war ein kollektiver, nicht unbedingt unzufriedener Aufschrei "Weiber!" zu hören, im nächsten Moment brach ein mittleres Chaos aus. Es endete darin, dass die Karten auf verlorenem Posten gegen Miniröcke und Cocktails aufstecken mussten.
Die Musik wurde von jetzt auf hier super gut, nachdem sich Nadine mit angewidertem Gesichtsausdruck der Sache angenommen hatte. Thilo brachte verschreckt seine Lehrbücher und sein Handy auf das Hochbett in Sicherheit und Holger lehnte sich zufrieden grinsend mit Tini im Arm auf das Sofa, um sie auf seinen Schoß passend zu recht zu rücken. Sie flüsterte ihm etwas zu, gleich darauf lachte er laut und knutschte sie auf die Wange.
Matze war der einzige, der keine Lust auf die neue Form der Party hatte. Er ergriff die Flucht auf den Balkon, wo er allerdings mit den rauchenden Mädchen kollidierte.
Jan tauchte nach einer Weile hinter Kai in der Küche auf, als dieser die nächste Ladung Limetten aufgeschnitten hatte und seine Finger waschen wollte. "Wusste ich es doch. Du steckst mit den Mädchen unter einer Decke!"
Kai zeigte ihm ziemlich trocken den Mittelfinger und giftete gekonnt zurück "Deine eigene Schuld. Mich als Taxi hierher zu verschleppen, geht ja wohl gar nicht!" Er wusch sich die Hände und wollte einen Schluck Cola trinken, aber Jan lachte und reichte ihm einen Cocktail. "Dann trink mit, wir nehmen ein richtiges Taxi zurück."
Und von dem Moment an wurde die Feier richtig gut. Kai konnte die Mädchen ertragen, weil ihn niemand anbaggern wollte, darum ging es bei dieser Party zum Glück nicht. Er hatte immer gut zu tun, weil er als der Barkeeper ausgerufen wurde. Das erübrigte die Langeweile, unter der er sonst immer auf solchen Feiern litt. Da er selber gleich erst einmal zwei Cocktails getrunken hatte, war seine Stimmung sehr rasch an die der anderen angepasst ausgelassen. Es war auch lustig, wie unkompliziert alle im Flur zu tanzen begannen und auf dem Balkon zu rauchen, im Zimmer von Thilo war die erweiterte Tanzfläche, in der Küche tauchten Chips und Käsewürfel auf.
Renate gesellte sich irgendwann zu Kai und half ihm energisch, die Gläser abzuwaschen. Dabei erzählte sie von der Planung der Party. Sie gestand, dass Tini sie in diese schwarzen Klamotten gesteckt hatte und erzählte richtig locker, wie sie zur Autobahnraststätte gefahren waren, um Eis zu besorgen. Es war lustig, wie sie die Augen verdrehend Bianca und Tini nahezu perfekt nachmachen konnte. Als die Gläser alle sauber und bereit für eine neue Runde waren, wurde sie von Jan in Richtung Thilos Zimmer abgeführt, dem offensichtlich auch ihr kurzer Rock in die Augen gefallen war.
Mit schrägem Blick sah Kai ihnen nach, aber bekam dann wieder neue Anfragen nach Cocktails. Erst als der Pitu, von dem noch zwei weitere Flaschen aufgetaucht waren, sich dem Ende entgegen neigte, hatte Kai keine Lust mehr auf Eis und Limettensaft an den Fingern.
Er ging Jan suchen und fand ihn in eine Unterhaltung mit Renate versunken. Sie saßen hinter dem Sofa von Thilo und redeten über Neuroanatomie. Es hörte sich aus weiterer Entfernung wie ein Fachgespräch an, aber näher betrachtet schien Jan Renate auf die Pelle zu rücken. Die hatte offenkundig auch ein paar Cocktails an Bord, denn sonst hätte sie ihn nicht so angegummert, obwohl er von absolut langweiligen Sachen quatschte, und vor allen Dingen hätte sie seine Finger nicht dort belassen, wo sie gerade unter ihren Rock wanderten. Kai zögerte, sollte er ihr den Flirt lassen? War es vielleicht eher schädlich? Im locker nebenbei Flirten war Jan große Klasse, das wusste Kai aus eigener Erfahrung. Aber Renate war so etwas nicht gewohnt, oder? Die war doch sonst immer spießig zum Quadrat.
Etwas anderes erübrigte diese Frage jedoch zunächst. Die Nachbarn von Thilo hatten um einen Hauch Ruhe angehalten und ihn gebeten, aus der Party doch eine Art Sit-in zu gestalten. Die Musik wurde von ihm resolut leiser gedreht. Da die Cocktails zur Neige gingen, die wenigen Chips, die jemand mitgebracht hatte, alle waren, und der Balkon von Thilo ebenfalls wegen der Nachbarn gesperrt wurde, löste sich die Feier auf.
Ein paar Partyleute verzogen sich zu Discos und anderen Partys weiter, Bianca begann sehr energisch überall aufzuräumen, was ihr Ansehen sehr offensichtlich in Thilos Augen ebenso steigen ließ wie der Umstand, dass ihr Rock an Kürze kaum zu unterbieten war. Nach und nach kam die Feier wieder mehr zur Ruhe. Kai wollte sich nach einem kurzen Gang zum Klo eigentlich gerade Jan unter den Arm klemmen und dann sehen, ob sie nicht einfach den Nachtbus nehmen konnten, als Tini ihm in den Weg gehopst kam. "Wie geil! Wir spielen gleich zum Abschluss noch 'ne Runde Flaschendrehen, wie damals in der Grundschule!" Sie griff seine Hand und zog ihn in Thilos Zimmer.
Tatsächlich saßen dort die Reste der Spontanparty im Kreis und Kerzen waren entzündet worden. Mäßig angetrunken lehnten einige sich aneinander, die meisten starrten in die Mitte, in der sich auf einem Teller eine Flasche drehte. Tini drückte Kai auf den Boden runter und quetschte sich neben ihn. Da Jan auf der anderen Seite direkt neben ihm saß, im Schneidersitz und richtig gut drauf, blieb er zunächst einmal hocken.
Das Spiel begann sachte mit Wahrheit oder Pflicht und den üblichen Dingen. Erste Liebe, warst du mal in einen Lehrer verknallt, mach einen Kopfstand, was gern von Mädchen im Kleid verlangt wurde, erzähl von deinem nichtverwirklichten Traum, zeig allen deine Unterwäsche, erzähl einen Witz und Kai spürte, wie er müde wurde. Zwei Cocktails konnten einem nicht über diese kindische Aktion hinweg helfen.
Es steigerte sich jedoch durch eine Art kleinen Wettkampf zwischen einigen, sich zu überbieten und interessantere Aufgaben zu finden. Ess einen Löffel Chilisoße, trink ein Schnapsglas Limettensaft pur, sag Fischers Fritz sechsmal nacheinander auf. Das letzte stellte sich als super Lacher heraus, die nächsten vier Leute, die Pflicht wählten, mussten immer bescheuertere Zungenbrecher über sich ergehen lassen. Den Höhepunkt bildete der Scheitenspleißermeister und alle lagen am Boden vor Lachen, auch Kai.
Dann erwischte es ihn selber. Das Mädchen, das die Aufgabe zu stellen hatte, kannte ihn nicht. Offensichtlich. Er bekam den Auftrag 'Küss deinen Sitznachbarn.' Es war auf Tini abgezielt, die mal wieder megaoffensichtlich an ihm dran war. Die lehnte schon eine ganze Weile ihren Kopf auf seine Schulter.
Tini lachte auch sofort los. "Au ja, Kai. Jederzeit!" Alle mussten lachen, auch wenn Kai einen unglücklichen Blick auf Holger warf.
Der hatte sich ruhig eher im Hintergrund gehalten. Er hatte nicht Flaschendrehen, sondern mit Matze und Thilo noch eine Runde Skat gespielt. Doch Holger grinste ihm auch zu und konzentrierte sich dann wieder auf das Spiel. Um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, beugte Kai sich rasch dichter und küsste Tini auf den Mundwinkel. Es fühlte sich merkwürdig sicher und kaum peinlich an. Zwei Mädchen machte 'Awww', doch Jan tippte ihm auf die Schulter. "Sie hat Nachbarn gesagt, nicht Nachbarin. Tini hat geschummelt."
Thilo verdrehte die Augen und Matze legte prompt seine Karten auf den Tisch. "Zeit zu gehen, Alter." Hastig verließ er das Zimmer. Die anderen im Kreis grinsten sich an und starrten. Kai spürte, wie er rot wurde. So etwas hasste er, total. Mies gelaunt starrte er Jan ins Gesicht, der unverschämt grinsend den Blick erwiderte. Die Funken in den Augen sprühten lustig, lachten Kai aus.
Er lehnte sich rasch dichter und küsste Jan auf die Wange, aber der war erstaunlich reaktionsschnell und schnappte ihn um die Schultern. Er ließ sich mit ihm nach hinten aus dem Kreis fallen, um ihn unter sich zu rangeln und nicht gerade zurückhaltend zu knutschen.
Kai wehrte sich mehr oder weniger erfolgreich, um sie her brachen einige in Gelächter aus. Gleich darauf rettete Holger ihn unter Jan hervor. Er setzte Kai, der nach Luft schnappte und sein rotes Gesicht am liebsten in einen Kühlschrank gehalten hätte, resolut auf und sagte tadelnd zu Jan "Mach den armen Kai nicht fertig. Der wird noch gebraucht. Wie willste denn ohne ihn das Studium schaffen?"
Jan lachte unbesorgt und sprang auf. "Wo du Recht hast, haste Recht." Dann bewies er, dass sein Stimmungssonar auch in besoffenem Zustand ausgezeichnet funktionierte. Nach einem kleinen Seitenblick zog er Kai hoch und verkündete "Party ist aus, ihr Leute. Ab nach Hause!" Leise sagte er Kai ans Ohr. "Thilo schaut schon wieder so pissig, besser wir dampfen mal ab."
Und das war die Wahrheit. Thilo hatte sicherlich nur einen ruhigen Kartenabend mit ein paar Bier und seinen Freunden geplant. Die wilde Party, die daraus entstanden war, hatte ihn als Gastgeber nicht sonderlich froh gemacht. Dankbar sah Thilo Jan an und grinste den in den Flur verschwindenden Mädchen nach. Ein kleiner Seitenblick in Richtung Bianca ließ Kai zudem daran denken, dass Thilo sich auch etwas mehr Intimsphäre wünschte.
Im Flur stand Tini mit einigen Freundinnen zusammen. Sie raffte Kai in der Toilettenschlange an sich und drückte ihn ein wenig. "Na? Hat Jan dich platt gemacht?"
Kai richtete beleidigt an seinen Haaren und nickte dann leidend. "Erstickt", sagte er leise. "Wir schnappen uns ein Taxi und hauen ab, die Party ist aus. Thilo hat keinen Bock mehr."
"Wir kommen gleich mit!" Mit großzügiger Geste umschloss Tini einige Leute im Flur, meinte wohl aber Holger und Renate, die gerade mit der Gläserkiste und einem Beutel mit leeren Flaschen zu ihnen kamen. Renate jonglierte dazu noch mit dem Teller, auf dem die Käsewürfel gewesen waren und ihrer Jacke herum.
Kai sortierte Jans und seine Jacke unter einem Stapel fremder Sachen hervor, klemmte sich den mittlerweile sehr betrunkenen Jan unter den Arm. Gemeinsam mit Renate, Tini und Holger wankten sie zur Straße runter.
Sie mussten sich gar kein Taxi teilen. Tini bot an, sie bei ihrer Wohnung rumzufahren. Holgers Wagen sei ja groß genug und sie sei nüchtern. "Ich muss morgen früh im Fitnessstudio arbeiten, da kann ich Kopp nicht brauchen."
Renate kletterte gähnend ins Heck, Jan quetschte sich neben sie, was sie nicht so schlecht zu finden schien und Kai versuchte sich wenigstens noch anzuschnallen. Die Fahrt wurde länger als gedacht, weil Tini erst Renate rumbringen wollte.
Renate und Jan verfielen in eine sehr betrunkene Unterhaltung, die totalen Blödsinn zum Inhalt hatte. Sie kicherten jedenfalls ziemlich dämlich rum. Gereizt verschränkte Kai seine Arme und sah aus seinem Fenster. Vor der Wohnungstür, als Renate abgesetzt werden sollte, knutschte Jan sie sogar zum Abschied auf die Wange. Kai befahl sich sofort, nicht auf Renate eifersüchtig zu sein, aber es war schwierig. Er wusste, dass sie auf Jan abgefahren war, er wusste, dass Jan sie nicht unattraktiv fand und an diesem Abend waren die zwei sehr gut miteinander ausgekommen.
Irgendwie wusste Kai aber zugleich, dass die zwei nicht für fünf Cent zusammen passten, sobald auch nur einer von ihnen nüchtern war. Das war doch absurd. Renate war total spaß frei, fast schon haarspalterisch. Sie hatte zudem einen sehr hohen moralischen Anspruch. Holger durfte in der WG nicht übernachten, das fand Renate falsch. Wie konnte so eine Tante denn überhaupt Jan gut finden? Der war doch locker bis zum Anschlag und offen ohne Ende. Wenn er mit jemandem zusammen war, gab es keine verschlossenen Türen und kein Verstecken. Nicht mal mit Kai gab es das so richtig.
Nachdenklich beobachtete Kai, wie Renate, Tini und Jan sich noch unterhielten. Hätte Jan ihn nicht getroffen, hätte es sehr gut sein können, dass nach Bianca Renate gekommen wäre, oder? Das hatte Jan selber so gesagt. Nach der selbstbewussten, ziemlich sexverrückten sportlichen Tussi dann vielleicht eher eine fleißige, ruhigere Freundin, die nicht sofort ins Bett wollte, die andere Werte hatte. Und danach? Und dann? Es war schon komisch, wie falsch Jan bei Frauen seine Sympathien verteilte.
Die Unterhaltung war nach längerem Hin und Her beendet und Renate kletterte wieder in den Wagen. Kai starrte zwischen ihr und Jan hin und her. "Hä? Was ist denn jetzt los?"
"Mein Schlüssel ist bei Thilo. Ich hab meinen Rucksack vorhin komplett vergessen, weil ich so viel Kram mit hatte." Jammernd verwand Renate die Hände.
Jan legte tröstend einen Arm um sie und starrte ihr auf den Busen.
Gereizt sah Kai zu Tini hin. "Und du hast keinen Schlüssel oder was?"
"Meiner ist bei Holger. Da will ich übernachten und hab all meinen Kram dort gelassen."
"Und jetzt?"
Jan gähnte. "Renate pennt bei uns. Bei Holger geht nicht, der hat eine Einzimmerwohnung und da stört sie die beiden beim Sex. Bei uns ist mehr Platz."
"Und zu Thilo zurück?"
Jan lachte. "Da stören wir Thilo und Bianca beim Sex, das ist hundert Prozent sicher!"
Kai blickte auf die Uhr. "Quatsch, damit sind die längst durch!"
Holger brach prustend in Gelächter aus. Tini verkündete "Ist besser so. Wir sind alle voll müde und ihr wohnt keine fünf Minuten von hier. Zu Thilo ganz zurück zu eiern ist jetzt echt nicht mein Ding. Und jetzt hört mal auf mit Sexgequatsche."
Renate fühlte sich augenscheinlich auch nicht wohl mit dem Thema. Sie schwieg brütend.
Jan mischte sich davon unbeeindruckt erneut ein. "Unsinn. Die sind mit Sex sicherlich noch lange nicht durch! Klar kennt Kai sich mit Frauen nicht so aus bei sowas." Er ignorierte Tinis Ansage und Renates verschränkten Arme und pikierten Blick. "Du kennst außerdem Bianca schlecht. Glaub mir, ich sprech aus Erfahrung. Wenn die erst einmal losgelegt hat, dann bekommt die nicht genug, bis man tot umfällt."
Bis hierhin war Renate bereits dermaßen rot im Gesicht, dass man mit ihr einen Puff hätte beleuchten können, und das brachte endlich auch Kai zum Lachen. Und davon einmal abgesehen war es doch vollkommen egal. Die halbe Stadt hatte bereits bei ihm übernachtet. Eine Tussi mehr oder weniger fiel lange nicht mehr ins Gewicht.
Doch Renate hob im nächsten Moment den Kopf und schlug erleichtert vor, es noch einmal bei Benni zu versuchen. Augenscheinlich fühlte sie sich selbst im betrunkenen Zustand wohler mit dem Gedanken, bei ihrem Sandkastenfreund zu schlafen.
Tini startete den Motor sogleich wieder und fuhr sie zur alten WG von Kai herum. Ein wenig wehmütig blinzelte Kai zu den Fenstern hoch. Sein Zimmer hatte zur Seite raus gelegen, es brannte noch Licht hinter den grünen Rollos. "Er ist da und noch wach, Renate."
Seufzend drückte Renate noch einmal Tini kurz und ließ sich auch noch einmal von Jan anfummeln, dann schob sie ab in Richtung des Hauses. Sie verschwand recht bald im Eingang und winkte noch einmal zu ihnen zurück. Erleichtert blickte Kai ihr hinterher und rückte zu Jan auf. Streng sah er ihn an. "Sag mal, musste das sein?"
Jan war damit befasst, eine betrunkene SMS an Thilo zu tippen, um ihn vor Renate am Morgen zu warnen. "Hm?"
"Renate so zu..."
"… zu necken? Keine Bange, die versteht mehr Spaß, als du denkst."
Tini lenkte den Wagen auf die Hauptstraße zurück. Etwas genervt warf sie ein "Renate versteht Spaß? Das will ich gern mal sehen. Die ist mir in der letzten Zeit echt auf den Sack gegangen mit..." über die Schulter zu ihnen zurück.
"Welchen Sack? Sollten wir da was wissen, Tini?" Albern kichernd schickte Jan die SMS ab.
Sie zeigte Jan den Mittelfinger nach hinten. "Nein, im Ernst. Ich hatte schon wieder so eine Diskussion mit ihr. Um Männer in der WG und so. Zu Besuch kommen geht in Ordnung, aber nicht übernachten. Und dann hält sie einem Vorträge darüber, wie unehrlich sie das findet, wenn man es zu früh tut. Sex ist ganz und gar ein Minenfeld. Das Thema darf nicht mal im Ansatz angeschnitten werden. Total nervig."
Jan blinzelte, sah zu Kai rüber und blinzelte erneut, dann prustete er los. "Was?! Und das dir! Der zukünftigen Sextherapeutin! Ich werd nicht mehr! Wie geil!"
Giftig fügte Kai an. "Deswegen ist es echt nicht gut, wenn du ihr unter den Rock fasst. Reiß dich mal mehr zusammen!" Er unterstützte dies mit einem Klaps gegen Jans Kopf.
"Au. Sei nicht so." Jan robbte sich zu Kai rüber und machte erstaunlich routiniert seine Hundeaugen. Kai musste grinsen, aber verschränkte die Arme.
"Echt?! Hast du?" Holger drehte sich im Sitz herum.
"Hm. Scharfer Rock. Wozu ist sowas sonst da?" Jan gähnte und ließ den Kopf gegen Kais Schulter sinken, um sein Gesicht gegen seinen Hals zu schieben. "Hm, du riechst schon wieder so lecker", flüsterte er, Kai wurde von einer Gänsehaut erfasst. Scheiße, musste Jan immer so gut sein beim Flirten? Sogar er saß ihm noch immer auf.
Fasziniert starrte Holger zu ihnen nach hinten. "Du hast Renate unter den Rock gefasst?! Sind die Finger noch dran?"
Jan hob die linke Hand und wackelte mit den Fingern. "Nachzählen, bin zu betrunken dafür." Die Finger der anderen Hand waren schon wieder in Gefahr. Dieses Mal machten sie sich auf eine Entdeckungsreise unter Kais Pulli. "So schlimm ist Renate doch nun wirklich nicht."
Tini lachte. "Doch. Hoch zehn!"
Holger war ihrer Meinung. "Ich sag nur: Kein Sex vor der Ehe, Alter."
Jans Finger stockten direkt über Kais Hüftknochen. Sachte strich er daran entlang in Richtung Hosenbund und zum Bauchnabel zurück. Kai spürte deutlich, wie er eine gute Runde Bock auf genau das zu haben begann. Tüchtig Sex vor der Ehe. Mit genau diesem Mann hier. Gleich wie gemein der mit Tussis flirtete und ihnen unter den Rock fasste, es war nur ein Flirt. Er war mit Kai zusammen. Er kam mit Kai nach Haus und hatte mit Kai Sex vor der Ehe, aber hallo! Und das war die Hauptsache, oder? Erleichtert murmelte er seinen Dank, als Tini bei ihnen hielt.
Jan war mit dem Thema noch nicht fertig. "Kein Sex vor der Ehe? Das muss ihr jemand abgewöhnen. Ist ja gruselig. Wenn die erst heiraten und es dann treiben will, verpasst sie eindeutig was."
Tini blickte ihn ein wenig spitz von der Seite her an. "Hört, hört. Der Sex-vor-der-Ehe-Papst hat gesprochen."
"Amen", sagte Jan, klopfte Holger zum Abschied auf die Schultern und grinste Tini frech an. "Im Ernst. Renate ist nur so spaß frei, weil sie es nicht tut. Verschwendung, das ist meine Meinung! Tini, du musst sofort eine Therapie mit ihr machen! Sextherapie."
"Als ob. Hau schon ab und mach deine eigene Therapie."
Jans Blick wurde eine Idee schärfer, er grinste Kai an. "Hm. Baby, das hab ich jetzt ehrlich gesagt total nötig, ich spür's. Mir tut schon alles weh. Ich muss unbedingt eine Sextherapie machen!"
"Klappe!" Kai riss rot im Gesicht die Wagentür auf und sprang raus. Jan nahm die Verfolgung auf.
Holgers lautes Lachen begleitete sie bis zur Haustür, dann fuhr Tini an und sie waren endlich allein. Aufatmend lehnte Kai sich kurz an die Wand neben den Klingelschildern. Ein scharfer Blick auf Jan, dann bestimmte er mit leicht erhobenem Kinn. "Sextherapie? So? Ich hab den Eindruck, dass du was ganz anderes nötig hast, mein Lieber!"
Jan lachte, aber ließ sich auf die Knie fallen. "Gnade, Meister! Ich tu alles!"
Die Tür wurde mit resolutem Schwung von innen geöffnet und die Mieterin von Rechtsunten, majestätisch mit weinrotem Morgenmantel bekleidet, blinzelte sie durch dicke Brillengläser an. Sie starrte Kai strafend ins Gesicht, dann zu Jan runter, der besoffen grinsend am Boden kniete. "Herr Bawenhop!"
Kai spürte, wie sein Gesicht sich erhitzte. Hastig nickte er ihr zu und ging mit schnellem Schritt ins Haus durch. Er ließ Jan einfach dort mit ihr zurück. Mit einem halben Ohr hörte er die vorwurfsvolle, etwas kippelige Stimme der Oma, mit der Jan darüber unterrichtet wurde, dass es zu laut sei in der Nacht. Dass dieser Herr Pranitz schon wieder erst nach eins im Haus gewesen sei und sein Mitbewohner – oder was auch immer dieser Kerl war – mit einem Motorrad nach Haus gekommen sei, in der Nacht um zwei Uhr! Dass... kichernd rannte Kai die Treppen hoch und überließ Jan seiner gerechten Strafe, um sich schon mal auf eine Runde Sex vor der Ehe vorzubereiten.
Erst einmal musste Jan natürlich Abbitte leisten, weil er Kai auf eine Kartenparty geschleppt hatte, dann weil er Renate angefummelt hatte, und endlich revanchierte Kai sich, weil Jan sich beim Abbitte leisten mal wieder selber übertroffen hatte. Bei dieser Revanche übertraf Kai sich dann selber, wie Jan später vollkommen erledigt mitteilte. Kai bestand nach all diesen Dingen darauf, das Bett neu zu beziehen, bevor sie nach einer echt notwendigen Dusche ins herrlich frische Bett und zeitgleich ein Erschöpfungskoma fielen.
Der Donnerstag begann folglich erst einmal ohne sie. Allerdings auch ohne Holger und auch ohne Bianca und Thilo und im Endeffekt ohne Renate, die bei Benni in der WG brav darauf wartete, dass Bianca ihr auf dem Nachhauseweg noch den Schlüssel vorbei brachte.
Dies alles erfuhr Kai später im LPP auf der Arbeit, wo Tini nach ihrem Sportprogramm, ihrem Lernprogramm und einem Kaffeetrinken mit den Eltern auftauchte. Der Tag hatte natürlich nicht ohne Tini angefangen. Sie brauchte augenscheinlich nicht so viel Schlaf wie normale Menschen. Zum Glück für Kais Ego gähnte sie sich durch ihren Saft und verkündete, dass sie sich jetzt erst einmal in die sexfreie Zone in ihrer WG zurückziehen werde, um sich von der definitiv nicht sexfreien Zone in Holgers Wohnung zu erholen.
113
Am nächsten Montag begann Neuroanatomie, und es war ein Fachbereich der Wunder. Kai musste lernen wie bescheuert, um überhaupt mitkommen zu können, Jan wuppte den ganzen Scheiß nebenbei. Er lief am Morgen noch vor dem Frühstück eine Runde im Wald, trainierte wie irre Fußball, weil für sein Team einige harte Spiele anstanden und bestand die Woche über jedes Testat auf Anhieb ohne Probleme.
Ihre Gruppe war mit Thilo, Bianca, Renate, Kai und einem wunderbar wissenden Jan eine der besten Gruppen überhaupt. Eigentlich hatten sie den Tutor gar nicht nötig, der neben ihnen noch zwei Gruppen zu betreuen hatte. Da eine der anderen Gruppen aus Matze sowie Piet und Nadine, zwei absoluten Chaoten, bestand, war er meistens bei denen beschäftigt. Er war auch dermaßen farblos und fade, dass Kai ihn erst am dritten Tag so richtig bemerkte. Er hatte glattes braunes Haar und trug noch eine Zahnspange, die irritierend den Blick auf seinen Mund lenkte. Diesen tat der Kerl quasi nie auf. Als Tutor die totale Fehlbesetzung. Jan erklärte ihnen in den Stunden zum Lernen und Wiederholen stets mehr als er.
Der Typ war spaßfreier als Renate, was eine beachtliche Leistung war. Das begann schon am allerersten Tag, als alle über ihre Exponate, je Gruppe ein Gehirn mit noch daran hängendem Rückenmark, die üblichen Alienwitze machten. Was musste das Teil auch haargenau so aussehen wie im Film? Es fehlten echt nur noch der grüne Säureschleim und die Zähne. So sehr ihr Tutor versuchte, sich gegen sie durchzusetzen, die gute Stimmung von Bianca und Jan, sowie die vielen Sprüche, die den beiden einfielen, von Alienwitzen ganz zu schweigen, konnte er nicht dämpfen. Die dummen Sprüche halfen zudem über den ausgeprägten Formalingeruch hinweg, der Kai schon sehr bald dauerhaft Kopfweh machte und ihm den Appetit verdarb.
Der Lehrstoff war dermaßen dicht und umfangreich, dass Kai morgens früher aufstand, um noch einmal alles vom Vortag wiederholen zu können. Abends saß er stundenlang und versuchte, diese ganzen Fasern und Wege zu behalten und wie sie verknüpft waren, bis er auf dem Atlas einpennte. Für ihn war es unlogisch und verworren, Jan konnte ihm seine Fragen fast immer aus dem Kopf beantworten.
Als Kai ihn am Abend, als er das Skript im Bett noch auf den Knien liegen hatte und verzweifelt darin herum las, fragte, wie es denn sein könne, dass er ausgerechnet bei solch trockenem und verworrenem Kram die Übersicht behielt, sagte Jan locker "Ich hab mein Pflegepraktikum fast ausschließlich in der Neurologie gemacht. Da blieb es nicht aus, dass ich gerafft hab, worum es geht. Hat man es einmal richtig verstanden, muss man eigentlich kaum noch was lernen. Ist doch auch wahnsinnig faszinierend. Hast du das Buch von Sacks gelesen? Irgendwie ist das Gehirn wie ein anderer Planet in uns."
"Kein Wunder, dass das Teil ausschaut wie ein Alien." Grummelig ließ Kai sein Skript auf den Boden zu seinen Klamotten gleiten und robbte zu Jan unter die Decke. "Ich raff das alles nicht. Krieg schon Depressionen. Das hatte ich sonst nie."
Jan trug seine Brille, sah damit total schlau und sexy aus und las in dem Buch, über das er soeben mit Kai geredet hatte. "Hm? Baby, willst du stattdessen kuscheln? Soll ich dir die Rezeptoren der Genitalorgane noch einmal erklären? Werden sie sympathisch oder parasympathisch aktiviert? Hm? Adrenerg oder cholinerg und dabei muskarin oder..." Seine Hand schob sich warm und vereinnahmend über Kais Bauch und Hüfte.
"Hm... hör schon auf so erotische Sachen zu sagen, für so etwas bin ich viel zu kaputt." Und das war die Wahrheit. Es war Dienstag. Der Sporttag der Woche machte Kai immer komplett alle. Auch wenn Tini nicht erschienen war, weil ihr Spinningkurs abgeschlossen war, hatte er sein Pensum im Zirkel hinter sich gebracht und Jan als Privattrainer erlitten. Jan hatte sich am Nachmittag schon darauf gefreut, ihn am Abend wieder mit seinen fiesen Übungen piesacken zu können. Zur Strafe musste er Kai nun den Rücken massieren, wobei dies verdächtig in eine Massage der Region um den Gluteus maximus Muskel abgeglitten war. Das führte zu einer Massage von noch ganz anderen Körperteilen und das dazu, dass sie noch einmal duschen mussten, bevor Kai endlich schlafen konnte.
Am Mittwochabend lag er deswegen mit kleinen Augen und Muskelkater auf dem Sofa und lernte, während Jan zu einer Party bei Matze eingeladen war. War auch okay, Matze hatte Kai mit Blicken quasi ausgeladen, und Kai wollte auch einen Tag in der Woche mal seine Ruhe haben. Lena unterbrach diese mit einem Telefonanruf zum Thema 'Klamotten beim Fotoshooting mit Benni.' Kai bekam den Auftrag weiße, schwarze und blaue Sachen mitzubringen, bekam einen Vortrag über das Thema Make-up und leider auch das Thema Schamhaarfrisuren. Dann bekam er den Auftrag, sich ausgeschlafen und fit zum Knipsen zu bemühen. Bitte ohne Knutschflecken zu erscheinen, nicht zu spät zu kommen, nicht vollgefressen zu erscheinen und auch nicht betrunken und schon gerade nicht bekifft.
Als er gereizt erwiderte "Ich bin nicht total bescheuert, Lena! Ich werde auf keinen Fall morgens betrunken zu dir rüberfahren!"
"Das ist gut, wir trinken und kiffen nämlich hier. Nicht, dass du denkst, dass du das vorher machen musst, Kai."
"Bitte?!"
"Na, also ehrlich. Ich bin zwar locker, aber so locker, dass ich mich einfach so für Fotos nackich mache, vor euch auch noch, bin ich nicht. Da könnt ihr Süßen alle noch so schwul sein. Da muss schon Alkohol her und vielleicht 'ne Tüte... wenn Lukas früher da ist, eher nicht. Der ist grad so spaßfrei geworden mit dem Zeug."
"Lukas?!"
"Hm. Na klar. Wusstest du nicht, was Benni vor hat?"
"Nein. Erzähl es mir lieber nicht, sonst komme ich gar nicht."
"Lukas holt dich ab. Keine Sorge."
Ab diesem Telefonat machte Kai sich Sorgen. Jan nicht. Der machte sich lustig. Die Witze über Nacktbilder von Kai nahmen schier kein Ende. Genervt giftete Kai am Telefon mit Tini am nächsten Morgen daher "Jan wird bei der Nacktbildsache mit einem Mal total locker. Und das, wo er mir sonst Stress macht, wenn ich mal eine nette Hose anziehe! Kann er nicht bei den Sachen anstrengend werden, bei denen ich das will, oder was?!"
"Die neue grüne Hose?" Die Stimme verriet, dass Tini grinsen musste.
"Ja, wieso?"
"Ach... nur so."
Und im selben Moment hatte er ein Dejavu von dem Bambi, der genau so reagiert hatte. Musste was an der Hose dran sein. Kai nahm sich vor, Jan mal zu fragen, wenigstens würde der mit einer genaueren Aussage dazu rausrücken.
Tini rief ihn natürlich nicht nur so an. Kai musste Tini in Sachen Männer beraten, oder vielmehr in Sachen Mann, da sie sich mal wieder mit Holger gefetzt hatte. Es war dieses Mal zum Thema Zukunftsplanung und darin war Kai nicht sonderlich erfahren. Er plante immer nur bis zu der nächsten Prüfung und die zog er dann durch. Mehr kümmerte ihn in der Regel nicht. Solche Gedanken: 'Wie will ich arbeiten, wie will ich leben, wo will ich leben, will ich Kinder haben?', hatte er nicht zu meistern. Er wusste, dass er Chirurg werden würde, weil er gern operierte, welche Spezialisierung war fast egal. Er wusste, dass er so viel arbeiten würde, wie notwendig und erträglich und sich schon auf das Geld freute, das er damit verdienen konnte. Er wusste, dass er bei Jan bleiben würde so lange es ging und sah ihrem gemeinsamen Leben, seitdem sie so gut miteinander auskamen, sehr entspannt entgegen, freute sich darauf.
Auf Tinis Frage, ob er sich nicht Gedanken darum machen würde, wie er sein Leben und Jans Leben verknüpfen würde, überlegte Kai sehr kurz, dann sagte er schlicht die Wahrheit. "Wo er hingeht, geh ich hin."
"Gott... weiß ich ja auch! Und irgendwie ist das bei mir nicht so. Ich will, dass Holger mich mitbedenkt. Aber er ist beim Bund. Die müssen dauernd umziehen. Alle paar Jahre an einem anderen Ort? Vielleicht gar ins Ausland? Das ist so schrecklich... ich weiß nicht, ob ich das kann! Kinder allein großziehen, wenn der Vater dazu im Ausland rumkämpft."
"Kinder?! Bist du irre, jetzt schon so daher zu reden?!" Genervt zupfte Kai vor dem Spiegel an seinen Haaren und überlegte, ob er Lolli beknien sollte, ihm noch schnell die Wimpern zu färben.
"Ich weiß! Es ist total für den Eimer, so zu planen, wenn sich doch jeden Augenblick alles ändern kann. Das kommt alles, weil Holger schon älter ist. Der wird doch im Sommer dreißig. Scheiße, allein diese Zahl zu sagen!"
Kai stockte in einer giftigen Antwort und ließ den Kopf hängen. "Ist das nicht egal?" Er fragte es sich selber. War es das?
"Eigentlich ja, aber ich kann auch verstehen, dass Holger eben mehr plant. Ist alles nicht so leicht gerade. Meine Eltern können ihn total nicht ab, weil er die paar Jahre älter ist und so."
"Ehrlich?"
"Die wollen, dass ich mit meinem Exfreund wieder was anfange. Ist der Sohn von deren Kollegen. Dauernd sind die bei uns eingeladen und ich soll auch antreten. Ist das ätzend oder was? Und in meiner WG macht Renate uns die Hölle heiß, wenn wir auch nur am Frühstückstisch knutschen... übernachten darf Holger gar nicht erst, da wird sie total klerikal. Und ich? Ich bekomm immer so Herzrhythmusstörungen, wenn er anfängt von Zukunft, von seinen Plänen und so!"
"Hör endlich auf, so hysterisch zu sein. Zieh doch erst einmal mit Holgi-Baby zusammen, wenn ihr das aushaltet, ist doch alles gut! Wenn nicht, eben nicht."
"Oh Gott, fängst du auch schon damit an?!"
"Womit?"
"Das setzt mich irgendwie unter Druck. Ich soll zusammen ziehen... zusammen in den Urlaub fahren, zusammen.... muss man jetzt alles zusammen planen? Ich will das nicht!"
"Du bist eben bescheuert." Kai überlegte eine Sekunde, dann fragte er "Willst du etwa bei Renate, der Ministerin für Spaßfreiheit, wohnen bleiben?" Und damit bog ihre Unterhaltung zum Glück erneut in eine über Renate und deren neuste Macken ab.
Am Donnerstag tat Kai noch immer alles weh vom Sport und er hatte noch immer Stress von der Neuroanatomie und Kopfweh vom Formalin. Es baute sich alles so dermaßen nervig in ihm auf, dass er ziemlich lustlos arbeitete. Dazu war er unkonzentriert und achtete nicht auf das Spannerfenster, was ihn dann direkt zum Opfer von Leon machte. Sein Chef kam, sehr vorteilhaft in teurem T-Shirt und einer leichten Hose bekleidet, an die Bar geschlendert und hatte seine Chemopumpe dran. Das konnte man nur dann sehen, wenn man es wusste.
Mitleidig erkundigte Kai sich nach dem Befinden und erhielt einen total beknackten Anmachspruch als Antwort und Abfuhr in einem. Darüber ärgerte Kai sich wiederum so sehr, dass er Leon betont giftig aus seinem Arbeitsbereich hinter der Theke verwies. Zugleich sah Leon, dass Kai der Sport noch immer nachhing und nutzte die folgende Unterhaltung über Muskelkater, um Kai auf die Pelle zu rücken und ihm betont mitleidig einmal die Schultern zu massieren.
Natürlich haute das Konzept total hin. Die Gäste an der Theke ergötzten sich am Anblick und der Umsatz war angepasst deutlich in die Höhe geschossen. Das Trinkgeld auch. Kai war an diesem Tag von der Stimmung genervt, auch wenn er sich nicht von Leon angemacht oder gar angebaggert fühlen konnte. Daher war er regelrecht froh, dass Jan ihn von der Arbeit abholen kam. So musste er Leon nicht auch noch im Wagen ertragen mit seinen dämlichen Ideen zum Thema Marketing mit Sexappeal.
Aber der Abend führte zu einer Enttäuschung. Jan war ihn abholen gekommen und auf dem Rückweg sogar noch bei der Tankstelle Milch holen gefahren, damit Kai seinen Kaffee am anderen Morgen hatte. Danach war ungemein lieb und umkuschelte ihn eine ganze Weile. Ohne irgendwelche Gegenleistungen durfte Kai sich streicheln und massieren lassen, aber die ganze Aktion geschah natürlich mit Hintergedanken. Jan rückte endlich heraus, dass er zwei Tage Neuroanatomie abkürzen wollte, um für eine gute Woche auf einen Trainerlehrgang in den Süden zu fahren. Kai stützte sein Kinn auf die Hände und spürte Jans rauen Fingern auf seinem Kreuz nach. Mit Mühe schaffte er es, sein Gehirn davon zu überzeugen, dass er ohne Jan super auskommen würde. "Eine Woche? Ist doch nicht schlimm."
Jan war realistischer. Er verfolgte mit zwei Fingern den Verlauf des Rückgrates und sagte leise "Hätte ich bis vor kurzem auch gedacht, Kai. Aber Ostern waren nur zwei Tage, das sind neun, wenn man die Fahrttage mitrechnet."
Kai schloss die Augen. Jan hatte Recht. Sie waren Ostern kaum getrennt gewesen und schon hatte er sich nicht mehr gut gefühlt bei dem Gedanken an die Ruhe, das eigene Fernsehprogramm, mehr Platz im Bett und bessere Musik beim Frühstücken. Er drehte sich um und schob seine Finger an Jans Oberarmen unter das T-Shirt. "Das geht... irgendwie. Es gibt ja Telefon. Holger und Tini müssen über zwei Monate auskommen. Wenn die das schaffen, schaffen wir eine Woche, nicht?" Tapfer nickte er einige Male.
Aber nach dem Freitagstestat war Kai noch immer deprimiert und komplett geschafft und ging ins Bett fernsehen, als Jan die Wohnung gerade verlassen hatte, um zu seinem Auswärtsspiel zu fahren. Lolli rief Kai an und unterbrach ihn in Selbstmitleid und bei einem ziemlich schlechten Film. "Meine Maus! Es ist alles so aufregend, ich pischer mich gleich durch!"
"Tu es nicht. Was ist los?"
"Ich hab den London-Job bekommen, mein Süßes, wie geil, wie geil! Ich ziehe zu Geoffrey und der ist auch schon total glücklich."
"Oh. Und Benni?" Am anderen Ende herrschte kurz Stille. Misstrauisch lauschte Kai. "Er weiß es noch nicht?", vermutete er dann.
"Das wäre der Grund für meinen Anruf. Könntest du es irgendwie aus Versehen morgen beim Fotografieren fallen lassen? So gänzlich nebenbei?"
"Kannst du nicht die Meiersche auf ihn ansetzen? Wo steckt Carl überhaupt? Den hab ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen."
"Ich ehrlich gesagt auch nicht. Er muss einen neuen Mann haben, der anstrengend ist. Nun, das sind seine süßen Toys ja alle. Probleme, Probleme, Probleme! Aber in diesem Fall bekomm ich ihn kaum an die Leitung. Allerdings... ich war selber ziemlich busy. Immer mal in London und so weiter. Und selbst? Wie ist das Eheleben?"
"Anstrengend. Ich hab Muskelkater."
"Zuviel Sex? Und da willste jetzt hoffentlich kein Mitleid, du Prinzessin."
"Nee, darüber beschwere ich mich nie im Leben! Es ist was anderes, Jan zwingt mich zum Sport. Es ist furchtbar."
"Er zwingt dich?!"
"Hast du ihn in letzter Zeit mal gesehen? Der hat den totalen Traumkörper, die Strandsaison steht an und seine Eltern haben ein Haus am Meer. Was bleibt mir übrig, als mich halbwegs fit zu machen?"
Lolli lachte laut auf. "Deine Fußballerhete ist eben kein Spaziergang. Meine Süßes, ich hab dich gewarnt und gewarnt... aber sieh es mal so: du hast einen Mann mit Traumkörper, Traumkonto und er lässt dich ran. Hinten ran und rein sogar! Was kann geiler sein? Das Bissi Muskelkater würd ich doch glatt auf mich nehmen für so einen Fang."
Kai grinste. "Hast Recht. Sag mal, was machst du denn eigentlich morgen Früh?"
"Schlafen."
"Nein, ich meine, musst du arbeiten oder so?"
In Schönheitsangelegenheiten war Lolli auf Zack und durchschaute Kai sofort. "Soll ich dir vor dem Fototermin noch mal die Wimpern färben? Kein Thema, ich bin ab Mittag bei Lena zum Schminken und wegen meiner Klamotten. Lukas holt mich ab, dann wollten wir dich mitnehmen."
"Auweia. Ich will nicht! Das wird immer wilder. Ich helfe, aber ich lass mich nicht anmalen, nicht verkleiden, nicht..."
"Nicht ausziehen? Wo denkst du hin? Wir alle freuen uns schon auf Lukas' Körper. Er hat gleich gesagt, dass er das gern macht."
"Elender Narzist." Und noch ein Stresselement war hinzugekommen. Nackt sein, okay, aber dann auch noch mit Lukas in einem Raum nackt sein? Lolli sah das ähnlich. "Jetzt wird mir erst was klar, Kai! Oh mein Gott! Du und Lukas zusammen nackt in einem Raum! Das wird so geil, Benni und ich werden uns pausenlos einen runter holen, Maus! Ich freu mich total! Du, ich muss, mein Handy geht. Bussi!"
Und somit hatte Kai Angst und Herzklopfen und fühlte sich nicht gut, als er sich am Morgen besonders vorsichtig rasierte und eincremte. Er hatte die kleine Sporttasche von Jan mit den von Lena bestellten Klamotten gefüllt. Leidend lernte er dann die Zeit bis er von Lukas abgeholt wurde an den Nervenbahnen für die nächste Woche, um neben Jan nicht total blöde auszusehen. Jan schlief noch, als er abgeführt wurde, daher kritzelte Kai ihm einen Zettel. 'Bin bei Lena wegen der Fotos. Rette mich bald!'
Als Lukas klingelte, rief Kai hastig in die Gegensprechanlage, dass er runterkommen würde. Vor der Tür stand ein roter Bulli. "Oh, ist der neu?"
"Nope. Neuer Lack für alte Kiste. Ich wollte den demnächst mit einem neuen Bild für Spanien fein machen." Lukas lehnte sich dichter und raffte Kai mit einem Arm an sich. Die dunklen Augen suchten sein Gesicht ab, dann schob sich eine Hand nicht gerade sachte über Kais Hintern. Lukas lehnte sich dichter und küsste ihn auf den Hals, um ihm ans Ohr zu raunen. "Na, Engelchen? Wie geht es dir?"
Kai ließ sich erschaudernd drücken und blickte von Lukas' Körper abrückend forschend in sein Gesicht. "Gut, und selbst?"
"Sehr gut. Komm noch mal her, du hast mir echt gefehlt."
Seufzend ergab Kai sich und ließ sich drücken, schob seine Arme selbst um Lukas' Oberkörper, um ihm über die Schultern zu streicheln. Ihre Körper passten gut zusammen, es war vermutlich reine Chemie oder Biochemie, denn Liebe war es sehr sicher nicht, aber Kai mochte die Nähe für den Moment ganz gern. Lukas drückte ihn an sich, hob mit einer Hand sein Gesicht und küsste ihn gerade auf den Mund, als Jan sich oben über die Brüstung von ihrem Balkon lehnte.
"Hey! Kai?"
Mit rotem Gesicht schob Kai Lukas von sich, aber Jan war nicht sauer wegen der Begrüßung. Er wedelte mit dem Zettel. "Wann retten? Ich muss noch zum Training und wollte hinterher in die Sauna gehen."
Die Bullitür wurde aufgeschoben und Kai erblickte Lolli, Benni und ein Gewühl wildester Kostüme. Hysterisch fuhr Kai herum und schrie hoch. "So schnell du kannst!"
Mit einem Lachen winkte Jan ihm noch einmal zu, dann wurde Kai auf den Beifahrersitz geschoben und ins Verhängnis gefahren. Lolli war übermäßig gut drauf und zappelig. Lukas war gut gelaunt und noch immer mit dem anderen Kai zusammen. Es schien ausgezeichnet zu laufen mit den beiden, ein gemeinsamer Urlaub war in Planung. Benni war sogar nahezu ekstatisch und voller Ideen, die er auch nicht bei sich behalten wollte. Die meisten dieser Ideen hatten allerdings etwas mit Farbkonzepten zu tun und mit Lichteffekten, die er ausprobieren wollte. Außerdem teilte er jedem, der es nicht hören wollte, die neusten Neuerungen auf dem Markt der Spiegelreflexkameras mit.
Kais Fluchtgedanken waren trotz akuter Langeweile wegen Bennis Gelaber nicht zu dämpfen. Und als erstes in Lenas Wohnung wurde jedem ein Glas Prosecco in die Hand gedrückt und Lena schenkte großzügig nach, während Lolli mit Benni über Kostüme redete und dieser seine Ausrüstung verteilte. Die Musikanlage im Wohnraum war an diesem Tag deutlich kleiner. Die einzelnen Zimmer der Mitbewohner waren bis auf Lenas alle verschlossen und die Fenster zum Wohnraum mit zugezogenen Gardinen oder Rollos versehen.
Doch die Wohnung hatte noch immer denselben großzügigen industriellen Look. Mit den hohen Fensterfronten zum Hinterhof war es überall schön hell. Durch die Möbel und die Küche war die ehemalige Halle in wohnliche Bereiche aufgeteilt. Bei der Feier waren der Esstisch mit den zehn Stühlen und die Sofagarnituren alle zur Seite geräumt gewesen. Heute bildeten sie Inseln in dem weitläufigen Raum und teilten ihn auf diese Art auf.
An der Fensterfront entlang standen noch immer die schweren Metalltische. Auf ihnen weiter hinten durch standen hordenweise große Pflanzen in dicken Kübeln herum, die ihren Marihuanalook kaum verbergen konnten. Lena schnippte lässig gegen eine Pflanze und verkündete. "Alles Männchen, wie im richtigen Leben bringen die es gar nicht. Reine Deko die Teile." Daraus schloss Kai, dass sie sich noch im Dalimodus befand.
Die Küche war genau wie bei der Party etwas überdimensioniert wirkend offen in den Raum hinein gesetzt. Auf dem Küchentresen zwischen einer großen Obstschale und einem amerikanischen Saftmixer lag eine dicke schwarze Katze lang ausgestreckt und blinzelte Kai faul entgegen.
Lena kraulte die Katze kurz hinter den Ohren. "Das ist Torsten, nach meinem ersten Exfreund. Als der mich damals so verarscht hat, hab ich diesen Torsten zum Trösten geholt und gleich erst einmal kastrieren lassen. Zur Sicherheit!"
Benni scheuchte Kai und Lolli gleich darauf vom Wohnraum in das Badezimmer fort, um mit Lena schon einmal anfangen zu können den Wohnraum zu präparieren. Lukas bekam den Befehl, mal mit den Leinwänden und den Stativen für die Kameras zu helfen. Lolli schloss hastig die Tür zum Bad, weil er nicht helfen wollte, und Kai ließ sich auf dem Klodeckel nieder, um seine Wimpern anpinseln zu lassen. Lena hatte dank ihrer Haarfärberei alles da, was man brauchte.
"Na, Maus? Als ich neulich bei euch war, hatten wir ja gar nicht so recht die Zeit, um zu reden." Lolli grinste und reichte Kai das Proseccoglas.
"Aha?" Kai hatte schon zwei Glas intus und nippte nur noch einmal. "Was willst du wissen?" Das Wort Unterhaltung war für Lolli synonym für 'Ausfragen', das war Kai auch so schon klar.
"Och, Gottele, nur so dies und das und... schlaft ihr noch immer so doll miteinander?"
"Hm." Kai nickte nur halbherzig.
"Echt jetzt?"
"Erst neulich war total anstrengend. Wenn Jan Bock hat, dann aber richtig." Kai trank doch noch einen Schluck. "Wieso?"
"Ach, für gewöhnlich ist nach drei Monaten Eheleben wohl jeglicher Funke erloschen."
"Echt?" Das erinnerte Kai daran, dass ein Flirt von zwei Wochen für Lolli schon als Beziehung durchging.
Missmutig drehte Lolli an der Eieruhr und befahl. "Augen zu."
"Was machen denn all die Heteros, die zwanzig Jahre zusammen sind?!"
"Glaubst du im Ernst, dass deine Eltern das noch treiben, Kai?"
"Hm." Kai schloss die Augen und ließ sich einpinseln, endlich nickte er leicht. "Ich bin mir nach neulich sogar sicher. Meine Mutter nennt Norbert wieder Nolle. Wie damals, als ich noch nicht auf der Welt war."
Lolli kicherte. "Zweiter Frühling, was?"
"Was soll das ganze Gequatsche?"
"Wegen Geoffrey und mir. Ich hab mich total gefreut, mit ihm zusammen zu ziehen und jetzt sind wir ja beide negativ und haben nach der langen Sexpause wegen dem Schock echt Lust aufeinander. Allerdings wollen wir nun vorsichtig sein und... na ja, monogamer werden, ich wag es nicht zu sagen. Und nun fangen alle an von wegen Ehebett ist Todesurteil für den Sex und so. Ich meine bei Frank hab ich das ja für eine ganze Weile gut geschafft, aber er eben gar nicht. Keine zwei Monate wohl nicht, wie sich nachher herausgestellt hat. Jetzt hab ich Angst, dass... es mir mit Geoffrey auch so ergeht. Ich halte mich dran, denke, dass alles gut ist, langweile mich sogar ein wenig und er... nicht." Deprimiert matschte Lolli in der Farbe herum.
Kai musste wieder still halten, dann leerte er sein Glas und sagte entschieden. "Wir müssen die Ausnahme von der Regel sein, wenn das wahr ist. Wir sind treu, seit einer guten Weile jetzt zusammen und wir tuns und zwar in dem schlimmsten Bett auf Erden!" Er seufzte leise. "Langweilig fand ich es noch nie. Im Gegenteil finde ich, dass es eher besser wird." Der Prosecco war mal wieder Lollis Erfüllungsgehilfe. Genervt versuchte Kai seine Indiskretionsabteilung stumm zu schalten.
Seufzend stellte Lolli den Wecker auf das Waschbecken. "Ihr seid meine letzte Hoffnung. Ist das ein Knutschfleck, Kai?"
"Nö. Da hab ich mich ausnahmsweise mal am Tisch in der Uni gestoßen. Ehrlich, wer macht denn Knutschflecken auf den Oberarm?"
"Wo du letztes Mal alles Knutschflecken hattest, meine Süße, mag ich nicht wiederholen. Bei dem Bett ist das wahrlich ein Wunder."
Kai lachte, als er sich an das LPP erinnerte. "Die waren nicht im Bett entstanden."
"Nein? Sofa? Bei dem Sofa ist das auch ein Wunder." Lolli gähnte.
Kai zögerte kurz, dann rollte die Indiskretionsabteilung an der Vernunft vorbei und brachte ihn zum Reden "Kühltruhe im LPP... hatte die richtige Höhe."
"Gott! Ich hasse euch!" Lolli trank sein Glas aus und riss die Tür auf. "Hey! Nachschub! Wir sitzen auf dem Trockenen!"
Benni erschien in seinen drögen grauen Cordhosen und einem Schlabberhemd und reichte ihnen eine neue Proseccoflasche ins Bad. "Ich brauche dich noch länger nicht, Kai. Henri hat gerade angerufen, dass er gleich vorbei kommt. Ich fang mit Lukas an." Er wandte sich gleich wieder fort und verschwand.
"Henri kommt? Auweia, das wird geil! Lukas und Henri zusammen in einem Raum wird endgeil. Noch zwei Minuten, meine Maus. Ach, ich freue mich auf die Show!" Lolli klatschte wild in die Hände. Dann lehnte er sich dichter und raunte "Ich schaffe es, euer Ehebettchen zu verzaubern und du schaffst es, Benni die Sache mit meinem Umzug zu verklickern. Deal?"
"In Ordnung." Gutmütig und angetrunken nickte Kai das ab.
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