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Trost 2
Kapitel 128-131
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Inhaltsverzeichnis
128
Kai wusste, dass er für die Einweihungsfeier gute Nerven brauchen würde. Allein die Kombination von seinen Freunden und Bekannten und Jans Fußballverein und seinen Schulfreunden, von denen vermutlich, dank der Schwulengerüchte durch diese Exfreundin Maren, einige aus purer Neugierde zugesagt hatten zu kommen, machte ihm schon seit Tagen leichtes Kopfweh.
Als Lolli ihn aber am Mittwoch wegen der Feier anrief, steigerte sich das Ganze natürlich mal wieder in eine satte Hysterie. Es war eigentlich ein schöner Mittwoch gewesen. Tini war mit dem Flugzeug samt ihrer Eltern verschwunden, ohne ihn noch einmal persönlich zu nerven. Holger musste arbeiten und die Semesterferien hatten begonnen. Kai hatte sein Lernpensum für den Tag geschafft und Jan hatte auch ein wenig gelernt. Sie hatten gemeinsam gekocht. Gut, Kai hatte gekocht, Jan ihn befummelt dabei. Niemand war vorbei gekommen, niemand hatte sie genervt und gestört, so dass sie nach dem Mittagessen und einem kleinen Mittagsschlaf in aller Ruhe Kuschelsex hatten haben können.
Sie hatten dann im Keller etwas herum geräumt und noch mehr Stuhlkissen von Hannah gefunden. Jan hatte im Baumarkt am Nachmittag dann eine Bierzeltgarnitur für draußen erstanden und somit hatten sie wirklich genug Sitzplätze sowohl draußen als auch drinnen. Außerdem stand nun fest, dass der Gartentisch ihr Esstisch bleiben würde und das freute Kai wiederum, weil er den Look in ihrem Wohnraum mochte. Dann beschloss Jan, den indischen Teppich wegzunehmen, weil der bei der Feier nicht dreckig werden sollte und im Folgenden sah ihr Wohnraum endgültig geil aus. Kai hatte Jan dazu noch im Baumarkt den Kauf von Gartenlaternen und Kerzen unterjubeln können. Er freute sich auf die Stimmung auf ihrer Dachterrasse, wenn sie die Laternen am Abend anzünden würden.
Kurz vor sechs Uhr ging Jan eine Runde im Wald laufen, und Kai saß noch über seinen Büchern, als das Telefon ihm Lolli anzeigte. Seufzend stählte Kai sich, aber war seinem Ex-Mitbewohner dennoch nicht gewachsen. Die Einweihungsfeier würde am nächsten Samstag sein, aber Lolli teilte Kai mit, dass ein sehr wichtiges anderes Event auf eben diesen Samstag fallen würde. Irgendwer hatte es Lolli gerade an diesem Morgen wohl in Erinnerung gebracht.
"Maus! Das geht so nicht! Das geht gar nicht, das ist nicht fair von euch! Habt ihr denn gar nicht nachgedacht, ihr Süßen?!"
"Lolli, was ist jetzt schon wieder?"
"Das ist der Grand Prix-Tag! Süße, das kannst du uns nicht antun, dass wir darauf verzichten müssen! Carl und Lena, Lukas, sein Kai und Frank wollten auch kommen und natürlich..."
Jan kam durch die Terrassentür nach draußen und zog sich das verschwitzte Funktionsshirt vom Oberkörper. Es war Saisonende und Jan hatte durch das viele Training der letzten Wochen noch einmal Gewicht verloren. Er schien nur noch aus einer ungemein lecker verpackten anatomischen Studie zu bestehen. Die Shorts vom Joggen saß verteufelt tief auf seinen Hüften und als Jan sich streckte, konnte Kai sich an den von der Meierschen so geliebten Grübchen über dem Po erfreuen. Die rot-golden, schräg auf leicht verschwitzt, glänzende gebräunte Haut fallenden Sonnenstrahlen halfen da auch nicht unbedingt.
Kais Mund wurde trocken. Lollis Gesabbel verschwamm im Hintergrund. Nervös und umgehend geil streifte Kai seinen Freund mit kleinen Blicken und fragte sich unruhig, ob ihnen noch Zeit bleiben mochte, bevor die Gäste für diesen Abend kommen würden. Thilo, Bianca, Matze und Holger sowie Renate waren zum Testessen angekündigt. Offiziell nannten sie es Abstimmungstreffen vor der Lerngruppe. Wieso Matze, Bianca und Thilo mit einem Mal dabei waren, war nicht sonderlich klar. Aber Spontangrillparty war natürlich auch immer ein guter Grund, zum Parasiten zu werden und Jan nutzte jede Gelegenheit, um Matze nicht als Freund zu verlieren. Nach der Knutscherei auf der Feier in der Pädagogischen war dieser wohl wieder ein wenig gehemmter gewesen. Bianca hingegen nutzte weiterhin jede Chance, um mit Thilo bei Jan einzufallen. Ziemlich verdächtig.
Lolli rechnete, im Hintergrund sabbelnd, aus, dass sie das zeitlich nicht schaffen würden, zu grillen, zum Grand Prix schauen, zu Frank zu fahren und dann wieder zur Restfeier zurück zu kommen. Kai murmelte unbestimmt 'Hm' und schaltete auf Durchzug. Jan begann ahnungslos damit, den Grill mit Holzkohlen und Grillanzündern zu füllen und entzündete diese mit kritischem Blick auf die Anleitung auf der Packung.
Endlich unterbrach Kai den Sermon an seinem Ohr. "Lolli, die Feier geht nur an diesem Abend. Außerdem fällt dir das mächtig spät ein. Alle sind eingeladen, vor allen Dingen lauter Freunde von Jan aus der Schulzeit, die hier übernachten kommen und so. Die Meiersche hat das Arbeitswochenende getauscht, und wir haben schon die Vorräte eingekauft." Jan hatte das gemacht und es hatte einen Ministreit über die Rechnung gegeben.
Lolli ließ sich nicht so leicht überzeugen, aber Kai schaffte es, ihn mit einem Bericht zu der neuen Möbellage in ihrer Wohnung ein wenig von der Fährte zu bringen. Lolli lamentierte eine Weile über die Möglichkeiten, Deko von Hannah zu den Möbeln zu kombinieren und begrüßte das Entfernen des indischen Teppichs, während Jan duschte, um sich dann in seiner alten Jeans und mit einem unmöglichen T-Shirt wieder um den Grill zu kümmern. Endlich jubelte Lolli, in Erinnerungen an den riesen Fernseher im Wohnzimmer vertieft. "Ich simse mal mit den anderen, aber dann machen wir es doch vielleicht einfach so, Maus, dass wir Party und Grand Prix verbinden! Dann schauen wir bei euch. Ist doch gut für die Stimmung!" Fröhlich wandte Lolli sich dem Thema Klamotten zu. Augenscheinlich würde er sich vollkommen überzogen in Schale werfen und leider hatte das Jiffi einen Flug in ihre Stadt mit Kurzurlaub verbunden und würde ebenfalls erscheinen.
"Benni ist nicht eingeladen, damit das klar ist!", giftete Kai gerade, als Jan rüber rief und ihn bat, die Tür mal zu öffnen.
Davor standen Matze, Thilo und Bianca und grinsten froh. Noch im Flur riefen Matze und Thilo Jan zu, dass das Pokal-Endspiel auf den Samstag fallen würde. Endlich sei ein deutsches Team dabei, wie geil. Das war ja wohl das Event und Jan hatte als einziger von ihnen Pay-TV und würde das Spiel live sehen können. "Jan, das sehen wir zusammen auf der Feier, oder?"
Jan grinste zurück und schwenkte die Grillzange. "Na klar! Wozu hab ich den riesen Fernseher?"
Kai fühlte sich, einem Schwächeanfall nahe, und in sein Ohr schrie Lolli: "Wenn die Fußball sehen wollen, Kai, dann wird mir schlecht! Oh Gott, ohgottohgott! Na, dann komm ich als Lolita, damit immerhin etwas femininer Charme die Feier mit Glanz erfüllt! Nein! Ich werde die Meiersche, Frank und den Dali und..."
"Ist ja gut! Wir kriegen das hin. Bitte werd nicht hysterisch, Lolli!" Kai hatte das schreien müssen und die anderen starrten ihn an. Hastig legte er auf und lehnte sich mit halbgeschlossenen Augen gegen den Dielenschrank. Und dann passierte das Schrecklichste. Bianca lehnte sich grinsend neben ihn und blickte zu Jan und Matze rüber, die Kai verständnislos musterten. "Der Grand Prix ist auch am Samstag, nicht wahr?" Sie aalte sich in Kais nervösem Blinzeln. "Das ist ja wohl das Schwulenevent des Sommers, gleich nach einer royalen Hochzeit, oder?" Böse lächelnd sah sie zu Jan und Kai brachte das Telefon weg, um den Blicken entgehen zu können.
Es war ja klar, dass diese Einweihungsfeier in die Annalen eingehen würde. Als das schlimmste Event aller Zeiten, als die Todesursache für Kai... gleich nach einer schwangeren Tini, die ihm etwa alle fünf Minuten Mails und SMS schickte mit Berichten von der Art und Weise, in der ihre Eltern ausgerastet waren. Auf dem Flug nach Kanada hatte Tini nicht mehr an sich halten können und danach hatte sich die Familie gepflegt über den Atlantik hinweg angeschrien, so dass eine Horde Mitreisender sicherlich nie wieder mit dieser Airline fliegen wollten, um diesen Leuten bloß nie wieder zu begegnen. Jedenfalls hatte Tini im Verlauf der Reise sogar mit einem netten älteren Pastor den Sitzplatz getauscht, um ihren Eltern zu entgehen.
Das Telefon klingelte wieder, es war wieder Lolli, der noch etwas nachzusetzen hatte. Hastig rief Kai ins Telefon "Lolli, wir klären das. Verlass dich darauf! Bis Samstag. Komm bitte als Mann, bitte, bitte..."
Lolli hmpfte und erwiderte "Mal schauen, mein Liebchen, mal sehen! Ich hab ohnehin noch eine tolle Überraschung für dich. Bis Samstag! Tata."
Kai wankte auf die Dachterrasse und begegnete Jans fragendem Blick. Matt stimmte er Bianca zu. Es war Grand Prix, und auch wenn er selber die Veranstaltung scheiße und langweilig fand, waren andere schwule Männer anderer Meinung. Leider einige davon auf ihrer Gästeliste. "Jan, das wird grauenhaft. Wenn du Fußball anmachst, dann benehmen die sich daneben. Du weißt, was Lolli dann macht."
Matze hob das Kinn. "Wenn ihr diesen Scheiß anmacht, dann benehmen wir uns daneben. Das ertrag ich nicht!"
Jan blinzelte von seinem Kumpel zu seinem Freund, dann bestimmte er "Ist mein Fernseher, ich mach den an wofür ich will und das wird nicht Grand Prix. Ich verpasse doch nicht das Pokalendspiel!"
Beruhigend nickte Kai, um wenigstens Jan nicht auch noch hysterisch an der Hand zu haben. Der wandte sich sogleich dem Grill wieder zu. Das Thema war für ihn durch, er fachsimpelte lieber mit Thilo über Grillkohlen und die Position vom Rost.
Es klingelte an der Tür und Holger erschien. Kai fühlte sich schwach und wurde von Holger mit den geflüsterten Worten begrüßt: "Bin ich froh, Kai, dass 'Ding' von dir ist. Haste von Tini schon die SMS deswegen bekommen? Hallo, ihre Eltern sind echt ausgerastet, und die fanden mich sowieso schon nicht so toll. Ich bin dir fast dankbar, Mann, dass du das jetzt abbekommst."
Eine große Hand brach ihm mit fürsorglichem Klopfen fast die Schulter. Kai sah schwarze Flecken vor seinen Augen und musste Felix' Atemübung machen.
Das brachte Holger dazu, ihn zu fragen, was denn vorgefallen sei und das brachte Matze und Jan dazu, sich über die Fernsehsache zu echauffieren, angeheizt von Biancas ziemlich gemeinen Sprüchen, bis Holger laut lachte und eine Hand hob. "Pause", sagte er gemütlich und ließ sich mit einem Bier am neuen Gartentisch nieder. Wie immer in der letzten Zeit rettete Holger sie mit seinen nächsten Worten alle. "Ist doch kein Problem. Ich bring die Tage meinen großen Fernseher rum, Jan. Den bauen wir dann auch auf und Kai schaut Grand Prix mit den betrunkenen Mädels hier vorn, dann können die hier rumtanzen mit den ganzen Tucken. Fußball sehen wir in aller Ruhe im Schlafzimmer, da stören die anderen dann nicht so."
Kai starrte Holger dankbar an und lächelte. Holger war mal wieder supertoll und seine Rettung. Jan und Matze waren mit diesem Konzept für die Unterhaltung des Abends auch voll einverstanden und wandten sich der Frage zu, wie viele Bierflaschen man in den Kühlschrank stapeln konnte. Kai konnte das Grillen ab diesem Moment sogar richtig genießen. Immerhin waren sie in einer Gruppe zusammen, in der alle wussten, dass Jan und er zusammen waren. Er musste nicht darauf achten, Jan nicht 'so anzusehen', wie das Bambi ihm immer so schön gesagt hatte.
Doch ein neuer Stressmoment tat sich indirekt vor seinen Augen auf. Im Verlauf des Abends fiel ihm auf, dass Bianca keine Ahnung hatte von der Tini-Schwangerschaft. Bianca hatte Tini nicht mehr gesprochen, weil sie durch eine Serie Poloturniere viel mit ihrem Nebenjob zu tun gehabt hatte und hatte auch keine Nachrichten oder Mails mehr von Tini erhalten. Das machte Kai ein schlechtes Gefühl für den Juli. Denn Bianca sah sich als Tinis Freundin an, und ihr so eine Sache zu verheimlichen, das war nicht wirklich schlau. Renate, das musste man ihr zu Gute halten, hielt komplett die Klappe. Sie lächelte Holger merkwürdig streng und mütterlich an, während sie sich um vegetarische Beilagen kümmerte, die Jan natürlich vergessen hatte; aber sie hielt die Klappe.
Als Kai und Renate später einmal allein in der Küche waren, meinte sie leise "Holger hat mir gesagt, dass er und Tini sich ab Juli schon eine gemeinsame Wohnung suchen wollen. Irgendwie ging das viel zu schnell mit denen, aber ich bin so froh, dass sie jetzt so verantwortungsbewusst damit umgehen."
Kai dachte mit milder Panik an das Ultraschallbild in seinem Nachttisch. Das lag pikanterweise neben der Packung Kondome und dem medizinischen Gleitgel. Dem gleichen Gel, das auch zur Erstellung des Bildes verwendet worden war. Noch immer musste er grinsen, wenn ihm diese Verknüpfung wieder einfiel.
Aber das Testgrillen war gut verlaufen, das Testbiertrinken zog sich noch, als Kai sich zum Schlafen verabschiedete. Nach kurzem Zögern vor seiner Zimmertür bog er in Jans Zimmer ab. Er hatte keinen Bock mehr, Matze zuliebe nachts auf seinen Freund zu verzichten. Als er in ihr gemeinsames Bett niedersank, war er selber schon ein wenig beruhigter. Vielleicht, ganz vielleicht, gab es eine Chance, dass sie diesen Abend zwischen schlechter internationaler Musik und Fußball überlebten.
Aber zunächst arbeitete Kai den Donnerstag im Spätdienst und es war wieder einmal ein Tag mit Studentenfeier und Lena als Diskjockey. Sie laberte mit Henrike über die Fotos und den geplanten Urlaub, war aufgekratzt und hatte einiges an neuer Musik dabei, wie sie lachend ankündigte. Aus einem Kai nicht bekannten Grund war Lena irgendwie ätzend gestimmt, aggressiv auf eine Art, die ihm die altbekannte Angst vor Frauen machte. Sie trug eine weitgeschnittene Jeans mit Schlag und ein grellgrünes T-Shirt, auf dem Ernie und Bert Arm in Arm zu sehen waren. Vorn stand 'Dreamteam' drüber.
Von diesem Look verwirrt fragte Kai Lena, als er ihr das obligatorische Wasser brachte, ob sie das T-Shirt von Lolli geliehen hatte. Sie lachte nur und winkte ab, legte als nächstes tatsächlich eine Technoversion eines Sesamstraßenliedes auf und driftete in Acidhouse-Musik ab, die Kai und auch allen Gästen sehr unbekömmlich um die Ohren ballerte und ihm nach nur wenigen Momenten zahnschmerzenartige Gefühle bereitete. Auf der Tanzfläche standen einige Tussis in ihren Ausgehklamotten etwas unschlüssig herum, die Jungs starrten abgeturnt auf ihre Handys. Aber das Ganze war natürlich Show gewesen. Geschätzte zehn Sekunden in das Ätzlied hinein tauchte Leon am Mischpult auf.
Mit einem überheblichen Lächeln drohte er Lena mit dem Zeigefinger. Sie stockte und ließ die Musik abrupt verstummen, alle starrten, dann lachte Lena und zog sich mit einer herrlich nebensächlichen Bewegung das T-Shirt aus, um ein glitzerndes Bikinioberteil und ihren Luxuskörper freizulegen. Gleich darauf wummerte Kai ausgeprägt basslastige, sexy Partymusik durch den Körper und im LPP brach Jubel aus.
Leon lehnte sich über das Mischpult zu Lena hinüber und küsste ihr mit einer angedeuteten Verbeugung die Hand, dann wanderte er zu Kai und lehnte sich neben dem Kühlschrank an, um seine Barmaus etwas zu irritieren. Als Kai seine Bestellzettel soweit abgearbeitet hatte, lehnte er sich neben Leon und sah ihn forschend an. Mit einem kleinen Lächeln bestellte sein Chef "Einmal heißes Wasser für meinen Tee."
Kai trank einen Schluck von seinem Wasser und erwiderte das Lächeln. "Heißes Wasser ist Bastis Job. Tschüss", bevor er sich mit Blickkontakt an einen Jungen wandte, der zehn Mischungen für einen Tisch auf der Galerie bestellte. Er war gerade mit Wodka befasst, als Leons Hand seinen Nacken umfing. "Du machst bald mal Pause und kommst für einen Moment zu mir." Der Ton war knapp, ein Befehl. Die Finger verließen seinen Nacken und richteten eine widerspenstige Haarsträhne am Ohr.
Kai verzog den Mund, dann lehnte er sich einen Hauch dichter zu Leon und nickte leicht, sie sahen sich kurz in die Augen, aber Kai konnte aus Leons Gesichtsausdruck nichts heraus lesen und sein Chefs sagte nichts weiter. Der Junge vor ihm wurde nervös und sah zwischen ihnen hin und her. Kai wandte sich betont kühl den Getränken zu, die er dem Jungen auf ein Tablett stellte. Gleich darauf spürte er wie Leon sich aus seiner Nähe entfernte und sah ihm kurz nach. Leon nickte Bastian kurz zu, der auf der anderen Seite für Kaffee und Bier sorgte, nahm sich sein heißes Wasser für den Tee selber und verschwand in seinem Büro hinter den Aquarien.
Als Kai etwa zwei Stunden später die Pause tatsächlich machen konnte und zu Leon nach hinten durch ging, war er von der Party bereits genervt. Es tat richtig gut mit einem Türenschließen den Lärm für einen Moment auszusperren. Leon saß an seinem Computer und hatte den Blick konzentriert auf eine Tabelle gerichtet, er sprach mit jemandem am Telefon und winkte Kai, sich auf das Sofa zu setzen.
Kai ließ sich nieder und legte die Arme auf die Knie und die Stirn auf seinen Unterarmen ab. Es tat so gut, für einen Moment den Blicken zu entkommen und dem Anblick der Partygesellschaft, an diesem Abend eine Juristenfeier. Seufzend hob er eine Hand und rieb sich den Nacken. Die Stille vom Schreibtisch aus fiel ihm zu spät auf. Als Kai den Blick hob, sah Leon ihn mit einem Lächeln an, es sah aus, als ob er das schon ein Weilchen gemacht hatte. "Müde?"
"Geht so. Ich muss jetzt viel lernen für das Physikum im Herbst."
Leon nickte verständnisvoll, dann wechselte er abrupt das Thema. "Ich fahre morgen in den Urlaub, werde nächste Woche noch einen Abend hier sein, dann bin ich auf den Montag für die Operation vorgesehen. Deinen aktuellen Dienstplan hab ich dir gemailt. Bitte tausche nicht mehr mit Maja, die hab ich gestern gefeuert. Ich stelle dir nächste Woche die neuen Tauschpartner vor. Ihre Handynummern sind schon in der letzten Mail."
"Okay." Maja zu feuern machte Sinn, die hatte sich dekorativ gemacht, aber war eine komplette Fehlbesetzung in dem Job gewesen.
"Denk daran, dass du den Neuen nicht sagst, was du verdienst, Kai."
"Natürlich nicht." Über Geld sprach man nicht, das wusste er auch so.
Leon legte den Kopf schief. "Dir ist klar, dass du dich gut machst, nicht? Ich bin sehr zufrieden. Du schaust immer aus wie ein Bild, aber zugleich schaffst du tüchtig was weg, das haben meine anderen hübschen Barjungs und -mädchen nie so vereint. Bleibst du mir nach der Prüfung erhalten?"
Kai lächelte, mit einem so direkten Lob hatte er nicht gerechnet. Er nickte. "Ich werde irgendwann im Winter vermutlich mit einer Doktorarbeit anfangen, aber ich bleibe in diesem Job. Macht mir Spaß."
Leon nickte und blickte zu seinem Bildschirm rüber, dann rasch zu Kai zurück. "Mir auch", sagte er dann mit einem frechen Grinsen. "Wo wir bei dem Thema sind. Hat es dir mit Henri Spaß gemacht?"
Kai spürte, wie sein Gesicht sich erhitzte. "Nein."
Leon blickte aus dem Spannerfenster und lächelte, hatte mal wieder einen kleinen gemeinen Sieg errungen. "Ich fahr dich heute wohl nicht nach Hause."
Kai folgte seinem Blick und seufzte leise auf. Jan schneite mit einigen Freunden zu ihnen herein. Mit sehr offensichtlich suchendem Blick wanderte Jan einmal um die Tanzfläche herum, dann lehnte er sich zu Bastian an die Theke und begann eine angeregte Unterhaltung, sehr sicher über Fußball.
"War es das?" Kai erhob sich vom Sofa.
"Hm. Geh nur, geh... aber nicht verheiratet rummachen, klar? Dafür wirst du hier nicht bezahlt."
Kai kommentierte das nicht, sondern ging hinten rum noch aufs Klo und trat dann aus der Küche an seinen Arbeitsplatz zurück.
Jan winkte ihm einmal locker zu, kam auf seine Seite der Theke und ließ sich von Kai zu einem Bier einladen. Er lehnte sich über den Tresen und Kai lehnte sich auch zu ihm, in der Annahme, dass Jan ihm etwas sagen wollte, aber der knutschte ihn nur rasch auf die Wange.
Gereizt machte Kai sein 'Verpiss dich' Gesicht und sah seinem fröhlich grinsend davon gehenden Freund böse nach. In Sekunden hatte er Leon am Hals. Natürlich hatte dieser dämliche Overlord alles mitbekommen. Er lehnte sich neben Kai an den Tresen und schob eine Hand auf seine Hüfte herum, um ihn dichter zu ziehen.
Abwartend sah Kai ihn kurz an, aber polierte das Glas weiter. Er wurde davon überrascht, dass Leon ihm das Glas sachte abnahm und sich an sein Ohr beugte. "Was ich noch zu sagen vergessen hatte, Kai. Ich wollte fragen, ob du für die Zeit nachts allein nach Hause kommst. Felix meinte, dass du vermutlich bald soweit bist."
Kai legte das nun nutzlose Poliertuch fort und trank einen Schluck von seinem Wasser. "Ich bin fast sicher, dass ich das schaffe. Ich hab aber in den nächsten Wochen wegen der Lernerei nur Donnerstag spät, sonst immer Frühdienste, Leon." Sie sahen sich in die Augen und Kai fügte in geduldigem Tonfall an. "Mein Freund holt mich sicherlich gern auch mal ab."
Leon lächelte leichthin, die Wärme von seiner Hand sank allmählich durch den T-Shirtstoff in Kais Haut an der Taille ein. "Ab der Operation, hab ich Felix versprochen, fährst du allein so oft es geht."
Kai nickte das ab und ging um Leon herum, um ein nervös kicherndes Mädchen mit einem knappen Nicken und einem Blick nach den Getränkewünschen zu fragen. Als er sich zurück drehte, lehnte Jan auf der anderen Seite an der Bar und starrte ihn auffordernd an. Kai schüttelte den Kopf und reichte ihm kommentarlos noch ein Bier rüber, bevor er sich an die Cocktails aus dem Angebot machte.
Der Abend ging so weiter. Im Endeffekt war Jan ziemlich hinüber, als Kai ihn mit sich aus dem LPP schleifte, nachdem sie gemeinsam aufgeräumt hatten. Das Aufräumen schon war mit reichlich Anfummeln und Kuscheln länger als geplant geworden, so dass Kai recht genervt war, als sie am Mercedes anlangten, wo Jan sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Gereizt schweigend kutschierte Kai seinen Freund nach Hause. In der Garage sah er Jan an und stellte sich der unumgänglichen Diskussion. "Was ist los?"
"Los?"
"Du bist komisch." Nervös fragte Kai sich, ob es jetzt anstrengend werden könnte. Jan war gefährlich, wenn es um das Thema Wahrnehmung in der Beziehung ging.
Jan gähnte und löste seinen Gurt, dann lehnte er sich dichter zu Kai. "Ich... " Er stockte, forschend betrachtete er ihn. Mit einem Mal sah er unangenehm ernst aus. "Ich liebe dich, okay?"
"Jan? Was ist los?" Misstrauisch blickte Kai seinem Freund in die Augen. Im grellen Licht der Garage funkelten ihm die goldenen Fleckchen entgegen.
"Es ist nur so, Samstag ist die Feier. Schon morgens kommen meine ganzen Schulfreunde und die Freunde aus dem Team kommen am Abend und ich..." Er seufzte. "Ich hab Angst, dass ich dich falsch behandele, aus Unsicherheit oder so."
"Jan! Das kann doch nicht wahr sein! Du weißt doch genau, dass ich es nicht abkann, wenn du mich vor allen Leuten abknutschen musst! Wie in der Pädagogischen. Geht ja wohl gar nicht! Das ist voll peinlich und..."
"Und Leon?! Warum darf der dich anfummeln und mit dir rumkuscheln, hä?!"
Kai sah ihn an. "Das hast du jetzt nicht wirklich gefragt." Stur starrte Jan ihn an und Kai ergab sich endlich in den kindischen Blick und das etwas zu eckige Kinn. Er schob seine Finger über Jans kräftige Unterarme, ertastete die Sehnen und schob seine Hände dann unter die T-Shirt-Ärmel hoch auf die Schultern. "Leon darf das, weil es mir nichts ausmacht. Es berührt mich nicht." Mit schmalen Augen sah er Jan kurz an. "Und das weißt du doch auch. Willst du wegen irgendwas streiten oder was?"
Grummelig lehnte Jan sich dichter und küsste ihn auf die Wange. "Nee. Ich will mit dir ins Bett. Hey, ich hab vorhin die neue dunkelblaue Wäsche aufgezogen. Das will ich mir jetzt mal ansehen. Dich nackt darin, das wird vielleicht doch ein netter Abschluss für diesen Abend." Und damit war, typisch für Jan, das Thema durch und die Stimmung wieder gut.
Aus dem Weg nach oben zur Wohnung wurde eine heftige Knutscherei an der Wohnungstür, bei der Jan Kai ein Knie zwischen die Beine schob, um ihn hart gegen sich zu zerren und sich schon beinahe verboten aufreizend gegen ihn zu bewegen. Dann, nach einem beschwerlichen, von Jan behinderten Aufschließen, folgte eine Knutscherei auf der Innenseite der Wohnungstür, die Kai derart atemlos hinterließ, dass er sich nach einer Weile auf dem Fußboden vor ihrem Garderobenschrank wiederfand. Er wusste nicht mehr ganz, wie er dorthin gekommen war, einen wild-geilen Jan auf sich und den harten Holzboden sowie ein Paar Turnschuhe unter sich. Außerdem hatte er sowohl die Schuhe wie auch seine Hose eingebüßt, wann auch immer das passiert war.
Doch Jan hatte ein Einsehen mit dem Setting, oder erinnerte sich vielleicht auch an die Bettwäsche. Er zog Kai wieder auf die Füße und weiter mit durch zum Schlafzimmer. Allerdings nicht ohne Attacken zwischendrin. Auf dem Weg den Flur runter verlor Kai seine Klamotten weitestgehend. Auf dem Weg zum Bett stolperten sie wegen Jans Angriffen mehrfach beinahe, aber im Bett ließ Jan sich mit einem Mal Zeit.
Gelassen streichelte er Kais Körper entlang und zog ihm aus der Bewegung die Unterhose herunter. Mit einem kleinen Lächeln stellte er dann leise fest "Du schaust wirklich schön aus mit dem Dunkelblau zusammen." Seine Hände fuhren noch einmal in einer sicheren, besitzergreifenden Geste über Kais Oberschenkel auf seinen Bauch hinauf und Kai schloss die Augen und streckte sich. Konnte es noch schöner werden?
Mit Jan, stellte er gleich darauf fest, konnte es das. Immer wieder. Vollkommen zufrieden küsste Jan sich über Kais Brust und Bauch, während Kai sich wegen der eingestreuten Kitzelattacken kichernd wand. Nach einer Weile schloss Jan seine Augen und ließ sich auf das Bett sinken. Er zog Kai über sich, streckte sich aus und befahl ihm leise "Lass uns erst mal rumknutschen, das hat mir auch voll gefehlt. Streichel mich mal mehr hier."
Kai lächelte und erfüllte folgsam die Anweisungen seines Freundes. Sachte küsste er ihn auf den Mund, dann wieder über seinen Hals. Er wusste, dass Jan es mochte, wenn er zugleich mit einer Knutscherei auch gehalten wurde, gern recht fest. Er schob seinen Arm um Jans Schultern und drängelte seine Beine zwischen Jans, um sich schon einmal besser gegen ihn bewegen zu können.
Jans Finger fanden den Weg auf seinen Hintern und griffen ziemlich frech zu, zugleich stöhnte Jan leise auf und flüsterte "Genau so...", dann ließ er sich von Kai attackieren und warf den Kopf zurück, um ihm mehr Raum an seinem Hals zu geben. Kais Finger wurden allerdings kurz vor seinem Penis aufgehalten. Jan lächelte, dann sagte er entschlossen "Noch nicht, heute Nacht hab ich mehr Zeit und ich will dich nicht so hektisch."
Ergeben nickte Kai und sah seinem Freund in die Augen. Gott, das hatte ihm so sehr gefehlt. Jan war all das, was er immer brauchte, was er wollte. Wild und notgeil und im nächsten Augenblick dann zugleich wieder romantisch, zärtlich. Auch wenn es gerade jetzt gern anders herum hätte sein können. Erschaudernd genoss Kai, wie die rauen Finger sachte über sein Rückgrat spielten, eine Gänsehaut vom Po zum Nacken hoch verfolgten, bevor Jan seine Hand über Kais Haare schob, um sich seinen Kopf für einen tiefen Kuss dichter heran zu ziehen. Die letzten vernünftigen Gedanken verloren sich in Kais Hirn zwischen Lustgeschrei von Sexgen und Libido, als Jan dann doch endlich damit begann, das Becken leicht gegen Kais Oberschenkel zu bewegen.
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Kai hatte vielleicht gut in der dunkelblauen Bettwäsche ausgesehen, allerdings machte das Laken es nicht mehr lang in der Nacht. Nach etwa zwei sehr anstrengenden Stunden darin zog Kai es resolut wieder ab, weil Jan mit Kais Hilfe mal wieder mächtig rumgesaut hatte. Natürlich gingen sie noch duschen, dann sangen vor der Terrassentür die Vögel, während Jan gähnend und sich räkelnd verkündete, dass er nackt schlafen wollte und nur noch wie tot rumliegen und die nächsten zwei Wochen keinen Sex mit Kai mehr wollte, wenn der so fies war und auch noch so merkwürdig fit dabei.
Kai grinste ihn an und zog sich eine Shorts über. "Morgen tut mir alles weh, da bin ich sicher. Aber du wolltest doch, dass ich Sport mache und fit werde. Soll ich wieder damit aufhören?"
Jan gähnte und streckte sich wie eine Katze. "Nee. Du sollst herkommen mit deinem fitten Körper, Baby, und rumschmusen. Will jetzt schlafen und dich im Arm haben. Scheiße... wie soll ich denn morgen Abend spielen? Verdammt! Auswärtsspiel auch noch. Und die Jungs, die ich trainiere, kommen auch. Denen kann ich wohl kaum sagen, dass ich mich so komisch bewege, weil mein niedlicher, süßer Freund mich fast zwei Stunden lang durchgevögelt hat!"
Kai spürte Hitze in seinen Wangen. Musste Jan immer so prollig daher labern? Grummelig robbte er zu ihm unter die Decke und küsste seine Schulter. Sachte streichelte er mit den Fingerspitzen über Jans Hüfte und seine Oberschenkel entlang. "Tut mir leid, nächstes Mal passe ich auf, dass ich es nicht übertreibe, ja?"
Jan lachte. "Bloß nicht! Das war geil. Ich fasse es nicht, dass du so hart sein kannst. Du tust immer so etepetete, aber das ist alles Tarnung, das bist du gar nicht. Meine Güte, wenn ich da an Tini denke. Da haste ja auch durchgezogen, oder nicht?"
Kai grummelte etwas und zog sich die Decke über die Schultern. War ja klar, dass Jan ihn jetzt täglich mit diesem Thema kasteien musste. "Ich hab gar nichts. Sie saß oben." Unsicher blickte er seinen Freund von der Seite her an. "Ich... hab an wen anderes gedacht und die Augen geschlossen, sonst wäre bei mir nichts gelaufen."
Jan erwiderte den Blick erstaunt. "An wen anderes?"
"Hm. Lukas."
"Warum grad an den?"
Kai rieb sich die Augen. "An dich zu denken, hätte mir in dem Moment nur ein schlechtes Gewissen gemacht, außerdem hätte ich dann darüber nachgedacht, dass ich lieber mit dir schlafen will als mit ausgerechnet Tini."
Jan küsste ihn auf die Wange. "Tja. Hättest du man besser an mich gedacht in diesem Augenblick."
"Hm. Da hatte ich ihr schon gesagt, dass ich es mache. Wegen Benni, weil der immer so über verpasste Chancen jault und nie was tut. Aber irgendwie war nicht ich derjenige, der die Chance genutzt hat, sondern Tini eher... oder vielleicht am allermeisten das Ding. Der kleine Mistbraten hat die Chance seines Lebens genutzt."
"Das kann man wohl sagen! Aber Tini hattest du auch kuriert. Als ich ihr den Einlauf verpasst hab, meinte sie, dass sie das schön fand mit dir, aber tatsächlich für ein Weilchen keinen Bock auf Wiederholung haben würde. Kann natürlich an der Grippe und dem Kater gelegen haben."
Kai stöhnte auf. "Erinnere mich bitte die nächsten zwei Monate nicht an diese Scheiße, Jan!"
Nachdenklich betrachtete Jan sein Gesicht, dann lächelte er warm. "Kai, ich finde das gar nicht so schlimm. Holger kümmert sich um Tini, und ich halte sie dir vom Hals, und du hast bald ein Kind. Ding hat die Chance genutzt und das war sicherlich zugleich seine oder ihre aber auch deine einzige Chance. Das ist ein Geschenk. Gerade für dich ist es das. Hör auf, dich wegen eines solchen Geschenks zu beschweren."
"Ein Geschenk, das man nicht will, das einem nur Angst und Ärger macht und Geld kostet, ist keins." Von seiner eigenen Furcht gereizt wandte Kai sich ab und blickte auf den Wecker auf seinem Nachttisch. Auweia. Schon fast fünf am Morgen. Jan machte ihn echt fertig. Er gähnte und streckte sich einmal, Jan schlang einen Arm um seine Brust und lehnte das Kinn auf Kais Schulter. "Doch. Eines Tages wirst du mir Recht geben, wetten?"
Kai drehte sich auf den Rücken zurück und blickte Jan ins gut gebräunte Gesicht mit dem typischen sturen Ausdruck darin, dann piekte er ihn in die Wange. "Dann nimm du es doch. Wenn du es schon haben willst. Schenk ich dir."
"Du weißt, dass Tini und ich wie Hund und Katze sind."
"Na und? Das muss ja nicht für das Ding gelten. So etwas ist nicht genetisch. Du kannst dann immer schön einhüten, Jan, wenn Fußball ist, wenn du Party machen willst, schön anstelle in den Urlaub zu fahren, das Ding bewachen. Oder in der Nacht damit um den Block karren, wenn am nächsten Morgen eine wichtige Prüfung ansteht. Viel Spaß."
Jan kniff die Augen kurz und seufzte. "Autsch. Du hast Recht. Bin ich froh, dass du das Ding im Herbst dann am Hals hast. Wann willst du es deinen Eltern sagen?"
Kai schmuste sein Gesicht an Jans Brust und schloss die Augen. "Niemals." Er gähnte noch einmal und gab zu. "Also dann, wenn Tini mich dazu zwingt. Sie will Ding taufen lassen, spätestens dann, weil sie meine Eltern dann einladen wird. Die ist so gemein!"
Zwischen Gähnanfällen und Jans leisem Lachen schlummerten sie endlich ein. Die Türklingel störte sie kurz am Morgen, etwa gegen sieben Uhr. Kai ignorierte das zweimalige Klingeln und schlief weiter. Jan hatte sich optimal gegen ihn geschoben und presste sich gerade grummelig noch eine Idee dichter, um Kai an seiner Morgenlatte Anteil haben zu lassen, als jemand kurz um die Ecke lugte und dann nach einem leisen Geräusch wieder verschwand.
Kurz dachte Kai, dass es eine Halluzination gewesen war, aber hörte dann ihre Wohnungstür klappen. Während er wieder einschlummerte, dachte Kai noch 'Bambi, du Braten!' Niemand sonst hatte einen Schlüssel, soviel war klar.
Als Kai sich gegen Mittag aus dem Bett und Jans Armen schälte, um einen Kaffee aufzusetzen und Teewasser für Jan, entdeckte er auf dem Esstisch ein kleines Faltblatt mit der Einladung zu einem klassischen Konzert in der Markuskirche. Die war bei ihnen um die Ecke, wenn er sich recht erinnerte. Das Bambi musste ihnen das Teil am Morgen reingelegt haben. Er sollte auch spielen. Sein Name tauchte auf neben drei anderen. Einer davon war Stefan, dem Vornamen nach. Wollte Bardo ihn jetzt unbedingt auf sein Konzert locken? Mit gerunzelter Stirn legte Kai das Faltblatt erst einmal wieder weg und ging duschen und sich rasieren, bevor er sich durch seinen Kaffee und ein Toast gähnte.
Jan hing auf der Dachterrasse in der Sonne ab und hörte Musik, während er die Wohnung putzte. Kai hasste es, wenn er dran war und er hasste es noch mehr, weil er wegen der Feier gründlich putzen wollte. Im Schlafzimmer ließ er alle verdächtigen Sachen in den Tiefen seiner Nachttischschublade unter einem langweiligen Roman verschwinden und der Badezimmerschrank wurde gar gänzlich von Kondomen befreit.
Als Kai mit Putzen durch war, war schon Essenszeit. Da er keinen Bock zu kochen hatte, damit er dann die Küche noch einmal putzen durfte, fuhren sie in die Mensa. Es war in den Ferien angenehm leer und ruhig an der Uni. Eine schläfrige, fast verträumte Atmosphäre herrschte zwischen leeren Fahrrradständern und an verwaisten Bibliothekstischen. Leider gab es nur zwei Essen zur Auswahl in der gleichermaßen ausgestorbenen Mensa, aber dafür reichlich freie Tische, so dass sie einen Tisch für sich hatten. Diesen Umstand nutzte Jan dann voll aus, um mit Kai über das Bambi zu reden. Ernsthaft zu reden. Jan konnte anstrengender als Felix werden, wenn er in diesem Zustand war.
"Das Faltblatt war von seinem Konzert. Bardo möchte also gern, dass du dorthin kommst, Kai."
"Wir haben Abstand gesagt. Deine Witze von wegen Ritter und Küssen haben der Sache nicht geholfen." Gereizt stocherte Kai in seinem Nudelauflauf der Marke 'Resteverwertung' herum.
Jan lehnte sich dichter. "Er fehlt dir, Kai, und du bist wichtig für ihn. Es ist nicht leicht. Die Phase, in der er jetzt ist, kann er allein nicht so gut durchstehen."
"Ich hatte niemanden und hab es überlebt."
"Deine Mutter ist nicht niemand."
Der Tadel war angebracht. Tatsächlich hatte Kai durch seine Mutter sehr viel Kraft und auch viel Informationen erhalten... eigentlich sogar viel mehr Informationen als gewünscht und gut gewesen war. Dennoch grummelte Kai weiter herum. "Er hat reichlich Geschwister, verständnisvolle Eltern, einen Freundeskreis, der das okay findet und so weiter, Jan. Besser geht es doch nicht."
"Er hat aber dich für den Job ausgewählt, für sein Vertrauen." Jan seufzte. "Das ist nicht dasselbe. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mich gequält hab mit der Verliebtheit. Mit... Begehren. Deinetwegen. Abstand, das hab ich damals im Ferienhaus gemerkt, hat mir ganz und gar nicht geholfen. Im Gegenteil. Es hat mich unsicher gemacht und deprimiert. Vielleicht ist es bei mir etwas anderes gewesen, weil ich wusste, dass du mich gern hast, dass ich dich gern hatte. Aber mir war nicht klar, wie und auf welche Weise das gehen soll mit uns. Außerdem hat Bambi es leichter als ich damals, weil er schon längst akzeptiert hat, dass er schwul ist. Das war der schwerste Schritt in meinem ganzen Leben, Kai."
"Den du noch nicht gegangen bist, oder? Du bist doch eigentlich noch immer davon überzeugt, dass du bi bist, oder nicht?", versuchte Kai die Unterhaltung auch für seinen Freund einmal unbequem zu gestalten. Klappte nicht sonderlich gut.
Jan lächelte. "Weil ich gern mit Frauen ins Bett gehe. Bi zu sein, gilt für mich schon, aber nur für den Sex. Emotional... in einer richtigen Beziehung bin ich mit dir zusammen, Kai, sonst mit niemandem. Aber bis zu dem Moment, in dem du mir gesagt hast, dass du mich magst, bis zu dem Moment, in dem wir uns in der Nacht geküsst haben, hatte ich glauben können, dass ich vermutlich so was wie hetero bin... normal. Dass ich dich halt nur gern hab. Meine Gefühle haben sich außerdem noch nicht auf Sex ausgedehnt." Er seufzte. "Ich weiß noch, wie ich im Sommer versucht habe, alles allein zu schaffen, mit Internet und anonymen Ratschlägen. Die Frage, ob ich Sex mit einem Mann auch wirklich gut finden kann, denn ohne geht eine Beziehung nicht in meinen Augen, die konnte ich nicht ohne dich klären. Das ist mir damals aufgefallen. Ich hatte ja versucht, vorher sicher zu werden, aber das war nicht gut, Kai. Das war scheiße."
Unsicher sah Kai sich in der Mensa um, es war fast leer, niemand Bekanntes war in der Nähe, daher lehnte er sich dichter und lächelte Jan kurz an. "Tut mir leid, Jan. Ich weiß, dass ich dir mit meinem Verhalten damals keine große Hilfe gewesen bin."
"Nee, echt nicht. Aber du kannst es für Bardo sein. Du bist der passende Ansprechpartner für all seine Fragen. Du hast dich zugleich im Griff, seine labile Verfassung nicht auszunutzen."
"Und wenn wir doch ... knutschen? Ich hab ihn gern, Jan. Auch wenn ich weiß, dass ich echt nix von ihm will, hab ich ihn gern. Was, wenn so etwas passiert?"
"Dann knutscht ihr eben mal. Herrgott, Kai. Es ist nicht so, dass es mich freuen würde, aber ich küsse die Mädels auf Partys auch und flirte ein bisschen. Ich kann es nicht ab, wenn der Mallorcaschreck dich so aggressiv abgreift, ich mag es nicht, wenn Leon das macht, aber das ist, weil sie dich umgehen, übergehen. Es ist, weil sie die Grenzen nicht respektieren. Bardo, das weißt du doch selber sehr gut, respektiert die Grenzen und dich. Bei ihm wäre es Zuneigung, Sympathie und es kann auch nie mehr werden. Irgendwie bin ich mir da sicher."
Kai schob den Auflauf von sich und rieb sich die Augen. "Eifersüchtig fand ich dich besser. Kannst du nicht voll ausrasten, wenn Tini mir ein Ding anhängt, statt dich zu freuen? Kannst du nicht ausrasten, wenn mir ein Bambi nachhoppelt, statt mir zu sagen, dass ich es auch noch füttern soll? Du bist so was von merkwürdig, Jan, ich hab keine Worte mehr." Dann hob er den Kopf. "Moment. Was meinst du mit Mädchen küssen auf Partys?!"
Jan lachte auf. "Das hat aber etwas gedauert, Kai. Passiert halt, wie mit Renate. Meine Güte, die ist total süß, wenn sie betrunken ist und hat klasse Beine, wenn sie sich mal vernünftig anzieht."
Irgendwie hatte Jan ja Recht. Flirten, ein wenig auf einer Party, mehr als Teil der Konversation mit anderen, das konnte er halt. Wenn er Renate auf die Wange küsste und ihr über das Bein streichelte, oder Bianca einen Spruch zum Busen gönnte, dann wussten beide Seiten, dass es lustig und nett gemeint war. Seufzend nickte Kai dann und murrte "Bei den Mädchen scheint das einfacher zu sein. Ich bin mir sicher, dass Bardo mich nicht einfach als Flirt nett einmal knutschen wollte. Wenn der das startet, dann kann ich auch für das Bambi nicht garantieren, Jan. Nachher macht der doch mit einem Mal den Wolf. Und dann?"
Jan grinste zahnreich. "Dann kriegt er die Rotkäppchennummer. Steine in den Bauch und ab in den Brunnen. Mach ich gern persönlich."
Kai blinzelte, dann lachte er auf. "Blödsinn! Also gut. Ich knutsche Bardo mal, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Das mach ich gern, nur für dich."
"Nein! Nicht für mich, für ihn. Nicht nur mal, Kai. Ab jetzt, immer."
"Immer?"
"Zur Begrüßung und zum Abschied, wie du das mit Carl und Lolli und Lukas so gern tust. Auf den Mund aber ohne dahinter zu stehen."
"Hm." Verdammt, das war wahr. Er küsste Lukas immer auf den Mund und das war auch natürlich. Es war unvermeidlich und es fühlte sich immer ein wenig an wie ein Händereichen. Konnte er das bei dem Bambi auch? Kai fragte sich, ob es sich anders anfühlen würde, weil er anders zu der Geste stand als bei Lukas. Im nächsten Moment fragte Kai sich, was mit seinem sonst so eifersüchtigen Freund passiert war. "Und woher kommt das alles jetzt gerade wirklich?" Misstrauisch nahm Kai Jans Colaglas und leerte es.
"Wieso?"
"Na, also echt jetzt. Herr 'Zieh deine grüne Hose nicht zum Arbeiten an' will mit einem Mal, dass ich mit einem anderen Jungen knutsche? Verarschen kann ich mich alleine. Da springt was raus für dich."
Hilflos lachte Jan auf. "Erwischt."
"So so. Aber du willst doch nicht zusehen, oder sowas perverses?"
"Idiot. Nein! Es ist nur so... Maren kommt am Samstag." Jan senkte den Kopf, dann grinste er hilflos. "Ich war mit ihr zur Abizeit zusammen. War eine echt wilde Zeit. Viele Partys, alles noch mal versuchen, bevor man erwachsen werden muss. Sex wo auch immer man den haben konnte und das ist erstaunlich, wo das überall geht. Verglichen mit Maren ist Bianca eine schüchterne Maus, Kai. Ich hab etwas Angst, dass was passieren könnte, wenn Maren mich anfällt und ich blau bin."
"Ja, dann passiert was, Jan. Dann gibt es eine Frauenleiche im Haus! Du kannst dieser Maren gefälligst sagen, dass sie ihre Pfoten bei sich behält, und wenn die mit ihrem Busen rummacht, dann kannst du ja wohl deine Pfoten für dich behalten!"
"Muss ich? Die hat echt einen total geilen..."
"Jan!"
"Und sie ist grad solo. Das ist eine seltene Sache." Betrübt blinzelte Jan Kai an.
Kai erwiderte den Blick aus schmalen Augen und nahm sich vor, auf der Party nichts zu trinken und diese Maren nicht auf zehn Schritte an seinen Freund heran zu lassen. Erst einmal stand er rasch vom Tisch auf, um Jan ein wenig die kalte Schulter zu präsentieren. Sie brachten die Tabletts weg und gingen für eine nette Stunde auf die Wiese neben der Biochemie, um dort noch ein Eis zu essen und die Sonne zu genießen. Jan gab aus, als Wiedergutmachung für die Maren-Sache.
Von der Uni aus fuhren sie zu Holgers Wohnung weiter, weil Jan sich den Fernseher von ihm rausholen und schon mal anschließen wollte. Holger wohnte in dem Viertel neben der medizinischen Uni in einem Wohnblock mit lauter identischen Wohnungen in Altbauhäusern aus rotem Backstein. Viele dieser Wohnungen waren mit der Zeit in zwei kleinere Einheiten eingeteilt und mit modernem Bad und einer Küchenzeile versehen zu begehrten Mietobjekten geworden. Die Mieten waren nicht sonderlich ansprechend, das wusste Kai, weil er sich hier selber vor Beginn des Studiums einmal eine Wohnung angesehen hatte. Sie betrugen ungefähr das Doppelte von seiner aktuellen Miete, auch wenn Jan diese sicherlich künstlich niedrig hielt.
Freitags hatte Holger wohl früher Dienstschluss, er winkte ihnen von seinem mikroskopischen Balkon zu und steckte zu Kais Bedauern bereits in einer Shorts und einem lila T-Shirt. In Uniform hätte Kai ihn doch gern noch einmal gesehen. Er wohnte im zweiten Stock. Seine Wohnung war tatsächlich mit Miniflur, einer Miniküchenzeile, dem super engen Duschbad und einem großen Wohn-Schlafraum gänzlich ungeeignet, um dort mit Tini zusammen zu leben. Neugierig blickte Kai sich im Zimmer um. Es war geräumig, ungefähr wie ihr Wohnzimmer. Aber es musste einen quadratischen Esstisch, ein Bett und eine Sofaecke beherbergen. Auf dem Couchtisch stand Holgers Laptop, auf einem Bücherbord stapelten sich die medizinischen Skripte und Lehrbücher und an seinem Kleiderschrank hing, in Plastikfolie von der Reinigung, eine Uniform samt gebügeltem Hemd. Dem Bett gegenüber war der eine Spur zu grosse Fernseher untergebracht. Das Farbkonzept mit schreiorange zu grün oder auch gern rot und lila zog Holger auch bei der Wohnung durch. Kai blinzelte die wild bunten Möbel erst einmal eine Runde an.
Holger hatte wenig private Dinge rumliegen. Auf seinem Nachttisch hatte er ein größeres Foto von Tini in einem sehr hübschen, auf antik gemachten, silbernen Rahmen stehen, daneben an der Wand hingen einige Bilder von ihm mit einer hochgewachsenen blonden Frau, die vielleicht seine Mutter sein mochte, aber irgendwie viel zu jung aussah dafür, von sich mit Matrosenuniform auf einem Schiff und dann von sich mit einem blonden Mädchen im Grundschulalter. Das musste seine Tochter Krümel sein. Neben dem Telefon an der Wand war ein Kalender aufgehängt, der Segelschiffe zeigte. Ansonsten lag nur eine Autozeitung herum und merkwürdigerweise eine Zeitschrift über die Jagd.
Während Jan und Holger den Fernseher ins Auto schleppten, bekam Kai den Auftrag, einen Kaffee zu kochen. Er lauschte von der kleinen Küche aus auf die lockere Unterhaltung von Holger und Jan zum Thema Tini und dem Riesenkrach, den diese auf dem Flug und später in Kanada mit ihren Eltern gehabt hatte. Es war offensichtlich selbst für Tini anstrengend gewesen. Holger war voller Mitleid. "Sie ist richtig froh, dass ihre Eltern nicht so lange bleiben. Die eine Woche nur. Danach ist sie mit Torben, das ist ihr Bruder, und seiner Freundin allein, während ihre Eltern in Kanada Freunde besuchen fahren."
Jan schien zu lachen, seine Stimme klang ein wenig gemein amüsiert. "Die Eltern von Tini sind stressig, was?"
Holger stöhnte auf. "Die Kehrenbergs machen mich echt alle, Mann. Die haben mich strammstehen lassen, das hab ich seit meiner Grundausbildung nicht mehr erlebt!"
"Konnten dich nicht so leiden, was?"
Kai sammelte die ebenfalls schreibunten Becher aus dem offenen Schrank, holte eine Tüte Milch und trat zu ihnen, während Holger gerade den Couchtisch frei räumte. Seufzend zupfte er an seinem lila T-Shirt. "Die fanden meine Klamotten scheiße, sie fanden mein Alter nicht passend und meinen... sozialen Hintergrund auch nicht. Irgendwie schien es sogar meine Schuld zu sein, dass mein Vater so früh gestorben ist. Das haben sie natürlich nicht mir gesagt, sondern Tini irgendwann später. Irgendwas mit miesen sozialen Verhältnissen und so. Mir haben sie direkt gesagt, dass sie es überhaupt nicht gut finden, dass ich Soldat bin. Darauf sind sie sogar über eine Stunde lang rumgeritten, von wegen Töten und Ausland und Umzüge, und was sonst noch scheiße ist. Danach sagten sie noch, dass sie das Tattoo überhaupt nicht gut finden, ob ich das nicht mal weglasern lassen will. Als ich meinte, dass ich es gut finde und mir das Lasern zu teuer ist. Und ich es auch bescheuert finde, wenn man zu seinen Jugendsünden nicht stehen kann, da ging es voll ab, von wegen meines Alters, Runde zwei. Dann meinten sie, dass ich doch nun wirklich nicht zu ihrer Tochter zu passen scheine und dass ich... ,wie war das?, ich... ihr nicht das bieten kann, was sie sich für sie vorgestellt haben."
Jan blinzelte Holger überrascht an. "Ist ja eine Horrornummer. Ich weiß noch, wie ich mal zu den Eltern von einer meiner Freundinnen zum Essen mitkommen musste und die mich wegen Fußball total lang gemacht haben. Die dachten wohl irgendwie, dass ich auf der Hauptschule bin, bloß weil ich im Verein kicke." Jan machte sein niedlich stures Gesicht. "Hab mich dann aber auch extra daneben benommen." Das konnte Kai sich bildlich vorstellen und grinste.
Auch Holger konnte stur schauen. Bei ihm sah es statt niedlich jedoch gefährlich aus. Sein Blick wurde stechend. "Die Kehrenbergs waren sowieso schon auf hundertachtzig, weil ich im Sommer dreißig werde. Damit bin ich viel zu alt für ihre Tochter. Als ob die paar Jahre was ausmachen würden. Aber schlimmer war, als sie von meinen Eltern angefangen haben, ohne meine Mutter je getroffen zu haben! Ich hab mich ab da auch daneben benommen. Hab dann für die extra ein paar Klischees bedient. Ich gestehe auch, dass ich denen mein Tattoo extra gezeigt habe. Wenn die mich schon für einen Proll halten, bitte." Er nahm sich einen Becher und bedachte Kai gleich darauf mit einem gemütlichen, vollkommen ungefährlichen Lächeln. "Danke."
Jan ließ sich auf den Fußboden neben das Sofa fallen und kippte Milch in seinen Kaffee. "War das auf dem Abendessen neulich?"
"Mann, ich war erst starr vor Schreck, dann irgendwie sauer auf die und hab sie extra etwas geärgert. Da haben die so richtig losgelegt und auf mir rumgehackt. Tini hatte nicht den Mut, gegen ihre Eltern zu mir zu halten. Sie hatte sich über meine dämliche Show dann natürlich auch etwas geärgert. Sie hat im Endeffekt auch auf mir rumgehackt, bis wir endlich gehen konnten. Hinterher haben wir dann eine tüchtige Auseinandersetzung darum gehabt und uns dank Kai wieder vertragen. Aber ich hab echt Angst, dass sie ihr den Kopf wieder und wieder verdrehen. Vor allen Dingen jetzt in Kanada. Ihr Bruder Torben scheint total in Ordnung zu sein. Der hat sich wohl nach Kanada abgesetzt, weil er eben nicht so leben will, wie seine Eltern sich das vorgestellt haben. Er hat so eine Art Minireiseunternehmen und spielt in einer Band mit und macht eher so lustige Sachen. Würd den gern mal kennen lernen."
Kai goss sich Kaffee ein und fragte ablenkend. "Was hast du denn für ein Tattoo?"
Holger nippte von seinem Becher, dann seufzte er leise. Kommentarlos schob er den T-Shirt-Ärmel hoch und legte ein kleines buntes Bildchen nahe der Schulter frei. Das Bild sah gut aus. Sauber gestochen, mit strahlenden Farben. Ein langbeiniges Mädchen in sehr knappem Matrosenzeug und mit tüchtig Oberweite. Sie lächelte süß, der Look war der von Pinup Bildchen aus den fünfziger Jahren. Holger grinste schief "War sau teuer. Jugendsünde halt. Ich war siebzehn und naiv und vielleicht ein wenig wild. Jesus hat mich überredet."
"Jesus?!"
"Ein Südamerikaner auf meinem Schiff. Super, super schwul, total lustig und nett und eben sehr wortgewandt. Der hat mich noch zu ganz anderen Sachen überredet damals."
Kai nickte und sagte "Hat Tini mir erzählt", bevor er sich besonnen hatte. Mit roten Wangen versenkte er sich hastig in seinen Kaffeebecher.
Aber Holger lachte laut auf. "Das war ja klar. Meine ganzen Sünden kommen ans Licht!" An einen verständnislos blinzelnden Jan gerichtet erklärte er sorglos "Jesus hat mich überredet, es mit einem Kerl zu versuchen. War in einem Hafen in Indonesien. Wir waren total gelangweilt, weil wir wegen Zollproblemen eine Woche länger dort liegen blieben. Es war so eine Zeit, um Unsinn zu machen. Meine Süße in der Heimat hatte gerade Schluss gemacht mit mir. Die, von der ich die Tochter hab." Er deutete zu dem Foto auf seinem Nachttisch. "Das ist sie. Krümel, sie ist jetzt gut zehn, hat bald schon wieder Geburtstag."
Jan blinzelte und starrte zwischen einem nun doch etwas an den Ohren rot gewordenen Holger und seinem wissend nickenden Freund hin und her. "Wie bitte? Du hast ein Pinup auf dem Arm, okay, das wusste ich natürlich schon und fand es echt lustig. Aber du hast mit einem Mann Sex gehabt? Du hast schon eine Tochter? Was kommt noch?"
Holger breitete die Arme aus. "Das war es. Mehr hab ich nicht zu beichten. Außer, der Sex war mit einem sehr weiblichen Mann... sagen wir es mal so und es war nicht mein Ding. Ich mag nun mal Frauen. Kann es nicht ändern."
Kai lachte. "Ist nicht schlimm, jeder hat seine Fehler, Holger. Außerdem ist es doch gut, dass du dann jetzt Tini hast, oder?" Es war gut für ihn. Der Gedanke, dass Tini ohne Holger von ihm schwanger sein könnte, stresste Kai. Sehr. Er war froh, dass sie in Zukunft mit Holger zu tun haben würde und ihn nicht unausgesetzt überfallen konnte.
"Ja. Die ist all den Ärger mit ihren Eltern wert. Alter, was ich alles gemacht hab, um diese Frau zu bekommen. Aber es lohnt sich, jeden Tag. Und seit sie endlich mit der Schwangerschaft rausgerückt ist, streiten wir nicht mehr. Das schaut jetzt richtig gut aus für mich."
"Die hat echt Glück, dass du wegen des Dings nicht vollkommen austickst."
"Ach, warum das denn? Ich liebe Kinder. Ich bin ein Einzelkind. Mein Vater war dauernd unterwegs und ist früh gestorben, meine Mutter war viel auf der Arbeit, meine Oma hat mich im Prinzip großgezogen, aber die war sehr streng und hatte auch nicht so viel Energie und Lust. Ich durfte nie Freunde mitbringen, das war ihr zu laut. Ich will selber mal eine richtige Familie haben. Ich will nach Hause kommen und mit der Familie zusammen sein. Als ich Tini im ersten Semester kennen gelernt hab, wusste ich irgendwie sofort, dass sie die Richtige ist."
"Warum haste so lang gebraucht, um sie klar zu machen, Mann?" Jan schob Kai seinen Kaffeebecher rüber und stand auf, um sich aus dem Schrank neben dem Sofa eine Flasche Wasser zu holen. Er kannte sich augenscheinlich recht gut aus in Holgers Wohnung. Schon merkwürdig, dass Holger und er noch nie über seine Tochter geredet hatten.
Holger dehnte seine Schultern und breitete sich gemütlich auf seinem Sofa aus. "Tini ist der totale Übermensch. Hübsch, intelligent, reich. Ich hatte lange Zeit angenommen, dass ich im Leben keine Chancen bei ihr habe. Außerdem bin ich im Flirten nicht so der Bringer. Das musste ich nie. Meine erste Freundin kannte ich seit der Grundschule, das hat sich so ergeben. Die Geschichten während der Zeit auf See waren nichts richtiges, nur Albernheiten, nur Spaß. Aber Tini, ich wollte was Ernstes und das hat mich gelähmt." Er lachte auf. "Ich hab es dann aber auf zwei Arten doch gut hinbekommen mit ihr. Wie ein Seemann eben, und wie ein Soldat. Immer schön auf Kurs bleiben und den Feind nicht aus den Augen verlieren. Kai, ich hab dich im dritten Semester damals in alle Kurse so verteilt, dass ich schon vorher wusste, wo Tini sein würde und mich auch dort eingetragen. Das hat voll funktioniert. Als ich dann erfahren habe, dass du wirklich schwul bist und nicht nur wie ich vermutet habe, da war alles noch einmal so leicht. Als ich das wusste, hab ich mich voll hinter dich geklemmt, damit bin ich dann ja auch besser an sie heran gekommen. Hat super hingehauen."
Kai starrte Holger an. "Du warst das! Wahnsinn, da haben wir damals gerätselt."
Jan grinst. "Ich weiß noch, dass ich Tini im Verdacht hatte, aber die hat sich ja erst einen Tag später mit reingeschrieben. Das war schon komisch. Du bist echt verschlagen, Holger."
Holger grinste sie optimistisch an. "Jahaa. Verschlagen und siegreich!"
Kai stellte seinen Kaffeebecher ab. "Na, wenn du eine Tussi mit Ding und mich dazu als so tollen Preis ansiehst..."
Holger grinste sie gemütlich an. "Nein, das geht in Ordnung, Kai. Du bist ihr schwuler Schmusefreund. Und ohne dich hätte ich sie noch lange nicht rumgekriegt. Du hast das für mich geregelt. Was sie von mir vielleicht mal nicht bekommen kann, kriegt sie eben von dir."
"Sie hat von mir immer nur einen drauf bekommen... na ja, bis auf die Sache mit dem Ding."
"Ja. Dass es zu einem Kind führen könnte, hat selbst mich überrascht, das muss ich auch gestehen. Jetzt müssen wir drei uns eben zusammenraufen. Das wird schon klappen. Vermutlich sogar besser als ohne dich. Du hast sie super unter Kontrolle und auch ganz gut am Zügel."
Jan war auch der Meinung, aber sprang nach einem Blick auf die Uhr auf, weil er nicht mehr viel Zeit vor seinem Spiel hatte. Im Auto legte er eine Hand auf Kais Bein und meinte nebensächlich. "Ich bin neidisch, Kai."
Kai blinzelte, dann grinste er schief. "Auf ein Kind mit Holger?"
Jan lachte laut auf. "Ja. Genau. Holger ist verlässlich, er ist unkompliziert und total cool. Und Tini hat Energie, sie ist super, super schlau und sportlich. Du bist endhübsch und fleißig. Die Kombination mit dir muss doch hinhauen, oder? Und dann die Kombination mit Holger. Der wird das Ding schon gut erziehen, davon gehe ich aus."
"Tja. Dann musst du dich jetzt mal mit Tini zusammensetzen, ob sie nicht noch ein Kind von dir will, was? Könnte aber sein, dass Holger irgendwann doch mal ungeduldig wird."
"Bist du irre?! Auf keinen Fall mit der Tante! Nein. Ich bin nur so ein wenig eifersüchtig auf diese ganzen coolen Sachen, die du jetzt mitmachen kannst. Außerdem lass ich euch echt ungern allein, ich trau ihr nicht. Vielleicht lässt sie mich ja nächstes Mal mit zum Ultraschall rein."
"Coole Sachen? Du bist doch echt bescheuert, Jan. Du kannst mich jederzeit vertreten. Soll ich ihr sagen, dass ich das ohne dich nicht durchstehen kann?"
"Hm. Könnte hinhauen." Darauf mussten sie beide lachen.
Jan war die restliche Stunde in ihrer Wohnung in der Trance vor dem Fußball und packte seine Tasche besonders sorgfältig, bevor er Kai auf die Wange knutschte und davon lief.
Als Kai sich zum Abendessen an den Tisch setzte, fiel ihm das Faltblatt wieder in die Hände. Er blickte zur Uhr. Markuskirche um halb sieben. Das könnte er gut schaffen. Nachdenklich drehte er das Papier in den Fingern, als das Telefon klingelte. Die Nummer war Bardos Festnetz und Kai blinzelte überrascht, aber meldete sich dann doch kurz bevor der Anrufbeantworter rangehen konnte. Es war nicht Bardo, es war seine Schwester Ortrud.
"Hallo, Kai. Ich will dich nicht groß stören. Es ist nur so, Bardo hat heute sein Konzert."
"In der Markuskirche um sieben. Weiß ich."
"Ach, das ist ja gut. Und? Kommst du?"
"Ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist."
"Bitte, ich glaube, dass es ihm helfen würde. Deine Meinung ist ihm wichtig. Er hat in den letzten Tagen so hart daran gearbeitet, die Stücke so perfekt wie möglich einzuüben. Gerade das zweite ist eigentlich noch zu schwer für ihn gewesen, wenn man mich fragt. Ich glaube, dass es für ihn schön wäre, wenn er sehen könnte, dass sich seine Arbeit für den auszahlt, den er damit beeindrucken wollte."
"Seine Lehrerin, nehme ich an." Kai rieb sich die Augen, die letzte Nacht saß ihm noch in den Knochen.
"Nein. Dich doch. Hast du Zeit? Das Konzert ist nicht lang. Jeder spielt zwei Stücke, wir bringen dich hinterher auch gern nach Hause, wenn es schon dunkel ist."
Kai starrte mit einem Mal überrascht aus dem Fenster. "Was?"
Ortrud klang fröhlich, als freute sie sich. "Na, weil Bardo mir gesagt hat, dass wir dich nicht einladen sollen, dass es dann schon dunkel ist und du im Dunkeln irgendwie wohl nicht gern allein durch die Straßen gehst. Außerdem meinte er, dass dir seine Musik nicht gefällt."
"Das ist nicht wahr. Ich höre ihn total gern spielen!" Irgendwie waren mit einem Mal alle der Meinung, dass er dem verdammten Bambi eine Chance geben sollte. Sogar sein eigener Freund war ja dafür, wenn auch mit dem eigenen Vorteil im Blick. Kai seufzte und ergab sich. "Na gut. Ich komme vorbei, aber ich kann nicht versprechen, dass ich pünktlich bin."
"Ich freu mich so sehr, Kai. Es kostet keinen Eintritt, die Kirchentür ist auch offen. Komm ruhig später. Bardo ist der letzte an dem Abend."
Kai überlegte noch kurz, den Telefonhörer in der Hand. Dann beschloss er, dass er auf keinen Fall schlecht angezogen oder nicht genug zurecht gemacht auf das Konzert gehen würde. Und so wanderte Kai nach einer Dusche und einer Umkleideaktion in ein neues T-Shirt aus Lollis Laden, weswegen es eine Spur zu eng war und in seiner engen Jeans, die an der Hüfte gut saß, durch die kleinen Querstraßen am Wald entlang bis zu der Markuskirche, die sich auf einem kleinen runden Platz zwischen die Mehrfamilienhäuser duckte und kam mit Stil zu spät. Lolli wäre sehr stolz.
130
Als Kai an der Tür zur Kirche ankam, hörte er bereits Geigenmusik und lauschte abwartend, bis er Applaus vernahm. Dann betrat er die Kirche leise und sah sich um. Vorn legte ein Mädchen ihre Noten auf den Ständer, ein älterer Mann kündigte sie mit Namen, Alter und den Stücken an. Die Beleuchtung in der Kirche war recht hell, das Innere ebenfalls modern und eher ungemütlich. Nach einem kurzen Blick sah Kai, dass die Familie Fröhlich komplett in der ersten und zweiten Bankreihe saß. Außerdem noch einige andere in Bardos Alter, sicherlich Freunde von den Musikern des Abends.
Das Mädchen, das gerade dran war, spielte Geige. Ein etwas zu hastiges Stück. Sie wurde auf dem Klavier begleitet und das machte die Musik halbwegs erträglich. Als Kai zum Klavier hinüber blickte, sah er, dass Halvar das Mädchen begleitete. Der kleine Monsterbruder von Bardo spielte wirklich verdammt gut. Erstaunlich. Kai reckte den Hals ein wenig und entdeckte Bardo vorn an der Seite, das Cello im Arm. Er hatte den Blick auf den Fußboden gesenkt. Ein wenig wirkte er wie Jan in seiner Trance. Vermutlich ging er im Kopf die Noten durch, seine Finger bewegten sich leicht über die Positionen. Jedenfalls war Bardo ausnahmsweise mal nett angezogen. Er trug ein weißes Hemd und eine dunkle Hose. Das mochte eine seiner schwarzen Jeans sein. Aber das Hemd stand ihm sehr gut. Die Sonne der letzten Tage hatte zu einer Sommersprossenexplosion in seinem Gesicht geführt und das ließ seine Augen noch einmal so schön voller Wärme leuchten, als er sich einmal umblickte.
Schräg auf der anderen Seite hockte der beknackte Stefan mit seiner Familie und blickte gelangweilt zu dem spielenden Mädchen hin. Er hatte vermutlich auch ein Musikinstrument dabei. Zu sehen war es nicht. Kai dachte sich, dass dieser Stefan schon dran gewesen sein mochte, denn er machte einen entspannten Eindruck. Er und Bardo sahen einander nicht an. Die Eltern von Stefan saßen steif und ernst in der Reihe, blickten auch nicht zu Bardo oder seinen Eltern rüber. Sie sahen gar nicht so spießig aus, wie sie offensichtlich waren, aber strahlten schlechte Laune ab.
Kai schob sich ganz hinten in die Sitzreihe auf einen Platz neben eine dicke Oma und döste weg, während das Mädchen nach einem Applaus ihr zweites Stück spielte. Danach kam ein weiteres Mädchen, das auf der Querflöte etwas vortüdelte. Die Melodie war seicht und klang nicht nach viel. Außerdem ermüdete sie Kai, er gähnte herzhaft, was ihm einen bösen Blick seiner Sitznachbarin einbrachte. Das zweite Stück war etwas rascher, aber ebenfalls nicht so Kais Ding. Er starrte sich auf den Hinterköpfen von den Leuten in der Reihe vor ihm fest. Tatsächlich war Stefan schon dran gewesen, denn Bardo sollte der letzte an diesem Abend sein und stand nach der Flötistin auf.
Er brachte sich einen Stuhl nach vorn, ruckelte mit einem Notenständer, um den zur Seite zu stellen. Anders als die anderen zuvor spielte Bardo auswendig. Der alte Herr, der die anderen vorgestellt hatte, sagte auch zu ihm einige Worte und kündigte das erste Stück an, dann löste er Halvar am Klavier ab und brachte ihn noch einmal für eine Runde Applaus nach vorn. Es war offensichtlich, dass Bardo schwerere Stücke gewählt hatte als die anderen. Bardo ließ sich schüchtern nieder, ohne in das Publikum gesehen zu haben und begann nach einem letzten Stimmen der Seiten zu spielen.
Kai machte sich etwas länger, um besser sehen zu können. Dann sank er wieder in sich zusammen, weil er nicht wirklich von Bardo entdeckt werden wollte. Das Stück kannte er bereits. Es war das Stück, das Bardo bei ihnen nicht selten geübt hatte. Getragen, aber nicht deprimierend, ruhig, aber nicht lahmarschig wie die Flötennummer davor.
Lächelnd lauschte Kai und freute sich, weil Bardo es offensichtlich, für seine Ohren jedenfalls, gut hinbekam. Auch das zweite Stück bekam Bardo recht gut hin. Nur an einer Stelle sah Kai dem konzentrierten Gesicht eine leichte Unzufriedenheit an. Es klang in der Tat nicht sonderlich leicht. Die Klavierbegleitung schien auch nicht gerade einfach zu sein. Der alte Herr mühte sich ziemlich dramatisch ab. Die letzten Noten verhallten endlich und Bardo hob den Kopf, seine Augen strahlten. Man konnte ihm die Erleichterung und Freude ansehen, als er danach aufstand, um sich zu verbeugen.
Nach dem Applaus für Bardo wurden auch die anderen noch einmal auf die Bühne gebeten und alle durften sich noch einmal eine Runde beklatschen lassen. Die begeisterten Eltern standen natürlich auf dafür und so musste Kai auch aufstehen. Dann wollte seine Sitznachbarin schon mal raus, um zu ihrer Enkeltochter, natürlich dem Mädchen mit der Querflöte, nach vorn zu gehen. Als Kai aus der Reihe trat, um sie durch zu lassen, sah Bardo ihn und stockte in der Bewegung, dann lächelte er Kai an und zog seine Unterlippe zwischen die Zähne.
Ortrud schien das richtig zu deuten, sie fuhr herum und rief laut und deutlich. "Kai! Hallo!"
Im nächsten Moment drehte sich die komplette Familie Fröhlich zu Kai um und starrte ihn freudig an. Kai spürte, wie sein Gesicht sich erhitzte, aber nun war er erwischt und gefangen worden. Seufzend ging er also mit den anderen nach vorn drängenden Leuten zum Altar durch, wo der Pianist seine Noten zusammen sammelte.
Bardo ließ sich von seiner Lehrerin kritisieren und seinen Eltern und Geschwistern beglückwünschen und umarmen. Nach einem Seitenblick auf Stefan und dessen Eltern trat er schließlich zu Kai, während die anderen sich in Grüppchen an die anderen Eltern und Großeltern wandten. "Hallo. Du bist ja hergekommen."
Kai nickte und schob seine Hände in die Hosentaschen. "Ich hab zu viele Hinweise darauf bekommen, dass das heute ist. Was hattest du heute Morgen in unserer Wohnung zu suchen, Bardo?"
Bardo starrte Kai an, dann blinzelte er "Ich war nicht in der Wohnung. Ehrlich."
"Und wer war dann heute früh um sieben Uhr mit einem Schlüssel in unserer Wohnung, um ein Faltblatt für heute Abend hinzulegen?" Bezeichnend hob Kai das Papier mit dem Programm an. "Wer auch immer das war, war auch bei uns im Schlafzimmer."
Bardo fuhr sich mit den Fingern durch die dichten Haare, die ihm schwer in die Stirn fielen. "Keine Ahnung, Kai. Ich hab den Schlüssel in meinem Zimmer in meine Kiste mit wichtigen Sachen gelegt. Ich schwöre, dass ich nicht da war." Unsicher sah er sich nach seinen Geschwistern um.
Kai zuckte mit den Schultern. "Egal. Wird sich schon irgendwann rausstellen. Du hast gut gespielt, oder?"
Unsicher schob Bardo mit der Schuhspitze an der Teppichecke. "Nee. Ging so", log er dann bescheiden.
Kai sah sich kurz um, aber Stefan mit seiner Familie war bereits auf dem Weg nach draußen, während die Fröhlich-Bande sich um die anderen Künstler versammelt hatte. "Ist alles okay? Mit Stefan?"
Bardo sah sich um und erwischte noch einen kleinen Blick auf seinen ehemals besten Freund, der die Kirche verließ, dann lächelte er leicht und nickte. "Wir reden nicht mehr, das will er nicht, und ich kann es ihm nicht befehlen. Aber ich sehe, dass es ihm nicht gefällt. Eben hat er so schlecht gespielt wie lange nicht. Ich hoffe, dass er sich noch durchringt und endlich aufhört, so krass blöd zu sein."
"Na. Dann hoff mal schön weiter", kritisch blickte Kai diesen Optimismusapostel an. "Immerhin hat sich dein Gesicht schon wieder gut erholt." Und schon wieder verändert. Der verdammte Junge wurde immer hübscher. Kai runzelte die Stirn. "Die Frisur ist gut, übrigens. Wenn du jetzt noch mal in Sachen Klamotten etwas mehr Sinn entwickelst, kann das was werden mit dir. Bist du schon wieder gewachsen?"
Bardo lachte und legte den Kopf schief. "Nein. Ich bleib jetzt so. Die Größe ist gut", sagte er bestimmt. Sein Blick auf Kai dazu wirkte, als meinte er, dass er sich jetzt für Kai in der passenden Größe fand. Gemeinsam traten sie zu der Bank an der Seite, unter der Bardo sein Cello verstaute. Ansgar trat zu ihm und eine ältere Tante in einer dunkelgrauen Nonnentracht, vermutlich die Johanna, die sein letztes Vorspielen verpasst hatte, umarmte Bardo herzlich. Von der altmodischen Ausstrahlung verunsichert ließ Kai sich etwas abdrängen und betrachtete zum Schein die Fenster hinter dem Altar. Bardo wurde für schon wieder gewachsen und so langsam ein richtiger Mann befunden, dann wurde sich noch einmal umarmt und herzlich auf die Wangen geküsst. Ansgar starrte Kai misstrauisch an, der missmutig zurück starrte, dann verließ Ansgar sie, um die Tante nach Hause zu fahren.
Bardo fummelte geschäftig an seinem Cellokasten, doch dann hob er den Blick und linste Kai ins Gesicht. "Du bist hergekommen, weil du von jemandem den Flyer bekommen hast?"
"Ja. Außerdem hat deine Schwester Ortrud angerufen und mir befohlen zu kommen, weil du meinetwegen so viel geübt hättest." Sollte Bardo ruhig Anteil an seiner peinlichen Familie haben. Zudem, wer war in der Wohnung gewesen? Wollten die Bardo jetzt mit ihm verkuppeln oder was wurde gespielt? Gereizt meinte Kai. "War es das jetzt hier? Wir haben morgen die Einweihungsfeier aus der Hölle und ich bin total müde."
Bardo blinzelte ihn an und fragte nach "Aus der Hölle? Warum?" Und innerhalb der nächsten Minuten erzählte Kai von den Verwicklungen zwischen der Liga der Grand-Prix-Fanatiker und dem Fußballfanverein, die sich zu einem Treffen in ihrer Wohnung verabredet hatten. "Dazu kommen dann noch die Schulfreunde und eine halbe Millionen Exfreundinnen von Jan! Insbesondere so eine Maren, die wohl krass ist, wenn ich mal deine Worte verwenden darf."
Bardo lächelte. "Darfst du in so einem Fall. Wieso ist die krass?" Er blickte prüfend seinen Bogen entlang und löste die Spannung mit der kleinen Schraube am Ende ein wenig.
Kai atmete durch. "Thilo hat Jan dieser Maren gegenüber geoutet. Scheiße, das ist mir jetzt schon total peinlich! Dank Thilo wissen nun also alle von Jan, dass er mit einem Mann zusammen ist. Ich bin mir sicher, dass viele nur kommen, um sich das mal anzusehen. Jan und ein Mann zusammen. Ehrlich gesagt, kann ich das auch verstehen. Ich würd das selber nicht glauben, wenn ich es nur so hören würd. Aber es stresst mich total. Wenn ich den Abend überlebe, bin ich echt gut."
Bardo lachte leise, schloss den Cellokoffer und schob ihn in eine schwarze Neoprenhülle, dann blickte er zu seinen Eltern, die auf sie zu kamen und fragte leise an Kai gerichtet: "Wir wollten das Konzert noch ein wenig im Biergarten am Zoo feiern gehen. Magst du mitkommen? Ist doch bei dir um die Ecke."
Kai wollte schon ablehnen, als er Bardos Blick aus großen Rehaugen begegnete und sich beim Nicken ertappte, bevor sein mühsam gerade reanimierter Verstand es verhindern konnte. Bardos Freude über seine Zusage ließ alles gleich richtig werden. Aber das Ganze war die fieseste Falle aller Zeiten gewesen.
Kai hätte misstrauischer sein sollen, aber das fröhliche Schwatzen der Familie, die ihn einfach so zu akzeptieren schien und es nicht auffällig fand, dass er mit ihnen in Richtung Biergarten und auch hinein ging, lullte ihn ein. Er saß neben Bardo und seiner Schwester Ortrud gegenüber. Am Tischende auf seiner anderen Seite ließ sich Merle Fröhlich nieder. Mal wieder unmöglich asymmetrisch gekleidet.
Und gleich nach der Bestellung ihrer Biere, Alster und Apfelsaftschorle, weil Cola verboten war, kam Merle Fröhlich umgehend auf das Thema ihres Interesses. Und sie legte sofort den Finger auf die Stelle, die weh tat. Nicht nur im übertragenen Sinne. Ihre Hand umfing Kais Unterarm, als sie sich zu ihm rüber lehnte. "So, Kai. Ich hab gehört, dass du und Tini ein Kind erwarten?"
Kais Blick fuhr zu einem zu seinem Glück rechtschaffend schuldbewussten Bambi herum, dann wieder zu Merle zurück. Er nickte leicht.
"Das ist das Mädchen, das wir in der Wohnung kurz kennen gelernt haben, nicht?"
Kai ließ den Kopf hängen und nickte noch einmal, flehend dachte er 'Nächstes Thema'. Bei Merle war da natürlich keine Chance. "Bist du oder warst du doch mit dieser Tini zusammen?" Sie drehte an ihren Ringen, war nervös, wie schon bei ihnen in der Wohnung, als sie mit Polizeibegleitung zu Besuch gewesen waren, nur dass sie einander jetzt besser kannten. "Bist du jetzt doch...?"
Kai atmete einmal tief durch. "Nein. Ganz und gar nicht. Das war eine einmalige Sache. Sie ist mit ihrem Freund zusammen und bleibt das auch."
"Hm." Unzufrieden sah Merle ihn an, nippte einmal von ihrem Apfelsaft und betrachtete ihn erneut. "Wie ist das passiert? Ich meine, es klingt sehr nach 'nicht aufgepasst' und das passt gar nicht zu dir, Kai."
Grüblerisch versuchte Kai Worte zu finden, die erklärten, wie das passieren konnte, ohne zu viel zu verraten. Endlich gab er auf. "Sie ist eben leider vollkommen in mich verschossen gewesen, vor ihrem Freund war das. An einem Tag hat sie mich gebeten, es... na ja..." Ortrud blickte ihn optimistisch an "Es mit ihr zu versuchen? Wollte sie wissen, ob du nicht vielleicht doch... hm... bi bist?" Ihre Wangen röteten sich ein wenig, aber sie strahlte ihn offenherzig und interessiert an.
Kai überlegte nicht lang, sondern nutzte ihre Vorlage aus. "So war es. Bin ich nicht, das wissen wir jetzt beide. Wir hatten an dem Tag sehr viel Alkohol getrunken, das war vermutlich der Fehler."
"Und um das Kind? Wer kümmert sich jetzt darum?"
Kai seufzte und massierte seine schmerzende Schläfe. "Das machen wir zusammen irgendwie. Wir studieren ja alle noch und müssen uns die Kurse ebenso legen, dass es passt." Darüber hatten sie eigentlich noch nicht so richtig nachgedacht. Und im Endeffekt würde Kai sicherlich auf der Planungsarbeit sitzen bleiben. Dazu war Tini zu energiegeladen und zwar leider in so viele Richtungen gleichzeitig, dass sie das Wesentliche aus den Augen verlor. Holger war zu sehr darauf bedacht, sich nicht einzumischen und Jan war zu zurückgelehnt.
Und Kai würde auf dem reellen Einhüten sicherlich nicht selten sitzen bleiben, war doch auch schon klar. Tini hatte immer sehr viel vor mit all ihrem Sport und den zwei Studiengängen, die sie nebenher fuhr, Holger hatte neben dem Studium, das ihn mehr Mühe kostete als so manch anderen Studenten, noch die Bundeswehr mit deren Programm. Bei aller Begeisterung konnte Kai sich von Jan nicht vorstellen, dass der sein Fußballtraining zurück schrauben würde, um ihm beim Einhüten zu helfen. Rasch schob er diese Gedanken von sich und gestand: "Vermutlich wird es an mir hängen bleiben, wie immer."
Merle Fröhlich blinzelte, dann lächelte sie mit einem Mal einladend. "Wenn du Hilfe brauchst, Kai, dann sag Bescheid. Ich kenne sehr viele Mütter. Nur für den Fall, dass ihr eine Tagesmutter sucht oder so."
"Das ist alles noch total weit weg. Sie ist erst mal ihren Bruder in Kanada besuchen gefahren und muss das ihren Eltern sagen."
"Wann ist es denn soweit?", fragte nun Ortrud nach.
"Vierzehnter November." Kai ergab sich in sein Schicksal und war darauf gefasst, noch mehr Fragen zu beantworten, aber das war es gewesen zu dem Thema. Merle Fröhlich drehte ihre Ringe, sah ihn forschend an, aber sie ging zum nächsten Thema über. Natürlich auch kein Leichtes. Dieses Mal ging es Bardo an den Kragen. Als nächstes ging es am Tisch um die Sommerferien. Bardo wollte unbedingt nicht mit der Familie in die Toskana fahren wie jedes Jahr, sondern in der Stadt bleiben, um zu jobben. Merle Fröhlich war deswegen besorgt. "Ansgar ist zwar auch oft da, aber er fährt mit seiner Freundin in den Urlaub und außerdem muss er viel arbeiten. Dann wärst du ganz allein in der Stadt, Bardo."
Bardo lächelte fröhlich und sah seine Mutter mit treuen Rehaugen an, während er behauptete: "Kai passt auf mich auf."
Kai war von dem Schock, dass Ansgar Spaßverderber eine Freundin hatte, etwas abgelenkt gewesen. Er hob den Kopf und starrte Bardo sauer an. "Hast du sie noch alle?! Ich lerne für eine wichtige Prüfung, muss Geld verdienen und ich bereite mich mental auf den vierzehnten November vor. Ich hab zu tun!"
Sein Ausbruch schien Bardos Mutter merkwürdigerweise zu beruhigen. Sie tätschelte Kais Handrücken einmal und sagte unbesorgt "Dann kann Bardo sich in den vier Wochen also gelegentlich an dich wenden, Kai? Ich weiß, dass er sich etwas Geld verdienen will mit einem Sommerjob, aber hab mir schon etwas Sorgen gemacht, dass er zu viel auf sich gestellt ist. Ihr kommt so gut zurecht, und ich bin mir sicher, dass er dich nicht über Gebühr stören wird."
In Kais Gehirn berechnete die Abteilung Statistik der Erziehung, warum das Unmögliche gerade möglich wurde. Bardos Mutter ließ ihren Sohn von der Leine, im Sommer, in der Stadt, frisch schwul und vollkommen blöde. Mit einem hübschen Schwulen als Aufpasser? War die bescheuert? Die Welt war bizarr und wurde nicht normaler. Doch im nächsten Moment sagte Merle sehr leise zu ihm, als Bardo einmal abgelenkt war. "Wir können ihn nicht zum Mitkommen zwingen, und ich will ihm zeigen, dass wir ihm vertrauen. Aber so ganz wohl ist mir nicht. Wenn du ein Auge auf ihn hast, fühl ich mich besser. Kai, ich weiß, dass Bardo sonst Unsinn anstellen wird. Auf dich hört er wenigstens." Beschwörend sah sie ihm kurz in die Augen und er fühlte sich an Holger erinnert, der ihn als Tini-Bändiger verwendete.
Und das war echt eine miese Nummer! Gereizt ließ Kai sich nach einem Alster, das ihm zum Glück von den Fröhlichs ausgegeben wurde, von Bardo nach Hause bringen, während die restliche Familie nach dem Biergarten in verschiedene Richtungen aufbrach. Das Cello nahmen die Eltern mit und so waren Kai und Bardo wenigstens diese Last los.
Der Abend war mild, die Luft weich und zugleich nun am Abend angenehm frisch. Sie schlugen den Weg direkt am Wald entlang ein. Vom Biergarten fuhren leise schwatzend Grüppchen auf Fahrrädern los, der Fahrradweg war deswegen recht voll und sie wichen in den Wald hinein auf den nicht so gut beleuchteten Fußweg aus. Die Luft hier war deutlich kühler und etwas feucht. Es roch nach Waldmeister, weil der sich zwischen den Bäumen überall ausgebreitet hatte.
Lächelnd erinnerte Kai sich daran, wie seine Mutter den Waldmeister immer im Frühsommer gepflückt und für Bowle und Gelee verwendet hatte. Als er noch klein war, war er immer mit ihr in den nahen Wald gezogen und hatte ihr beim Pflücken geholfen. Doch nun war er mit Bardo mal wieder allein unterwegs, und der sah ihn schon wieder mit seinen schönen Bambiaugen an.
Kai kam sofort zur Sache, als sie auf den schmalen Fußweg durch den Waldrand einbogen. "Bardo, deine Mutter will, dass ich auf dich aufpasse im Sommer. Du bist aber vermutlich nicht in der Stadt geblieben, um brav daheim zu hocken, oder dich von mir behüten zu lassen. Was planst du?"
Bardo lächelte schief und schlenderte betont langsam den Weg entlang. "Gar nichts. Nichts richtiges, meine ich. Ich will etwas arbeiten, ein wenig Geld sparen für eine Reise nach New York im nächsten Jahr. Anna will vielleicht eine Woche kommen. Sie weiß noch nicht, ob ihr Vater Zeit hat und wann er Zeit hat, daher machen wir das spontan. Ansonsten werde ich einfach ausruhen, schwimmen gehen, mit den anderen vom Chor vielleicht mal weggehen, in den Jugendtreff, vielleicht in das Eckchen, das soll schwulenfreundlich sein."
Das Eckchen war eine kleine kuschelige Kneipe, die von diversen Lesben unterhalten wurde. Das nahe Theater bot ihnen einen guten Zulauf. Lolli traf sich dort gern am späten Nachmittag mit seinen Freunden, um dann bis zur mitteleuropäischen Diskozeit von etwa zwei am Morgen zu versacken. Kai mochte den Laden nicht so gern, wegen der Anbaggermeile, die sich zwischen Theke und Klo entlang zog und der er einmal böse zum Opfer gefallen war. "Na ja. Wer drauf steht. Ich persönlich finde die Atmosphäre dort nicht sonderlich." Das galt aber für so ziemlich jede Bar, Kneipe oder Disko.
Lolli hatte Kai in ihren ersten Tagen zusammen voller Energie in so ziemlich jedes schwule oder schwulenfreundliche Etablissement der Stadt geschleppt. In der Regel mit sehr ernüchterndem Ergebnis. Das Telefon lief schon heiß am anderen Morgen, mit Fragen, wer das denn Süßes war, mit dem Lolli da umher zog, aber da Kai extrem spröde und abweisend gewesen war, und auf Einladungen zu Treffen nicht reagierte, hatte Lolli irgendwann aufgegeben.
"Wo gehst du denn gern hin?" Fasziniert blickte Bardo ihn an, als sei es ein Wunder, dass jemand den Jugendtreff oder das Eckchen scheiße fand.
Kai umschlang seinen Oberkörper mit den Armen. "LPP. Da bekomm ich Geld und keiner macht mich doof an."
"Wolltest du nie wen kennen lernen?"
"Nicht aktiv, nein. Ich bin durchaus gern allein. Außer von Jan bin ich schnell von anderen genervt." Er begleitete diese Aussage mit einem schrägen Seitenblick, dann gab er zu "Du hast mich auch noch nie so richtig doll genervt. Außer neulich natürlich und aktuell bist du wieder mal kurz davor, Bardo."
Bardo lächelte wieder so verboten niedlich und hauchte "Danke, Kai."
Sie gingen ein Weilchen schweigend auf dem Weg entlang, doch mit einem Mal blieb Bardo abrupt stehen und starrte.
"Is was?"
"Was ist das denn?"
Kai runzelte die Stirn und folgte Bardos ausgestrecktem Zeigefinger mit Blicken. Dann sah er die kleinen grünlichen Punkte am Wegrand rumzappeln und lächelte. "Du Stadtkind du, dass du das nicht erkennst. Glühwürmchen. Ich wusste gar nicht, dass es die hier gibt." Neugierig ging er in die Hocke und sah die kleinen blaugrünen Käfer an, die zwischen den Zweigen am Boden krabbelten.
Bardo stützte sich unbesorgt mit einem Knie am feuchten Boden ab und beugte sich dichter. "Sind die irgendwie bissig oder so?"
"Nein. Gar nicht. Kann man anfassen." Kai sah die Glühwürmchen fasziniert an. "Das fühlt sich nostalgisch an. Früher als Kinder haben Pascal und ich die in der Gartenkolonie gesucht, wenn es dunkel wurde. Pascal war immer viel besser und hatte ruck zuck ein ganzes Glas voll von den Viechern." Er seufzte. "Der war vielleicht bescheuert neulich. Passi bekommt bald echt einen Idiotenpokal von mir." Die Glühwürmchen betrachtend erzählte er Bardo die Kurzfassung von seinem Stress mit Pascal.
Kritisch blickte Bardo ihn an, dann versuchte er einen Käfer auf seinen Zeigefinger zu locken. "Du solltest Pascal mal fragen, was schief gelaufen ist."
"Nein. Das macht keinen Sinn bei Pascal. Was schief gelaufen ist, ist total klar. Er hat wen kennen gelernt, dachte sofort wieder an eine dolle Beziehung, hat sofort wildesten Sex gehabt. Damit ist er total hemmungslos, und das hat dem anderen dann sicherlich hingereicht, aber ihn nicht animiert, etwas Tieferes aufzubauen. Damit war für den das Thema durch und er hat sich vielleicht mal wieder auf ein geiles Treffen verabreden wollen. Damit ist für Pascal klar geworden, dass es schon wieder nur um Sex ging und mal wieder ist die Welt zusammengebrochen. So läuft es immer bei ihm. Das kommt, weil er total oberflächlich nach einem Freund sucht. Nur mit dem Schwanz und den Augen. Wer wirklich zu ihm passt, wenn es vielleicht nicht der Supermann ist oder der geilste Fick seines Lebens, das interessiert ihn nicht." Von der langen Re de erschöpft seufzte Kai.
Bardo hielt ihm seinen Zeigefinger hin und Kai lächelte und hielt seine Hand dagegen. Das verwirrte Glühwürmchen krabbelte zu ihm rüber und Kai stand auf, weil seine Beine am Einschlafen waren. Bardo stand auch auf und hielt seinen Zeigefinger gegen Kais Finger. Das Glühwürmchen krabbelte eifrig zurück, bemerkte dann jedoch den Beschiss und flog fast sofort zwischen ihnen los und zu den anderen zurück.
Sie senkten den Blick gleichzeitig, um ihm nachzusehen, doch als Kai wieder aufblickte, sah Bardo ihm in die Augen. Sein Blick war dermaßen sehnsuchtsvoll, dass Kai davon Herzschmerzen bekam. Verliebt zu sein, die Liebe vor Augen zu haben, ihn berühren zu dürfen, von ihm freundlich behandelt zu werden, und doch nicht mehr tun zu dürfen, das war vermutlich genauso schmerzhaft wie abgewiesen zu werden. Er selber hatte es mit Jan durchgemacht. So viele Monate lang hatte Jan ihm mit seiner Freundschaft, mit seiner Freundlichkeit und kleinen Berührungen, die ihm etwas gänzlich anderes bedeuteten als Kai doch weh getan. Genau wie Kai jetzt seinem Bambi weh tat. Gänzlich ohne es zu wollen. Im Gegenteil. Nichts wollte er weniger. Es passierte einfach.
Sie starrten sich an, endlich sagte Kai leise "Bambi, wir sind Freunde. Bitte..."
Bardo zuckte zusammen und zog seine Unterlippe zwischen die Zähne, dann senkte er den Kopf wieder. "Tut mir leid."
Nachdenklich betrachtete Kai ihn. Vielleicht hatte Jan Recht mit seinem Vorschlag. Es war gewagt, so an diese Sache heran zu gehen, aber irgendwie erschien es mit einem Mal freundlicher, verträglicher als der Versuch mit dem verdammten Abstand. Betont leidend seufzte er und hielt seine Hand aus. "Komm, mir wird kalt."
Bardo starrte die Hand an, als ob Kai ihn damit beißen wollte, dann reichte er zögerlich rüber.
Kai lächelte über seine Unsicherheit. 'Er ist eben doch noch ein totales Kind.' Mit Blick auf Bardos zögerliches Gesicht umfing er seine Finger mit seinen und ging weiter, zog ihn mit sich, ließ nicht los.
Schweigend auf das Gefühl der Berührung ihrer Hände lauschend ging Kai den Waldweg weiter hoch. Er fühlte sich gut, die Nähe war angenehm. Bardos Hand war angenehm. Seine Finger waren kräftig, mit deutlich zu fühlenden Schwielen auf den Fingerkuppen. Sicherlich vom vielen Üben mit dem Cello. Kai ertappte sich dabei, wie er wieder und wieder mit dem Daumen über diese kleinen rauen Stellen strich.
Es war ein durch und durch schöner Abend. Die Musik war wunderschön gewesen, auch wenn Stefans pissiger Gesichtsausdruck und das Mädchen mit der Flöte genervt hatten. Das Alster im Biergarten war lecker und umsonst gewesen, die Familie Fröhlich hatte Kai nur wenig gequält und nun konnten sie den Weg entlang gehen, an dem hier und dort die Glühwürmchen sich krabbelnd umeinander bemühten. Nur selten fuhr nebenan jemand auf dem Fahrrad an ihnen vorbei, die Stimmung war friedlich und romantisch ohne Ende. Kai ertappte sich bei dem Gedanken, dass er mit Jan herkommen musste.
Nach einer Weile fragte Bardo heiser "Warum machst du das jetzt?"
Kai hob ihre Hände an und betrachtete sie. Bardo hatte jetzt schon kräftigere Hände und die Sommersprossen verloren sich erst auf den Fingern, seine restliche Haut war schon etwas dunkler getönt als die von Kai. "Du willst den Sommer hier bleiben, um von deinen Brüdern ungestört zu üben, nicht?"
"Üben?" Bardo ließ sich etwas mitschleifen, dann sagte er mit der gleichen heiseren Stimme "Ja, irgendwie schon. Es ist nicht so leicht mit Halvar daheim. Er kommt noch immer keinen Tag aus, ohne mich mit dummen Sprüchen zu ärgern. Aber ich kann nichts dafür, dass ich..."
Kai blieb stehen und blickte in sein Gesicht. "Was?"
"Na ja. Ich benehme mich wie immer, wie früher, denke ich. Aber Halvar findet, dass ich dauernd zu schwul bin. Erst dachte ich, dass er das nur so daher sagt, aber neulich meinte sogar Nantwin, dass ich anders bin."
"Anders?"
"Ich finde das nicht. Ich trag die gleichen Klamotten wie sonst, ich höre die gleiche Musik gern, ich rede mit den gleichen Freunden, von dir abgesehen. Die Poster in meinem Zimmer waren immer okay, jetzt meinte Nantwin, dass ich keine halbnackten Männer aufhängen soll... und das von ihm, der doch diese Ballettposter am Schrank hat, wo man bei den Tänzern durch die dünnen Hosen so ziemlich alles sehen kann!"
"Hm. Die belauern dich. Das ist alles. Und? Wie ist das?" Bezeichnend hob Kai ihre Hände an. Zugleich fragte er es sich selbst. Es war wirklich verwunderlich, wie wohl er sich bei Bardo mit Nähe fühlte. Bei Lolli hätte er längst eine Krise bekommen und bei Lukas hätten sie längst irgendwelche Auseinandersetzungen zum Thema Sex gehabt. Bei Jan hätte er definitiv schon längst Sex oder zumindest eine Knutscherei hinter sich. Bei Bardo war da nur ein nettes warmes Miteinander. Das Gefühl der warmen, kräftigen Hand in seiner.
Bardo lächelte Kai im nächsten Moment blöde an. "Das ist voll schön."
Kai seufzte abgrundtief, aber meinte nur "Dann ist ja gut. Wir üben nämlich gerade. Du machst dich ganz gut."
"Was üben wir genau?"
"Du übst mich anzufassen, ohne mich so dumm anzugummern. Vielleicht bekommen wir dich ja etwas abgehärtet, und du wirst wieder normal. War übrigens Jans Idee."
"Jans Idee?"
Kai nickte leicht und erzählte Bardo von Jans Vorstellungen zum Thema Flirten und natürlich auch den eigenen Hintergedanken dazu. Die Marenkrise kochte Kai nicht noch einmal auf, aber er gab zu, dass er für sich schon gedacht hatte, dass Jan vielleicht Recht haben mochte. Es war nicht angenehm, wenn der Freund misstrauisch äugte, bloß weil man jemanden einmal umarmte.
Endlich schloss Kai "Daher darf Jan das jetzt bei Mädchen machen. Sie mal umarmen und so, ich hab beschlossen, mich nicht so bescheuert verrückt zu machen deswegen. Dafür härte ich dich ab und Jan hält die Klappe. Wehe du nutzt das aus und gehst mir auf den Geist!"
Bardo lachte leise, dann sagte er schuldbewusst "Du, Kai?"
"Hm?"
Sie kamen in der Nähe der Wohnung an und Kai ließ Bardos Hand los, bevor er auf die Fußgängerampel zustrebte.
Bardo seufzte und umschlang seinen Oberkörper mit den Armen. "Ich glaub, dass das nicht so doll klappt mit dem Abhärten."
Kai verzog den Mund, dann zuckte er mit den Schultern. "War ein Anfang, okay? Das wird schon werden. Wann musst du Zuhause sein?"
Bardo blickte auf seine Uhr im Handy und seufzte leise "Vor zehn Minuten."
"Gut, ich bring dich zur Bushaltestelle."
Sie gingen das kurze Stück die Straße rauf, nun nicht mehr Hand in Hand, und schwiegen beide. Der Bus stand schon an der Haltestelle, eine blondierte Busfahrerin war mit ihrem Handy beschäftigt und sah nur kurz auf, als Bardo ihr den Ausweis hinhielt und dann zur hinteren Tür weiter ging, die wegen der Wärme offen stand. Kai lächelte leicht. "Das war ein schöner Abend. Mach keinen Unsinn, dann bist du bald aus der Krise raus."
Bardo seufzte und starrte ihn verlangend an, dann nickte er. "Mach ich. Ich muss jetzt bis zu den Ferien sowieso voll durchziehen, meine Noten sind irgendwie etwas abgerutscht."
Kai nickte leicht. "Das ist kein Wunder. Lass dich nicht von deinem Monsterbruder ärgern. Und auch nicht von der Balletttussi." Er blickte zur Anzeigetafel, der Bus würde gleich fahren. Rasch trat er vor und umarmte Bardo einmal fest. Er ließ ihn los und zog sich zurück, bevor Bardo reagiert hatte. "Bis dann, Bambi."
Die Vernunft und die Abteilung Abartigkeiten stritten derweilen intensiv darüber, ob Kais Idee, Bardo auf diese Art etwas abzuhärten, tatsächlich so gut war, oder ob das voll schief gehen würde, aber Kai hörte nicht darauf. Er hatte den Eindruck, dass es klappen konnte und hoffte, dass Jan mit seiner Idee nicht voll daneben lag.
131
Der Samstag der Höllenfeier begann wunderschön und vollkommen unschuldig damit, dass Kai früh wach war, sich ausgeschlafen fühlte und in Ruhe duschen ging. Es ging damit weiter, dass Jan davon auch früh wach wurde und zu ihm unter die Dusche kam, und sie sich sofort ganz und gar nicht unschuldig aneinander erfreuten.
Das führte dazu, dass Jan noch weniger unschuldig im Bett weiter machen wollte und Kai mit dem Argument, dass sie dank des vielen Übernachtungsbesuchs die nächsten Tage nicht dazu kommen würden, vollkommen überzeugte.
Aber das führte dazu, dass Jan nach einer weiteren Dusche mit dem Handtuch um die Hüften die Tür öffnen ging, während Kai, nachdem er sich gewaschen und das Bett abgezogen hatte, wenigstens bereits in Jeans und T-Shirt nach farblich passenden Socken suchte. Und so lernte Kai dann barfuß mit seinem nackten Freund dabei dessen Exfreundinnen kennen. Drei an der Zahl, zwei davon mit ihren neuen Freunden und mitten dabei diese verdammte Maren, die dank Thilo von Jans aktueller Beziehung wusste und das auch sofort zum Thema ihres Tages machte.
Die Jungs kreischten auf, als sie einander erblickten und schrien sich mit merkwürdigen Spitznamen an. Bolle und Mücke, die eigentlich Stefan und Markus hießen. Jan nannten sie den Heizer. Ein Spitzname, den Kai durchaus nachvollziehen konnte. Es wurden noch auf der Türschwelle Peinlichkeiten ausgetauscht, offenkundig hatte Mücke Jan mehr als nur einmal knapp aus dem Wagen oder auch mal knapp hinein gekotzt. Die Schulzeit war nicht ohne gewesen, wie Kai das so abschätzen konnte.
Die drei Mädchen hatten alle recht kurze Haare und waren sportlich, trugen Jeansshorts und Flipflops, weil es schon am Morgen ziemlich warm geworden war. Alle hatten eher kurvige Figuren, Maren hatte ein sehr hübsches Gesicht, die Sorte, die auf Klassenfotos herausstach, genau wie Bianca. Genau wie diese hielt sie sich selbstbewusst und trug ein ziemlich enges T-Shirt über einer ordentlichen Oberweite. Das passte voll zu Jans Typ Frau. Ein paar Sprüche zu der geilen Wohnung und der geilen Lage wurden gemacht und von den Jungs zu seinem Fußballverein.
Dann stellte Jan Kai vor als "Mein Freund, Kai Hellmann." Und die Stimmung wurde präpubertär. Die Jungs stockten, starrten und blinzelten. Mit etwas zaghaften Gesten wurde Kai die Hand gereicht. Die Mädchen kicherten rum, dann gingen die Jungs offenkundig erleichtert, dass Kai sie nicht gebissen oder gar geküsst hatte, noch einmal zum Auto runter, um die restlichen Sachen zu holen.
Die drei Mädchen standen somit breit grinsend mit Rucksäcken und Körben voller Bettzeug und Essen in der Tür und Maren übernahm die Regie. "Oh mein Gott! Janni, du schaust noch immer so affenartig geil aus. Machst du das extra, oder was?" Sie lachte, die beiden anderen kicherten zustimmend und Maren umarmte Jan für Kais Empfinden eine Spur zu lange, küsste ihn auf die Wange und trat dann durch in den Flur.
Jan lachte über ihren Spruch nur und sagte gleichgültig "Saisonende, ich hab bald frei und kann mich wieder etwas dicker futtern."
Kai blickte kurz an Jans Rücken entlang und fand ihn genau richtig, dachte aber bei sich, dass Jan für ihn immer genau richtig sein würde. Im nächsten Moment war er dran. Maren trat zu ihm und blickte ihn kritisch einmal an, dann sah sie zu Jan zurück. "Das ist also Kai, ja?"
Kai wollte ihr die Hand reichen, aber sie umarmte ihn ebenfalls. Sie hatte ihn noch im Arm, als sie feststellte. "Du bist echt hübsch. Und jetzt bist du also schwul, Janni? Wegen ihm?" Es klang irgendwie beleidigend. Als hätte Kai Jan irgendwie vergiftet oder so.
Eine der anderen sagte tadelnd "Maren! Wir hatten doch besprochen, dass du nicht peinlich wirst."
"Oh. Ja. Sorry, Kai." Maren grinste breit, nebenbei streifte sie die Flipflops von den Füßen und trug ihren Rucksack in den Flur weiter rein, um Platz für die anderen zu machen. Jan ignorierte diesen Diskurs gekonnt, während er den anderen Mädchen Komplimente machte und sich dann entschuldigte, dass er noch im Handtuch rumstand. "Hab so früh gar nicht mit euch gerechnet."
Die anderen Mädchen kicherten albern und sahen zwischen ihnen hin und her. Kai schaffte es, ihnen nur die Hand geben zu müssen, dann klingelte das Telefon und erlöste ihn von den Weibern. Jan bat die Mädels in den Wohnraum und rief ihnen im Weggehen zu, dass sie sich wie zuhause fühlen sollten, er würde sich erst einmal anziehen gehen. Darauf rief Maren lachend, dass er das nicht unbedingt tun musste. Kreischend stimmten die beiden anderen Mädchen ihr zu. Die Stimmung wurde immer besser. Zum Glück mischten sich die brummeligen Stimmen der anderen Jungs wieder ein. Fragen nach der Unterbringung für Grillfleisch und Bier sowie für die Bettsachen wurden geklärt. Musik plärrte los, eine Partymixtur, die wohl einige Kultlieder enthielt.
Jan begann, so leidlich mit einer Shorts und T-Shirt bekleidet, mit einer Führung durch die Zimmer. Die aufgestylten Möbel wurden nebenbei präsentiert, sein neuer Fernseher hingegen mit allen Schikanen erklärt.
Kai verdrehte die Augen, ging knapp vor dem Anrufbeantworter an das Telefon und musste Lollis aktuell neueste Hysterie für geschlagene zwanzig Minuten über sich ergehen lassen. Dieses Mal im Zusammenhang mit seinem anstehenden Umzug. Jiffi war bereits bei ihm und hatte ihm, von Benni unterstützt, in einem milden Anfall von Realismus, die Preise für einen Umzug mit so viel Kram mitgeteilt. Und dann hatte er Lolli die Größe seiner Wohnung, nun ihrer gemeinsamen Wohnung, mitgeteilt. Weder die Größe der Wohnung, noch der Preis des Umzugs waren kompatibel mit Lollis Vorstellungen. "Meine Maus! Ich sterbe! Ich muss meine Plattensammlung, meine Kostüme, meinen Schminktisch, meinen Couchtisch, mein Sofa, die Bilderrahmen, meine Lampen, meine selbstkreierten Möbel, meine..., oh Gott, hab ich schon meinen Schminktisch erwähnt?"
"Komm zum Punkt, Lolli, die ersten Gäste sind da." Gereizt blickte Kai in den Spiegel an der Schranktür seines Zimmers, in das er sich geflüchtet hatte. Es klingelte an der Tür und er ging durch den Flur und öffnete einem der Fußballfreunde von Jan, der vorab Zeug vorbei bringen wollte. Kai nickte dem Typen zu und wies mit dem Daumen hinter sich.
Lolli atmete derweilen einmal durch, dann rückte er raus: "Jiffi und ich haben beschlossen, dass wir den Kram versilbern und in London gemeinsam wieder investieren. Ich muss mit dem Ausmisten anfangen, sonst schaffe ich das nicht mehr. Und das neben der Diplomarbeit, es macht mich echt alle! Ich brauche deine Hilfe, Maus. Du musst hoffentlich an den nächsten Samstagen nicht arbeiten."
"Den nächsten die Spätschicht, den danach hab ich Hochzeit und muss nach Hause."
"Ah, das passt sich gut, dann legen wir den nächsten schon los. Wir bereiten hier alles vor, Lukas leiht mir den Bulli und dann fahren wir zusammen zum Flohmarkt! Der ist am Alten Markt ab sechs Uhr morgens, bis so gegen zwei oder so. Das wird so geil!"
Kai wollte Lolli gerade anschreien, dass das nicht geil werden könne und eine Scheißidee war, als ihm die Sachen von Hannah in ihrem Keller einfielen. Vorsichtig atmete er wieder aus. "Hm. Ich sag dir in den nächsten Tagen, ob ich Zeit habe."
"Ich hab eure Möbel aufgestylt! Dafür kann ich doch jetzt erwarten, dass..."
"Lolli! Komm erst mal zur Feier heute Abend. Komm bitte als du selbst, soweit es dir möglich ist, sag deinem Jiffy, dass er nicht zugekifft kommen soll und seid pünktlich. Wir nehmen den Grand Prix nicht auf, verstanden?!"
Und der Vormittag verlief weiter in diesen Bahnen. Jans alte Schulfreunde kamen nach und nach vorbei, luden Kram ab, grinsten Jan blöde an, beäugten Kai und bekamen, soweit sie noch nicht informiert waren, von Maren gleich nach dem Hallo mitgeteilt, dass Jan jetzt ja schwul war und mit diesem Kai..., dem Kai dort hinten..., zusammen. Dazu bekamen sie zunehmend die missmutige Information, dass man das leider an nix sehen würde. Mit einem freudigen Aufschrei hatte Maren sich in das Schlafzimmer gestürzt und war dort gleich über die Isomatten gestolpert, die Jan für seine Kumpel hingeworfen hatte.
Kritisch hatte sie das Monsterbett beäugt und die Information erhalten, dass die Möbel alles Erbsachen von Hannah waren. Hannah war Maren natürlich ein Begriff, und über eine Unterhaltung zu seiner Großmutter und ihrem Tod lenkte Jan seine Exfreundin für eine kleine Weile von seinem Privatleben in der Stadt ab. Jedenfalls lagen auf dem Bett nur frisch bezogene Decken und Sachen von Übernachtungsgästen. Auf dem Nachttisch war nur auf Jans Seite ein Wecker zu finden, weil Kai seinen zum Lernen an den Schreibtisch gestellt hatte. Es gab keinerlei Hinweis darauf, dass Kai hier eigentlich immer schlief, was Maren echt störte.
Dann hatte sie bei Kai um die Ecke gesehen und musste dort feststellen, dass sein Zimmer das einer Streberleiche war. Überall Bücher, Notizen und Skripte. An der Wand der Lehrplan und dazu noch ein eher knappes Doppelbett, in dem nur einer schlief. Das Foto von Jan und ihm hatte Kai in seinem Kleiderschrank versteckt, um die Fußballfreunde nicht zu irritieren.
Nachdem Maren sich abgeregt hatte, wurde der Vormittag dann eigentlich erholsam und nett. Jan hatte den halben Morgen und den Nachmittag in herrlich halbnacktem Zustand verbracht, was Maren sehr offen freute und Kai sehr im Geheimen. Jan hatte nach der Wohnungsführung mit seinen Freunden auf der Dachterrasse in der Sonne gesessen und über die alten Zeiten gequatscht. Es war entspannt und fröhlich zugegangen. Die Mädchen hatten nach einer Weile mit dem Essen machen angefangen, vornehmlich im Sinne von zwei Schalen Nudelsalat. Sie aßen diesen zusammen schon mal zu Mittag auf der Dachterrasse in herrlichem Sonnenschein. Kais Haut honorierte das mit einem leicht prickelnden Gefühl, und Kai ging sich hastig mit Faktor 50 für Babyhaut eincremen, bevor Jan noch auf die Idee kam. Jan und seine Schulfreunde fuhren gleich nach dem Mittagessen an die Badeteiche und zum Beachvolleyball.
Glücklicherweise war Jan durch seine Freunde derart abgelenkt, dass er Kai nur kurz mal anlächelte, als er ihm beim Essen etwas reichte, ansonsten kamen sie nicht einmal zu einem privaten Wortwechsel. Er hatte viel mit seinen Freunden aufzuholen. Seit längerem hatte er viele durch entfernte Studienorte und andere Verpflichtungen nicht mehr gesehen. Die letzten Neuigkeiten wurden aufgetischt. Verschiedene Studiengänge bewertet. Insiderwitze wurden gerissen, Partys wurden in Erinnerung gebracht und Kindheitserinnerungen ausgetauscht.
Kai und Jan verhielten sich natürlich wie immer in der Uni oder wenn andere dabei waren. Sie verstanden einander wortlos und kommunizierten mit kleinen Blickkontakten, wenn notwendig, aber überfielen sich nicht mit Knutschereien oder turtelten irgendwie peinlich rum. Kai wusste auch nicht so ganz, was Maren erwartet hatte, aber sie lauerte den Morgen über, wenn sie nicht gerade mit anderem befasst war, in seiner Nähe rum.
Davon gereizt verbrachte Kai den frühen Nachmittag für einige Stunden in seinem Zimmer mit Lernen, später verbrachte er ihn im Bad mit hübsch machen und Haare stylen, bis ihn die Mädchen verdrängten, die nach dem Sonnenbad am See noch einmal duschen und sich auch aufbretzeln wollten.
Gegen Abend wurde es endlich leichter für Kai. Und das, obwohl er ursprünglich das Gegenteil angenommen hatte.
Jans Fußballverein kam an. Es wurde gelacht, und es wurden die üblichen Sprüche geklopft. Kai wurde auf die Schulter geklopft und man grüßte seinen Alten, der sich ja so fabelhaft mit dem Trainer verstanden hatte. Die Jungs gingen seit dem Spiel, bei dem Kai mit Norbert gewesen war, alle davon aus, dass Kai der Mitbewohner war, dessen Vater Fußballtrainer war. Sie gingen alle davon aus, dass Kai der schwule Mitbewohner war, der auch seine schwulen Freunde eingeladen hatte. Jan war in ihren Augen der mutige männlichste Mann auf Erden, der sich seiner so geil sicher war, dass er mit einem schwulen Mann in einer Wohnung lebte, ohne ein Problem damit zu haben. Sie wussten aus diversen Erinnerungen an anstrengende Diskussionen mit Jan, dass blöde Sprüche oder Anmachen seinem schwulen Mitbewohner gegenüber nicht geduldet wurden, dass Jan dergleichen Verhalten als Schwäche und Unsicherheit bewertete. Daher wagte auch keiner von ihnen nur den leisesten dummen Witze. Es war richtig angenehm.
Dass Jan selber schwul sein könnte, das kam ihnen nicht in die Fußballhirne und so war der Abend aus ihrer Sicht ein kleines Abenteuer mit vermutlicher Showeinlage. Ihre Freundinnen freuten sich kichernd auf den Grand-Prix, den sie für einen Abend mit Pokalendspiel zum Teil schon aus der Reihe ihrer Unterhaltung gestrichen hatten. Sie nippten fröhlich an ihren Proseccogläsern und genossen die Abendsonne auf der Dachterrasse.
Die Freunde aus der Uni kamen schließlich und mit ihnen die Selbstverständlichkeit für Jan und Kai in ihrer Mitte. Das Thema Tini kam kurz auf, weil Bianca von ihrer Freundin eine kurze Mail erhalten hatte. Noch immer war Renate leider die einzige Freundin von Tini, die das mit dem Baby zu wissen schien. Leider war sie aus dieser Gruppe Menschen noch immer die einzige, die nicht zu wissen schien, von wem es war. Sie grinste Holger an, während sie in der Küche für Ordnung sorgte und den Kühlschrank umorganisierte, so dass ihr Salat und eine aufgeschnittene Wassermelone auch noch rein passten.
Als Gastgeber war Jan zurückgelehnt, informiert und darüber hinaus nur an seinem eigenen Wohl interessiert. Er wusste wer welche Getränke mochte, aber das hieß nicht, dass er Prosecco für Lolli, die Meiersche und die Mädchen kalt stellen würde. Er wusste auch, dass sowohl Renate als auch Nadine und Carl vegetarisch aßen. Aber um Salat mussten die sich ebenso selbst kümmern wie um Gemüse zum Grillen.
Zur Einweihung erhielten Kai und Jan ein paar Geschenke, obwohl Jan allen gesagt hatte, dass sie einfach Getränke und Essen mitbringen sollten. Von den Freunden aus der Uni bekamen sie Blumen für die Dachterrasse, was Kai sehr vernünftig fand. Von den anderen kamen mehr Geschenke für Jan. Eine Exfreundin schenkte ihm ein vernünftiges T-Shirt, was Kai auch nicht verkehrt fand. Jan zog das Shirt sogar gleich an und freute sich darüber, dass er nicht shoppen gehen musste.
Kai genoss es, dass die meisten Anwesenden eher Jan zu Dingen wie der Übernachtung, dem Beginn des Pokalspiels, dem Beginn des Grand-Prix oder dem Weg zum nächsten Zigarettenautomaten fragten. So konnte er sich im Hintergrund um den Zustand des Kühlschranks kümmern und Teller wegräumen. Jan hatte wegen der Grillerei eine alte Shorts und dazu dann leider das neue und rasch dreckige T-Shirt an und hatte wegen seiner Freunde, die ihn dauernd für irgendwas brauchten, keinerlei Zeit, Kai auch nur anzusehen. Da sie ausreichend Sex gehabt hatten am Morgen, war das Verlangen nach Nähe auch erst einmal nebensächlich.
Kai war dankbar, dass die lauernden Blicke von Maren und den anderen von Jan zu ihm und wieder zurück recht bald nachgelassen hatten und entspannte sich. Die Jungs vom Fußballverein kannten Maren alle nicht und kamen mit ihr deswegen nicht in ein Gespräch über Jans Sexualität. Alles lief friedlich und gut.
Als sie gegen sieben mit dem Grillen und der Musik loslegten, holte Kai sich eine Flasche Bier und ließ sich bei Holger nieder, der ihm die neusten Informationen in Sachen Tini und Ding mitteilte. "Sie war heute Wasserskilaufen. Scheint der Knaller gewesen zu sein. Und dann war sie shoppen, um ihren Eltern zu entkommen. Es ist mir ein Rätsel, wie man so viel Geld für Klamotten ausgeben kann. Andererseits meinte Tini, dass sich Umstandssachen doch total lohnen für sie. Sie fühle sich gerade großartig und will fünf Kinder, mindestens." Holger zuckte kurz mit den Schultern, als wollte er sagen 'Fünf Kinder... von mir aus.' Dann fuhr er etwas deprimierter fort: "Ihre Mutter hat sich etwas eingekriegt, als sie gehört hat, dass das Ding nicht von mir ist, und sie mich auch noch lange nicht heiraten will."
"Aha?" Kai grinste Holger an: "Klingt wie eine miese Beleidigung. Hätte fast von Lolli sein können."
"Hm. Ist das nicht übel? Es ist ihr lieber, dass Tini mit irgendwem ein Kind hat als mit mir. Ich bin ganz depri deswegen." Holger nippte von seinem Bier und seufzte: "Vor dem Abflug hab ich sie vorsichtshalber mal gefragt, ob wir nicht einfach heiraten sollen. Vielleicht kriegt ihre Mutter dann ja einen Herzinfarkt oder so."
Es klang verdächtig nach einem Wunschtraum von Holger, vor allem was die Herzattacke anging und Kai kicherte.
Holger seufzte. "Sie will erst mal mit mir zusammen ziehen und sehen, ob ich das Ding ab kann, meint sie. Aber ihre Mutter ist nun natürlich megamäßig scharf darauf, dich kennen zu lernen. "
"Ich nicht."
"Tja. Du hast mein Verständnis." Holger klopfte Kai tröstend auf die Schulter.
Maren unterbrach sie, indem sie sich zu ihnen setzte und Holger fragte, ob er denn auch schwul sei.
Holger blinzelte sie an, dann lachte er. Nach einem Rundumblick sagte er locker. "Nee, du, die Tuckengruppe ist noch nicht hier. Biste scharf drauf, sie dir anzugaffen, was? Kommst du vom Lande?"
Maren wurde etwas rot und verzog den Mund. "Na ja. Jan schaut nicht so aus. Kai hier auch total nicht." Unzufrieden drehte sie eine Haarsträhne um den Zeigefinger. Offenkundig hatte sie sich etwas mehr Show versprochen.
Es klingelte mal wieder und Kai erhob sich, um dieser peinlichen Maren zu entgehen. Und die bekam nun endlich, was sie sich gewünscht hatte. Einen Haufen durchgeknallte Tucken zu sehen. Aber hallo.
Lolli stürmte natürlich vorweg, in einer sehr farbenfrohen tief sitzenden Jeans, die aus vielen Dreiecken zusammengesetzt schien. Hier und dort waren regenbogenfarbene oder glitzernde Stoffecke eingestreut. Er trug ein ärmelloses T-Shirt, auf dem zu lesen war 'Viva la Diva'. Er hatte die Meiersche unmittelbar im Schlepp, der war dezent in teurem Hemd und einer Stoffhose gekleidet und hatte einen Korb mit Essen dabei. Seine graublauen Augen suchten den Flur nach Jan ab wie es schien, jedenfalls lächelte er schon voller wonniger Vorfreude auf sein Sabberobjekt.
Danach folgte Jiffi, der sich grinsend in der Wohnung umschaute und in enger weißer Jeans sehr niedlich aussah. Er trug dazu leider eine mindestens eine Nummer zu enges T-Shirt mit dem Bild der englischen Fahne und dem Schriftzug 'Total Fangirl'. Leider hatte er zudem in der hinteren Jeanstasche einen Joint stecken.
Carl stützte die Hände schwul auf die Hüften und kreischte Kai an, dass ja alles fabelhaft und wundervoll sei, bevor er ihn einmal drückte und den arglos in seine Nähe geratenen Jan ebenfalls an sich presste und mit Begeisterung anfummelte. Lolli überreichte Jan einen Korb mit Flaschen und Dosen, mit dem dieser sich zügig in die Küche absetzte, um den weiteren Begrüßungen zu entgehen. Aber Kai entging ihnen nicht. Lolli begrüßte ihn mit Küsschen auf beide Wangen. Damit setzte er den Begrüßungsstandard fest und im Folgenden küssten Carl, Jiffi, Lena, Henrike und schließlich Noppi Kai auf die Wangen, dem von dem ganzen Geknutsche schwindelig wurde.
Dann schritt Lukas in den Flur und schloss die Tür. Da Lolli sich schon in den Wohnraum vorgearbeitet hatte, um Holger mit einem gekreischten "Mein großes, starkes Bärchen, du. Wie freu ich mich!" zu umarmen, waren die anderen Gäste nun auf die Neuzugänge aufmerksam geworden. Maren lehnte sehr zufrieden grinsend und gaffend im Durchgang, als Lukas Kai energisch an sich zog und auf den Mund küsste. Eine deutliche Sekunde zu lang. Dann streichelte Lukas Kai sachte über die roten Wangen "Na, Engel? Danke für die Einladung."
Kai schob ihn weg und starrte böse. "Arsch! Lass das." Er sah sich nach Noppi um, aber der war bereits fort.
"Ach, mach dich locker. Es ist Sommer, gleich sind wir alle nett voll und genießen die Show."
"Scheiß Grand-Prix!" Kai verschränkte die Arme und stapfte davon, Lukas' nächster Satz ließ ihn erstarren.
"Grand-Prix? Mit Show meinte ich eigentlich etwas anderes. Weißt du noch nichts davon? Das wird dann aber lustig." Lukas entledigte sich seiner Jacke und legte ein weinrotes ärmelloses Top frei, das er sich auch hätte sparen können, so eng saß es auf ihm.
Kai stopfte seine Jacke in den sowieso schon zu vollen Dielenschrank und schloss die Tür mit Schwung. "Oh Gott! Bitte sag, dass Lolli nicht singen wird! Bitte!"
"Lolli wird nicht singen."
"Okay, was ist es dann?"
Lukas streckte sich und trat ins Badezimmer, um noch einen Blick in den Spiegel zu werfen. Müßig richtete er an seinen Haaren. "Wir haben zusammengelegt und ein wenig investiert, Kai. Nur für dich. Henri kommt, vermutlich erst so gegen eins. Sieh also zu, dass deine Gäste voll sind, Engelchen. Denn Henri kommt und er wird sich ausziehen, das ist so seine Art."
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