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Trost 2
Kapitel 159-163
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Inhaltsverzeichnis
159
Sie wurden am anderen Morgen telefonisch von Renate geweckt, die sich nach dem nächsten Lerntreffen erkundigen wollte. Kai ging ran, weil er eigentlich nur noch faul rumgelegen hatte. Jan drehte sich stöhnend um und setzte den Nachholschlaf fort. Kai nutzte die Gelegenheit, um ihr für das Fotobuch zu danken und versuchte, sie für das Abholen der Fregatte vom Flughafen zu rekrutieren.
Irgendwann in der Nacht zuvor hatte Tini ihm die Flugzeiten und das Ankunftsgate schon einmal geschrieben und gerade am Morgen folgte, samt einem Fregattenbild beim Bergwandern, auch die Uhrzeit, zu der sie zurück sein würde. Leider hatte Renate Tanzkurse an dem Tag und konnte nicht. Außerdem steckte sie in Renovierungsplänen für das Zimmer von Lolli und war erschreckend energiegeladen.
Ihr Lerntreffen war dann samt Jan, Thilo und Holger sehr erfolgreich. Sie schafften es, Thilos Panik zu bekämpfen und begannen ein Thema, das Kai gut konnte. Anatomie. Alles auswendig gelernt, nicht einmal die fiesesten Fragen konnten ihn noch reinlegen, er sah diesem Teil der Prüfung regelrecht entspannt entgegen. Jans Wissen war derart rudimentär, dass er von Renate einen Einlauf bekam, weil sie nicht fassen konnte, wie jemand überhaupt den Kurs durchlaufen hatte, ohne wenigstens die Grundlagen zu begreifen.
Neuroanatomie hatte Jan natürlich sehr gut drauf, bei den Muskeln und Sehnen der Beine oder bei den Gefäßen im Beckenbereich verhedderte er sich aber schon sehr rasch und mogelte sich mit Abschreiben durch, bis Renate ihm befahl, das zu lassen, weil sie nicht mehr im Kindergarten seien. Im Anschluss machte sie Jan rund, weil er mit Mittagessen-Vorbereitung dran gewesen sei und es nichts gab. Sie meinte damit, dass es nichts Vegetarisches gab und ging einkaufen. Dann gab es veganen Auflauf, den Holger, hinter ihrem Rücken, als ihre Rache für alle Vergehen von Jan bezeichnete.
Kai fand den Auflauf irgendwie essbar und kommentierte die Lage nicht, versprach aber, dass er am Freitag, bei ihrem nächsten Treffen, für etwas zu Essen sorgen würde weil Thilo den Teller nicht aufgegessen hatte, was sonst nicht seine Art war. Auf Renates scharfen Blick versprach er hastig, dass er darauf achten würde, dass ihr Essen vegetarisch werden würde.
Zum Thema Tini sagte Renate dann beim Mittagessen, dass sie und die Mitbewohnerin froh seien, wenn Tini dann auch mit ihren Wohnungsplänen voran machen würde. Ihr Blick ging direkt zu Holger, der ihr etwas grummelig berichtete, dass sie schon nach einer Wohnung suchen würden. Das Internet war zwar voller Wohnungen, aber die Mischung aus den Wünschen, die Holger hatte und denen, die Tini hatte, ließ sich schwer vereinen. Vor allem mit dem Budget der beiden.
Verzweifelt bot Holger schließlich an, dass er Tinis Bücherkartons und Kleinkram und die wenigen Möbel, eigentlich nur ihren Schreibtisch und einen superteuren ergonomisch geformten Bürostuhl, in seinem Keller unterstellen könne, damit die verbliebene WG-Bewohnerin renovieren könne.
Jan hatte missmutig zwischen Sellerie und Kohlrabi gestochert. Mit einem Mal aber hob er den Kopf: "Hey! Das ist doch die Lösung. Zieht hier ins Erdgeschoss."
Holger piekte eine Möhre auf: "Hm. Wo die Alten wohnen, die sich immer beschweren?"
"Gewohnt haben!", Jan grinste: "Sie gehen in ein betreutes Wohnen mit Pflege dabei oder so. Jedenfalls kommt nächste Woche der Maler und dann kommt ein neuer Fußboden rein, Parkett so wie hier oben. Das Bad wird im August neu gemacht und die Küche fliegt raus, das ist Mietersache."
"Wie viele Zimmer? Wie groß?"
Jan zuckte mit den Schultern: "Keine Ahnung, das weiß mein Verwalter alles. Ich geb dir seine Nummer. Die Wohnung ist noch nicht auf dem Markt."
Kai blinzelte Jan an. "Bist du sicher?"
Holger meinte zugleich: "Ich schau gern, aber die Wohnung ist vermutlich zu teuer."
"Musst du auch den Verwalter fragen. Ich weiß da nicht so gut Bescheid, weil ich durch die Prüfung und das Training kaum Zeit und Kopp für anderes hab." Unbesorgt unhöflich schob Jan seinen halbvollen Teller fort und holte sich ein Brot und eine Packung Salami aus der Küche, um für sich und Thilo Schnitten zu machen.
Renate ignorierte dies gekonnt, strahlte zwischen Holger, Kai und Jan hin und her und verkündete: "Ich finde es so schön, dass alles so harmonisch läuft mit euch!"
Kai fand das eher besorgniserregend. Das Ding so nah wohnen zu haben, war nicht seine Idee von schön und harmonisch.
Holger begann leider warm zu werden mit der Idee des harmonischen und schönen Wohnens, gleich bei Jan im Haus. Er schnappte das Telefon und rief den Verwalter an, während Renate und Kai das Geschirr fort räumten. Als sie sich zur Kreuzrunde an die Probeklausuren setzten, sagte Holger, dass die Wohnung teurer als geplant sei, aber noch gerade so im Budget drin, wenn Tini so viel Geld mitbrachte, wie sie plante.
"Es ist Erdgeschoss, das ist gut. Die Zimmergrößen passen gut und der Vermieter ist total in Ordnung. Ich werd Tini das mal vorschlagen."
Kai bekam Panik und schlechte Laune. Nicht nur kam die scheiß Fregatte wieder zurück, und die Ruhe an der Front hatte ein Ende. Nein. Sie sollte auch noch bei ihnen einziehen! Scheiße, er konnte förmlich spüren, wie ihm dies das Gefühl einer Umzingelung gab. Da konnte sie ihm zu jeder Tages- und Nachtzeit auflauern. Und er war sich sicher, dass sie dies auch tun würde.
Jan und Tini würden außerdem dauernd streiten. Um das Ding, um Nähe und Abstand und um ihn. Das war nicht seine Idee von harmonisch, ganz und gar nicht. Besorgt dachte er im Kreis, wie er aus der Nummer entkommen konnte und kreuzte so schlecht wie nie. Sogar Thilo überholte ihn, wenn auch Jan weiterhin nur eben gerade bestanden hätte.
Kai gewöhnte sein Gehirn gerade an den Gedanken, dass er die Fregatte, samt aller Hormone, vom Flughafen würde holen müssen, um sie dann vielleicht gar im Haus wohnen zu haben, als er auch schon zum LPP los musste, um Lena zu treffen. Allein aus Neugierde was sie von ihm wollte, ging er pünktlich hin und schlich sich mit seinem Schlüssel durch den Hintereingang in die Küche.
Dort war Bardo in der Küche am Schwitzen, es war viel los. Die Salate waren beliebt und er musste sich mit dem Abwasch beeilen, weil die Kellnerinnen mit dem Abräumen etwas müßig zu sein schienen und gerade die großen Gläser für geeisten Latte Macchiato nahmen in den Recks immer zu viel Platz weg. Die Küche waberte voller Wasserdampf, aus der Spülmaschine, vom Herd und von dem Koch und von Bardo. Beide waren total verschwitzt. Zugleich waren Beide gut drauf. Der Koch pfiff eine Melodie, die vom Raum nebenan aus der Anlage zu ihnen rüber schallte und Bardo sang leise und dennoch durchdringend und schön dazu.
Kurz neidete Kai ihnen die Einigkeit und Harmonie. Er selber wollte das auch..., außerdem seine Ruhe. Diese war bedroht, akut bedroht und das ausgerechnet von seinem eigenen Freund. Irgendwie wollte Kai zugleich nicht, dass Tini und Holger bei ihnen wohnte, aber wagte es auch nicht, Jan dies zu sagen. Er befürchtete, dass Jan es persönlich nehmen könnte. Immerhin war ein Teil der Probleme ja auch Kais Schuld. Kai trank ein Wasser und klaute ein paar Paprikastreifen während er sich sein Mantra 'Nie wieder Whiskey-Cola' erneut aufsagte. Das ging immer schief. Immer.
Er meldete sich dann vorsichtshalber bei Bardo für den Abend ab, ging nach vorn an die Bar, ließ sich dort von einigen Leuten angaffen, die ihn mit dem Nacktbild auf der Cocktailkarte verglichen und wartete griesgrämig auf Lena. Etwas fatalistisch fragte er sich, was er nun würde erleiden müssen.
Basti war als Barister da, schenkte geeiste Latte Macchiato aus, weswegen der Mixer nahezu nonstop lief und erzählte Kai mit unerwünschten Handybildern von der Schwangerschaft seiner Liebsten. Diese stellte Tinis Ausmaße bauchtechnisch vollkommen in den Schatten. Wuchtbrumme war sie ja eh und je gewesen, aber nun lief sie zu gänzlich neuen Formen auf. Auch Basti suchte nach einer neuen Wohnung, aber bei ihm war das eher verbunden mit den Worten Reihenhaus, Garage für die Bikes und einem recht knappen Budget.
Bardo hatte sich für den Abend mit seinem Arschgeigen-Freund Stefan zum Aussprechen verabredet, was Kai mit milder Sorge betrachtete, dies aber Bardo lieber noch nicht sagen wollte. Es war interessant, dass dieser Nichtfreund das Treffen genau dann anberaumte, als seine Eltern für eine Woche verreist waren und der Freund allein das Haus einhütete. Voller optimistischer Hoffnung freute Bardo sich auf die Versöhnung und Kai hatte nicht das Herz, ihm die Sache mies zu machen.
Er war sich sicher, dass Lena ihn den Nachmittag bei irgendetwas vollkommen Verblödeten total leiden lassen würde. Aber es stellte sich heraus, dass es sich um Lena handelte, die leiden wollte. Sie kam mit einem knappen Top und noch knapperen Shorts bekleidet und sah klasse aus, wie auf dem Weg zu einer tollen Party. Kai fühlte sich mit seinem älteren T-Shirt fast etwas schäbig, außerdem war er schon etwas verschwitzt. Ein wenig furchtsam blickte er ihr entgegen und rührte in seinem Eiskaffee. Aber Lena erklärte sich nicht, sondern nickte ihm zu, winkte Henrike, die aus dem Büro zu ihnen rüber schaute und verkündete: "Ich hab noch einen Augenblick Zeit, aber lass uns schon mal hingehen."
Missmutig stand Kai auf: "Hingehen? Wohin?"
"Ach." Zerstreut blickte Lena Henrike hinterher und lächelte: "Zu Tanja doch. Hab ich das vergessen zu sagen?"
Alamiert trat Kai einen Schritt zurück: "Zu Lollis Tanja?"
"Hm. Easy Ink. Ich will endlich den Drachen stechen lassen und brauch wen zum Händchen halten und schauen, ob das so geht."
"Eh? Ist das 'die' Tanja? Echt jetzt?"
"Ja. Du kennst sie doch. Immerhin schaut Lolli doch dauernd Filme mit ihr."
Oh, Kai kannte Tanja. Zumeist von seinen Fluchtgedanken, wenn er sie sah. Er hatte ein wenig Angst vor ihr und fragte sich noch immer, wie Lolli mit dieser meistens miesgelaunten Tante und all ihren Piercings zu Recht kam.
Henrike trat in diesem Moment nach vorn und sah energiegeladen zwischen ihnen hin und her. Sie küsste Lena auf die Wange und fragte sie nach einer Party, zu der sie am nächsten Wochenende fahren würden. Im nächsten Moment fragte eine Kellnerin etwas und sie wandte sich noch einmal ab und der Kasse zu, die wohl mal wieder abgestürzt war.
Bardo kam um die Ecke mit einem seiner ekeligen, mit blutigen Schädeln bedeckten T-Shirts bekleidet, hatte einen Rucksack und sein Cello dabei und blickte zwischen ihnen hin und her: "Was machst du heute hier, Kai?"
Grummelig schob Kai seine Hände in die Hosentaschen: "Ich schulde Lena noch wegen der DJ-Geschichte auf der Hochzeit. Sie will mit mir zu..."
Lena unterbrach ihn in diesem Moment: "Und wir müssen los! Komm schon, komm schon, Kai!" Brüsk ergriff sie sein Handgelenk und zerrte ihn auf die Straße, nachdem sie Henrike hastig umarmt hatte. "Sie soll das nicht wissen, okay?", zischte sie ihm rasch zu, dann holte Bardo sie ein: "Was habt ihr jetzt vor?"
"Kann Bardo mitkommen?" Kai blickte Lena kurz an und führte aus: "Er wird sicherlich nicht stören oder so." Sein Plan war, mit Bardo zu beraten, ob man die Fregatte davon abbringen konnte, bei ihnen im Haus einzuziehen. Lena war dagegen.
"Doch. Er stört. Ich will den Drachen auf meinem Oberkörper, Kai."
"Und?"
"Da? Busen?" Sie tatschte ihn ungeduldig gegen die Stirn.
"Ach, aber ich muss mir das anschaun?!" Sauer, dass er schon wieder in eine Falle getappt war, verschränkte Kai die Arme.
Lena wies auf das Bambi, der unsicher an seinem Fahrradlenker fummelnd am Hintereingang vom LPP stand und seinen Cellokoffer abstellte. "Der ist mir zu jung für die Nummer, okay?"
"Na gut. Na gut. Aber ich kann da jetzt auch nicht stundenlang abhängen."
"Nein", genervt fuhr Lena sich mit einer Hand in die Haar: "Ich brauch dich nur am Anfang, außerdem werden wir nicht alles in einer Rutsche machen. Heute nur die Linien, vielleicht nicht mal alles auf einmal. Schattierungen und so weiter kommen eh später, da nehm ich Lukas mit."
"Und warum nicht heute?"
"Er ist immer noch anti und außerdem hat er mit Noppi total zu tun. Die Liebe. Da ist er immer sehr... belegt." Lena nickte Bardo zu, verabschiedete sich auf diese stumme Art von ihm und ging zielstrebig los in Richtung Bahnhof.
Kai winkte ihm ebenfalls nur rasch und ließ ihn per Blickfunk wissen, dass sie später reden würden. Während sie gingen, schulterte Bardo sein Cello und fuhr davon, hatte bereits Kopfhörer auf und ein sonniges Grinsen im Gesicht. Kai neidete ihm mit einem Mal die gute Laune, das Glück und die Unbesorgtheit.
Easy Ink hinter dem Bahnhof lag in einer kleinen Straße, in der sich sonst nur noch ein Sonnenstudio, ein Schlüsseldienst, eine Dönerbude und ein Gemüseladen befanden. Die übrigen Häuser waren grau und mit Graffiti besprüht, es roch unangenehm nach Urin, als sie an einem Garagentor vorbei gingen. Die Glastür beim dem Haus, in dem der Laden war, hatte jemand mit einem Poster beklebt, das einige Tätowierungen zeigte. Die Arbeitszeiten zwölf bis zwölf standen dran, die Tage waren Montag, Mittwoch und Samstag-Sonntag. Die Zeiten erschienen Kai eher unattraktiv, außerdem fragte er sich, was Tanja und ihre Kollegen Dienstags und Donnerstags so taten.
"Die arbeiten nachts und am Wochenende? Warum das denn?"
"Weil ihre Kunden dann eben Zeit haben." Unruhig blickte Lena auf die Uhr in ihrem Handy, dann seufzte sie, klingelte und ging, nach automatischem Summen, durch die Tür. Im Erdgeschoss war der Schlüsseldienst und im zweiten Stock das Büro einer eher dubiosen Zeitarbeitsfirma. Zum Glück mussten sie nur in den ersten Stock.
Sie mussten eine recht steile, düstere Treppe hinauf, an der ein altmodisches Schild vor gebohnertem Boden warnte, obwohl die Stufen sicherlich schon seit vielen Jahren mit Linol ausgelegt waren, dann standen sie vor einer schwarz lackierten Wohnungstür mit der Aufschrift des Tattooladens. Kai stählte sich für etwas, von dem er noch keine Vorstellung hatte, er aber sicherlich nicht mögen würde und betrat den Laden missmutig und zögerlich.
Drinnen folgte die Überraschung. Die Wohnung war im vorderen Bereich durch das Entfernen der Wand zwischen Flur und den ersten Zimmern zu einem großzügigen Raum erweitert worden. Die hohen Decken im Altbau taten ein Übriges. Die Hitze von draußen hatte durch die dicken Mauern des Hauses noch nicht so richtig Eingang gefunden. Kai spürte, dass er aufatmete. Die Wände waren weiß gestrichen, der Fußboden mit altem Parkett ausgelegt, es gab einen Tresen aus Massivholz, auf dem Piercingschmuck ausgestellt war. Zwei dieser albernen elektronischen Fotorahmen spielten in Endlosschleife Bilder von hier gelungenen Tattoos und Piercings ab.
Kai sah sich einmal um, Tanja war nicht zu erblicken, das beruhigte ihn etwas. An der einen Seite war ein Wartezimmer mit schwarz lackierten Holzbänken an den Wänden eingerichtet. Hellgrüne Sitzkissen, die hochgradig selbstgefilzt aussahen, schufen eine gewisse, irritierende Gemütlichkeit. Ein Regal stand voller sauber beschrifteter Aktenordner mit Bildern von Tätowierungen. Es gab Schriftzeichen, Engel, Elfen und Feen, Tiere, Comicfiguren, Indianer, Maschinen, Totenköpfe und viele weitere. Esotherische Sprüche verzierten die Wände ringsum und ein dunkelgrauer Buddha mit murmelndem Wasserspiel, neben der Tür zur Toilette, sorgte für unpassende Wellnessatmosphäre.
Auf der Bank am Fenster saßen zwei junge Mädchen und blätterten in einem Ordner mit chinesischen Schriftzeichen. Hinter dem Tresen war ein schwarzer Vorhang vor dem weiterführenden Flur, der den Blick auf die dahinter liegenden Räume verwehrte. Das scharfe Zischen einer Maschine klang aber noch zu ihnen durch. Es roch nach Gräsern und Desinfektionsmitteln. Ein wenig wie im Krankenhaus. Kai spürte, wie er sich entspannte.
Auf dem Tresen stand ein kleines Schild. 'Wir sind gleich für dich da. Hab Geduld, unsere Kunst wird für immer sein'. Irgendwie fand Kai es schön, dass hier von Kunst geredet wurde und nicht von etwas, das man sich mal eben zwischendrin machen ließ.
Der Vorhang bewegte sich und Tanja kam hindurch. Sie trug ein schwarzes Top, was ihre Sammlung eigener Tätowierungen an den Armen und Schultern zeigte und hatte die umfangreiche Galerie Piercings in den Lippen, der Nase, den Augenbrauen und am Kinn, an die Kai sich schon von früheren Treffen erinnerte. Allerdings hatte sie ihre Haare noch kürzer geschnitten und zum Teil lila gefärbt. Es ließ sie molliger und blasser aussehen. Sie lächelte Lena an und hob eine Augenbraue, als sie Kai erblickte.
"Kai? Willst du dir etwa was stechen lassen?" Fast schon eine Beleidung. Grummelig verschränkte er die Arme.
Lena lachte und sagte: "Nein, ich brauchte wen als Unterstützung."
"Du hast den als Begleitung mitgebracht?!" Es klang, als spräche sie über einen schlecht erzogenen Hund. Kai wandte sich sauer ab, auch wenn ihm vorher schon klar gewesen war, dass Tanja und ihn eine durch und durch ehrlich gemeinte Abneigung verband.
"Hm." Lena und die Tätowiertante umarmten einander und Kai war froh, dass er mit dem kühlen Nicken davon kam.
Tanja blickte zu den Mädchen, die aber leise diskutierend zwischen verschiedenen Schriftzeichen hin und her blickten. Dann lächelte sie Lena erneut a:. "Du schaust mal wieder fantastisch aus. Bist du dir nun sicher?"
Lena hob die Schultern und meinte nach einem Seufzen: "Ja. Ich will das haben, endlich. Kai soll mal sagen, ob es gut so ist. Bei ihm kann ich mir sicher sein, dass er mir das sagt, wenn er es scheiße findet, und er hat einen guten Geschmack."
Tanja zog die Brauen hoch, als glaubte sie nicht, so etwas zu hören und Kai starrte Lena verwundert an.
Diese sprach hastig weiter: "Hast du die Änderungen reingenommen?"
"Hm. Hab ich. Wirst sehen."
In diesem Moment erhoben sich die Mädchen und kamen mit dem Aktenordner rüber. Tanja lächelte auch ihnen nett zu und machte es ihnen leicht: "Na? Habt ihr das richtige gefunden? Ich ruf meinen Kollegen grad mal, der kann euch das gleich jetzt stechen, wenn ihr wollt. Wisst ihr wohin das soll?"
Es gab eine kleine Unterhaltung über das wo und wieviel Geld das kosten sollte. Die Mädchen erhielten einen Aufklärungsbogen mit medizinischen Details möglicher Nebenwirkungen und Pflegehinweisen. Erstaunlich durchdacht und angenehm kühl informierte Tanja die Zwei über mögliche Narben und den, im Preis inbegriffenen, Termin zum Nachstechen, falls Linien ausblassen sollten. Nachdem sie zweimal gerufen hatte, kam ein drahtiger älterer Mann und blickte seufzend durch seine Brille auf die Mädchen, um sie dann bemüht freundlich mit sich zu winken.
Tanja lehnte sich dichter und raunte: "Kann er nicht ab, diese Schicksen mit ihren Schriftzeichen und Schmetterlingen, aber da muss er durch. Nachher kommen die Rockerjungs, da kann er sich mit deren Adlern und so amüsieren, die mag ich nicht sonderlich. Stinken so, diese Typen. Stehen leider voll auf meinen Stil. Kommt mit durch. Wir gehen in den großen Raum."
Sie verschwand in einer Art Küche, während Lena den Flur weiter ging und ganz am Ende in einen Raum abbog. Hier sah es noch mehr nach Klinik aus und Kai entspannte sich weiter. Auf einer Seite war eine Art Garderobe mit hohem Spiegel, einem Stuhl und einem Paravent aus etwas schlampig rot lackiertem Holz. Auf der anderen Seite war ein Stuhl, wie er auch zum Blutabnehmen verwendet wurde, mit einer gepolsterten Stütze für die Arme. In der Mitte des Raumes stand eine Massageliege. Lena öffnete ihren Rucksack und holte ein Duschhandtuch heraus, um es auf der Liege auszubreiten, dann zog sie sich beim Paravent das Top über den Kopf. Kai wandte sich hastig ab und betrachtete die gerahmten Zertifikate, die bewiesen, dass Tanja irgendwelche Prüfungen abgelegt hatte und sogar einen Preis gewonnen.
Und dann hatte Kai mit einem Mal, als er gerade dachte, dass er nun mit den beiden Frauen festsitzen würde, riesenhaftes Glück. Er war nicht umsonst da, er durfte meckern. Passte auch super zu seiner nicht unbedingt guten Laune. Tanja kam mit dem von Lena gewünschten Bild und es war ein totales Klischee. Die Farbe war dunkelblau, das Motiv derart komplex, dass Kai einen Augenblick brauchte, um zu erfassen, was das überhaupt sein sollte, dann rollte er genervt mit den Augen. Ein großer, japanisch oder chinesisch, aussehender Drache, der sich über den ganzen Rücken ausbreitete, umgeben von den aufschäumenden Wellen eines Gewässers. Kai war gereizt genug, um sofort zu sagen was er dachte: "Was soll der Mist denn?! Das ist ja wohl hoffentlich nicht das Bild, das du auf dem Rücken haben willst, Lena!"
"Wie?", Lena war von seinem Ausbruch derart überrascht, dass sie statt das Duschtuch zu nehmen mit nacktem Busen zu ihnen trat und auf das Bild blickte: "Doch. Genau das ist es. Letztes Mal hatten wir es erst in Farbe, das war zu doll, außerdem wollte ich es gespiegelt haben. Jetzt ist es perfekt."
"Nee. Damit schaust du aus wie... wie...", Kai fehlten die Worte, aber wegen seiner Meinung war er mitgekommen, also forschte er nach passenden Vergleichen. Mies gelaunt verschränkte er die Arme.
"Was? Wie schaue ich aus?" Lena starrte vom Bild zu ihm und zurück.
"Scheiße eben."
"Scheiße? Kannst du mal mehr Worte verlieren?!"
Kai verschränkte die Arme, dann meinte er mürrisch: "Das Bild ist zu unruhig und nicht dein Stil."
Tanja ließ sich auf den Rollhocker sinken und hob das Bild hoch, blickte von dem Bild zu Lenas Busen und zurück auf das Bild. Überraschender Weise ging sie rational mit seiner Kritik um. "Es ist sehr unruhig, das stimmt schon. Aber ein schönes Bild, kraftvoll. Ich finde nicht, dass es nicht zu ihr passt. Wie kommst du denn darauf?" Der Ton bekam eine aggressive Note.
Kai starrte angestrengt auf eines der gerahmten Zeugnisse an der Wand: "Ich sollte mitkommen und sagen, was ich denke. Das passt nicht. Der Stil..,. und dann auch noch so dunkel und all das pathetische..., Kitsch, China-Imbiss-Look. So ist Lena gar nicht. Das hätte dir Lukas aber auch sagen können. Echt jetzt."
"Aber, erleuchte uns, großer schwuler Berater, weswegen denn nicht?" Aus dem Nachbarraum ertönte der scharfe, helle Ton der Tätowiermaschine, wie eine zu kleine Nähmaschine, dann quiekte eines der Mädchen, das andere kicherte dabei und Tanja blickte kurz in Richtung der Tür, was Kai den notwendigen Moment gab, sich zu sammeln. Er verschränkte die Arme: "Keine Ahnung. Das meine ich eben." Rasch wandte er sich dem Fenster zu und dachte darüber nach, wie er nun verschwinden konnte.
Hinter ihm diskutierten Lena und Tanja über das Bild. Und fanden es Beide eigentlich geeignet. Lena war nun aber noch verunsicherter, so wurde das jedenfalls nichts mit seiner Ruhe. Kai drehte sich wieder um und blickte Lena an, dann hastig an ihr vorbei aus dem Fenster: "Warum, frag ich mich gerade. Du wolltest den Drachen. Wieso eigentlich?"
Lena zog sich zur Freude von Kai und vermutlich dem Missfallen von Tanja das Top erneut über und meinte sich auf die Liege setzend: "Ich hab die Echse auf einer DJ-Geschichte im Ruhrgebiet stechen lassen. Das war so eine 'jetzt-oder-nie' Entscheidung. Der Teufel von Lukas hatte mich immer neidisch gemacht. Es passt so zu ihm, gleich wie dumm und unüberlegt das damals gewesen ist. Und von der Echse bin ich auf den Drachen gekommen. Ich mag meinen Körper so wie er ist, das will ich betonen. Ich mag Drachen und Echsen, die sind kraftvoll, uralt und unendlich. Die Kraft des Wassers ist mir wichtig. So hab ich mir das vorgestellt."
Kai starrte auf die kleine Echse, die sich in Lenas Ohr krallte: "Dann nimm auch einen Drachen, der optisch zu der Echse passt. Im gleichen Stil. So ein Kuddelmuddel ist scheiße."
Tanja hob die Augenbrauen und blinzelte zwischen ihnen hin und her. Sie gab ihm Recht, ohne es zuzugeben, indem sie das Bild verschwinden ließ. "Hm. Soll ich dir mal den Ordner mit den Drachen holen und du schaust durch?" Sie stand schon auf und sagte an Lena gewandt: "Wärst du dir sicher, hättest du nicht wen mitgebracht. Den schon gar nicht." Damit verschwand sie in Richtung des vorderen Teils des Ladens.
Kai blickte ihr hinterher und äffte gereizt :"Den schon gar nicht." Sein Handy rappelte und es war Tini, die ihn per knapper Nachricht bat, sich für eine Abholung vom Flughafen bereit zu halten. Sie schrieb, dass sie neben zwei Koffern voller Kram noch das Paket mit dem Kinderwagen dabei habe und deswegen jemanden mit Auto dringend brauchte. Ihre Eltern sollten gar nicht wissen, dass sie zurück kommen würde. Mit denen wollte sie erst einmal nicht mehr reden und hatte ihren Flug sicherheitshalber umgebucht, auf eine neue Zeit und eine andere Fluggesellschaft.
Kai hielt Lena das Handy hi:. "Haste da Zeit? Immerhin seid ihr doch das Fregatten-Team."
Lena holte das eigene Handy raus und runzelte die Stirn mit Blick auf ihren Terminkalender: "Nee. Da bin ich in Berlin und arbeite." Sie seufzte: "Ich hoffe sowieso, dass ich das schaffe mit Tini. Ich bin..."
"Oh nein! Du wirst jetzt auf keinen Fall aussteigen und mir all diese Scheiße allein überlassen!"
Tanja kam mit zwei Aktenordnern und einem Stapel Tattoozeitschriften wieder zu Lena hinei: "Du, schaut ihr euch das in Ruhe in der Küche am Tisch an? Ich brauche den Raum, Titsi ist grad gekommen."
Titsi stellte sich als zu ihrem Namen unpassend stabile Frau heraus, die Lena mit einem Nicken und Kai mit einem verwirrten Blick begrüßte. Sie hatte blondiertes Haar und ein ausladendes Tattoo auf ihren ebenfalls ausladenden Beinen. Jammernd berichtete sie von dem Urlaub, der schief gelaufen sei und zeigte Tanja, wo sie etwas korrigiert haben wollte an der Galerie Blumen, die sich die Oberschenkel hinauf rankten.
Hastig verzogen Kai und Lena sich in die Küche nach nebenan, während Lena Kai zuflüsterte, dass Titsi die Schwester von Tanja sei und daher eine VIP-Kundin; wenn auch eine total Nervige, weil sie nie zufrieden war.
Die Küche war mit einem quadratischen, schwarz lackierten Holztisch zu einer durchschnittlichen Einbauküche möbliert. Auf dem kleinen Balkon vor der Tür standen ein Gartentisch mit zwei Stühlen im Schatten einer Markise und ein großer Aschenbecher. Lena öffnete die Glastür und ging raus. "Tanja wird echt aggro, wenn man in ihrer Küche raucht, aber ich brauch jetzt eine", erklärte sie und nahm sich, offenkundig gut informiert, eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.
Kai folgte ihr mit seinem Lernskript und ließ sich nieder, blickte in das Skript und runzelte die Stirn über die Fangfragen dazu. Lena rauchte und blätterte in den Zeitschriften und schrieb mit hastigen Bewegungen ihrer Daumen Nachrichten. Endlich sagte sie wieder was: "Schau mit rein. Wie findest du diese Richtung?"
So kam es, dass Kai, nach einer Stunde und ungefähr einer halben Million Tattoos, wirklich einen schwimmenden Kopf hatte. Lena und er hatten nicht mehr über Tini geredet und Tanja hatte in dieser Stunde nicht nach ihnen gesehen. Diese Titsi schien ihr wichtiger zu sein als Lenas Körper.
160
Endlich hatte Kai sich für ein Bild entschieden, das ihm passend zu der Echse erschien. Stilisiert und mit klaren Linien, zugleich nicht so schrecklich derb, aber gut geeignet, um einen ganzen Rücken zu überziehen. Das Ausmaß des Tattoos schien Lena durchaus wichtig zu sein. In der Zwischenzeit hatten sie beide sich schon sehr amüsiert über den Geschmack einiger Leute, waren sich einig gewesen, was den Körper anderer Leute anging und Kai hatte sich von Lena etliche Tätowierungen vorschlagen lassen müssen, inklusive der perfekten Stelle an seinem Körper dafür. Schließlich kam Tanja zu ihnen, nahm sich von drinnen einen Stuhl mit und ließ sich seufzend nieder. "Na?"
Lena breitete die Bilder auf dem Tisch aus: "Engere Auswahl." Etwas hilflos kramte sie nach ihren Zigaretten, fing einen bösen Blick von Tanja auf und ließ sich wieder in den Stuhl sinken.
Kai erhielt eine Nachricht von Jan mit der Anfrage, wo er wieder stecken würde und meinte: "Ich bin erst mal durch hier, oder?"
Tanja hob die Schultern, aber Lena sagte schnell: "Du bleibst! Wir müssen noch mal über alles genau beraten. Du bist jetzt Teil vom Team, Kai. Übrigens hab ich ein Bild gefunden, das du, jetzt mal im Ernst, echt haben solltest. Hm? Wie ist das?" Sie hielt eine Zeitschrift hoch, wo ein Mann sich das Emblem seines Fußballvereins auf den Oberkörper hatte stechen lassen. Sie lachte: "Allerdings solltest du das Bild mehr dort anbringen, wo es passender ist und Jan eher mal ins Auge fällt." Sie grinste ihn an. "Mehr so auf..., sagen wir, Schwanzhöhe?"
Kai fehlten die Worte, daher starrte er nur böse, aber Tanja stand ihm be: "Bah, Lena! Mir wird schlecht. Zeig mal her deine Vorschläge."
Verärgert darüber, dass er Lena nicht einfach schon vor Stunden hatte sitzen lassen, verschränkte Kai die Arme.
Leider war Tanja mit einem Mal total für ihn. Sie tatschte mit ihren etwas dicken, kurzen Fingern auf zwei der Bilder, die er ausgewählt hatte und meinte anerkennend: "Du hattest Recht mit ihm als Berater. Das sehe ich selber auch gut für dich. So in der Art, Lena. In Schwarz.... nein, dunkelblau besser, und dann, steh mal auf, würde ich vorschlagen, dass wir den Kopf des Drachen etwas größer machen und hier auf die Schulter legen und von dort hier herum, so dass die Krallen sich hier und hier befinden und die Hinterbeine hier weiter rüber." Sie strich über Lenas Rücken und ließ eine Hand an ihrer Hüfte liegen: "Der Schwanz wäre total cool nach vorn rum, wenn dir das nicht zu arg wäre." Sie drehte und zeigte an Lenas Körper, was sie meinte. Ihre Begeisterung ließ ihr sonst so missmutiges Gesicht verändert wirken, freundlich.
Sie erhob sich und ging in die Wohnung rüber. "Ich mach mal die Skizzen." Als sie mit einigen Blättern Papier und einem schwarzen Schreiber zurückkehrte, fragte sie nebenbei: "Und wie war das Wochenende? Ich hab noch nicht mit Lolli quatschen können, der Ärmste leidet so sehr unter dem Umzug. Ach, Lolita wird mir so fehlen."
Und so erfuhr Kai aus Lenas Munde noch einmal von all den Neuerungen. Tanja zeichnete konzentriert und sehr begabt an dem Drachen, vergrößerte die Vorlage aus der Zeitung, feilte an der Position für Lenas Körper.
Lena berichtete, dass Lolli nun kalte Füße bekam. "Ich glaube, es ist nämlich so. Geoffrey möchte nun, da sie zusammen wohnen werden, eine echte Beziehung. Und mit echt meine ich nicht die große Liebe, weil es das nicht ist, wenn man mich fragt. Ich kann Lolli nicht so ernsthaft sehen. Ich glaube, dass Geoffrey sich eine Freundschaft vorstellt, bei der man hier und dort miteinander kuschelt."
"Hm. Lolli will doch mit ihm das Bett teilen, kommt einem da der Sex nicht mal in die Quere?" Tanja spielte mit der Zunge an einem Piercing und kniff die Augen zusammen, um konzentriert eine Kralle auszuarbeiten. "Und mit Frank? War der nicht die große Ehe?"
"Nö. Lolli war in der Zeit treu, weil er noch zu sehr mit sich und dem Trauma von dem Überfall beschäftigt war und Frank war nie total treu, wenn ich das richtig mitbekommen hab."
Dann berichtete Lena mit sonnigem Grinsen, dass ihr Bruder endlich mal wieder einen richtigen Freund habe und er und Noppi sich toll ergänzen würden. "Sein Kai ist aber auch supergeduldig mit ihm. Er lässt ihn an der langen Leine und..."
Tanja grinste: "… und er lässt ihn an der langen Leine schön müde zappeln, dann wird langsam eingeholt. Ist wie beim Angeln. So ist es richtig."
"Hm. Nein, ich glaub, dass die zwei einfach von allein zueinander driften werden. Sie halten jetzt schon toll zusammen. Und Noppi ist niemand, der sich von Problemen so leicht unterkriegen lässt. Die Sache mit Lukas' Rücken allein. Wie Noppi mit seiner Angst vor den Schmerzen umgegangen ist, war total toll. Die zwei gehen gemeinsam zu einer Rückenschule, zweimal die Woche. Noppi hat einfach schlankweg behauptet, dass er auch schon totale Probleme habe. Das hat Lukas damit das Gefühl gegeben, dass sie ein Team sind, zusammenhalten."
Kai dachte an die Story von Noppis erstem Freund und starrte auf sein Skript, um so zu tun, als lernte er. Insgeheim stimmte er aber zu. Noppi war klasse, gar nicht so oberflächlich, wie er anfangs gedacht hatte. Er begann sich zu wünschen, dass die zwei zusammen bleiben könnten.
Tanja hielt ihm die Zeichnung hin und er betrachtete die Lage des Drachen kritisch, dann schüttelte er den Kopf: "Das wird scheiße, wenn der so hier vorn im Ausschnitt immer zu sehen ist."
Lena sah von ihm zur Zeichnung und nickte dann: "Tut mir leid, der sieht toll aus, aber er hat Recht. Es soll auf dem Rücken bleiben."
Seufzend zerknüllte Tanja den Vorschlag und machte sich erneut an die Arbeit.
Lena hielt sie bei Laune. "Wir waren bei Claudia und Nadine eigentlich zum Übernachten und Frühstücken eingeladen gewesen. Die haben auf Henrike aber total peinlich reagiert. Sind mir über den Kopf gekommen, dass ich mich mal langsam entscheiden soll, und dass sie mich satt haben und die totale Schlechtes-Gewissen-Nummer eben." Lena kniff die Augen: "Irgendwie hacken alle auf mir rum, weil ich bisexuell bin. Kann ich doch nix für, dass ich auch gern mit Männern schlafe, oder?"
"Keine Details erwünscht, du bist nicht ganz dicht. Und?"
Lena warf die Arme hoch wie Lolli und motzte: "Wir kommen bei ihnen an und bekommen einen Einlauf für das zu späte Erscheinen und wo wir so lange abbleiben würden. Dabei haben wir doch angerufen und gesagt, wo wir auf der Parade sind und haben sie zur Party eingeladen. Aber die zwei haben rumgekeift, dass wir nicht zu ihrem Aktivistentreffen wollten. Dann haben sie Lukas niedergemacht, obwohl sie den doch nun echt schon seit Monaten nicht mehr gesehen haben. Dann haben sie Henrike angemacht für irgendwelchen kleinen Mist und dann von uns verlangt, dass wir die eigenen Isomatten holen, weil sie das Schlafsofa für sich wollten. Das Bett hatten sie irgendwelchen Aktivistentanten überlassen. Das hätten die echt mal früher sagen können. Ich war so sauer, dass wir zurück sind, zu Lukas und Noppi, und bei denen gepennt haben. Auf den Isomatten, was echt scheiße war. Ich hol mir jetzt mal eine richtige, diese Turnmatte hält nix aus. Muss direkt Leon mal fragen, der fährt dauern zelten. Na ja. Wir waren eh so lang auf der Feier, es waren nur so zwei Stunden Ausruhen drin vor der Rückfahrt."
"Hm. Die beiden haben einen Schuss, hatten die schon immer. Bin mir sicher, bei denen läuft das im Bett nicht mehr. Außerdem muss man ja schlechte Laune kriegen, wenn man sich auf einen netten Dreier gefreut hat, Lena, und dann kommt ein Gartenzwerg und macht alles kaputt." Sie lachte rau und ein wenig gemein.
"Also echt jetzt! Ich verstehe nicht, was ihr alle gegen Henrike habt! Sie ist nett, sie ist lustig, sie ist ehrlich, macht was los und sie sieht sehr süß aus. Sogar die Sozialpanne Kai kommt klar mit ihr."
Kai hob aufgeschreckt den Kopf und nickte dröge. Dann blickte er Tanjas neuste Zeichnung an: "Was soll die Scheiße denn?! Wir hatten doch eben gesagt, dass es der Drache sein soll und jetzt kommen da überall diese komischen Dornenranken hin?"
Lena hatte Tanjas Skizze auch nicht beachtet: "Nee, du. Nur der Drache bitte. Wenn schon kein aufschäumendes Wasser, dann bitte schlicht nix."
Tanja, erstaunlich kritikfest, zerknüllte den Vorschlag, begann erneut und fragte: "Sollen wir hier mal Wasser versuchen? So um den Schwanz herum? So ganz ohne alles, da kannste das doch echt von Artur stechen lassen. Das würde seinen Tag retten, glaub ich fast, wenn er an dich ran käme."
Kai begann eine Probeklausur zu kreuzen und kaute auf seinem Stift, Lena schien die Wassersache wichtig zu sein, sie kam, erst nach einer kurzen Diskussion, darüber wie das aussehen könnte ,wieder zum Thema Wochenende zurück. "Jedenfalls hatten wir uns die Parade angesehen. War ja affenartig heiß. Supergeil, alle nackt dort. Ich hab tonnenweise Bilder gemacht, schick ich die Tage mal rum. Lukas hat uns eine Einladung zur Party auf einem Hausboot besorgt. Und dort sind wir mit Lolli, Noppi und ihm hin. Das war superschön. Alle haben nackt im Fluss gebadet, ein paar Feuer am Ufer, total romantisch. Lukas und Noppi haben sich dumm und dusselig geknutscht, das war echt süß. Henrike wollte auch was anfangen, aber ich..."
"Ach, Len.," Tanja hielt kurz beim Skizzieren inne: "Wir wissen ja alle, wie das bei dir ist." Es klang leidgeprüft.
Hastig holte Lena Luft und erzählte: "Henrike und ich mussten dann zu Carlchen zurück, weil die blöde Claudia eben mal wieder blöd war. Wenn die sich nicht bei mir entschuldigen für die Nummer, dann ist es aus, das sag ich dir."
"Ich kann denen das sagen. Ich bin am Wochenende in einem Monat in Berlin und sehe sie da bestimmt. Vorher solltest du ihnen nicht vergeben."
"Hm. Ja, kannst denen ruhig sagen, dass ich sie peinlich fand. Tja und bei Carlchen war dann eher gähnen und Abfahrt angesagt. Du, das war der Hammer... Carlchen und sein neuer Freund sind sich vollkommen peinlich bei den Eltern outen gefahren. Lukas hat sich so richtig an seine Jugend erinnert gefühlt."
Wieder das Lachen von Tanja, die dem was abgewinnen konnte. "Und? Wie ist der Neue von der lieben Tante? Ist Lolli schon voll ausgerastet?"
"Er ist so wie immer, Boytoy halt, und ja Lolli hat sich seinen Moment genommen. Kai, wie war die Outing-Runde denn noch? Du hast ja dein eigenes Boytoy mitgenommen, nicht?"
Und Kai musste von seinem Abend erzählen und musste sich dumme Sprüche zu Bardo anhören. Bis er zickig daran erinnerte, dass Lena selber gesagt hatte, dass sie trotz ihrer Bisexualität gern auch nur Freunde habe. "Ich bin zwar nur schwul, aber ich will das eben auch. Bardo und ich sind nur Freunde."
Ablenkend erzählte Lena noch mehr von der Party auf dem Hausboot und davon, dass Carls Freunde alle darüber geredet hatten, dass Kai verschwendet war an diesen dummen Fußballer, weil wenigstens fünf von ihnen mit Kai in die Kiste hatten springen wollen. Allerdings schienen das die Meisten erst zu tun, seit sie ein Bild von der Cocktailkarte bekommen hatten. Die hatte Lolli offenbar an alle Leute geschickt, die er kannte. Kai bekam eine Krise. Lena lachte darüber: "Lukas war voll deren Meinung. Aber mal ehrlich, du bist eben Monogamist, Kai. Wenn nicht Jan gekommen wäre, hättest du einen anderen, aber eben auch nur einen Freund, nicht?"
Das musste Kai ab nicken und wurde aus der Erzählrunde entlassen. Er war schon bald mit der Klausur durch und hatte das Wasser ausgetrunken. So allmählich bekam er Hunger und schlechte Laune. Tanjas letzter Versuch stellte einen blauen stilisierten Drachen dar, der Lenas Rücken entlang schlängelte und kleine Wassertropfen sprühte. Der Schwanz schlug an der Hüfte herum, aber nicht bis auf den Bauch, was Lena abgelehnt hatte. Kai nickte diesen Vorschlag ab, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, warum Lena so ein Teil auf sich haben wollte, für alle Tage. Andererseits sagte er sich insgeheim, dass sie es auf ihrem Rücken ja nicht sehen musste.
Endlich erhob Lena sich und sagte: "Lass uns einen neuen Termin machen, Tanja. Ich geh zu Benni und lasse ihn das Bild mal vorarbeiten, ja? Genug Nacktbilder von mir hat er jetzt ja gemacht." Sie küsste Tanja auf die Wange. "Du bist wirklich superklasse. Danke für deine Geduld. Das Geld überweise ich dir natürlich auch jetzt schon."
Mit einem Mal wieder lieb lächelnd sagte Tanja: "Ach, kannst du Benni bitte sagen, dass wir noch zwei Kunden haben, die Interesse an seinen Fähigkeiten haben? Die werden sich bei ihm melden."
Kai sprang auf und rief Jan an. Der war auf dem Fahrrad unterwegs von Thilo nach Hause und so musste Kai sich leider allein von Tanja aufmachen. Lena und Tanja wollten noch ein wenig so reden, so dass er endlich entlassen war. Lena kündigte aber an, dass sie den nächsten Termin auch mit ihm machen wollte. "Du bist so schön ehrlich, Kai."
"Wie? Ich bin sauer! Das reicht jetzt aber langsam."
"Mach mit, oder ich lass dich mit dem Schwangerschaftskurs sitzen, mein Süßer."
"Du..., das ist Erpressung! Scheiße!" Mies drauf stolperte er die Treppen hinunter.
Er wurde, unten angekommen, von einer Panikattacke überrascht, die es echt in sich hatte. Eine Motorradgruppe kam gerade an, als er hinaustrat. Es waren etwa acht, neun schwere Maschinen. Sie fuhren nur langsam, auf der Suche nach einem geeigneten Parkplatz, oder weil die Straße so zugeparkt war. Vermutlich kam es einfach von Hunger, Müdigkeit und Unaufmerksamkeit. Es war gar nicht so recht dunkel draußen, nur dämmrig und die Straße war gut beleuchtet. Vor dem Dönerladen hatte sich sogar eine kleine Schlange Leute gebildet, die sich was mitnehmen wollten. Der nahe Busknotenpunkt brachte mit sich, dass hier einige Leute den Weg zum Bahnhof abkürzten und so war Kai auf keinen Fall allein in der Straße.
Die Maschinen grollten an ihm vorbei wie eine Herde wilder Tiere und Kai war sofort auf der Flucht. Es war nicht rational oder erwartet, es war nicht zu verhindern. Er spürte wie seine Handflächen feucht wurden und ihm wurde schwarz vor Augen. Seine Atemübung half ihm nur wenig, weil die Maschinen wendeten und zurück kamen, bevor er sich gefangen hatte. Dann kehrte rasch Stille ein, als die Jungs ihre Maschinen, dem Tattoogeschäft gegenüber, aufbockten. Die Rockergruppe, die Tanja schon erwartet hatte. Die dunklen Stimmen näherten sich, es roch um Kai nach Leder, verschwitzt und nach Rauch.
Verbissen mit geschlossenen Augen atmend sank Kai vor dem Haus auf die Stufen zum Eingang, seine Beine funktionierten nicht mehr, er war komplett verschwitzt und sein Herzschlag dröhnte ihm unangenehm in den Ohren. Nach kurzer Zeit war Kai umringt von einer Gruppe Rocker, der Geruch nach Leder, Gummi und Rauch nahm zu. Die brummeligen Stimmen bekundeten Sorge, jemand fragte ihn, ob alles okay sei, ein anderer bemerkte, dass Kai nicht aussah wie ein Stricher oder Junkie. Eine Frau fragte, ob er was trinken wolle und dann durchschnitt Lenas Stimme das Ganz:. "Kai! Lasst mich mal durch!"
Kai blinzelte Lena an und ließ sich aufhelfen. Die Motorradfahrer waren alle Kunden von Tanja, ihr ornamentreicher Stil war unverkennbar auf den kräftigen Armen zu sehen. Einige der stämmigen Personen stellten sich als die Frauen der Jungs heraus. Auch sonst wirkte die Gruppe nicht sonderlich gefährlich, wenn man sie aus der Nähe betrachtete. Sie erinnerten Kai an die Kleingärtner, die mit seinen Eltern befreundet waren. Freundliche, etwas spießige Leute, die einen gemeinsamen Ausflug unternahmen. Er wurde von einigen auf die Schulter geklopft, dann entfernten sich die ersten Stimmen, während die Gruppe die Treppen erklomm. Entfernt hörte Kai Tanjas Stimme etwas rufen.
Aufatmend schulterte Kai seine Tasche mit dem Skript wieder und Lena blendete die restlichen Jungs mit einem Lächeln und dem Blick in ihr Decolleté und erklärte, dass ihr Süßer mal Ärger mit Motorrädern gehabt hatte. Beruhigend nahm sie seinen Arm und zerrte ihn an den Maschinen vorbei in Richtung Bahnhof. Noch auf dem Weg rief Lena Henri an, um dem von diesem Ausfall zu erzählen und zu fragen, was Kai tun sollte.
Warum Henri eingebunden wurde in diese Geschichte, war Kai nicht ganz klar, aber Lena verkündete fröhlich, dass er mal vorbei schauen würde, um das Engelchen wieder auf den rechten Weg zu lenken. Henri verspach keinen festen Termin und gab den Zeitrahmen mit einigen Tagen an, so dass Kai hoffte, dass Henri andere Menschen zu beglücken hatte und ihn wieder vergaß.
Erst beim Bus verabschiedeten sie sich und Kai war dankbar, in die Ruhe der Wohnung zurück kommen zu können. Bardo war noch nicht da, Jan war auf dem Rückweg noch bei anderen Freunden vorbei, die Wohnung lag still und angenehm verlassen da. Leider war diese Ruhe trügerisch, wie er schon bald sehen sollte.
161
Kai hatte sich geduscht und so halbwegs von der Attacke von Lena und dem Schreck der Motorräder wegen erholt, als das Telefon klingelte. Kai hatte sich eben einen Beutel mit Eiswürfeln für sein Wasser aus dem Kühlschrank geholt und erwog kurzfristig, es klingeln zu lassen. Die Nummer war ihm unbekannt und er vermutete Verwandte von Jan, oder, wenn er Pech hatte, Henri. Unvorsichtig ging er dann doch ran und meldete sich drög mit einem unpersönlichen 'Hallo'. Am anderen Ende war eine Frau mit kultivierter, kalter Stimme. "Sind Sie Kai Hellmann?"
Vorsichtiger sagte Kai: "Ja?", und hatte nun Angst, dass jemand ihm eine Versicherung aufschwatzen wollte. "Und wer...?"
Die Frau ließ ihn nicht zu Wort kommen: "Es war nicht so leicht, Ihre Adresse und Nummer ausfindig zu machen", verkündete sie und ließ es wie einen Tadel an ihn wirken.
"Ich bin erst vor kurzem umgezogen", murrte Kai und vermutete nun tatsächlich die Bafög-Stelle oder ähnliches, auch wenn es zu spät für solche Leute war. Er klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter und wechselte den Eiswürfelbehälter von der einen in die andere Hand, weil seine Finger taub wurden.
"Und Sie können sich denken, weshalb ich Sie anrufe."
"Nein, kann ich nicht." Kai wechselte die Eiswürfel wieder, dann warf er sie nach einem kurzen Rundumblick im Bad ins Waschbecken, und er konnte gleich darauf seinen eigenen schockierten Gesichtsausdruck im Spiegel sehen, als die Frau weitersprach.
"Wir wollten den Menschen einmal kennen lernen, der unserer Tochter das angetan hat."
Kai wurde klar, wen er dran hatte. Matt wankte er zurück in den Flur. Tinis Eltern hatten ihn gefunden!
Das erste Kennenlernen mit den Eltern aus der Hölle hatte er sich immer so ausgemalt, dass es bei ihnen im teuren Haus, an teurem Esstisch, mit teurem Geschirr und reichlich gezwungener Atmosphäre stattfinden würde. Er hatte sich dazu ausgemalt, dass sie ihn nicht zu Wort kommen lassen würden und soweit stimmte die Vorahnung dann auch. Die Frau sprach rasch und zugleich sicher, ihre Stimme hallte ein wenig, als habe sie eine Gegensprechanlage angestellt. Vielleicht hörte der Vater von Tini zu, was er zu sagen hatte. Vorerst nichts, er bekam einen Vortrag ohne Antwortmöglichkeit. Es war ein Vortrag über Benehmen, Erziehung und Erwartung, über Geld und, merkwürdigerweise, Sigmund Freud.
Kai blendete die Worte aus und starrte sich selber im Spiegel an. Das erste, was er nach einer Reihe Flüche und Panikschreie dachte, war also, dass die Zwei im Nachteil waren und deswegen so aggressiv waren. Die Anschuldigungen und Vorwürfe klangen geordnet, aber sie wussten ganz und gar nichts von ihm, das kam deutlich durch. Sie hatten nicht einmal eine Ahnung davon, dass er Medizin studierte und Tini daher kannte. Das merkte er daran, dass sie ihn mit Fachworten zu beeindrucken versuchten. Fachworten, die ihm angenehm waren.
Es beruhigte ihn ein wenig und seine eigene Wut beruhigte ihn auch. Im nächsten Moment wurde Kai klar, dass es Tini nicht recht war, wenn ihre Eltern zu ihm kamen und um ihn herumschnüffelten. Die Meinung ihrer Eltern war ganz und gar nicht ihre eigene. Sie hatte ihn vollkommen geheim gehalten. Bis auf den Namen und die Telefonnummer hatten Tinis Eltern keine Ahnung.
Während die Mutter von Tini ausführte, was ihrer Tochter in ihrem Leben alles Großartiges bevorstand, wie genial schlau sie war und eigentlich doch ambitioniert, dachte er daran, dass sie diese Geschichte mit dem Sex mit ihm auch schlau eingefädelt hatte. Sie war ambitioniert gewesen, aber anders als von ihrer Mutter gedacht. Sie wollte ihr Leben wieder in die eigenen Hände bekommen, hatte vor, mit Holger dieses Leben zu führen und sie hatte Kai als Mittel für ihre Zwecke verwendet.
Eine kleine Stimme flüsterte ihm zu, dass Tini immer von Liebe gesprochen hatte und Verlangen nach ihm und dergleichen Unannehmlichkeiten, aber das wischte Kai beiseite. Die Frau schwieg von seinem ausdruckslosen Schweigen vielleicht ein wenig verunsichert endlich auch. Und recht plötzlich sprach ein Mann aus dem Hintergrund. Kai zuckte erst zusammen, dann dachte er bei sich, dass sie tatsächlich zu zweit meinten, gegen ihn allein antreten zu müssen und zog noch mehr Kraft aus der Nummer. Die Welle kam ihm wieder in den Sinn, mit einem Mal fühlte er sich obenauf.
Der Mann sagte steif und umständlich, aber etwas weniger unangenehm als sie zuvor: "Unsere Tochter hatte eine gute Chance auf eine brillante Karriere. Das muss sie alles aufgegeben für...". Er stockte, und Kai bekam mit einem Mal mit, dass die Zwei nicht so durchdacht und geordnet waren wie sie selber es gern hätten. Schweigend ließ er die Beiden hängen mit ihrer verqueren Meinung und lauschte in die unangenehme Stille.
Die Frau übernahm wieder: "Jedenfalls ist es ein Anliegen von uns, sicherzustellen, dass Ihnen bewusst ist, dass Sie kein Geld von uns bekommen werden." Die Betonung lag auf dem 'Sie', als hätte Kai in irgendeiner Form etwas Unsittliches verlangt.
"Geld?",verwirrt starrte Kai in der Wohnung umher. Ein Kind kostete Geld, klar, aber er war von Anfang an sicher gewesen, dass sie das irgendwie, mit ihren eigenen Mitteln, allein hinbekommen würden. Tinis Eltern waren in seinen Gleichungen nie aufgetaucht. Vielleicht war er es einfach gewohnt gewesen, für sich selber sorgen zu müssen. Er war es vor allem aber auch gewohnt, für seine Wünsche im Leben selber zu sorgen. Seine Eltern konnten ihn nicht rundum für ein Studium finanzieren. Das Geld, das er von ihnen bekam, reichte nicht einmal für die Miete. Das Pflegeheim für seine Oma war wichtiger.
Der Umstand, dass Tinis Eltern ihm nun androhten, dass es kein Geld von ihnen geben würde, war für ihn schlicht Fakt. Er fühlte sich im nächsten Moment obenauf und frei. Sie würden ihn nicht in der Hand haben, niemals! Mit einem Mal zerflossen seine Zweifel gerade diesen Leuten gegenüber zu nichts und er fühlte sich sicher. Wenn die kein Geld geben würden, aus ihrer Entscheidung, gab es für ihn auch keine Pflichten, die daran geknüpft sein würden. Das scheiß erste Treffen, das er immer als einen Pflichtpunkt für irgendwann einmal vor sich gesehen hatte, konnte ausfallen. Kai fühlte sich erleichtert und froh mit einem Mal. Er spürte, dass er grinsen musste, während die spitze Stimme ihm in die Ohren nadelte.
"… und wenn das Ihre Vorstellung von dem Leben ist, einfach herumzulaufen und Mädchen ein Kind zu machen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, dann ist es Ihr Problem. Wir werden keinen Cent dazugeben. Das haben wir unserer Tochter bereits gesagt. Sie hat sich diese Sache eingebrockt und wir werden diese nicht für sie ausstehen."
Kai wurde langsam sauer. Diese beiden blöden Leute riefen ihn am freien Abend an und machten ihm einen miesen Tag noch mieser. Außerdem kam er im Lernplan nicht weiter. Er holte zugleich mit ihr Luft und war endlich mal schneller. "Ich bin nicht an Tini interessiert, war es nie, werde es nie sein. Sie wollte das. Das Kind hab nicht ich ihr, sondern hat sie mir angehängt und zwar nicht zu knapp. Ich finde das sch... schrecklich und wo wir schon mal dabei sind, für meine Karriere ist das jetzt echt auch nicht so toll. Aber ich bin nicht mehr sauer auf sie. Ich kann es verstehen. Tini hatte ihre Gründe, gute Gründe, deswegen hab ich ihr verziehen."
"Sie haben ihr verziehen?!"
"Ja. Vielleicht sollten Sie mit Tini mal... reden." Mit einem Grinsen musste Kai an seinen Freund denken.
"Wir haben schon Stunden über diesen Fehler geredet, über die Konsequenzen und d..."
"Nicht all das, über den Grund. Darüber!"
"Darüber? Worüber?!"
"Über Dänemark." Ungeduldig tappte er mit einem Fuß auf den Boden.
"Dänemark?" Die Stimme war leiser geworden, Kai hatte sie an der Angel und konnte förmlich die Gedanken rotieren sehen.
Der Mann unterbrach seine Frau, die schon Luft holte. "Die Abschlussreise? Was war da?" Seine Stimme legte nahe, dass er begann, sich Sorgen zu machen. Vielleicht war ihnen nach der Reise doch was an ihrer Tochter aufgefallen.
"Fragen Sie Ihre Tochter doch selber!"
Die Mutter war noch nicht auf der Höhe der Unterhaltung angekommen. "Was soll das heißen? Sie machen unserer Tochter ein Kind und dann reden Sie von der Abschlussfahrt, auf der Sie ja sicherlich nicht dabei waren?! Sie war mit ihrem Freund dort. Wir haben all die Fotos gesehen. Es gab nie etwas, das damals gewesen ist. Wenn, dann hätten sie das ja wohl erzählt! Ich möchte Sie warnen, wenn Sie sich auf Kosten unserer Tochter...".
"Ich will gar nichts mit der! Tini ist mir nachgelaufen, obwohl sie wusste, dass ich schwul bin und keinen Bock auf sie habe und außerdem einen festen Freund! Das mit dem Ding..., äh Kind, ist für mich echt nicht gut! Ich wäre ja ein totaler Vollidiot, wenn ich es mit einer Frau tu, was ich echt nicht mag, um dann auch noch so einen Klotz am Bein zu haben!" Und, um es ehrlich zu sagen, Kai wusste auch so, dass er genau das war. Ein totaler Vollidiot. Aber das ging diese Leute nichts an.
Sein Ausbruch schien sie zu beeindrucken. Am anderen Ende herrschte Schweigen und Kai wollte das nutzen, um hastig aufzulegen, aber Tinis Mutter war noch nicht fertig: "Sie können reden wie Sie wollen. Sie haben unsere Tochter benutzt, um ein Kind zu bekommen! Anders geht das ja für Menschen wie Sie nicht."
Menschen wie ihn. Sauer dachte Kai daran, dass er gerade dem Grund für seine soziale Zurückhaltung Rede und Antwort stehen sollte: "Ich soll sie benutzt haben?! Das ist ja wohl echt... . Ich will keine verdammten Kinder! Ich kann nicht mal Hunde ab! Außerdem studiere ich noch, und ich muss mir das Studium selber finanzieren. Wirklich selber und nicht nur so aus Spaß. Das Gefühl kennt Tini bislang sicher nicht, da wird sie ja dann durch Ihre Idee von Erziehung ordentlich an Erfahrungen zugewinnen. Tut ihr vielleicht ganz gut." Er schnaubte: "Ich kenn mich aus mit dem Geldverdienen und Rechnen und mit dem Wissen, dass Klamotten grad nicht drin sind, weil ich Bücher brauchte und auch gern noch was essen will! Dass da jetzt noch ein Baby dazwischen kommt, ist für mich der totale Untergrund. Meine Freizeit war total knapp. Wenn ich jetzt der tollen, super ambitionierten und erfolgreichen Tini immer schön mit dem Einhüten helfen muss, hab ich gar keine mehr! Und Sie kommen daher mit ihrer Villa und ihrer Alarmanlage draußen dran und den teuren Möbeln vorn und hinten und reden auch noch von Geld?! Ich fasse es nicht! Reden Sie erst mal mit Tini und fragen sie mal nach Dänemark! Ist ja echt das Letzte, dass Sie keine Ahnung haben, was in ihrem Leben so vorgeht, aber mir hier Vorträge zu halten." Aufgebracht holte er Luft und setzte nach: "Außerdem will sie sicher nicht, dass wir uns unterhalten. Ist mir ein Rätsel, woher Sie die Nummer haben."
Die Antwort kam erschreckend prompt und war logisc:. "Von Renate Kindermann."
Kai runzelte die Stirn. Na warte, Renate würde den totalen Einlauf bekommen, soviel war schon mal sicher. Kai wollte diese Episode so schnell es ging vergessen und hastig auflegen, als leider Jan die Treppe hochgelaufen kam. Jan hatte was getrunken, das konnte Kai von Ferne vermuten. Er trug eine abgeschnittene Jeans, seine alten Outdoorsandalen und ein T-Shirt mit Werbung für ein Antidepressivum. Das konnte Kai grad gut brauchen. Seufzend schloss er kurz die Augen, dann sagte er hastig an Tinis Eltern gewandt: "So, das war es wohl, oder?"
"Wir sind noch nicht fertig..."
"Ich aber. Tschüss!" Rasch legte Kai auf und atmete durch.
Jan blickte ihn forschend an: "Wer war das jetzt?"
"Tinis Eltern." Kai fuhr sich nervös mit den Fingern in die Haare und starrte sich im Badezimmerspiegel ins Gesich, blass, mit hektischen roten Flecken. Wie ätzend.
Jan war ihm ins Bad gefolgt: "Kehrenbergs? Tini ist doch gar nicht bei uns, sondern in Kanada."
Seufzend drehte Kai sich wieder um: "Das wissen ihre Eltern wohl besser als wir", versetzte er spitz: "Außerdem wollten sie was von mir."
"So?" Eine leicht aggressive Note schlich sich in Jans Stimme als er eine Spur zu scharf fragte: "Wollten sie dir Vorhaltungen machen?"
"Hm. So in der Art. Ich bin schuld, das steht fest für sie. Sie haben mitgeteilt, dass von ihnen für mich und das Ding kein Geld zu erwarten ist." Kai hob die Schultern, dann wanderte er in die Küche rüber und legte das Telefon auf die Anlage zurück.
Jan blinzelte dumm, dann grinste er: "Ach so. Na dann." Er sah zu Kai rüber und reckte sich zufrieden: "Eine Sorge weniger, was?"
Kai starrte ihn böse an. Jan, dieser Arsch, hatte sofort gerafft, worum es Kai ging und fühlte sich auch noch wohl dabei, während Kai Herzrasen hatte und sich vom Stress verschwitzt und ausgelaugt fühlte.
Jan machte die Sache im nächsten Moment total schlimm, er schnappte das Telefon und rief die Kehrenbergs zurück, um mit ihnen über das Ding zu sabbeln.
Rasch wankte Kai, von dem Verlust des Adrenalins in seinem Blut geschwächt, ins Bad zurück und holte seine Eiswürfel. Als er wieder ins Wohnzimmer kam, sagte Jan gerade unbesorgt im Kühlschrank wühlend: "Ja... das wollte ich doch gerade sagen, Kai ist nicht so begeistert, aber das wird schon, keine Sorge. Wir kümmern uns alle zusammen um das Ding, und sie müssen keine Bange haben, dass Tini mit dem Studium aufhört. Holger wird ihr das schon austreiben. Der Mann ist vernünftig. Sie ist auch echt zu schlau dafür."
Jan blinzelte ins Telefon, hielt es etwas von seinen Ohren weg und stellte dann laut. Kai blinzelte ebenfalls, denn Tinis Mutter kreischte was von: "… Unverschämtheit, wir werden..."
Der Vater von Tini sagte hilflos: "Wir waren uns einig, dass wir …"
"Nein, Egon, ich kann und will das nicht ertragen! Sobald sie zurück ist, wird sich das ändern! Die Zukunft in dieser scheußlichen Art zu gefährden. All die Jahre, die wir uns gesorgt haben und alles für ihre Karriere getan haben. und nun wirft sie alles fort, einfach so für einen halbwilden Proleten, der nicht einmal Tischmanieren hat! Sie macht sich unglücklich, und ich werde nicht dabei stehen und zusehen. Hätte sie nur früher etwas gesagt, dann hätte man sich darum kümmern können. Aber dieses sture Kind kann ja nicht hören!"
Kai sagte aus dem Hintergrund, in bester Lolli-Art: "Na, jetzt hab ich keine Fragen mehr. Kein Wunder, dass sie so lang gewartet hat mit der Neuigkeit, bis es nicht mehr abgetrieben werden kann. Das ist Mord und da bin ich gegen! Ding ist jetzt da und wir werden uns darum kümmern, ob Ihnen das passt oder nicht!"
Er drehte sich hastig um und verschwand in sein Zimmer und schlug die Tür zu. Schwer atmend warf er sich auf das Bett. Tini tat ihm mit einem Mal total leid. Mit so einer Mutter hatte sie all die Jahre leben müssen? Es war ja kein Wunder, dass sie sich nach einer tollen Familie sehnte. Nachdenklich lauschte er auf die Stimmen von Jan und den Kehrenbergs und rief dann Holger an: "Hey, ich hol die Fregatte ab, kein Thema. Aber du musst echt zusehen, dass die nicht nach Hause geht. Ihre Eltern haben grad hier angerufen. Die sind total krass, würde Bardo sagen."
Holger klang überrascht, aber nicht geschockt. In seiner ruhigen Art lachte er auf und sagte: "Ja, ich kann auch nicht so mit denen, hatten wir ja schon das Thema. Aber gut, dass du das machst, dann bin ich nicht so unter Druck auf der Rückfahrt. Wir treffen uns bei mir. Tini hat einen Schlüssel für die Wohnung."
"Nein, bei uns. Jan wollte grillen, und dann kann sie den Kram hier abladen, oder willst du das Zeug bei dir rumstehen haben?"
Pragmatisch stimmte Holger sofort zu. Sie verabschiedeten sich und Kai hörte, dass Jan mit telefonieren durch zu sein schien, bevor er wenig später zu ihm ins Zimmer blickte. "Sag nichts! Sie hatten die Nummer von Renate."
Jan lachte und kam zu ihm, um sich neben ihn auf das Bett zu werfen: "Du hast ihnen ja gründlich eingeheizt. Ich hab nur noch etwas nachsetzen müssen, die waren schon komplett für den Abschuss bereit."
Kai stöhnte auf und drehte sich zu Jan um: "Was hast du denn so Schönes noch nachgesetzt?"
"Och, ich hab ihnen gesagt, dass es ein Junge wird und wir ihn Leeve nennen werden, dat leevste. Da waren sie unerhört gefühlvoll und so weiter, weil Tini ihnen nichts verraten hat. Nicht mal, dass es ein Junge wird. Und dann hab ich erwähnt, dass du all die Bilder von ihr, mit Bauch und von dem Ultraschall und so, hast. Da waren sie ganz platt, weil sie auch davon nichts bekommen haben."
"Ihr Problem..., und das von Fregatte, Dumpfbacke Tini."
Jans Finger streichelten über Kais Haaransatz die Stirn entlan:. "Baby, du warst eben total mutig. Es ist ja richtig erstaunlich, wie du dich machst."
"Ich war sauer, Jan. Ich habe gerade drei oder so Stunden mit Lena bei der lesbischen Tätowiertante gesessen, und rate mal wer das war! Richtig, Tanja. Die Tanja, mit der du schon über Tierhaltung auf dem Bauernhof, Fußballregeln, Werbung für Deo und so ziemlich alles andere gestritten hast."
Jan lachte: "Die ist total lustig. Man kann sie ja schon mit einem kleinen Witz auf die Palme bringen. Was musstest du da tun?"
"Ich hab Lukas einen Gefallen getan, werde ihn gleich mal anrufen und darüber informieren. Ich hab Lena davon abgehalten, ein riesenhaftes hässliches Tattoo auf ihren Rücken machen zu lassen. So eine Kitschbombe, wie sie der Chinamann um die Ecke an der Wand hat. Ich sag dir, die ticken doch alle nicht richtig! Ich schreib Lukas jetzt erstmal eine Nachricht, dass der seine Schwester zur Sau macht dafür."
Jan rangelte sich zu Kai und schob sein Gesicht an ihn heran: "Hm. Was würdest du dir denn tätowieren lassen, wenn du etwas wählen müsstest?"
Kai schnaubte: "Nix! So ein Schwachsinn. Tanja hat mir ein Fußballemblem für meinen kleinen Freund vorgeschlagen, ganz geschmackvoll. Sie meinte, dass du das da unten dann am ehesten bemerkst." Schräg blickte er an Jans Oberkörper entlang. "Ich bin eigentlich froh, dass du nicht so ausschaust, wie manche von denen in den Profiteams mit all dem Kuddelmuddel auf den Armen und so."
Jan lachte, dann stützte er sich hoch. "Initialen", sagte er und blickte Kai in die Augen: "Schade, dass du keinen zweiten Vornamen hast, das schaut immer schöner aus."
"Meine Initialen? Was soll ich denn damit?"
"Nein, nicht du. Ich würde mir Ddeine stechen lassen." Er lächelte und hob das linke Handgelenk. "Hier, da kann ich die immer sehen."
Perplex blinzelte Kai ihn an. Dann beschloss er, läppisch zu bleiben. "Mach das nicht. Dann verkrachen wir uns nur und ich hab gehört, dass das Lasern total teuer sein soll, und weh tut es auch noch." Sie grinsten sich an und Jan meinte: "Nein..., nein. Ich steh zu meinen Sünden. Und du bist meine Lieblingssünde, Baby." Seine Finger schoben sich unter Kais Shorts, während sie sich küssten, und die Nachricht an Lukas, mit der Kai Lena verpetzen wollte, blieb in Folge ungeschrieben.
162
Erst als Kai und Jan mit dem Sex zur Feier des Anrufs der Ding-Großeltern aus der Hölle durch waren, erinnerte Kai sich daran, dass Bardo, das Bambi, bei ihnen als Besuch anstand. Da hatten sie noch mal Glück gehabt, dass der Junge noch nicht angerollt gekommen war. Zufrieden sammelte Kai seine verstreuten Klamotten auf und ging in Richtung Dusche, und begegnete sogleich ziemlich nackt dem komplett bekleideten Bardo im Flur.
Hastig brachte Kai sich ins Bad in Sicherheit und fragte hinter der Tür hervor: "Musst du rein? Ich dusche sonst jetzt und das kann etwas dauern."
Bardos Stimme klang unsicher, als wüsste er nicht, was er wollte: "Nee... schon okay. Danke."
Erst als Kai geduscht hatte und zu Bardo und Jan auf die Terrasse kam, fiel ihm auf, dass Bardo auch komisch aussah. Als sei er innerhalb der letzten Stunden merklich älter geworden. Nachdenklich wirkte er und etwas besorgt. Kai nahm sich ein Glas Wasser und ließ sich neben Jan nieder: "Is was?"
Die Sonne war lange weg, aber auf dem Weg unten am Waldrand war noch sehr viel los, weil ein Fest am Zoo gewesen war. Fröhliche Stimmen und Kinderkreischen schallten zu ihnen hoch, vermischt mit Fahrradklingeln und einem entfernten Rasenmäher. Sommergeräusche. Ein Motorrad durchschnitt die Mischung mit einem Aufheulen, aber so weit entfernt machte es Kai nichts weiter aus.
Bardo drehte eine der zu lang gewordenen roten Haarsträhnen auf den Zeigefinger und hob die Schultern: "Stefan und ich hatten unsere Unterhaltung, und es war sehr krass." Er blinzelte, noch immer im Schock.
"Krass? Hat er dich irgendwie... beleidigt?"
"Nee. Im Gegenteil. Stefan hat mich..." Hilflos zuckte Bardo mit den Schultern, dann grinste er schief. "Ja... fast schon angegraben."
Kai hätte fast das Glas fallen lassen: "Wie bitte?!"
Bardo drehte sich zu ihm um und hob erneut die Schulter: "Ich bin selber total platt deswegen." Sein Blick huschte zu Jan, dann zurück auf sein Glas.
Jan verstand, oder wollte sowieso gerade los. Er sprang auf. "Ich bin zur Beachparty unterwegs, kommt ihr nach?"
"Vielleicht", meinte Kai unbestimmt und dachte, 'Auf keinen Fall!'
Bardo schüttelte seinerseits ehrlicher den Kopf. "Ich muss morgen früh wieder arbeiten, und davor dem Maler aufschließen, und mit meinen Eltern telefonieren, wie alles ist. Das wird mir zu anstrengend."
Kaum war Jan durch das Wohnzimmer verschwunden, als Kai Bardo scharf anblickte: "Was hat Stefan gesagt?"
"Nichts direkt, das ist es ja." Verzweifelt hob Bardo die Hände. "Ich wollte mich aussöhnen und hab mich bei ihm entschuldigt, dass ich es ihm nicht vorsichtiger gesagt habe. Ich dachte, dass wir uns damit auf 'Freundschaft' einigen und dann vielleicht wenigstens im Chor wieder miteinander reden können. Doch dann hat Stefan mich ausgefragt. Er hat mich gefragt wie ich es gemerkt hab, wie sich das anfühlt, wie..., keine Ahnung, wissenschaftlich irgendwie, als hätte ich eine interessante Krankheit bemerkt."
"Und dann?", Kai nippte von seinem Wasser und beobachtete das Spiel der roten Sonnenstrahlen auf seinen Balkonpflanzen. Ein paar Hummeln und Schmetterlinge umkreisten die wenigen Restblüten.
"Er hat nichts dazu gesagt, ob er sich auch so fühlt, aber ist mir komisch auf die Pelle gerückt. Er wollte, dass ich mit ihm und zwei anderen eine Kammermusikgruppe gründe. In den Sommerferien war das schon lange geplant, aber davon hatte ich mich verabschiedet. Stefan spielt Bratsche, ich Cello, die anderen zwei Geige. Ein klassisches Quartett. So etwas kann man gut für kleine Feiern anbieten, wir waren von der Musikschule aus auch schon einmal auf der Weihnachtsfeier und auf einer Jubiläumsfeier zusammen aufgetreten, daher hatten wir den Einfall. Stefan hat mir erzählt, dass sie keinen anderen Cellisten finden konnten und hat mich gebeten, wieder mitzumachen. Ich hab abgelehnt."
"Wieso? Vielleicht will er wirklich nix von dir, aber möchte doch nicht auf dich als Freund verzichten."
Unglücklich umarmte Bardo sich selber: "Ich weiß nicht. Ich hab mich... nicht sicher gefühlt. Die Nähe zu ihm war... falsch. Das hatte ich sonst nie. Als ob er was versteckt, das ich nicht sehen soll. Unheimlich."
Kai blinzelte: "Klingt nach Horrorfilm, Bardo."
Bardo hob sein Kinn und blickte leicht beleidigt drein: "Je mehr ich darüber nachdenke, desto blöder find ich das. Ich bin ihm dann gerade gut genug, wenn er mich braucht. Er hat erzählt, dass am Wochenende in einem Monat nämlich eine Feier sei, bei der wir spielen könnten und Geld dafür bekommen. Lions Club Treffen, von seinem Vater. Da war es mit einem Mal, als ob er mich deswegen braucht und benutzen will. Aber eben nicht sicher, nur oberflächlich. Unter der Oberfläche ist was anderes, etwas, das mir Angst gemacht hat."
"Bist du sicher?"
"Nein! Es war alles schwammig, das ist es ja! Es war nicht greifbar, aber sowas hat er sonst noch nie gemacht. Und es fühlte sich an wie ein Test. Als ob er dann den anderen sagen kann, dass ich ihn angegraben hätte, wäre ich auf seine Einladung zur Probe eingegangen. Dass er mich hat kaufen können oder so."
Nachdenklich betrachtete Kai Bardos verzweifeltes Gesicht. "Und die anderen?"
"Zwei Mädchen. Carmen und Jessica, die kenne ich beide schon Ewigkeiten von der Musikschule. Wir spielen an Weihnachten auf Konzerten zusammen. Carmen ist wunderschön, so mit goldblonden Locken und blauen Augen. Stefan steht auf sie, das weiß ich von den Sachen, die er so über sie gesagt hat. Vielleicht... will er mich auch nur benutzen, um bei ihr gut da zu stehen. Aber irgendwie hab ich sonst nie so schlecht von ihm gedacht. Nicht einmal, als wir uns geschlagen haben. Das war ehrlich, klar. Das eben..., ich weiß nicht."
"Hm. Das wäre genau die Nummer, die Matze gerade bei Jan macht. Der ist mit Jans Ex zusammen und seitdem vollkommen handzahm geworden. Und dann?"
Bardo hob die Schultern: "Stefan hat so dicht bei mir gesessen, wollte mir Noten zeigen, die Stücke, die sie spielen werden. Da hab ich Panik bekommen. Ich bin aufgesprungen und hab was von einer Verabredung gesagt. Peinlich irgendwie. Was mache ich denn jetzt?"
Kai hob die Schultern. "Nix", schlug er pragmatisch vor: "Der Stefan hat sich das selber eingebrockt mit seiner Arschlochtour. Klar vertraust du ihm nicht mehr."
"Aber...", Bardo nagte auf seiner Unterlippe, die Finger zupften noch immer unruhig an der Haarsträhne. "Weißt du, er hat diese echt fiesen Eltern. Da hab ich doch Glück mit meinen. Meine sind ausgerastet, weil ich es in ihren Augen falsch begonnen habe. Mit Lügen, und mit Herumtreiben mit älteren Männern, die mich ausnutzen würden und all sowas. Seit sie euch besser kennen und ich immer ehrlich bin, haben wir die Probleme ja gelöst. Aber Stefan, der könnte noch so ehrlich sein, seine Eltern würden immer ausrasten, wenn er selber wirklich schwul wäre."
Kai wurde von der Türklingel einer Antwort enthoben. Mühsam wollte er sich hochstemmen, aber Bardo stoppte ihn: "Ich muss eh zum Bad."
"Ach, wenn es Tinis Eltern sind, schlag ihnen die Tür vor der Nase zu und renn um dein Leben."
Bardo grinste ihn an und machte sich mit seinem typisch für ihn hopsigen Gang auf durch die Wohnung. Kai blieb auf der Dachterrasse zurück und angelte nach dem Feuerzeug, um die Mückenkerzen anzuzünden. Die Nähe zum Wald hatte gerade im Sommer einige Nachteile. Der größte waren die Heerscharen Mücken, die sie abends aussaugen kamen, wenn sie auf dem Balkon saßen.
Die Kerzen taten ihren Dienst nicht vollkommen, aber Kai mochte das Licht und fand den Geruch nicht total ätzend. Er war gerade dabei, seine Kübel noch mal zu gießen, als Henri nervös durch die Terrassentüren sprang und ihm auf die Pelle rückte: "Huhu, Engelchen! Ich hab grad einen Augenblick, kann ich dir irgendwie helfen?"
Verwirrt blinzelte Kai ihn an. Henri trug ein rosafarbenes Batikhemd, was ihm die Ausstrahlung eines verlorengegangenen Urlaubers verlieh. "Was?!"
Henri grinste, seine Zähne blitzten einmal auf, verliehen ihm die Ausstrahlung eines Vampirs auf dem Sprung. "Lena hat mich doch angerufen, schon vergessen? Weil du mal wieder umgefallen bist. Motorradfahrer, hm?"
Kai stellte seufzend die Kanne weg und ließ sich auf der Liege nieder. Er nickte und rieb sich die Augen. "Ich war müde und in Gedanken, deswegen war es für einen Moment doof. Aber ich hab..." Er stockte und blinzelte Henri an. Der warf locker sein Hemd von sich und kniete sich mit nacktem Oberkörper und bedrohlich tief sitzender Jeans neben ihn auf die Liege. Nervös starrte Kai seine definierte Bauchmuskulatur entlang und konnte gar einen Teil des kleinen Tattoos in Richtung Schritt ausmachen. "… was wird das, wenn's fertig ist?!"
"Engelchen... glaubst du, ich komm nur so her? Um dich nett zu besuchen? Zeit ist Geld. Meine Zeit ist Jans Geld. Wenn ich Jan eine Rechnung schreibe, dann nicht für ein paar Minuten blabla." Henri knackte seine Fingerknöchel und fummelte an seinem Handy herum, dann warf er seine Sandalen von sich, schmiss das Handy dazu und lehnte sich dichter. "Augen zu, leg dich auf den Rücken!", kommandierte er.
Henri roch angenehm, nach Holz und Wärme. Dennoch verschränkte Kai die Arme. "Mir ist wirklich nicht nach..." Kais Antwort wurde von kräftigen Fingern unterbrochen, die sich in seine Schultern gruben und ihn zurück schoben, bis er lag. Henri nahm seine Beine, streckte sie auf der Liege aus. Kai wurde sich seiner Schlafshorts und der nackten Beine bewusst. Und dennoch schaffte er es nicht, sich Henri vom Leib zu schaffen, der sich neben ihn kniete und die Finger gegen Kais Schläfen legte. "Und was hat dich wirklich so zum Kochen gebracht?"
Kai schloss ablehnend die Augen und drehte sein Gesicht von Henri weg. "Tinis Eltern haben angerufen, um mich rund zu machen."
"Rund?"
"Wegen Ding."
Henris Finger umfingen seine Schulter und drehten ihn zurück: "Ding? Ah, das Baby. Wann soll das arme Ding denn einen Namen bekommen?"
"Wenn es unvermeidbar wird. Die Fregatte ist bald zurück." Kurz überlegte Kai, ob er einfach aufstehen und weg gehen sollte, aber er schaffte es nicht mehr. Stattdessen gab er zu: "Hab an deine Welle denken müssen, als Tinis Eltern vorhin angerufen haben. Du hast Recht gehabt."
Henri ließ von ihm ab und setzte sich zurück: "Recht? Womit?"
"Ich kann obenauf sein. Es geht. Aber es ist total anstrengend." Fasziniert blinzelte Kai ihn an und schob sich dann von dem drahtigen, überhitzten Körper fort.
"Natürlich!", Henri lachte, wieder zeigte er seine perfekten Zähne. Sein eckiges Gesicht erinnerte Kai, hier von den Schatten betont, an Bilder von den Feen oder Elfen, die seine Mutter an Weihnachten gern dekorierte. Im nächsten Moment hob Henri den Kopf und lächelte nicht mehr frech, sondern weich, einladend.
Kai sah sich um und erblickte das Bambi, sein Cello im Arm. "Henri kennst du schon, oder Bardo?"
Bardo nickte unsicher, von Henris Ausstrahlung und seiner weitgehenden Nacktheit sicherlich irritiert.
Henri schob sich noch etwas von Kai fort und klopfte auf die Polster. "Na du? Schaust du süß aus. Spielst du uns was vor?"
Bardo nickte, dann sah er Kai fragend an: "Darf ich? Ich muss..., irgendwie..."
"Natürlich, spiel."
Bardo holte sich einen Stuhl und ließ sich darauf nieder, sein Gesicht lag in den Schatten, während er das Instrument stimmte, den Bogen mit einem bernsteinfarbenen Stein behandelte und dann zu spielen begann.
Kai hatte ihn müde beobachtet und sah erst jetzt zu Henri zurück. Dieser hockte mittlerweile auf der Liege, aber vollkommen still. Er starrte Bardo an, lauschte und hatte den Mund ein wenig offen stehen. Wie ein Kind, das gerade vergessen hat, wo es ist. Endlich kam Bewegung in Henri, er wandte sich Kai wieder zu, begegnete seinem Blick etwas schuldbewusst: "Engelchen, wo waren wir? Ah, bei der Welle." Er schob an Kais Schultern: "Leg dich her."
"Henri, echt jetzt..., ich will...".
"Weiß ich doch, Engelchen. Kein Sex vor Minderjährigen, das ist auch mein Motto. Ich mache jetzt übrigens die Ausbildung zum Physiotherapeuten, fängt im Herbst an. Im letzten Jahr hab ich meinen Abschluss nachgeholt, die Noten waren klasse, meine Eltern sind in Ekstase gewesen. Ich bin an der Schule für Physiotherapieausbildung angenommen, du bist mein Testobjekt, ja?" Geduldig schob Henri Kai auf den Bauch herum und zog ihm das T-Shirt aus. "Also, Ding ist bald zurück, die Großeltern drehen hübsch am Rad, weil sie die Fäden nicht mehr in der Hand halten können. Tini ist eben nicht ihre Marionette."
"Ach ja. Du weißt was darüber. Was hast du mit Tini gemacht?"
Henri lachte leise. Seine warmen, kräftigen Hände fuhren Kais Wirbelsäule entlang: "Das, was ich gut kann, mein Engelchen."
Ungemütlich ruckelte Kai. Henris Daumen drängten seine Muskeln an den Schultern angenehm schmerzhaft auseinander und zwangen ihn, sich zu entspannen. "Hattet ihr... ich meine, hattest du...?"
"Sex mit ihr? Nein." Henri zögerte, das spürte Kai, weil die Bewegungen einen Augenblick lang fahrig wurden, dann sagte er leise: "Sie wird es dir sagen, nicht wahr?"
Kai nickte und dachte bei sich, dass Tini ihm alles sagen würde, wenn er wollte. Er wollte nur meist nicht.
"Wir haben es versucht, war Lenas Idee." Er lachte. "Ganz klassisch sogar."
"Klassisch? Ich dachte, dass du das nur mit den Händen..., äh, machst."
"Hm. In diesem Fall haben sie mich gebeten, mal eine Ausnahme zu machen. Lena schuldet mir deswegen noch."
"Und es ging nicht?" Kai dachte an ihre Kondom-Allergie und erzählte kurz davon.
Henri schüttelte den Kopf. "Nein, soweit waren wir gar nicht. Sie kam nicht auf Touren, wir hatten keine Verbindung, sie war komplett kalt. Ganz anders als du, mein Engelchen."
Bardo setzte in diesem Augenblick ab und blickte zu ihnen hinüber. Das sah Kai, weil er ihn halb im Blick gehabt hatte. Unsicher sah Bardo sie einen Moment lang schweigend an, dann fragte er leise: "Stör ich echt nicht?"
"Nein!" Es klang ein wenig hysterisch, aber Kai dachte sich, dass Henri ihm so halb vom Leib bleiben würde, wenn Bardo dabei war.
Henris Stimme hatte etwas Lauerndes: "Bist du sicher, Engelchen?"
"Henri! Ich hab keinen Bock auf deine...", verwirrt hielt er inne, "… Andeutungen", endete er dann lahm und schnaubte. "Ich hab nach Tini gefragt, weil ich mich dann schon mal darauf vorbereiten kann, was mir bevor steht. Übrigens, wenn Lena dir was schuldet, dann würde mich mal interessieren, was sie so für dich tun muss."
Die Lösung war einfach. Henri lachte: "Ich hab keinen Führerschein, schon vergessen? Wenn mich jemand mit dem Auto mitnehmen muss, dann hat Lena diese Ehre für einige Male jetzt erworben."
"Und Tini?"
"Die hat mich normal bezahlt."
"War das nicht komisch für dich?"
"Weil sie so jung war, war es schon ungewohnt. Meine Kundinnen sind sonst über dreißig, meist über vierzig. Aber ansonsten ist das der Weg, den es geht. Ich leiste meine Dienste und bekomme dafür mein vorher vereinbartes Honorar."
Bardos Stimme klang etwas belegt, als er nachfragte: "Dienste?"
Henri strahlte ihn an: "Massage. Ich komme ins Haus."
Komischerweise fragte Bardo interessiert und ohne Schuldbewusstsein nach: "Was kostet das denn?"
"Bardo!"
"Was denn? Meine Schultern sind voll verspannt vom vielen Üben, und ich hab bei Leon schon ein wenig was verdient, und..., wo er schon hier ist..."
Henri war zu ihm getreten mit nacktem Oberkörper, in den Brustwarzen blitzenden Piercings und gefährlich tief sitzender Hose: "Hm, dein linker Arm tut auch weh, was? Leg mal das Cello fort, setz dich gerade hin."
Kai hangelte sich in sein Hemd und setzte sich auf, während Bardo das Cello vorsichtig ablegte und versuchte, Haltung einzunehmen.
Henris kräftige Finger schoben sich über Bardos Schultern und Ellenbogen, dann trat er hinter den Jungen und verdrehte ihn ein wenig und umfing ihn dann von hinten, um seinen Arm herum zu ziehen. "Deine Wirbelsäule steht jetzt schon schief, mein Kleiner." Henri lehnte sich dichter und grub Bardo den Ellenbogen in die Schulter. Bardo zischte leise und ließ den Kopf hängen.
"Und mich wundert, dass du nicht dauernd Kopfschmerzen hast."
Bardo murmelte, dass er schon oft mal Kopfschmerzen habe, das schob er auf das viele Lernen für die Schule und die Musikproben.
"Welchen Sport machst du denn zum Ausgleich?"
Unsicher lachte Bardo einmal auf: "Sport? Ich... fahr viel mit dem Fahrrad."
Henri umwanderte Bardo und hockte sich vor ihn hin, balancierte mühelos auf den Ballen und schob seine Hände auf den Oberarmen unter Bardos T-Shirt.
Bardos Gesicht färbte sich mehr und mehr rot an, aber er rührte sich nicht. Kai beobachtete müßig, wie die Muskeln an Henris Rücken arbeiteten, obwohl Henri nahezu regungslos dort hockte. Zuerst war nicht viel zu sehen, dann mit einem Mal löste Bardos angespannte Haltung sich merklich. Im nächsten Moment stand Henri auf und zog ihn mit einem deutlichen Knacken herum. Bardo zuckte zusammen. "Au!"
Henri lachte und lehnte sich dichter, um Bardo einmal auf die Wange zu knutschen. "Tut mir leid. Wenn ich dir gesagt hätte, was ich tu, dann wärst du nicht entspannt genug gewesen."
Bardo rieb sich noch immer sehr rot im Gesicht die linke Schulter und den Arm. "Das war echt fies. Das zog bis in die Finger!"
Henri grinste und wies zu Kai rüber. "Leg dich mal auf die Liege, ich machs wieder gut. Kai will heute eh nicht."
Unsicher stand Bardo auf: "Ich... habe hier grad aber kein..."
"Handtuch?"
"Nee, ich meinte, du willst sicherlich Geld, oder?"
"Ach, Geld. Spielst du mir gleich noch mal was vor? Dann sind wir quitt."
Kai stand auf und ließ sich mit einem Kissen auf dem Boden nieder. "Wir waren bei Tini." Rasch fügte er an: "Vor Bardo habe ich keine Geheimnisse."
Henri wusste daraus einen Strick zu drehen: "Oho. Gar keine?"
"Keine, die unter achtzehn erlaubt sind."
"Schon richtig. Du bist wie alt? Dreizehn?"
Beleidigt zog Bardo die Brauen zusammen: "Fünfzehn."
Henri lachte. "Ach, nun sei nicht so. Du bist toll! Alt wird man von allein."
Grätzig trank Kai einen Schluck Wasser und beobachtete wie Henri sich über Bardo her machte, ihm das Hemd auszog und ihn auf der Liege drapierte.
Während Henri sich von seiner Lotion etwas nahm und Bardos Schultern zu massieren begann, erzählte er: "Wir haben das nach und nach versucht. Erst Nähe, dann Berührung und dann..., du weißt schon. Die ersten Beiden waren schon nicht so gut, weil Tini und ich nicht zueinander passen, das letzte ging überhaupt nicht. Und das, obwohl sie fest entschlossen war. Sie war wie aus Stein, starr und hatte eine unglaubliche Angst. Wie hat das eigentlich mit dir geklappt?"
"Whiskey-Cola. Vier oder so davon. Wir waren voll." Kai gähnt:. "Außerdem hatte sie sich das vorgenommen. Die macht immer, was sie sich vornimmt."
Henri schob Bardos Shorts etwas weiter runter und ließ die Daumen am Kreuz einsinken. Es sah leicht aus, aber Bardo ächzte schmerzgeplagt und hatte rot-blaue Stellen, als Henri die Finger fort nahm. "Alkohol trinke ich gar nicht, aber sie hatte reichlich Sekt, bevor wir es versucht haben."
"Und Lena?"
"War nicht da."
Henri lachte leise. An Bardo gerichtet sagte er: "Du muss dich nicht mehr anspannen, ich tu dir nicht weh." Im nächsten Moment stemmte er sich blitzartig auf Bardos linke Hüfte, es knackte und Henri streichelte dem ächzenden Jungen über die Schulter: "Sorry, hatte gelogen. Aber das war das letzte Mal."
Bardo murmelte etwas Unverständliches und hustete ein wenig. Henri fuhr an Kai gewandt fort. "Wenn das mit dir so geklappt hat, dass sie nun mit diesem riesenhaften Soldaten ins Bett geht, dann Respekt. Ihre Eltern sind bestimmt schuld, oder?" Henri hockte sich neben die Liege und strich Bardo mit den flachen Händen die Wirbelsäule entlang, um mit kreisförmigen Bewegungen sachte mit den Fingerspitzen streichelnd zurück zu kehren. Die Bewegung wiederholte er und Kai konnte sehen, wie Bardo sich entspannte. "Laut Felix sind es immer die Eltern. Frühkindliches Lalalala. Bei mir meint er das auch."
Kai gähnte wieder. "Nach dem letzten Telefonat mit denen würde ich sagen, ja."
Henri kniete sich über Bardo und stemmte sich gegen seinen Rücken, in der Wirbelsäule knackte es erneut leise: "Das kenne ich gut. Meine eigenen Eltern waren auch so. Trotz ihrer Geduld konnten sie mich nicht in Frieden so sein lassen wie ich eben bin. Alles musste funktionieren, in Spur und Reihe bleiben, der Norm entsprechen. Sie haben mir lieber Beruhigungsmittel und so weiter gegeben, als sich mit mir zu befassen. Erst als ich ihnen abgehauen bin, haben sie darüber nachgedacht, dass ich vielleicht anders gefühlt habe, anderes als ihre Ordnung wollte und brauchte."
Er nahm sich mehr Lotion, ließ sich auf der Liege nieder und begann nun vollkommen friedlich über Bardos Schultern und die Oberarme entlang zu streichen. "Heute kommen wir klar, aber ich glaube schon, dass sie sich ein wenig schämen für die engen Grenzen, die sie damals hatten. Mein Vater sagte einmal, dass er sich heute wünscht, er hätte mehr Zeit und Kraft gehabt, für mich, und meine vielen Ideen." Henri lachte. "Meine Idee waren ja meistens verrückt, aber eben auch lustig, so sagte er das. Und was ist sonst noch so los gewesen?"
Sie redeten noch über Kais Ärger mit Pascal und Henri erfuhr mal wieder viel zu viel über Kais private Gedanken zu diesem Thema und den Verlauf der Outing-Runde daheim.
Kai streckte sich endlich und meinte an einem Mückenstich kratzend: "Ich gehe schlafen. Bardo, dein Privatkonzert musst du wann anders machen. Es ist nach zehn und die anderen Mieter stehen nicht auf so etwas."
Henri lachte leis: "Sch. Er ist längst eingeschlafen. Armes Ding, total müde."
Kai blinzelte, dann ging er bei Bardo in die Hocke. Sachte schob er die zu langen, dunklen Strähnen aus seiner Stirn. Tatsächlich, das Bambi schlief. Flüsternd räumte Kai auf der Dachterrasse auf und Henri strich Bardo mit einer Hand über den Rücken, tippte mit der anderen Nachrichten auf seinem Handy und kündigte sich für die kommende Woche als Therapiebesuch an, was Kai mit Sorge betrachtete.
Bardo wachte gerade groggy wieder auf, als Kai klirrend die Gläser einsammelte. Streng befahl Kai ihm: "Schlaf! Du kriegst sonst Ringe unter die Augen, und ich krieg es mit Merle zu tun."
Dann blickte er Henri an, der immer noch mit einer Hand sein Handy bediente und mit der anderen Bardo streichelte, als würde er das nicht merken: "Und du verschwindest!"
"Och, Kai. Na gut. Aber ich komme wieder und hol mir meine Bezahlung ab." Henri strich Bardo ein letztes Mal über die Schulter: "Ein Lied, ja? Das von vorhin fand ich sehr schön, was war das?" Nachlässig stülpte Henri sich sein Hemd über und kratzte an einem Mückenstich an seinem Ellenbogen.
Bardo zog sich mit mühsamen Bewegungen sein T-Shirt über und bewegte prüfend seine Schultern. "Pachebels Canon, nur eine Stimme natürlich. Ansgar und ich werden das gemeinsam auf einem Kirchenkonzert vorspielen. Ich leg Kai eine Einladung hin, die kann ich gern auch bei Leon und Felix reinreichen. Es wird nichts kosten."
Henri lachte. "Ach ja. Ansgar ist dein Bruder. Ihr seht euch auch echt ähnlich. Beide so schöne Männer. Zu dem Konzert komm ich bestimmt!"
Etwas unglücklich verschränkte Bardo die Arme und meinte gähnend: "Du solltest mal meinen anderen Bruder sehen."
"Noch ein schöner Bruder? Was für eine herrliche Familie. Ich will euch alle sehen! Macht er auch Musik?"
Bardo hob die Schultern, dann meinte er unbestimmt: "Er spielt nur etwas Klavier, aber er tanzt. Ballett."
Henri hob die Brauen, dann meinte er: "Das wäre auch gut für dich, gut für den Rücken. Ich bin dann mal unterwegs, ihr Zwei. Tut nix, was ich nicht auch tun würde."
Giftig bemerkte Kai: "Da bleibt sicherlich nicht viel über“, aber Henri hatte seine Tasche aufgenommen und war über den Balkon nach nebenan geturnt. Als Kai um die Brüstung herum blickte, war er durch die offene Tür in der Wohnung von Leon verschwunden.
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Seufzend sammelte Kai die Kissen vom Boden und löschte die letzte Mückenkerze: "Tja, das war Henri."
Bardo nahm die Auflage von der Liege: "Der ist echt krass... das hat echt voll weh getan."
"Aber dann bist du eingeschlafen von dem Geschmuse danach."
Bardo errötete. "War so anstrengend in den letzten Tagen", murmelte er, dann fragte er Kai, wie es mit Lena gewesen sei und erhielt, zwischen Zähneputzen und Geschirrspüler einräumen, einen Bericht über die Tätowierung. Bardo konnte auch nicht verstehen, wieso Lena das wollte. "Ich mag so etwas nicht", meinte er etwas entschuldigend, als sei das sein Fehler. "Dein Körper ist doch etwas, das dir so gegeben wurde, wie gedacht. Daran herum zu pfuschen, finde ich nicht gut."
Darauf brachen sie in eine Diskussion um Zahnklammern, Wimpern färben und Fitness aus, weil Kai es nicht so eng sah wie Bardo. Das Ganze endete damit, dass Bardo etwas ungemütlich fragte, ob er wirklich so unsportlich wirken würde. "Ich meine, ich fahr viel Fahrrad und laufe herum, aber so richtig Sport, so wie Nantwin mit seinem Ballett oder Halvar mit seinem Schwimmen und Trickradfahren, mache ich nicht. Mir macht Sport nicht genug Spaß. Ich mag eben nur Musik."
"Ich doch auch nicht. Schau Jan an mit all seinem Fußball und dann mich. Lass dich von Henri nicht ärgern. Der ist einfach nur perfekt darin, einem Dinge zu sagen, die unbequem sind und einen belasten."
Bardo wusch sich das Gesicht und blinzelte das Wasser aus den langen Wimpern: "Was hat er dir denn gesagt?"
Kai seufzte und lehnte sich gegen die Duschkabinentür: "Er sagte mir neulich, dass ich obenauf sein kann, wenn ich Vertrauen hab."
"Obenauf?"
"Hm. Mit der Fregatte und Ding. Wie beim Wellenreiten, in Kontrolle, ohne kontrollieren zu wollen." Kai betrachtete Bardos von Sommersprossen überzogenes Gesicht. "Er hat Welle gesagt, aber vielleicht Schicksal gemeint, oder Lauf der Dinge oder so."
"Wie bei Ortrud, die nennt es Gottvertrauen. Es ist aber immer das gleiche, nicht?"
"Vielleicht." Nachdenklich sah Kai sich um. Die Wohnung, sein Leben, war es Schicksal? Hatte er wirklich nur zu vertrauen und alles würde so laufen? Er ging selber eigentlich stets davon aus, dass sein Leben wie die Kutsche war, die seine Oma ihm immer als Bild gezeigt hatte. Er hielt die Zügel in der Hand und Richtung, Tempo und auch die Mitfahrer waren doch seine eigene Entscheidung.
Aber Henri hatte auch Recht. Er wusste jetzt ja auch, dass man reichlich blinde Passagiere aufnahm und nicht wieder los wurde, und durchgegangen waren ihm die Gäule vor seiner Kutsche offensichtlich auch schon wieder.
Rasch stieß er sich ab und ging durch den Flur zum Schlafzimmer von ihm und Jan. Ein Blick auf den Wecker in der Küche zeigte ihm, dass Jan sicherlich noch ein Weilchen auf der Beachparty sein würde. "Jedenfalls kann ich mit Ding die Richtung nicht bestimmen, das macht Tini jetzt, auch wenn sie mir dauernd darüber Nachrichten schreiben muss."
Bardo folgte Kai in den Flur: "Ding. Wollt ihr nicht wirklich langsam mal einen Namen finden? Ich meine, es wird ein Junge, nicht?" Mit einem Mal ehrfürchtig blickte Bardo Kai ins Gesicht: "Hey, jetzt überleg mal. Ein Sohn! Als meine Eltern Ansgar bekommen haben, war der Moment, in dem sie erfahren haben, dass es ein Sohn wird, ein besonderer Moment." Mit einem Mal lachte Bardo: "Bei dir eher nur noch so eine krasse Sache, zugleich mit den Bildern im LPP, nicht? Aber Ding..,. das klingt nicht besonders nett."
Gereizt verschränkte Kai die Arm:. "Fängst du auch noch an, ja? Es ist Tinis Ding, sie kann den Namen aussuchen, ich sag meine Meinung dazu. Sie wird sich vermutlich nicht darum scheren, fertig."
"Dir gefiel doch bislang noch gar kein Name."
"Wie würdest du Ding denn nennen?"
Bardo zuckte mit den Schultern. Dann hob er seinen Kopf: "Als meine Cousine schwanger war, hat sie uns Kinder gebeten, jeder den Lieblingsnamen vorzuschlagen. Für ein Mädchen und für einen Jungen. Das ist schon ein wenig her. Halvar hat den Namen von seinem Teddy vorgeschlagen, weil er sich damals mit drei oder so nichts Besseres vorstellen konnte. Mach es doch so. Mach eine Sammlung."
"Mach ich doch schon! Gegen meinen Willen! Hättest mal Jans Vorschläge hören sollen! Lolli oder Benni werden sich sicherlich durchsetzen mit irgendwelchen total hirnverbrannten Unmöglichkeiten."
Bardo lachte, wünschte Kai, von Gähnen unterbrochen, eine gute Nacht und meinte im Weggehen: "Du wirst damit bestimmt krass obenauf sein, Kai. Bist du immer. Ich finde, dass Henri Recht hat."
Kai blickte ihm nach und murmelte unsicher: "Hoffen wir es."
Und die Hoffnung, dass er würde obenauf bleiben können, erhielt Kai sich genau bis zu dem Tag, an dem die Fregatte wieder nach Hause zurückkehrte. Ihre Ankunft wurde von einer Flut Mails und Nachrichten vorbereitet, in denen lauter Sachen vorkamen, die sie an ihn und Jan schickte oder die gerade noch so in den großen Koffer gepasst hatten. Kai war von ihr genervt, bevor er überhaupt zum Flughafen los musste.
Ding brauchte augenscheinlich mehr Kram als eine Popdiva auf Reisen, so Lollis Worte, als er die Liste von Kai auf dem nächsten, für Kai sehr erfolglosen und sehr stressigen, Flohmarkt erzählt bekam. Aber Lolli war es dann, der von Seiten der schwulen Gemeinde das erste Ding-Geschenk überreichte. Nachdem sie am Samstag zur unchristlichen Zeit von halb sechs den Stand aufgebaut hatten, setzte Lolli sich blitzschnell ab und kehrte für sicherlich zwei Stunden nicht wieder, obwohl das Meiste auf dem Tisch ihm gehörte.
Kai hatte, vor Wut kochend aber hilflos ausgeliefert, an dem kleinen Stand mit ihren Vasen, Geschirrteilen und all dem restlichen Nippes aus dem Vermächtnis von Hannah und aus Lollis Fundus gestanden. Neben ihm Frank, der Exfreund von Lolli, mit eher missmutigem Gesicht, den Blick auf seine Tageszeitung gesenkt und vor sich die alte Comicsammlung, die er ausgemistet hatte. Auf der anderen Seite die wilde Tanja mit einer kleinen, aber sehr gut laufenden, Kollektion Piercingschmuck. Tanja war zum Glück für Kai eingenommen, zugleich war sie zu müde, um ätzend zu sein. Nur ihr Ingwertee nervte, weil der Geruch unvertreibbar über dem Stand schwebte und Kai Ingwer nicht ausstehen konnte und ihn das an die Nummer mit Lukas und seine Schwanzhysterie erinnerte.
Lolli kam nach einer Ewigkeit endlich von seinem Streifzug über den Flohmarkt wieder. Im Arm hatte er, freudig strahlend, Ding-Ausstattung nach seinem Geschmack und war mit einem Mal der Minister für Dinger geworden, hatte sich bei den Verkäuferinnen von Babysachen vollkommen informiert über die Ding-Entwicklung und seine Begeisterung war selbst in der vorgerückten Stunde für Kai kaum zu ertragen.
"Meine Maus! Ich muss dringend auch mal so ein Ding bekommen! Es ist ganz und gar herrlich, wie niedlich all diese Sachen sind! Tanja... Tanja! Hach, schau mal!" Er breitete einen Strampelanzug in Regenbogenfarben aus. Einen Schlafsack mit einem Astronauten, dessen Raumschiff merkwürdig psychedelisch schillerte, und ein Lätzchen mit drei Robotern, die sich in den Farben schreirosa, hellgelb und grün mit dem Frottee in dunkelviolett darunter eher bissen und Kai Augenweh bereiteten.
Tanja schüttelte, vollkommen abgeturnt, den Kopf und erklärte Lolli für wahnsinnig und Kai für widerlich und ging mit einer Freundin von dannen, um den Stand der Konkurrenz zu besuchen. Den scheiß Tee ließ sie auf ihrem Stövchen rumdampfen und stinken.
Lolli hatte noch mehr Sachen erstanden, aber Kais Wutanfall brach genau in diesem Moment aus und verhinderte, dass Lolli seine gesamte Beute vorführen konnte.
Die Rede war noch von dieser süßen Mütze und jener Rassel und dann war da noch eine Sache, die Lolli noch nie gesehen hatte, deren Verwendung Tini aber sicherlich erklären konnte. Aufgeregt wedelte er mit den Händen und kreischte: "Hach, ist das nicht alles schrecklich heterosexuell, wie wir hier so mit den Sachen stehen und uns auf das Ding freuen? Wie soll es denn heißen? Hm? Ich wäre ja voll und ganz für Ariel oder Uriel oder Esekiel. Wenn du das Ding wirklich gemacht hast, was ich mir noch nicht vorstellen kann und will, dann muss es ein Engel werden. Oh Gott! Ein gefallener hetero-homosexuell gezeugter Engel!"
Kai war gerade so richtig sauer und am Rumkreischen, als Jan auf dem Rückweg von dem einen oder anderen Sport um die Ecke kam und sich, vollkommen sonnig und überraschend geduldig, von Lolli vollabern ließ und die Sachen erstaunlich und merkwürdig, aber durchaus nicht schrecklich oder abturnend fand. Jan identifizierte das mysteriöse Utensil für Babys auch nicht, aber fand es cool auf seine Art und nickte es ab mit den Worten: "Schaut nett öko und cyber zugleich aus, als dürfte es in keinem vernünftigen Kinderzimmer fehlen. Hoffen wir mal, dass es nix Ekelhaftes ist."
Dann tauchte Jan ab und nahm Kai mit über den Flohmarkt, um ihn mit frischen Waffeln zu füttern und seine Laune wieder zu retten. Leider führte ihr Weg sie auf der Suche nach einem gemütlichen Schattenplatz direkt in Kais Verhängnis.
Jan entdeckte eine Mutter mit einem kleinen Stand auf der Ecke am Ausgang. Die Frau und drei weitere waren unter Umständen auch die Verkäufer von Teilen von Lollis Beute gewesen, jedenfalls konnte Kai noch mehr so extrem bunte Sachen erblicken. Und nicht nur er sah etwas Interessantes. Der Tag ging nicht vorüber, ohne dass Jan einen, auch gebraucht, noch echt teuren Fahrradanhänger und Jogger kaufte.
Das Teil strahlte den teuren Preis wie auch die notwendige sportliche Einstellung nur so ab und war fast nicht gebraucht. Die Frau, die ihn verkaufte, strich sich über den schon recht umfangreichen Bauch, seufzte und meinte: "Ja, ein Einsitzer. Die Marke ist der Goldstandard. Mein Mann hat das pedantisch erforscht und sich da für den bestmöglichen Renner entschieden. Wir hatten ihn gerade eingefahren, da war Nummer zwei auch schon unterwegs, und ich konnte wegen einer Thrombose im Knie nicht mehr laufen und kaum noch Rad fahren." Sie wischte sich mit dem Handrücken über das verschwitzte Gesicht und seufzte: "Ich hätte den heute eigentlich nicht mitgebracht. Im Internet bekommen wir sicherlich das Geld dafür, das er wert ist, aber die ganzen Sachen, die ich verkaufen wollte, gehen da so gut rein."
Verzweifelt versuchte Kai seinen Freund davon zu überzeugen, dass Ding nicht in einem teuren Fahrradanhänger sitzen und durch die Stadt reisen musste, und dass er mit Ding auch auf keinen Fall zu Joggen gedachte. Jan hörte nicht auf ihn. Er hörte auf die Frauen an den Ständen, die den Jogger wegen seiner Leichtigkeit und zugleich Unverwüstbarkeit anpriesen und Jans Wahl zu der Sache begrüßten. Natürlich waren die Tanten zugleich auch froh, dass Jan das Geld ruckzuck holte und bar bezahlte.
Und so war dieser Flohmarkt dann der Tag an dem Kai mit mehr Sachen nach Hause zurück kam, als er am Morgen noch hingeschleppt hatte. Den Kram verbannte Kai sofort in den Keller, dort waren bereits zwei Pakete mit Ding-Ausstattung angekommen. Per Post von Tini.
Die Anwaltssekretärin hatte die Pakete angenommen, weil sie den Samstag in der Kanzlei verbrachte, um irgendeine sehr eilige Schriftsache fertig zu stellen. Sie seufzte, berichtete von ihrem anstehenden Urlaub und nutzte Kais Besuch bei ihr zur Abholung der Pakete für einen Klatsch über die bald leerstehende Wohnung gegenüber und einen Flirt aus. Ersteres interessierte Kai nicht, letzteres brachte ihm eine milde Panik ein. Rasch verabschiedete er sich wieder. Kai ließ die Pakete ungeöffnet im Keller und stapfte gereizt wieder in die Wohnung hoch.
Dies bedingte, dass er gehörig von Ding und seiner baldigen Ankunft genervt war. Er wollte nicht, dass Jan sich in die Sache reinhängte! Er wollte nicht, dass Ding jetzt so zwischen ihnen zu stehen begann und für Streit sorgte, noch bevor es überhaupt da war. Er wollte außerdem auf keinen Fall, dass der Anhänger an sein Rad gebaut wurde, konnte aber nicht verhindern, dass Jan die Verbindungsvorrichtung probehalber dort montierte. Das führte dann wieder zu Streit, der Kai die Stimmung ruinierte.
Kochend lernte Kai sich am Abend durch sein Pensum, während Jan fröhlich mit seinen Fußballjungs laufen ging. Zwei davon kamen Kai verdächtig niedlich vor und auch verdächtig an Jan interessiert. Seit der Geburtstagsfeier an der See wussten die Jungs alle mehr oder weniger, dass Jan schwul war und das hatte nicht nur den Vorteil, dass Jan sich nicht mehr so vorsehen musste, wenn er über Kai sprach. Es hatte, aus Kais Sicht, den deutlichen Nachteil, dass diese süßen Typen seinem Freund jetzt durchaus gefährlich werden konnten.
Ein Teil des genervt seins am Abend kam außerdem noch von einem Streit mit Renate, den Kai, na klar, haushoch verloren hatte. Er hatte ihr beim Lerntreffen einheizen wollen, wegen der Herausgabe seiner Telefonnummer. Es ging echt schief. Renate tat recht spitz kund, dass sie lediglich angenommen hatte, dass sie jetzt ja wohl als letzter Mensch auf Erden von seiner Einbindung in die Tini-Schwangerschaft erfahren hatte und nun alle anderen Verbliebenen es auch wissen durften. Es so zu formulieren, war mies hoch drei. Dagegen konnte man sich nicht richtig wehren. Außerdem hatte Renate den Eltern von Tini nur seinen Namen verraten, den Rest hatten sie selber herausgefunden.
Insgesamt war die Ding-Landung von einer Flut von Unannehmlichkeiten vorbereitet worden, so dass Kai mit Fug und Recht sagen konnte, dass er sauer war und das auch vollkommen raushängen lassen durfte, denn er litt schließlich am allermeisten unter all dem Trubel.
Allein der Umstand, dass Lolli direkt nach dem Flohmarkt noch einmal daran erinnerte, dass er nun bei ihnen einziehen würde, überschnitt sich mit Kais Wünschen für einen ruhigen restlichen Sommer. Es half außerdem überhaupt nicht, dass es brütend heiß war und sich noch weiter aufzuheizen drohte. In den Zeitungen schrieben sie vom Jahrhundertsommer und es kühlte sich in ihrer Dachwohnung auch spät in der Nacht nicht mehr vernünftig ab.
Sogar Jan stellte Teile seines Sportprogramms ein oder verlegte sich auf Wassersport. Er war schon unverschämt braun und lag die meiste Zeit am Tage mit irgendwelchen Lehrbüchern im Halbschatten auf dem Balkon, am Badesee oder im Freibad und döste, um dann die halbe Nacht irgendwo wild Party zu machen, oder Thilo bei Lernpaniken zu helfen. Nicht selten kam Jan auch erst am Morgen zurück, nachdem er bei Holger, Thilo, oder sonst noch wem, übernachtet hatte.
Kai durfte nicht dösen und wollte nicht Party machen oder bei Paniklerntreffen in der Nacht mitmachen. Er musste erst einmal daran arbeiten, weiter obenauf zu sein. Die verdammte Welle trug ihn zwar, aber genau wie beim Surfen hatte er den Verdacht, dass er sich ziemlich bald auf Tauchkurs befinden könnte. Außerdem machten ihm die Haie Sorge, die ihn dichter und dichter umkreisten.
Einer dieser Haie hatte die Form seines ehemaligen Mitbewohners Lolli, der nach und nach genau wie Tini, ihren Keller mit seinem Müll vollramschte. Jiffi und er hatten sich auf ein Limit an überaus wichtigen Dingen geeinigt, die Lolli mitnehmen durfte und dieses Limit schöpfte er auch vollkommen aus. Wenn er es nicht gar deutlich überzog.
Zu aller Glück konnte Lolli wegen der sehr unterschiedlichen Formate der Betten seine Kollektion Bettwäsche nicht mehr brauchen und erhielt von Jiffi das Verbot, die Bettwäsche als Stoff für die Herstellung andere kreativer Dinge oder einfach nur zum Aufbewahren mitzuschleppen. Und es traf sich noch viel besser, dass Frank sich just von seinem neuen Freund trennte. Dies ging für Frank nicht nur mit Gezeter, Geschrei und Geheule ab, wie es bei Lolli passiert war. Der neue Ex machte Frank wohl noch auf ganz anderem Niveau die Hölle heiß. Dazu gehörte auch, dass Frank eines frühen Morgens von einem Partywochenende heimkehrte, um seine Wohnung vollkommen leer vorzufinden. Möbel und Bettwäsche, sogar Teile seiner Musik- und Comicsammlung waren über das Wochenende an eine soziale Einrichtung gespendet worden.
Lolli lachte ziemlich mies darüber und verlieh dem Ex einen Schlussmachorden, obwohl er damals, als der Typ zu dem Bruch zwischen ihm und Frank geführt hatte, noch jeden seiner Körperteile einzeln verwünscht hatte. Außerdem erinnerte Lolli Frank sehr mies daran, dass sogar die Meiersche das Grundgesetz des Schlussmachens, nämlich das neue Wohnungsschloss, schon begriffen hatte. Es brachte Lolli in den Genuss seinem Ex gegenüber großzügig sein zu können, ihn trösten zu können und zugleich ihn kräftig auszulachen.
Nachdem Frank die Polizei, eine Tante vom Sozialamt und eine Umzugsgesellschaft beschäftigt hatte, bekam er seinen Teppich, sein Bett, den Fernseher und das Sofa zurück. Die anderen Sachen waren schon in düstere Kanäle verschollen. Vorneweg die Bettwäsche. Komplett.
Glücklich und ein wenig hämisch grinsend hatte Lolli seinem Ex daraufhin seine Sachen überlassen. Frank musste sich das Zeug allerdings allein raussuchen, weil Lolli das Wochenende bei Jiffi in London zubrachte und außerdem ohnehin keinen Finger in dieser Angelegenheit krümmen wollte. Natürlich schickte er Frank nicht, ohne Kai damit zu beauftragen, mal rasch dies und das aus dem Keller zu suchen... 'Sei ein Schatz, du süße Maus'. Es kostete Frank und Kai eine Stunde und brachte Kai in den Besitz aller Details zu dem Krach zwischen Frank und diesem offensichtlich kreativ gemeinen Typen.
Einen Tag später hockte Kai deswegen noch immer sauer im Wohnzimmer und wurde von Lolli überrascht. Jiffi kam vorbei, bedankte sich für die Einladung, die Kai mit bösem Blick an Lolli, kommentierte und zog nach einer Visite der Wohnung, die er ganz und gar 'darling' und 'wonderful' fand, samt Lolli ab, um im Keller zu sortieren, zu Sozialkaufhäusern, einem Second-Hand-Laden in der Altstadt und einem weiteren Flohmarkt zu fahren, um die schiere Masse an Kitsch und Nutzlosem noch weiter einzudampfen.
Kai fühlte sich, trotz der wenigen Momente, nicht wohl mit dem Besuch. Sein Englisch war miserabel, Jans leider nicht. Also durfte Kai Lolli, Jiffi und einem durch und durch entspannten Jan morgens bei fröhlichen Unterhaltungen zuhören und verstand kaum ein Wort. Gereizt verbrachte er die Tage in seinem Zimmer zum Lernen. Leider mit offenstehender Tür, weil der Sommer mächtig zuschlug.
Es war eigentlich zu heiß für solcherlei Dinge. Aber, das musste man Jiffi wirklich lassen, der Typ packte an. Morgens um halb acht, wenn Kai sich gähnend aus dem Bett wälzte und Jan, der noch nicht lang darin lag, einen missmutigen Blick zuwarf, hatten Jiffi und Lolli bereits gefrühstückt, den Lokalteil von Jans Zeitung auf wohltätige Organisationen durchgesehen, die vielleicht was von dem Zeug von Lolli brauchen konnten und waren, nachdem sie aufgeräumt hatten, aus der Wohnung verschwunden.
Jan mochte Jiffi wegen seines Talents, die Wohnung blitzblank zu hinterlassen. Lolli hatte deswegen ein wenig Angst. Als Kai die beiden am Abend vor Tinis Rückkehr auf dem Balkon antraf, müßig und erschöpft dabei, ein paar Selbstgebaute zu rauchen und Musik zu hören, zog Lolli Kai in der Küche beiseite und zischelte ihm ängstlich zu. "Jiffi ist so... so..."
Kai sah sich wohlwollend um. "Ordentlich?"
"Pedantisch und putzwütig!" Lolli raufte sich die Haare und schob die Hände in die Taschen seiner Shorts. "Ich bin doch so ziemlich das Gegenteil, oder nicht?"
"Hm. Aus Erinnerung und Erfahrung kann ich sagen: ja." Kai machte sich einen Milchkaffee mit viel kalter Milch und stellte den restlichen Kaffee in den Kühlschrank. Eiswürfel waren noch genug da und Jan hatte vom letzten Einkauf eine ganze Wassermelone mitgebracht, die den restlichen Kühlschrank blockierte. Seufzend begann Kai das Riesenteil aufzuschneiden. "Hast du seine Wohnung in London noch nicht ausreichend vollgeramscht?"
"Er lässt mich nicht!" Lolli seufzte und aß Melonenstücke mit fast demselben Tempo, mit dem Kai sie herstellte. "Es ist ein Zweiraum-Apartment in einer derart süßen kleinen Ecke, dass mir immer die Luft wegbleibt. Die Straße rauf ist ein schwules Café und die Läden und Werkstätten und der kleine Park gegenüber sind perfekt, ich fühl mich dort wie im Himmel und zugleich Zuhause. Aber in der Wohnung stehen seine Sachen und es ist ein abgezirkelter Bereich für meinen Computertisch freigeräumt, genau eine Seite im Badezimmerschrank. All meine Ideen und Sachen, meine Inspiration muss auf dem Dachboden bleiben!"
"Und? Kann man den irgendwie ausbauen oder so?" Kai stellte sich Lolli in den Weg, um selber auch mal Melone abzubekommen. Hinter ihm blieb es merkwürdig still. Überrascht blickte er sich um. "Ist was?"
"Ich hab Angst vor London, aber zugleich wünsche ich mich dorthin wie..., du weißt schon."
"Wieso Angst? Toller Job, tolle Wohnung, toller... äh... Jiffi. Fehlt dir was?" Kai hielt Lolli das Messer vor die Brust, um ihn daran zu hindern, weiter Melone wegzufressen.
Lolli blickte zu Jiffi auf die Terrasse rüber, der aufgeraucht hatte und sich erschöpft auf der Sonnenliege ausgestreckt hatte. "Er ist so so so niedlich und süß und lieb, aber... aber fast wie du ein wenig."
Kai folgte Lollis Blick. Jiffi lag mit weißem, ärmellosen Hemd und einer weißen Shorts bekleidet auf der Liege und machte einen überaus britischen und zugleich ordentlichen Eindruck. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten, im Nacken perfekt rasiert und mit etwas Gel vorn gebändigt. Tante Hella hätte adrett gesagt. Sein Gesicht wirkte ein wenig spitz und müde, aber Jiffis Finger huschten effizient und geübt über sein Handy. Er hob in diesem Moment den Blick und lächelte Lolli zu.
Kai sah hastig weg. "Wie ich?"
"Hm. Immer alles perfekt."
"So?"
"Der bügelt sogar die Bettwäsche und die Geschirrtücher."
"So?" Das tat Kai auch und fand es nicht sonderlich ungewöhnlich.
"Ach ja...", Lolli beäugte ihn kurz skeptisch: "Hab kurz vergessen, mit wem ich da rede." Deprimiert raufte er sich die Haare: "Und er denkt an alles! Es ist direkt unheimlich und...", Lolli senkte die Stimme, "… wir haben noch immer keinen Sex."
"Hä?"
"Keinen richtigen meine ich." Lolli piekte Kai in die Seite. "Nicht so wie du zu allen Tages- und Nachtzeiten jedenfalls."
Kai wurde rot und erinnerte sich daran, dass Jan ihn in der letzten Nacht so gegen vier Uhr geweckt hatte, weil er scharf auf ihn von einer Strandparty zurückgekommen war. Und gleich wie müde Kai gewesen war, Jan hatte ihn herrlich davon überzeugen können, dass Sex auch morgens um halb fünf eine super Idee war. Leider war Kai danach auf dem Weg zum Bad Lolli begegnet, dessen Wecker wegen Jiffis unmöglichen Flugzeiten um fünf Uhr geklingelt hatte.
Grummelig verschränkte Kai die Arme und sagte dann im Befehlston: "Sag ihm, dass dir das wichtig ist oder so und lass mich damit in Ruhe! Ich geh lernen." Hastig nahm Kai die Schale mit Melonenstücken und stapfte in sein Zimmer davon.
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