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You've got a friend
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Informationen
- Story: You've got a friend
- Autor: Joachim
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Luis
- Markus
- Luis
- Markus
- Luis
- Markus
- Luis
- Markus
- Sebastian
- Markus
- Luis
- Sebastian
- Markus
- Luis
- Epilog
Vorwort
Die echte Meldung aus einer Berliner Zeitung vom 26.08.2012:
Am Eingang zum Volkspark Friedrichshain wehrte sich ein 16-Jähriger gegen einen Überfall. Gegen 0.10 Uhr war der Jugendliche von einer Dreiergruppe in der Danziger Straße nach der Uhrzeit gefragt worden. Plötzlich nahm ihn der 15-jährige Intensivtäter von hinten in den Schwitzkasten und verlangte seine Wertsachen. Doch der 16-Jährige zog ein Messer, stach zu und konnte die Polizei rufen. Der verletzte Räuber wurde in ein Krankenhaus gebracht und sofort operiert, Lebensgefahr besteht nicht mehr.
Und eine fiktive Geschichte dazu:
Luis
Nennen wir ihn Luis, 15 Jahre alt, aus Berlin Neukölln. Er hatte es nicht leicht im Leben: Eltern geschieden, Vater nie kennengelernt und noch drei Geschwister, Hartz IV machte das Schicksal komplett. Ein anonymer Plattenbau ist die Heimat von Luis, dort hat er immer schon gewohnt und seine wenigen Freunde lebten auch dort. Freunde, das waren ähnliche Schicksale wie er. Früh hatte er gelernt, dass er keine Chance hatte, aus diesem Teufelskreis heraus zu kommen. Die Mutter war mit den 4 Kindern hoffnungslos überfordert. Ihre Wohnung war nur spärlich eingerichtet. Luis hatte Träume: Er wollte Kraftfahrer werden und dann durch die Welt fahren. Die anderen Städte oder Länder kannte er nur aus dem Fernseher, der den ganzen Tag lief, weil seine Mutter nicht arbeitete und nur rauchend vor der Flimmerkiste saß. Die Kinder waren die meiste Zeit sich selbst überlassen. Luis war der Älteste und musste sich um alles kümmern. Da blieb bei drei kleineren Geschwistern kaum Zeit für ihn selbst. Oft stand er abends, wenn seine Geschwister im Bett waren und seine Mutter vor dem Fernseher saß, auf dem Balkon im 12.Stock ihrer Wohnung und schaute sehnsüchtig in die Ferne. Er war alles andere als glücklich und ein wenig neidisch auf seine Mitschüler, die in besseren Verhältnissen aufwuchsen als er. Er beobachtete in der Dunkelheit die gegenüber liegenden, hell erleuchteten Fenster. Dann überlegte er, ob die Menschen wohl ähnliche Schicksale hatten. Er träumte oft davon, wie es wohl wäre, in eine intakte Familie hinein geboren worden zu sein. Kino, schwimmen, Fußball spielen in einem Verein, Klassenkameraden zum Geburtstag einladen, Taschengeld oder vielleicht sogar ein eigenes Zimmer – tja, das alles kannte er nur von Erzählungen seiner Mitschüler. Dort in der Schule hatte Luis keine Freunde. Er war Außenseiter. Wer will schon was mit einem Asozialen zu tun haben? Einige ließen ihn das auch immer mal wieder spüren. Er versuchte, die Schule so gut es ging hinter sich zu bringen. Schularbeiten machte er selten, nicht, weil er keine Lust hatte, sondern weil er keine Zeit hatte. Nach der Schule einkaufen, um dann für die kleinen Geschwister was zu essen zu kochen. Wenn Luis nach der Schule nach Hause kam und er Stimmen hörte, hieß das lediglich, dass seine Mutter nicht mehr im Bett lag, sondern dass sie es schon auf die versiffte Couch geschafft hatte. Er musste öfter Essen kochen und aufräumen. Nach und nach kamen dann auch seine Geschwister aus der Schule und hatten wie seine Mutter Hunger. Meistens gab es Spaghetti mit Tomatensoße oder Ravioli aus der Dose, selten Gemüse oder Obst. Luis war für sein Alter schon recht selbstständig. Wenn er das nicht alles machen würde, wären er und seine Geschwister längst in einem Heim gelandet. Er hing aber sehr an seinen Geschwistern und wollte genau das verhindern. Mit seiner Mutter hingegen hatte er oft Streit. Sie fand ihn zu faul und drohte, ihn aus der Wohnung zu schmeißen. Manchmal war er dann auch gegangen, aber nur drei Etagen tiefer zu seinem Kumpel Thomas. Der hatte es besser. Er war Einzelkind und wurde von seinen Eltern verwöhnt. Die mochten Luis nicht so sehr und redeten ihrem Sohn oft zu, er solle sich doch bessere Freunde suchen. Aber Thomas hielt immer zu Luis. Sie hatten den gleichen Traum: Fernfahrer. Von Thomas hatte Luis auch diese Leidenschaft für die Ferne. Gemeinsam hatten sie oft DVDs geschaut. Immer dieselben: „Auf Achse“, eine alte Trucker Serie aus den 80ern. Die Hauptdarsteller reisten durch die ganze Welt und erlebten die spannendsten Abenteuer. Wie Franz Meersdonk und Günther Willers, so die Namen der beiden Hauptdarsteller, wollten Luis und Thomas auch durch die Welt fahren, weg aus diesem tristen Wohnsilo mit den endlos scheinenden Problemen. Oft verbrachten die beiden die warmen Sommerabende auf dem Dach ihres Hauses. Sie hatten den Trick raus, wie man die Tür verbotenerweise öffnen konnte. Dann lagen sie lange nebeneinander auf dem Dach und schauten in die sternenklare Nacht. Das war das Highlight für Luis. Thomas war, da seine Eltern Arbeit und Geld hatten, in einem Fußballverein und dort recht erfolgreich. Zudem fuhr die Familie zwei Mal im Jahr in den Urlaub: Im Sommer für zwei Wochen an die Nordsee und im Winter für eine Woche in die Berge zum Skifahren. Thomas erzählte dann, was er so erlebte. Luis machte das immer traurig, weil auch er gerne mal in den Urlaub gefahren wäre. Er hatte bisher weder das Meer noch die Berge gesehen, das kannte er alles nur aus Büchern, dem TV, oder von den vielen Bildern, die Thomas ihm immer zeigte und dabei die tollsten Geschichten erzählte.
Dann kam der Tag, als für Luis eine Welt zusammen brach. Thomas erzählte ihm, dass er mit seinen Eltern nach Bayern ziehen würde, da sein Vater bei BMW einen guten Job erhalten hatte. Luis war nicht fähig zu reagieren, geschweige denn, etwas zu sagen. Er brach in Tränen aus und lief weg.
Warum? Warum musste sein Vater ausgerechnet in Bayern einen Job bekommen? , sagte er sich. In Berlin gibt’s doch auch genug Arbeit. Außer für seine Mutter, die erzählte immer, das sie sich zu schade war, für so wenig Geld zu malochen. Luis lief nach oben aufs Dach, setzte sich in eine Ecke und weinte bitterlich. Ausgerechnet Thomas. ‚Was wird denn jetzt aus mir‘, ging Luis die ganze Zeit durch den Kopf. Es wurde langsam dunkel. Er blickte verheult und immer wieder schniefend in den Himmel. Was sollte er denn noch hier, wenn ihn jetzt sein einziger Freund verließ? Ihm wurde klar, dass er mehr als nur ein Freund war. Luis hing sehr an dieser Freundschaft. Es war schon lange dunkel, als er plötzlich Schritte hörte. Er drehte sich in die Richtung, aus der er die Schritte hörte, und sah Thomas auf ihn zu kommen. Er setzte sich neben ihn.
„Wann zieht ihr denn nach Bayern?“
„Morgen.“
Luis drehte sich blitzartig zu Thomas um und sagte ein wenig zu laut:
„Morgen? So plötzlich schon?“
„Ich weiß es seit 4 Wochen. Habe mich aber nicht getraut, es dir zu sagen.“
Lang saßen die beiden auf dem Dach und blickten schweigend in die Ferne. Luis durchbrach dann das Schweigen.
„Thomas, für mich bist du immer der beste Freund, nein, du bist der einzige Freund, den ich je hatte. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber ich glaube …..“
Luis sprach nicht weiter, weil er weinen musste. Thomas rutschte näher an ihn heran und legte seinen Arm um Luis.
„Ach Luis, ich wünschte, du könntest mit nach Bayern ziehen. Ich werde dich auch sehr vermissen.“
Thomas fing jetzt auch an zu weinen. Er hatte sich schon die letzten Tage, als sich das mögliche Ende Ihrer Freundschaft abzeichnete, nachts im Bett in den Schlaf geheult. Jetzt war der letzte gemeinsame Abend und er wollte Luis noch etwas Wichtiges sagen, etwas sehr Wichtiges, auch wenn er dadurch die Freundschaft zu Luis womöglich zerstören würde, was ja jetzt sowieso egal war.
„Du Luis ...“, fing Thomas leise an zu erzählen „...ich muss Dir noch was ganz Wichtiges sagen, auch wenn du mich dann vielleicht hassen wirst. Es ist nicht leicht für mich, aber da ich morgen Berlin leider verlassen werde, wollte ich dir noch was ganz persönliches erzählen…“
Luis blickte fragend in Thomas Richtung. Thomas atmete tief ein und sagte dann ganz leise „Luis, ich … ich … Scheiße …...... ich habe mich in dich verliebt“
Luis blickte die ganze Zeit zu Thomas, ohne sich zu regen. Was hatte Thomas da gerade gesagt?
„Was? Wie meinst du das. Warum? …. Wie du bist …Waaas?“
Luis verstand erst jetzt, was ihm Thomas da gesagt hatte. Dieser sprang auf und lief Richtung Tür. Was war denn das jetzt? Noch ehe Luis etwas sagen oder überhaupt reagieren konnte, war Thomas auch schon weg.
„Thomas, warte!“
Luis sprang auf und versuchte, ihm zu folgen. Dabei lief er das Treppenhaus runter, fand ihn aber nicht mehr. Er klingelte bei Thomas Eltern, aber es machte niemand auf. Auch sein Klopfen und Wummern gegen die Haustür wurde nicht erhört. Es rührte sich nichts. Luis lehnte sich mit dem Rücken an die Wohnungstür und ließ sich daran heruntergleiten. Dann zog er seine Beine an, umschlang sie mit seinen Armen und vergrub sein Gesicht darauf. Er dachte über den Satz von Thomas nach.
´Ich habe mich in dich verliebt´.
Je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam die Gewissheit, dass auch er mehr, viel mehr als nur Freundschaft für Thomas empfand. Das muss es sein. Er hatte ihn immer gerne in seiner Nähe, und wenn er Stress mit seiner Mutter hatte, war Thomas für ihn da, war von seinen Erzählungen nie genervt. Thomas hatte immer einen guten Ratschlag für ihn. Und wenn er sich dann wieder von ihm verabschiedete, war da immer so ein komisches Gefühl.
`Liebe ich ihn auch? ‘, ging es Luis immer wieder durch den Kopf.
Das Licht im Treppenhaus war schon lange ausgegangen, als er plötzlich Schritte hörte.
„Thomas, bist du das?“
Die Schritte verstummten. Luis raffte sich auf, um den Lichtschalter zu betätigen. Als das Licht anging, stand Thomas auf einmal auf halber Treppe vor ihm. Er hatte rote Augen vom Weinen. Beide sahen sich lange an. Luis saß schon wieder zusammengesunken vor der Haustür, als Thomas festen Schrittes auf ihn zukam, sich vor ihn stellte, die Wohnungstür aufschloss, über Luis hinweg stieg, um dann die Wohnungstür hinter sich wieder zu verschließen. Luis raffte gerade nicht so richtig, was da gerade ablief. Er drehte sich um, um gegen die Tür zu wummern.
„Thomas, mach bitte die Tür auf!“
Langsam öffnete sich diese. Thomas stand tränenüberströmt da, seinen Kopf gesenkt und sich die feuchten Wangen mit seinem Hemdsärmel trocken wischend.
„Was willst du denn jetzt noch von mir. Bitte lass mich alleine. Mach es mir doch nicht noch schwerer.“
„Thomas, was du mir vorhin auf dem Dach sagtest, war das dein Ernst?“
„Luis, geh lieber, anstatt mich jetzt auch noch fertig zu machen.“
„Hey, jetzt lass mich bitte rein. Ich muss dir auch was sagen Thomas. Bitte!“, flehte Luis jetzt.
„Ok, komm rein, aber wenn du dich über mich lustig machen oder mich beschimpfen willst, dann solltest du jetzt besser gehen.“
Luis ging zu Thomas in die Wohnung und verschloss die Haustür hinter sich. Nach einer Weile Schweigen von beiden Seiten lehnte sich Luis an die Haustür und sprach leise „Ich … ich dachte, ich wäre der Einzige, der so fühlt...“ und blickte dabei die ganze Zeit auf den Boden.
„Was hast du da gesagt?“
Luis schaute jetzt in Thomas‘ Gesicht.
„Ich glaube, dass …. dass ich dich auch liebe. Ich weiß nicht so genau. Immer, wenn ich in deiner Nähe bin, habe ich so ein komisches Gefühl im Bauch. Und wenn ich nur an dich denke, möchte ich innerlich Luftsprünge vollführen. Hätte ich vorher gewusst, dass das Liebe sein muss, dann …. dann …“
Weiter kam Luis nicht mehr, weil Thomas sich vor ihn stellte und langsam mit seinem Mund immer näher kam. Ihre Lippen berührten sich erst ganz zaghaft, um dann immer fordernder zu werden. Thomas legte seinen Arm um Luis, um ihn näher an sich zu ziehen. Luis gab diesem Druck nach und legte seinerseits seine Arme um Thomas Hüften. Sie küssten sich immer intensiver.
Dann zog Thomas Luis in Richtung seines Zimmers. Sie küssten und streichelten sich überall und begannen langsam, sich auszuziehen.
Viel später lagen sie nackt in Thomas‘ Bett und schliefen beide, als plötzlich die Haustür aufging. „Scheiße, das müssen meine Eltern sein. Los, schnell, zieh dich an, Luis.“
Thomas Mutter kam, ohne anzuklopfen, in Thomas Zimmer.
„Hallo Thomas, wir sind wieder ….. was ist denn hier los? Günther, komm mal schnell. Güüünther! Was …. was soll das? Was machst du hier mit unserem Sohn? ..... Günther, nun mach schon!“
Hastig zogen Thomas und Luis sich an. Jetzt stand Günther neben seiner Frau. „Was macht ihr da?“
„Ich … ich … was kommt ihr überhaupt ohne anzuklopfen in mein Zimmer!“, brüllte Thomas plötzlich los.
„Mäßige deinen Ton Freundchen. Und DU, verlass augenblicklich unsere Wohnung!“, schimpfte Thomas Mutter, in Luis‘ Richtung blickend. Luis nahm seine Socken und Schuhe in die Hand und wollte gerade an Thomas Eltern vorbei, als Thomas ihn am Arm festhielt
„Bleib noch einen Augenblick, Luis. Ich habe meinen Eltern was zu sagen. Bitte!“
„Sofort raus hier!“, schrie Thomas Mutter Luis an. Wenn Blicke töten könnten…. Luis blickte sich noch einmal traurig zu Thomas um, der jetzt ganz verlassen da stand und ihn, den Tränen nahe, verzweifelnd und hilfesuchend anschaute. Das war das letzte Mal, dass er Thomas gesehen hatte.
Als Luis am nächsten Tag bei Thomas klingeln wollte, stand die Tür offen und Möbelpacker räumten bereits die Wohnung aus. Thomas war mit seiner Mutter am frühen Morgen Richtung Bayern aufgebrochen. Nur sein Vater war noch in der Wohnung und dirigierte die Möbelpacker, als er Luis traurig in der Tür erblickte. Er sah ihn zunächst zornig an, um dann doch auf ihn zuzugehen. Luis nahm eine Kampfhaltung ein, weil er nicht wusste, wie Thomas Vater wohl reagieren würde. Er blieb kurz vor Luis stehen und drückte ihm ein Päckchen an die Brust.
„Hier, das soll ich dir von Thomas geben. Und jetzt störe hier nicht weiter. Los, hau schon ab!“
Mit gesenktem Kopf und schluchzend drehte sich Luis um, setzte sich auf die Treppe und fing an zu weinen. Thomas´ Vater sah ihn lange an, dann ging er ein paar Schritte auf Luis zu und setzte sich schnaubend neben ihn auf die Stufen.
„Du musst ihn vergessen. Zuerst tut es noch weh. Eines Tages wirst du nicht mehr an ihn denken.“
Er klopfte und streichelte Luis dabei ganz sanft auf die Schulter. Krampfhaft hielt Luis dabei das Päckchen von Thomas fest.
„Er war mein bester Freund. Jetzt habe ich hier niemanden mehr. Ich werde ihn nie, nie vergessen.“
„Wart ihr beiden schon länger ein Paar?“
„Nein, wir haben uns erst gestern unsere Gefühle gestanden“
„Oh je, kaum zusammen und dann schon wieder auseinander gerissen. Das ist schwer. Aber ihr seid noch jung. Du findest bestimmt bald wieder jemanden.“ Luis stand auf und ging langsam die Treppe hoch, drehte sich dann noch einmal um.
„So jemand besonderes wie Thomas findet man nur einmal im Leben“, und sah in das Gesicht eines traurigen Mannes, der sich wohl gerade eingestehen musste, dass er mit seinem Jobwechsel die erste Liebe seines Sohnes auf dem Gewissen hatte. Schweigend ging Luis die Treppen hoch, öffnete die Tür und ging in sein Zimmer.
Auf dem Bett sitzend, schaute sich Luis das Päckchen an, auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand > Für meinen besten Freund < Langsam und mit zittrigen Händen öffnete Luis das Päckchen. Er nahm den Brief heraus und begann zu lesen, was Thomas ihm schrieb:
Mein lieber Luis,
ich weiß nicht was ich dir schreiben soll. Es ist jetzt 2:00 Uhr und ich liege immer noch wach. Die ganze Zeit muss ich an dich denken. Der gestrige Abend mit Dir war wunderschön. Nie hatte ich einen Freund wie dich. Ich weiß nicht, wie ich in Bayern ohne dich leben soll. Ich habe gestern noch lange mit meinen Eltern über uns geredet. Papa fand es nicht so schlimm, dass ich wohl schwul bin. Nur Mama hat immer wieder rumgemeckert. Aber das hast du ja auch noch mitbekommen. Mama wäre am liebsten sofort mit mir nach Bayern losgefahren, aber Papa konnte sie dann doch davon abhalten. Aber gleich morgen will sie recht früh los. Papa fährt später mit den Möbelspediteuren. Eigentlich wollte ich ja mit denen fahren. Ich hatte mich schon so gefreut. Endlich mal mit einem großen LKW fahren. Manchmal ist Mama echt blöd.
Ich hätte mich noch so gerne richtig von dir verabschiedet. Bitte Luis, versuch mich zu vergessen. Du wirst eines Tages einen Freund finden, der dich verdient hat. Ich werde dich auf jeden Fall nie vergessen. Wir hatten eine schöne Zeit, und wenn ich nicht so feige gewesen wäre …
Du bleibst für immer ein Teil von mir.
Ich werde dich immer lieben.
Dein Thomas
In dem Päckchen lag noch die DVD-Box ihrer Lieblingsserie ‚Auf Achse‘ bei. Als Luis sie in den Händen hielt, brach er in Tränen aus. Wie oft hatten sie die Folgen zusammen gesehen. Auch lag noch eine CD bei. Darauf war Thomas Lieblingslied von Bette Midler >The Rose<. Das war ab sofort auch Luis Lieblingslied. Und immer, wenn er diesen Song hörte oder er im Radio gespielt wurde, dachte er an seine erste Liebe: Thomas.
Die Zeit verging und Luis fand neue Freunde. Wobei: „Freunde“? Peer und Dragan waren kein guter Umgang für Luis. Aber er wollte vergessen, und da kamen ihm die beiden gerade recht. Sie überfielen alte Leute wegen 20 € oder zogen Mitschüler ab und erpressten sie. Oft wurden sie von der Polizei geschnappt. Seine Mutter setzte ihn dann vor die Tür, und so wohnte er erst heimlich bei Peer im Keller, auf der Straße oder in alten Abrisshäusern.
Sie zogen weiter gemeinsam durch die Straßen, als sie im Volkspark Friedrichshain wieder auf ein vermeintliches Opfer trafen. Doch dieses Mal sollte die Sache eskalieren.
Dragan fragte einen Jungen nach der Uhrzeit, um ihn abzulenken. Blitzschnell nahm Luis den überraschten Jungen von hinten in den Schwitzkasten und verlangte dessen Wertsachen. Das Opfer wehrte sich und griff in seine Jackentasche. Es war kein Handy, das er dann in der Hand hielt. Mit einer plötzlichen Handbewegung drehte der Junge sich und stach Luis ein Messer in den Bauch. Schreiend ließ Luis das Opfer los und griff sich an den Bauch.
Blut, überall Blut.
Peer und Dragan standen erstarrt da und guckten entsetzt zu Luis. Dragan kam als erstes wieder zu sich, stupste Peer an.
„Los, lass uns verschwinden!“
Und schon waren die beiden nicht mehr gesehen. Luis fiel wimmernd auf die Knie und hielt sich die Hände vor den Bauch. „Scheiße, ich blute“, stammelte er in Richtung des überfallenen Jungen. Dieser tat geistesgegenwärtig das einzig Richtige, zog sein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf. Luis lag bereits auf dem Boden und wimmerte nur noch, es bildete sich eine Blutlache. Der Junge kniete sich vor Luis und sprach aufgeregt
„Scheiße, der Rettungswagen ist gleich da. Mach jetzt nicht schlapp. Ich will nicht wegen Mordes in den Knast.“
„Tut mir leid!“, flüsterte Luis nur noch.
Von weitem war schon der Rettungswagen zu hören.
„Tu mir jetzt einen Gefallen und bleib ruhig liegen. Ich weise schnell den Rettungswagen ein. Bitte jetzt nicht sterben, hörst du?“
„Versprochen!“, hechelte Luis nur noch. Er hatte bereits Blut im Mund. Luis musste an Thomas denken. Das war das letzte, was er wahrnahm. Dann wurde alles schwarz um ihn.
Markus
Endlich Wochenende. Ich wollte heute mal wieder mit meinen Freunden auf die Piste. Wir hatten uns für 23.30 Uhr im Volkspark Friedrichshain verabredet. Ich war mal wieder spät dran. Wenn die Klamottenwahl nicht immer so schwer wäre. Mein Gott, je mehr man im Schrank hat, umso schwieriger die Entscheidung. Leider musste ich, wenn ich noch so halbwegs pünktlich sein wollte, durch den Volkspark laufen. Das wird bestimmt die Hölle. Nein, eigentlich bin ich kein Angsthase, aber vor fast zwei Jahren bin ich im Volkspark mal überfallen worden. So ein paar Blödköppe hatten sich wohl den Spaß erlaubt, ahnungslose Leute aus den Gebüschen heraus zu erschrecken. Da ich dabei in Panik geriet, haben diese Idioten mich dann zusammen geschlagen. Als ich wieder zu mir kam, waren Handy und Geld weg. Ich erstattete Anzeige bei der Polizei. Die Täter wurden aber nie gefasst. Ich hörte von weiteren Fällen mit dieser Masche, manche haben aus Angst oder falscher Scham keine Anzeige erstattet. Tja, seitdem meide ich den Volkspark um diese Uhrzeit.
Dieses eine Mal, dachte ich mir, wird schon nix passieren. Außerdem hatte ich ja zur Abschreckung mein neues Messer dabei. Das machte mich sicherer.
Meine Freunde kannten meine Angewohnheit, zu spät zu kommen, weshalb alle die richtige Uhrzeit gesagt bekamen, und nur ich immer wieder mindestens 30 Minuten früher zu Treffpunkt bestellt wurde. Viele kennen bestimmt die 'Akademische Viertelstunde', für mich wurde sogar eine 'Halbe Stunde' daraus gemacht. Ist doch nett von meinen Freunden, oder? Ich sagte dann immer, wer euch als Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Wir waren ein eingeschworenes Team, hatten viel Spaß. Tja, alle hatten die tollsten Mädchengeschichten zu erzählen, nur ich hatte so etwas noch nicht vorzuweisen. Was wohl daran lag, dass ich Mädchen nicht sooo spannend fand wie, wie zum Beispiel: Jungs. Ja, ihr hab’s gemerkt, ich bin schwul, (den ‚und das ist auch gut so‘-Spruch verkneife ich mir jetzt mal), ich war in dieser Hinsicht sehr verklemmt. Bis vor kurzem war ich mir auch noch nicht so sicher. Z.B. schaute ich im Sportunterricht heimlich meine Mitschüler beim Duschen und Umziehen an. Oder im Sommer im Freibad gab's von mir immer wieder Blicke Richtung diverser Jungs. Dabei musste ich immer darauf achten, dass mein kleiner Freund nicht aufgeweckt wurde und stolz vor mir salutierte. Tja, das kam dann auch schon mal vor, dass mein Kleiner (das soll jetzt kein Rückschluss auf seine Größe sein) sich einfach verselbstständigte. Weder vor meinen Eltern noch vor meinen Freunden hatte ich mich bisher getraut, mich zu outen. Ich hatte Angst, ihre Freundschaft zu verlieren, wenn sie damit ein Problem bekommen hätten.
Also, ich lief zügig auf den Volkspark zu, um ihn auf schnellstem Weg zu durchqueren.
„Hey, du, könntest du mir bitte mal sagen, wie spät es ist?“, kam mir ein Junge entgegen.
„Klar, Moment“, antwortete ich, um nach meinem Handy zu suchen. Wohlerzogen, wie ich nun einmal bin; wer nett fragt, bekommt auch eine Antwort.
Dann ging es blitzschnell. Von hinten wurde ich plötzlich angegriffen und sofort in den Schwitzkasten genommen. Panik machte sich bei mir breit. Ich wurde an den Überfall von damals erinnert. Meine Hand noch in der Hosentasche, das Handy suchend, ergriff ich spontan und ohne groß zu überlegen das Messer, und mit einer schnellen Bewegung zog ich es aus der Tasche und stach damit auf meinen Gegner ein, der mich noch immer fest im Griff hatte. Er schrie auf und ließ mich im selben Augenblick los. Ich strauchelte zu Boden und blickte in drei erschrockene Gesichter. Mein Peiniger griff sich sofort an den Bauch, wo ich ihn wohl getroffen haben musste. Er sah sich seine blutigen Hände an und sackte langsam auf die Knie. Ich bekam wie die beiden anderen Panik.
„Scheiße!“, flüsterte ich. „Was hab ich da bloß getan?“
„Los, lass uns verschwinden!“ war die erste Reaktion von einem der anderen beiden. Bevor ich noch irgendwas denken konnte, rannten sie auch schon los. Der verletzte Angreifer lag jetzt auf dem Boden und jaulte auf. Wie in Trance holte ich mein Handy aus der Tasche und setzte zitternd einen Notruf ab.
„Scheiße, der Rettungswagen ist gleich da. Mach jetzt nicht schlapp. Ich will nicht wegen Mordes in den Knast.“
Sprach ich verängstigt auf den vor mir liegenden Jungen ein. Der flüsterte nur noch ein „Tut mir leid!“
Von weitem hörte ich den Rettungswagen. Ich blickte mich um, aber es war weit und breit keine Person zu entdecken, die ich hätte ansprechen können, um mir zu helfen.
„Tu mir jetzt einen Gefallen und bleib ruhig liegen. Ich weise schnell den Rettungswagen ein. Bitte jetzt nicht sterben, hörst du?“, ich zitterte am ganzen Leib und mir wurde abwechselnd kalt und heiß. Ich blickte ihn noch einmal kurz an.
„Versprochen!“, japste er nur und spuckte schon ein wenig Blut. Hätte ich mir bloß damals nicht dieses blöde Messer gekauft. Aber meine Freunde hatten mir dazu geraten. Jetzt war es zu spät. Ich rannte schnell zur Straße auf den Rettungswagen zu und dirigierte ihn zu dem verletzten Jungen, der immer noch zusammen gekauert auf dem Weg lag. Mir wurde schlecht, als ich ihn so ruhig daliegen sah.
Ob er noch lebt?
Ich machte mir solche Vorwürfe, fing jetzt an zu weinen und sackte auf dem Weg zusammen. Dann kam alles raus. Ich konnte nicht mehr. Vier Sanitäter kümmerten sich um den Jungen und redeten irgendwelche Befehle durcheinander. Ich bekam kaum noch was mit. Irgendjemand stand plötzlich hinter mir, und legte seine Hand auf meine Schulter. Es war eine Polizistin. „Haben Sie was damit zu tun?“
Ich schaute sie mit Tränen in den Augen an und nickte nur.
„Stehen Sie bitte auf und folgen sie mir zum Wagen.“
Ich weiß nicht, wie ich dort hinkam, aber plötzlich saß ich im Polizeiauto.
„Na dann, erzählen Sie mal, was da passiert ist“
Ich schaute immer wieder schluchzend zu den Sanitätern, die sich noch um den Jungen bemühten.
„Ich, ich, … bin überfallen worden. Drei Personen, ich weiß nicht. Es….es ging alles so schnell. Erst fragten sie mich nach der Uhrzeit, und als ich dann mein Handy aus der Tasche holen wollte, bin ich von hinten angegriffen worden. Plötzlich hatte ich das Messer in der Hand und schon war’s geschehen.“
„Und wo ist das Messer jetzt?“
„Keine Ahnung, es müsste dort irgendwo liegen.“
„Kurt, such doch mal dort drüben nach einem Messer!“, sagte die Polizistin zu ihrem Kollegen.
Inzwischen hatte man den verletzten Jungen auf eine Trage gelegt und an eine Infusion angeschlossen. Ein Sanitäter kam zum Polizeiwagen und sagte zur Polizistin: „Wir bringen ihn ins Urban, er hat schon viel Blut verloren.“
Dann schaute er mit einem bösen Blick zu mir. Ich fing wieder an zu weinen, als sich der Sanitäter umdrehte, um schnellen Schrittes zum Rettungswagen zu kommen, der dann auch gleich losfuhr.
„Er darf nicht sterben. Hätte ich mir damals bloß nicht das Messer gekauft.“ „Damals? Was war da? Wollen sie mir das erzählen?“
„Ich bin vor fast zwei Jahren schon mal überfallen worden und hatte mir dann auf Anraten meiner Freunde das Messer zugelegt.“
Die Polizistin nickte nur und machte sich Notizen. Jetzt stand ihr Kollege wieder am Wagen und hielt uns eine Plastiktüte mit dem blutverschmierten Messer entgegen.
„Ist das dein Messer?“
Ich schaute nach unten und nickte nur.
„Ok, wir haben erst mal alles. Ich muss sie leider bitten mitzukommen. Wir müssen noch routinemäßig einige Dinge klären wie Fingerabdrücke und einen Alkoholtest.“
Abwesend nickte ich nur mit dem Kopf.
Ich ließ alles über mich ergehen. Später fragte ich dann, ob ich meine Freunde anrufen darf. „Später“, meinte sie nur, „Wir rufen jetzt erst mal ihre Eltern an, da sie noch keine 18 sind.“
„Haben sie Informationen, wie es dem Verletzten geht?“, fragte ich nach einiger Zeit.
„Ich darf ihnen eigentlich keine Auskunft geben, aber unser letzter Stand war, dass er noch operiert wird.“
„Danke!“, sagte ich nur kurz und betete, was sonst nicht meine Art war, dass er überlebt und alles wieder gut würde. Ich könnte nicht damit leben, einen anderen Menschen verletzt zu haben oder zu töten. Hätte ich doch nur damals daran gedacht, aber es regierte nur die Angst, nochmals überfallen zu werden. Dann kamen auch schon meine Eltern, um mich abzuholen. Es bestünde keine Fluchtgefahr, meinte die Polizistin. Wohin sollte ich auch flüchten? Mein Vater war ein wenig angepisst, dass ich wie ein Täter behandelt wurde, obwohl ich das Opfer war.
„Das muss noch geklärt werden. Wir ermitteln in alle Richtungen. Am besten bringen Sie ihren Sohn erst mal nach Hause.“
Ich verabschiedete mich von der netten Polizistin und verließ mit meinen Eltern das Polizeirevier.
Endlich zu Hause, legte ich mich sofort ins Bett. Ich wollte nur noch schlafen, bekam aber die ganze Zeit kein Auge zu. Immer wieder schaute meine Mutter nach mir und brachte mir was zu trinken. Irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Was habe ich da gestern bloß geträumt, dachte ich so bei mir.
„Guten Morgen, Markus“, meine Mutter kam ins Zimmer und setzte sich zu mir ans Bett.
„Geht es dir heute besser?“
Ich schaute sie fragend an.
„Hab ich das wirklich getan?“
„Mach dir keine Vorwürfe. Die haben Schuld! Nicht du!“
Ob der Junge überlebt hat?
„Mama, ich muss ins Urban, ich muss wissen, wie es dem Jungen geht.“
„Immer mit der Ruhe. Wenn du willst, begleite ich dich. Aber zuerst wird was gegessen. Ich backe schnell ein paar Schrippen auf, mach uns Kaffee und du duscht erst mal.“
„Ok, Mama.“
Später am Tisch sagte ich dann meiner Mutter, dass ich alleine gehen wolle.
Ich machte mich schnell auf den Weg ins Urban. An der Information erkundigte ich mich.
„Guten Tag, mein Name ist Markus Jäger. Ich würde gerne wissen, wo der Junge liegt, der letzte Nacht mit einer Stichverletzung hier eingeliefert wurde.“
„Sind Sie ein Angehöriger?“ Oh je, sollte ich ihm sagen, dass ich der Messerstecher bin? Ich weiß nicht mal seinen Namen.
„Ich bin sein Bruder. Sein Halbbruder.“
„Ach so, er liegt noch auf der Intensiv. Sie können noch nicht zu ihm.“
„Kann ich denn mit einem Arzt sprechen?“
„Ich denke schon. Station vier. Den Gang entlang rechts, den Fahrstuhl in die dritte Etage. Dann nach rechts zur großen Glastür. Dort müssen sie dann klingeln.“
„Danke.“
Es dauerte ewig, bis jemand an die Tür kam. Ich hatte Angst, dass sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten.
„Ja, junger Mann, was kann ich für sie tun?“
„Ich wollte zu dem Jungen, der letzte Nacht mit einer Stichverletzung hier eingeliefert wurde.“
„Oh, Stichverletzungen? Davon hatten wir letzte Nacht drei. Einer ist leider verstorben, dann sind da ein 60jähriger Mann und eine noch unbekannte Person. Ich wurde kreidebleich und mir wurde schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem abgedunkelten Raum. Was war denn jetzt los? Eine Tür öffnete sich leise.
„Ah, Herr Jäger, da sind sie ja wieder.“
„Hä?“, antwortete ich „Wo bin ich hier?“
„Sie waren vorhin vor der Intensiv einfach umgekippt.“
„Der, … der Junge der gestern hier eingeliefert wurde …… ist der verstorben?“, schaute ich ängstlich fragend in Richtung Schwester.
„Ich denke, du meinst Luis, der im Volkspark niedergestochen wurde? Der ist nach einer Not-OP außer Lebensgefahr. Du sagtest dem Herrn an der Information, dass du ein Halbbruder von Luis bist?“
„Na ja, das stimmt nicht so wirklich, jeder weiß, dass, wenn man nicht Angehöriger ist, keine Auskünfte erhält. Ich weiß nicht, ob ich es ihnen erzählen kann. Sie dürfen dann aber nicht böse werden.“
„Na, dann erzähl mal. Ich kann gut zuhören.“
Sie nahm sich ein Stuhl und setzte sich an mein Kopfende.
„Also, ich bin gestern im Volkspark überfallen worden. Und da das nicht das erste Mal war, hatte ich seitdem immer ein Messer dabei. Irgendwie hab ich dem Jungen, der mich von hinten angegriffen hat, in den Bauch gestochen. Es ging alles so schnell. Ich habe Angst, dass er Schäden davon trägt. Auch mache ich mir solche Vorwürfe.“
„Hey, du bist das Opfer. Du hast dich nur gewehrt. Das war dein Recht. Ob das mit dem Messer Konsequenzen haben wird, müssen die Richter entscheiden. War er alleine? Und wer hat den Rettungswagen gerufen?“
„Sie waren zu dritt. Die anderen beiden sind sofort abgehauen. Als ich dann merkte, was ich da angestellt hatte, rief ich sofort den Rettungswagen.“
„Das ist sehr gut. Du hast ihn zwar niedergestochen, weil du wohl in Panik Todesängste ausgestanden hast. Aber du hast ihm wohl auch das Leben gerettet. Also brauchst du dir keine großen Sorgen machen. Alles wird wieder gut“ - „Ich will’s hoffen. Ist es möglich, dass ich ihn besuchen darf?“
„Das geht leider nicht. Er liegt noch im künstlichen Koma, weil die Verletzungen so besser abheilen können. Er hat viel Blut verloren. Wie geht es dir eigentlich? Kannst du schon wieder aufstehen?“
„Ich denke schon“, sagte ich und richtete mich auf.
„Komm, wir gehen ins Schwesternzimmer, dort bekommst du noch einen kräftigen Kaffee und dann fährst du wieder nach Hause, ok?“
Ich nickte nur.
Nach dem Kaffee fragte ich die Schwester, wann Luis denn wieder aufwachen würde.
„Ich denke, so zum Wochenende.“
„Na, dann schaue ich noch mal vorbei, wenn ich darf.“
„Machen wir so. Melde dich bei Schwester Angelika, das bin ich. Aber du musst bis 15 Uhr dagewesen sein. Ich habe Frühdienst und anschließend das Wochenende frei.“
„Danke. Für den Kaffee, und danke, dass sie mir zugehört haben. Bis Freitag dann. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Dienst“, lächelte ich sie an und machte mich auf den Weg nach Hause.
Mir ging es jetzt, im Gegensatz zu heute Morgen, schon viel besser. Luis, dachte ich mir, welch ein schöner Name. Er ist übern Berg. Er heißt Luis. Ich musste unbedingt am Freitag wieder ins Urban.
Die Woche verging sehr schleppend. In der Schule versuchte ich, mich so gut es ging zu konzentrieren. Immer wieder musste ich an Luis denken. Luis, Luis, Luis. Ach, welch schöner Name. Hatte ich das schon erwähnt? Luis ist doch bestimmt nicht schwul. Und wenn doch, will er denn was mit demjenigen zu tun haben, der fast sein noch so junges Leben ausgelöscht hat? Obwohl, eigentlich hat er ja selber Schuld. Er hat mich schließlich angegriffen, und dann auch noch ganz feige von hinten und mit zwei Komplizen. Ach, ich mache mir zu viel Gedanken.
Endlich ist Freitag. Schule! Mist! Ich wäre am liebsten schon um 8 Uhr ins Urban gefahren anstatt in die Schule. Aber da ich mich nicht traute, ging ich dann doch ganz brav zur Schule. Um 13 Uhr war endlich Schulschluss. Ich wollte gerade schnell los, als Sebastian mich aufhielt.
„Wollen wir heute auf die Piste?“
„Nee, heute nicht, ich muss jetzt ins Urban“
„Bist du bescheuert, der hat dich feige überfallen, Markus, spinnst du?“ „Sebastian, ich habe ihn fast umgebracht. Ich muss wissen, wie es ihm geht. Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn da jemand blutüberströmt vor dir auf dem Boden liegt, weil du ihm ein Messer in den Bauch gerammt hast?“
„Nicht schon wieder, Markus. Es ist nicht deine Schuld. Hätte er dich nicht überfallen, wäre er jetzt nicht im Krankenhaus. Stell dir vor, er hätte dich niedergestochen….. hätte er dir geholfen oder wären wir jetzt auf deiner Beerdigung? So musst du das mal sehen. Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Außerdem hast du den Notarzt gerufen und ihm damit das Leben gerettet.“
„Sebastian, ich muss ihn besuchen. Die Ungewissheit frisst mich auf. Und wenn er mich dann rausschmeißt, dann gehe ich einfach und gut ist.“
„Wie du meinst, Markus. Wir können ja am Samstag noch mal telefonieren, ok?“
„Ok.“
Auf dem Weg zum Krankenhaus malte ich mir die verschiedensten Möglichkeiten aus, was mich wohl erwarten würde. Ich ging auf die Station 3 und fragte nach Schwester Angelika. Es dauerte einen Augenblick, da gerade das Essen abgeräumt wurde.
„Hallo Markus, wie geht es dir?“
„Gut. Wie geht es Luis? Ist er schon aufgewacht?“
Schwester Angelika schaute mich besorgt an.
„Am Mittwoch haben wir die Aufweckphase eingeleitet, aber bis jetzt ist er nicht wieder zu sich gekommen. Er muss jetzt von sich aus aufwachen. Eventuell dauert das noch, da er viel Blut verloren hatte.“
Ich ließ mich resigniert auf einen Stuhl fallen und vergrub mein Gesicht in den Händen.
„Was hab ich nur getan? Was hab ich nur getan?“, seufzte Markus und konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Schwester Angelika kniete sich vor mich.
„Hey Markus, mach es dir nicht so schwer. Das wird wieder, glaub mir. Du musst Geduld haben. Los, komm mal mit. Hier ist noch jemand, der auf Luis wartet.“
Ich schaute auf und folgte Schwester Angelika. Wer wohl auf ihn wartet? Seine Mutter? Die würde mich bestimmt zur Schnecke machen oder schlimmer….
Wir blieben vor einem Zimmer stehen, Schwester Angelika zeigte auf einen ca. 13jährigen Jungen mit verheultem Gesicht, den Blick starr auf den Boden gerichtet. „Das ist sein kleiner Bruder. Er ist der Einzige, der jeden Tag hier herkommt, um Luis zu besuchen.“
„Oh Gott, hat Luis keine Eltern mehr?“
„Doch, aber der Vater ist abgehauen und die Mutter interessiert sich nicht für Luis. Sie hat ihn auf die Straße gesetzt und deswegen ist er wohl kriminell geworden. Wenn jemand Schuld an Luis Zustand hat, dann seine Mutter. Ich hatte mit ihr telefoniert, aber sie hat ganz kalt reagiert. Mir ist richtig schlecht geworden. Dann hatte ich später nochmals angerufen und hatte seinen Bruder am Apparat. Er ist dann sofort hergekommen und sitzt die ganze Zeit hier vor seiner Zimmertür, weil er nicht rein darf.“
„Danke, Schwester Angelika, ich werde mich mal zu ihm setzen.“ Sprach’s und ging auf den kleinen Jungen zu.
„Hallo, ich heiße Markus, darf ich mich setzen?“
Der kleine Junge schaute mich kurz traurig an und blickte dann wieder vor sich auf den Boden und nickte leicht.
„Julius“ flüsterte er kaum hörbar. „Ich habe Angst um meinen Bruder. Wer hat ihm das bloß angetan? Er tut doch niemandem was.“
„Meinst du, dass er überfallen wurde?“
„Ja, was denn sonst? Bist du von der Polizei?“
„Nein, ich bin erst 16. Das ist wohl noch zu jung für den Beruf.“
Ich versuchte sein Vertrauen zu gewinnen und schwindelte ihm vor, dass ich ihn von der Schule her kannte. „Er kümmert sich immer um mich und meine kleinen Geschwister, wenn Mama Fernsehen gucken will. Einen Papa haben wir nicht. Luis macht auch meistens das Essen und hilft uns bei den Schularbeiten.“
„Du bist bestimmt stolz auf deinen Bruder, oder?“
„Ja, ich kann mir keinen Besseren vorstellen. Ohne ihn wären wir bestimmt schon im Heim.“
Das gab mir wieder ein Stich. Wie konnte sich dieser Junge einerseits so rührend um seine Geschwister kümmern und andererseits Menschen im Park überfallen und ausrauben? Luis weckte immer mehr meine Neugierde. Ich wusste immer noch nicht, was diesen Jungen so interessant machte. Julius schwärmte in den höchsten Tönen von seinem Bruder und da musste etwas Wahres dran sein.
Ich musste Julius ein wenig aus der Reserve locken und fragte ihn aus.
„Sag mal Julius, Luis soll schon viel mit der Polizei zu tun bekommen haben. Er soll andere Leute überfallen haben und so.“
„Ja, das stimmt, er hat da wohl so ein paar doofe Freunde kennengelernt. Wenn die unterwegs waren durfte ich nie mit. Die sagten immer, kleine Babys wollen wir nicht dabei haben. Richtig gemein sind die. Auch Luis hat dann so blöd geredet. Aber wenn er dann wieder zu Hause war, hat er sich meistens dafür bei mir entschuldigt.“
„Er soll ja letzte Woche wieder jemanden überfallen haben und das Opfer hat sich dann wohl gewehrt.“
„Aber deswegen muss man den anderen doch nicht gleich versuchen umzubringen“, schluchzte Julius.
„Vielleicht wurde der andere ja schon mal überfallen und ist in Panik geraten. Er hat dann in Angst zugestochen, um sich zu befreien. Der Überfallene hat dann ja auch den Rettungswagen alarmiert während seine angeblichen Freunde einfach getürmt sind“, Julius sah Markus jetzt fragend an.
„Woher weißt du das alles?“
„Äh, ja, ….. also, ….. na ja, weißt du …hmm … es, es stand so in der Zeitung.“ „In welcher Zeitung?“
„Die mit den vier Buchstaben.“
„Hm.“
Julius schaute wieder zu Boden.
„Was willst du eigentlich hier?“
Oh je, was will ich eigentlich hier? Wie sollte ich ihm bloß erklären, dass ich derjenige welche bin, der seinen Bruder niedergestochen hat?
Plötzlich setzte ein hektisches Treiben auf dem Flur ein. Zwei Krankenschwestern kamen herbei gerannt und verschwanden in dem Zimmer in dem Luis lag. Aus dem Raum drang ein lautes Piepen und die Schwestern redeten hektisch. Ein Arzt kam gelaufen und verschwand ebenfalls im Zimmer. Kurz darauf kam eine Schwester wieder heraus, blickte uns kurz an, um dann Richtung Schwesternzimmer zu rennen. Mein Herz fing an zu rasen. Julius schaute mit offenem Mund und aufgerissenen Augen von einer Seite zur anderen. Jetzt kam auch Schwester Angelika angelaufen. Ich sprang auf
„Ist was mit Luis? Schwester, sagen sie doch was!“
„Kümmre dich um Julius. Geht ein wenig im Park spazieren.“
Was ist denn das für eine Antwort? Ich schaute Julius an, der jetzt zitternd und apathisch auf seinem Stuhl saß.
„Luis, Luis, bitte nicht, Luis. Nein. Nicht Luis. N E I N!!!“
Julius sprang auf und wollte ins Zimmer stürmen. Er riss die Tür auf. Dort sahen wir Luis mit nacktem Oberkörper auf seinem Bett liegen. Daneben stand ein Arzt mit einem Defibrillator „Achtung, bitte zurücktreten. Eins, Zwei, Drei. Schwester, schicken sie die Kinder raus. Nochmal, zurücktreten, Eins…..“
„Kommt, ihr könnt hier nichts für ihn tun.“
„Ist mein Bruder tot?“, fragte Julius mit weinerlicher Stimme.
„Wir kämpfen noch. Bete für ihn. Markus, kümmere dich bitte um Julius und geht bitte zum Schwesternzimmer“, sprach‘s und verschwand wieder im Krankenzimmer.
Ich glaubte nicht mehr atmen zu können, meine Lunge brannte, mir wurde schwindelig und ich fing an zu taumeln.
„Das wollte ich nicht. Du musst mir glauben. Das wollte ich nicht“, weinte ich und fiel auf die Knie. Julius stand schniefend vor mir
„DU?“ ….. „WARUM?“
Mist, mein Leben ist nichts mehr wert, wenn Luis stirbt. Mir ging der Tag der letzten Woche immer wieder durch den Kopf. Warum hatte ich mich bloß dazu überreden lassen, mir ein Messer zu kaufen?
Ich saß neben dem Schwesternzimmer auf dem Boden und weinte. Julius stand am Fenster, schaute hinaus und schniefte. Ich hörte Schritte aus Richtung des Krankenzimmers. Beim Aufblicken schaute ich in Schwester Angelikas Gesicht. Sie zwinkerte mir zu und hob den Daumen. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sofort sprang ich auf, warf mich der Schwester in die Arme und weinte jetzt hemmungslos. Es waren dieses mal Freudentränen.
„Julius, dein Bruder hat es geschafft, hörst du? Julius!“
Doch er blieb am Fenster stehen und weinte vor sich hin. Langsam ging ich zu ihm hinüber und legte meine Hand auf seine Schulter.
„Fass mich nicht an, du Schwein! Du hast meinen Bruder fast umgebracht. Los verschwinde. Ich will dich nicht mehr sehen!“
„Julius, lass dir doch erklären. Er hat mich überfallen ….. ich hatte eine panische Angst …. Verstehst du? … Todesangst … es war wie in einem Film …“
„Hör auf zu lügen. Du hast ihn abgestochen. Was hat er dir getan? … Was?“ schrie Julius, das letzte Wort betonend.
„..Er hat mich überfallen und wollte mich mit seinen Kumpels ausrauben …ich … ich … ich wollte doch nicht …..“
Ich brach mitten im Satz ab und wandte mich traurig von Julius weg. Jetzt hatte ich mit meiner Aktion schon zwei Menschen verletzt. Langsam schlich ich auf den Ausgang zu, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Schwester Angelika.
„Markus, gib Julius die Zeit. Er wird es irgendwann verstehen, dass du in Notwehr gehandelt hast. Gib mir deine Telefonnummer und ich ruf dich dann an, wenn Luis wieder zu sich kommt.“
Gesagt, getan. Wir tauschten die Telefonnummern und ich ging dann traurig nach Hause. Wenn er gestorben wäre, oh mein Gott. Nie wieder wäre ich glücklich geworden.
Die Tage vergingen. Immer wartete ich auf einen Anruf aus der Klinik.
Das Telefon klingelte. Ich rannte aufgeregt zum Telefon. „Markus Jäger.“ „Hallo Markus...“, es war Sebastian „...willst du heute mit in die Disco? Hannes und Guido wollen auch hin. Wie schaut es aus?“
„Ich kann nicht, mir geht es nicht so gut. Außerdem warte ich auf einen Anruf aus dem Krankenhaus.“
„Immer noch dieser Typ, der dich überfallen hat? Markus, das wird mir langsam unheimlich mit dir.“
„Weiß auch nicht. Bin halt nicht in Stimmung. Feiert ohne mich und grüß‘ die anderen.“
„Ok, wie du willst. Na denn. Tschüß!“ „Tschüß“ …..
Riiiing ---------- Riiiiing ----------- Riiiiiing -------- Riiiiing
„Markus Jäger …… Hallo Schwester Angelika …… ja? ….. da fällt mir ein Stein vom Herzen! Danke Schwester Angelika. Ja, bis morgen. Und … Danke!“
Ich machte einen riesigen Luftsprung und jubelte laut. Meine Mutter guckte aus der Küche
„Was ist denn los, Markus?“
„Mama, er ist aufgewacht. Endlich aufgewacht.“
Ich ließ mich erschöpft aufs Sofa fallen und fing vor Freude an zu weinen. Meine Mutter setzte sich zu mir, nahm mich in den Arm und weinte mit mir. Ob sie sich freute, dass sie keinen Mörder zum Sohn hatte? Ich schickte noch ein Danke nach ‚oben’, obwohl ich ja nichts mit Gott am Hut hatte. Doch hatte ich mich immer wieder dabei erwischt, wie ich Stoßgebete gen Himmel schickte.
Luis
Thomas, immer wieder Thomas. Er spukte ständig durch meine Gedanken. Die Stimmen, die ich hörte, waren mir völlig fremd. Helle Blitze zuckten immer mal wieder auf. Und dann wieder Thomas. Die Stimmen wurden deutlicher. Irgendwie schaffte ich es nicht, mich bemerkbar zu machen. „Eigentlich müsste er aufwachen. Ich verstehe das nicht“, redete die fremde Stimme. Hallo, hier bin ich. Aber keiner reagierte. Ich fühlte mich schlapp und dachte wieder an Thomas. Warum hört mich denn keiner? „Jetzt sitzt der kleine Julius schon wieder vor der Tür. Der muss seinen Bruder sehr gern haben.“ Julius? Julius, wo bist Du? Wieder blitzte es, aber dieses Mal viel intensiver. Die fremden Stimmen wurden immer klarer. Und wieder Blitze. Es wurde hell. Ich konnte etwas sehen. Leuchtstoffröhren! Leuchtstoffröhren? Seit wann gibt es im Himmel Leuchtstoffröhren? Huch, ein fremdes Gesicht schob sich über meines und sprach sogar: „Luis? Luis, bist du wach? Ich bin Schwester Angelika. Hallo Luis!“
Sieht so die Hölle aus? Nee, die hat ja keine Hörner. Haben weibliche Teufel überhaupt Hörner? Egal, zumindest weiß sie meinen Namen. Aber warum bin ich hier? „Herr Doktor, der Luis kommt zu sich.“ - „Na endlich.“
„Wo bin ich? Was ist los?“
„Kannst du dich an nichts erinnern?“
„Ich war mit meinen Kumpels unterwegs und dann war da dieser Junge… Mein Bauch tat plötzlich so weh….Blut! ... irgendwie weiß ich nicht mehr…“
„Das kommt schon noch wieder. Ruh dich erst mal aus.“
„Was ist mit Julius?“
Schwester Angelika drehte sich um und sah mich an. „Hast du mitbekommen, dass wir über deinen Bruder gesprochen haben?“
„Ja, ich weiß nicht genau was, aber es war die Rede von Julius. Ist er hier?“
„Er sitzt die ganzen Tage schon draußen und wartet, dass du wieder aufwachst“ „Tage? Liege ich schon länger hier?“
„Ja, schon fast zwei Wochen.“
„Ich kann mich an nichts erinnern.“
„Du hast ja auch die ganze Zeit verschlafen.“
Das mit dem plötzlichen Herzstillstand verschwieg mir die Schwester dabei.
„Ich hol deinen Bruder jetzt mal rein.“
„Ja, bitte.“
Schwester Angelika verließ das Zimmer, und einen Augenblick später wurde die Tür wieder aufgerissen und Julius stand mit großen roten Augen im Türrahmen.
„Luis, endlich“, er stürmte auf mich zu. Ich dachte erst, er springt auf mein Bett, aber dann bremste er noch rechtzeitig ab und warf sich mir um den Hals. Er fing laut an zu weinen und schluchzte:
„Ich hatte solche Angst um dich, Luis, endlich bist du wieder wach. Bitte, tu das nie, nie wieder hörst du? Ich halte das nicht aus. Wir brauchen dich doch.“
Jetzt fing auch ich an zu weinen.
„Ist ja schon gut mein Kleiner. Alles wird wieder gut. Wie geht es Susi und Kevin?“
„Ich denke, gut.“
„Warst du die ganze Zeit hier im Krankenhaus?“
„Ja, Kevin und Susi sind doch noch zu klein. Und Mama sitzt nur vor dem Fernseher.“
„Hat sie mich denn vermisst?“
„Sie hat dich mit keinem Wort erwähnt. Und wenn Schwester Angelika nicht noch mal angerufen hätte, wüssten wir gar nicht, wo du wärst“
„Das ist typisch für sie. Hat sie euch denn auch immer was zu essen gemacht?“ „Ich musste immer einkaufen. Hatte aber immer nur wenig Geld. Deshalb gab’s meistens Spaghetti mit Ketchup.“
Ich musste dabei ein wenig grinsen.
„Na ja, Hauptsache ihr seid satt geworden.“
Nach einer Weile kam Schwester Angelika wieder ins Zimmer.
„So, Julius. Die Besuchszeit ist gleich vorbei und Luis braucht jetzt Ruhe. Morgen ist auch noch ein Tag.“ ,
Sagte sie und streichelte Julius über den Rücken. Als Julius dann gegangen war, wurde ich sehr nachdenklich. Was hatte ich bloß angestellt? Ich musste so schnell es geht hier raus und mich wieder um meine Geschwister kümmern.
Markus
Die letzten Nächte habe ich schlecht geschlafen. Ich musste die ganze Zeit an Luis denken. Ob er mir verzeiht, dass ich ihn fast getötet habe? Ob er sich überhaupt erinnert? Ich malte mir alle verschiedenen Möglichkeiten aus, wie er wohl reagieren könnte. Und wenn ich gar nicht hin gehe und ihn einfach vergesse? Das geht leider nicht, denn irgendwann werden wir uns vor Gericht wieder sehen. Ich darf gar nicht an eine mögliche Gerichtsverhandlung denken. Ich weiß gar nicht, ob ich dann als Überfallopfer oder als Messerstecher vor dem Richter stehen werde. Letzteres bedrückte mich schon sehr. Zumindest war mir der Stein von meiner Seele genommen worden, als Mörder vor Gericht zu stehen. Nach langem Grübeln stand ich auf und begab mich ins Bad. Nach dem ausgiebigem Frühstück machte ich mich dann mit lautem Herzklopfen auf den Weg ins Krankenhaus. Dort angekommen musste ich feststellen, dass Schwester Angelika heute frei hatte. Da ich den Weg kannte, ging ich direkt auf Luis´ Zimmer zu. Vor der Tür kam ich dann doch ins Grübeln. Soll ich oder soll ich nicht? Ich ging kurz vor der Tür auf und ab. Irgendwas war hier komisch. Ich drehte mich um, um zur Zimmertür zu gehen, als ich Julius mit verschränkten Armen vor der Tür erblickte. Er sah mich finster an, als ich auf ihn zuging. „Hallo Julius. Wie geht’s dir?“
„Noch gut. Und wenn du nicht augenblicklich verschwindest, kann sich das schnell ändern!“
„Hey, Julius, was soll das? Lass mich bitte zu deinem Bruder. Ich hab mit ihm noch einiges zu klären.“
„Dass du ihn umbringen wolltest?“
„Red‘ doch keinen Quatsch!“
„Ach ja, und warum liegt er dann hier?“
„Weil er mich feige mit seinen noch feigeren Kumpels überfallen hat.“
„Du verdrehst wohl hier die Tatsachen, oder?“
„Nein, Julius. Versetz dich mal in meine Lage: Ich bin vor 2 Jahren schon mal überfallen worden und wurde dabei böse zugerichtet. Ich habe lange gebraucht, um abends wieder alleine auf die Straße gehen zu können. Endlich war ich auf dem besten Wege, als dein ‚ach so lieber, unschuldiger Bruder’ mich überfallen musste. Ich hatte Panik, Julius, eine scheiß Angst. Verstehst du?“
Ich hatte mich jetzt in Rage geredet und zitterte leicht.
„Übertreibst du da nicht ein wenig?“
„Mann, Mann, Julius. Hattest du schon mal so richtig Angst? Todesangst, ohne zu wissen, ob du den nächsten Moment überlebst?“
„Nur als das mit Luis vor ein paar Tagen hier im Krankenhaus passiert ist.“ Julius wurde ein wenig nachdenklich.
„Sei froh. Ich wünsche das niemandem. Weißt du…. Ich habe das noch nie jemandem erzählt, weil es sehr peinlich ist. Ich habe nach dem Überfall des Öfteren nachts ins Bett gemacht. Kannst du dir vorstellen, wie man sich da als 14jähriger fühlt? Du kannst vor Angst nicht einschlafen, lässt nachts das Licht brennen, wachst schweißgebadet auf und deine Eltern stehen in deinem Zimmer, weil du im Schlaf geschrien hast!“
Ich zitterte jetzt heftiger und bekam zudem feuchte Augen, als ich mich meinem Gegenüber offenbarte.
Julius wurde nachdenklich und senkte seinen Kopf.
„Das tut mir leid. Muss Luis jetzt ins Gefängnis?“
„Ich weiß nicht. Das entscheiden die Richter. Aber vorher will ich erst mal mit Luis sprechen. Wir haben uns ja gegenseitig wehgetan. Er hat an seiner Situation genauso Schuld wie ich. Aber das möchte ich mit ihm unter vier Augen klären. Also, lässt du mich bitte zu deinem Bruder?“
Julius schaute mich lange an, dann ging er einen Schritt zur Seite und sagte „Ok.“
Ich klopfte an die Tür und öffnete sie dann langsam. In dem einzigen Bett schaute nur ein blonder Lockenkopf heraus, der sich nicht rührte. Ob er gerade schlief? Ich wollte ihn nicht wecken und überlegte schon, später wieder zu kommen. Dann bewegte sich doch etwas.
„Julius, bist du das?“ sprach die Stimme verschlafen.
„Hallo Luis, ich bin Markus. Wir hatten vor zwei Wochen eine Begegnung der schlechten Art.“
Der Junge im Bett schreckte hoch, drehte sich in meine Richtung und schaute mich mit weit geöffneten Augen an.
„Ich hab dich noch nie gesehen. Ich erinnere mich nicht an dich.“
„Dann denk mal nach. Neulich im Volkspark Friedrichshain? Na?“
Luis überlegte und dann muss wohl der Euro-Cent gefallen sein.
„Du? Shit. …. ich …. ich ….. Du bist …. oh, .. hm …“ er überlegte wohl was er sagen sollte und schaute dabei verschämt auf seine Bettdecke. Nur langsam blickte Luis aufgeregt an seinen Fingern knibbelnd von seiner Bettdecke auf und dann verschämt in meine Richtung. Ich verzog keine Miene. Luis blinzelte mir direkt in die Augen.
„Bitte geh jetzt, es ist besser, wenn du einfach verschwinden würdest“, flüsterte er leise.
„Ist das alles, was du zu sagen hast?“
Luis schaute aus dem Fenster und schniefte leise. Er sagte nichts auf meine Frage, sondern nickte nur leicht. Was soll das denn jetzt? Ich, das Opfer, komme den Täter im Krankenhaus besuchen, und was macht er? Der schmeißt mich einfach raus. Wie finde ich denn das?
„Hast du noch alle Tassen im Schrank? Ich werde von dir überfallen, und auch wenn ich dich mit dem Messer attackiert habe, was mir im Übrigen sehr leid tut, weil ich die Folgen nicht bedacht hatte, will mich bei dir entschuldigen! Und du schmeißt mich einfach raus?“
Schweigen nur noch schweigen.
„Na, wenn das so ist, habe ich mich wahrscheinlich in dir getäuscht. Julius muss wohl von einem anderen Bruder geredet haben, von dem er mir in den letzten Tagen erzählte. Du kannst das ja wohl nicht sein. Na denn, ich denke, wir sehen uns zu deiner Verhandlung vor Gericht wieder.“
Ich drehte mich enttäuscht und ein wenig wütend um, öffnete die Tür zum gehen, als Julius plötzlich vor mir auf dem Flur stand.
„Habt ihr alles geklärt?“
Ich schob Julius zur Seite, um das Zimmer zu verlassen.
„Markus, warte kurz!“
Ich ging einfach weiter, zu sehr war ich verletzt. Mir kamen die Tränen, ich wurde immer wütender und bereute, die ganze Zeit im Krankenhaus gewesen zu sein.
„Mensch Markus, nun warte doch mal kurz!“
Verärgert drehte ich mich um.
„Was ist denn noch?“, sprach ich ein wenig zu aggressiv und wischte mir eine Träne aus dem Gesicht.
„Was war denn los?“
Julius war mir gefolgt. Wir standen uns gegenüber.
„Ich weiß nicht, aber Luis scheint wegen der Messerattacke wütend auf mich zu sein. Irgendwie kann ich es ja verstehen. Aber andererseits hat er ja mit seinem hinterhältigen Überfall im Volkspark doch alles erst ausgelöst. Ich sollte wohl eher wütend auf ihn sein. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, aber er wollte nicht. Tja, und dann hat er mich einfach rausgeschmissen.“
„Ich werde mal mit ihm reden, Markus. Du bist echt in Ordnung. Ich wünschte mir, dass du ein Freund von Luis wärst, denn die Leute mit denen er sich in letzter Zeit abgab, waren alle nicht gut für ihn. Früher, als Thomas noch hier wohnte, da waren die beiden ein Herz und eine Seele. Aber seit Thomas dann vor einem Jahr nach Bayern gezogen ist, hat Luis sich sehr verändert. Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist. Tut mir echt leid.“
„Ich muss los. Mach‘s gut, Julius.“
Ich drehte mich zum Gehen, als Julius mir die Hand auf die Schulter legte. „Kannst du mir deine Nummer geben? Dann könnte ich dich ja mal anrufen, wenn Luis wieder bei Verstand ist und mit dir reden will.“
Ich überlegte und willigte dann ein. Ich gab ihm meine Nummer und fragte nach seiner.
„Sorry, ich habe leider kein Handy. Dafür reicht das Geld in unserer Familie nicht“, sagte Julius traurig. Ich nickte nur kurz, gab ihm einen leichten Klapps auf den Oberarm:
„Ist schon ok. Tschüss, Julius“, drehte mich um und verließ das Krankenhaus. Auf dem Parkplatz schaute ich mich noch mal kurz um, und erblickte Julius in der Tür. Wir winkten uns nochmals kurz zu, dann ging ich zum Bus.
Luis
Er war weg. Warum habe ich ihn gehen lassen? Ich habe doch Schuld an dem Ganzen. Zumindest trage ich die Hauptschuld. Irgendwann musste ja mal so was passieren. Und meine Freunde Peer und Dragan sind einfach abgehauen. Solche Freunde will ich nicht mehr. Die können mir gestohlen bleiben. Warum ist Markus überhaupt zu mir ins Krankenhaus gekommen? Das hatte er doch gar nicht nötig gehabt. Wäre ich ihn besuchen gegangen, wenn es anders herum passiert wäre? Wenn Thomas noch hier wohnen würde, wäre ich bestimmt nicht so abgerutscht. Ich schämte mich für die Sachen, die ich angestellt hatte. Markus hat mich mit der Messerattacke wachgerüttelt. Ich wollte so nicht mehr weitermachen, das war nicht das Leben, das ich wollte. Vor allem wollte ich noch LEBEN. Irgendwie ging mir Markus nicht aus dem Sinn. Leise fing ich an zu weinen. Ich bemerkte nicht, wie Julius wieder ins Zimmer kam.
„Luis, was ist mit dir? Soll ich die Schwester rufen?“, flüsterte er und legte sanft seine Hand auf meine Schulter.
„Nein, nicht nötig. Alles in Ordnung, Julius“, schniefte ich.
„Mir ist gerade bewusst geworden, was ich in letzter Zeit für Scheiße gebaut habe. …… ich habe Angst, dass ich jetzt zu weit gegangen bin und ins Gefängnis muss. Was wird dann aus euch, wenn ich mich nicht mehr kümmern kann? Ich will nicht, dass ihr ins Heim kommt. Mama ist doch nicht fähig, sich um euch zu kümmern. Ich bin so ein Versager. Es tut mir leid, Julius.“
„Du bist kein Versager, Luis. Bitte sag so was nicht. Vielleicht solltest du dich zuerst mal bei Markus entschuldigen. Er wirkte vorhin sehr traurig. Vielleicht ist das mit dem Prozess ja nicht ganz so schlimm, wenn du einfach mal mit ihm redest. Und was Kevin, Susi und mich betrifft, wir kommen schon klar. Wenn ich weiß, dass du dich nicht mehr mit diesen Dumpfbacken triffst, wird das schon wieder. Ich vertraue dir, Luis!“
„Danke, Julius.“
Nachdem Julius gegangen war, dachte ich über meinen Lebenswandel nach. Es konnte so nicht weiter gehen, und ich musste mit Markus reden. Irgendwie ging er mir nicht aus dem Kopf. Ich musste an Thomas‘ Brief denken.
> Du wirst eines Tages einen Freund finden, der dich verdient hat. <
Ist das DER Freund?
Nee, der ist bestimmt nicht schwul, und wenn doch, warum sollte er sich in einen Kriminellen verlieben, der ihn zu allem Überfluss auch noch überfallen hat. Nein, das wäre schon zu viel des Guten. Aber ich werde mit ihm reden müssen. Ja, das werde ich definitiv tun. Mist, jetzt wo er weg ist… ich weiß nur seinen Vornamen. Ich weiß weder seinen Nachnamen, noch kenne ich seine Adresse. Ganz zu schweigen von einer Telefonnummer. Alles vergebens? So sehr ich noch grübelte, ich kam zu keinem Abschluss. Wie um Himmels willen sollte ich Markus je wieder sehen? Hm, ich könnte ja mal, wenn ich aus diesem Krankenhaus entlassen werde, im Volkspark warten…. Wer weiß, eventuell treffe ich ihn dort mal.
Autsch!!! Ich werde ihn wieder sehen, aber nicht auf die schöne Art. Der Prozess! Ich werde wohl noch von der Polizei vernommen werden …. Und spätestens vor Gericht werde ich ihn wieder sehen. Ob es dann schon zu spät ist? Ich will ihn bald wieder sehen.
Über diese vielen Gedanken hinweg schlief ich dann ein und hatte einen unruhigen und traumlosen Schlaf.
Ein paar Tage später.
Schwester Angelika weckte mich sehr früh.
„Guten Morgen, Luis. Hast du gut geschlafen?“
„Nicht wirklich.“
„Na, das wird schon wieder. Um 10 Uhr ist Chef-Visite und dann wirst du von der Polizei abgeholt. Du wirst ins Gefängnis verlegt.“
Ich zuckte zusammen.
„Ich komme ins Gefängnis?“
„Sieht so aus, mein Kleiner. Aber das hättest du dir früher überlegen sollen. Jetzt ist es erst mal zu spät. Aber nicht, dass du versuchst zu türmen! Vor der Tür sitzt ein Sicherheitsbeamter, an dem kommst du nicht vorbei.“
Markus
Luis ging mir nicht aus dem Kopf. Wieso behandelte er mich so? Ich hätte auch ganz anders reagieren können. Er war mir nicht egal. Im Gegenteil, er tat mir sogar leid. Überfiel er andere, weil das Geld zu Hause nicht reichte? Ok, das sollte kein Grund oder gar eine Rechtfertigung sein, um andere Menschen zu überfallen und auszurauben. Wie verzweifelt musste man sein, um so weit zu gehen. Ich machte mir viele Gedanken. Am liebsten wäre ich schon am nächsten Tag wieder ins Krankenhaus gefahren, um mit Luis zu sprechen. Aber ich wollte ihm Zeit geben. Außerdem wirkte das auch zu aufdringlich, wenn ich gestern wütend sein Zimmer verließ, um schon am nächsten Tag wieder vor seiner Tür zu stehen. So versuchte ich mich mehr oder weniger erfolgreich abzulenken. Sebastian und ich trafen uns, um ins Kino zu gehen.
Wir entschieden uns für eine Komödie, um meine Laune ein wenig aufzubessern. Also, das entschied Sebastian einfach mal so für mich. Was die schlechte Laune anging, wollte ich ihn nicht wirklich wissen lassen, was mich bedrückte. Wir schauten uns ‚Ted‘ an, ein lustiger Film mit einem sprechenden Teddybären, der nicht immer jugendfreie Sprüche drauf hatte. Wir haben viel gelacht, und ich konnte für einige Zeit sogar meine Sorgen vergessen. Nach dem Kino gingen wir noch auf eine Cola in ein amerikanisches Burger-Restaurant.
„Sag mal Markus, warum beschäftigt dich die Sache mit dem Überfall so sehr? Irgendwas ist doch mit dir. Willst du darüber reden?“
„Was meinst du?“
„Hey, nun tu doch nicht so. Ich merke doch, dass da was ist. Markus, darf ich dir mal eine Frage stellen? Aber du darfst nicht ausflippen. Ok?“
„Na, dann frag mal, Sebastian.“
„Na ja, ich habe dich in der letzten Zeit ein wenig beobachtet. Und da mache ich mir so meine Gedanken. Kann es sein dass du…. na ja, dass du schwul bist?“
„Was?“, sagte ich ein wenig erschrocken und viel zu laut.
„Wie kommst du denn da drauf? Ich …. Ich …“
Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen und blickte traurig und gedankenverloren auf meine Cola.
„Hey, jetzt schau nicht so traurig Markus. Mir macht das nichts aus. Ich werde auch weiterhin dein Freund sein, egal ob schwul oder hetero. Ich erzähle auch nichts weiter. Versprochen.“
Ich spielte mit meinem Colaglas und schaute dann langsam in Sebastians Gesicht. Ich atmete einmal tief ein und sprach dann mit tränenerstickter Stimme „Ja, ich bin schwul.“
Mir liefen die Tränen. Plötzlich stand Sebastian auf, schaute mich mit ernstem Blick an. Mein Gesicht gefror binnen Sekunden. Hatte ich jetzt meinen besten Freund verloren? Wir beiden blickten uns in die Augen und dann ging Sebastian um den Tisch auf mich zu und nahm mich in den Arm. Von dieser Geste war ich so überwältigt, das ich in Tränen ausbrach. Ich war so erleichtert, dass ich es endlich mal aussprechen konnte. Es tat richtig gut.
„Markus, wein‘ nicht, alles wird gut. Ich bin dein Freund und werde es auch immer bleiben.“
„Danke Basti. Du bist der Erste, dem ich das erzähle. Ich bin mir auch noch nicht so lange darüber klar. Lange Zeit wollte ich es nicht wahr haben. Aber immer wenn ich einen hübschen Jungen sehe, fängt es irgendwie an zu kribbeln. Anfangs dachte ich noch, dass es nur eine Phase sei, aber diese Phase ließ nicht nach. Im Gegenteil, es wurde sogar schlimmer. Ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Wem sollte ich denn von meinen Gefühlen erzählen? Es war fürchterlich.“
„Na, jetzt hast du ja mich. Es muss dir auch nicht peinlich sein. Ich habe übrigens einen schwulen Onkel. Michael heißt er und wir kommen damit prima klar. Ich bin mit dieser Tatsache groß geworden und kenne ihn gar nicht anders. Er ist schon seit über 10 Jahren mit seinem Guido zusammen, die beiden sind ein prima Gespann. Wir haben viel Spaß zusammen. Also, nicht was du jetzt denkst. Aber sie gehen ganz entspannt mit ihrem schwul sein um. Und bei den Nachbarn sind sie auch beliebt. Wenn du magst, können wir sie ja mal besuchen gehen.“
Ich schaute jetzt verlegen zu Sebastian.
„Schauen wir mal. Danke Basti. Ich hatte solche Angst, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, wenn du erfährst, dass ich schwul bin. Ich habe lange mit mir gekämpft, weil ich nicht wusste, wie meine Umwelt auf mein Coming out reagieren würde.“
„Danke, Markus, für dein Vertrauen. Gibt es denn schon jemanden …. ich meine … hattest du schon mal einen Freund? ….“
„Nein, hatte ich noch nicht. Ich bin mir ja erst seit ein paar Wochen so richtig im Klaren mit meinem schwul sein. Aber … da gäbe es schon jemanden….“
Jetzt sprach ich nicht weiter sondern blickte traurig zu Boden.
„Und?“
„Nee, lass mal. Das wird nix. Der ist bestimmt nicht schwul.“
„Kenn ich ihn? Ist es jemand aus unserer Klasse oder zumindest aus unserer Schule?“
„Nein, den kennst du nicht. Es ist …. Na ja …aber flipp jetzt nicht aus. Es ist … der Junge, der mich im Volkspark überfallen hat.“
„Spinnst du?“, reagierte Sebastian ein wenig zu laut. Einige Leute drehten sich zu uns um.
„Ich wusste, dass du so reagieren würdest. Ich weiß ja auch nicht. Ich habe mich länger mit seinem kleinen Bruder im Krankenhaus unterhalten. Und je mehr ich über Luis erfuhr, umso größer das Gefühl für ihn.“
„Aha, Luis heißt der also. Und du bist dir da sehr sicher? Also das mit deinen Gefühlen ihm gegenüber? Hast du denn schon mal mit ihm gesprochen?“
„Ich wollte ihn vor ein paar Tagen sprechen, als er endlich aus dem Koma erwacht ist. Aber er …..“, ich konnte nicht weiter sprechen, schlug mir die Hände vors Gesicht und schluchzte vor mich hin.
„Aber er ... was?“ Sebastian sah mich an und seufzte.
„Lass uns noch was trinken, Markus. Du musst nicht weiter erzählen, wenn es dir schwer fällt. Lass dir Zeit.“
Nach einer weiteren Cola fing ich dann an zu erzählen.
„Luis hat noch drei Geschwister. Sie leben von Hartz-IV. Der Vater hat sie sitzen gelassen, und seine Mutter ist wohl mit der ganzen Situation überfordert. Er kümmert sich um seine Geschwister, während seine Mutter vor der Glotze hängt und ihr alles am Arsch vorbei geht. Das hat mir sehr imponiert. Ich bin ja nur ein Einzelkind. Ok, einen Bruder oder eine Schwester hätte ich auch schon gerne gehabt. Ich glaube nicht, dass Luis von sich aus andere Leute überfällt. Das sind bestimmt seine komischen Freunde, die ihn dazu angestiftet haben. Julius sagte mir das.“
„Julius? Ist das der Bruder, der die ganze Zeit im Krankenhaus gewartet hat?“ „Ja, er macht sich große Sorgen um seinen Bruder. Er hat Angst, dass er auf die schiefe Bahn gerät. Na ja, das ist er wohl schon. Aber ich glaube, es ist noch nicht zu spät. Außerdem, wer sich so aufopferungsvoll um seine Geschwister kümmert, kann doch kein schlechter Mensch sein.“
„Und du, mein lieber Markus, glaubst, ihn auf den rechten Pfad der Tugend zurück zu führen?“, grinste Sebastian in meine Richtung.
„Ich will es auf jeden Fall versuchen. Er hat eine 2. Chance verdient. Ich wäre gern sein Freund. Also auf jeden Fall Freund, wenn schon nicht sein FREUND“
„Ich weiß schon, was du meinst. Wenn dich das glücklich macht, wäre es auch für mich Ok.“
„Danke, Basti.“
Wir beide grinsten uns an und machten uns dann auf den Weg nach Hause.
Es war mittlerweile schon recht spät geworden.
„Sag mal Markus, wo wohnt dieser Luis eigentlich?“
„Keine Ahnung. Julius sprach von irgendwelchen Plattenbauten. Wahrscheinlich Marzahn, Märkisches Viertel oder so.“
Sebastian und ich gingen noch eine Weile schweigend unseren Weg nach Hause.
„So, Markus, komm gut nach Hause. Wir sehen uns dann morgen in der Schule. Gute Nacht und schlaf schön. Träum was süßes“, lachte Sebastian mich an und nahm mich in den Arm.
"Ja, Basti, das wünsche ich dir auch. Und danke, dass du mir zugehört hast. Bis morgen.“
Zuhause angekommen kam mir mein Vater entgegen. „Guten Abend, mein Sohn. Du hast mal wieder dein Handy in der Küche liegen lassen. Das ist ja nicht so schlimm, wenn es nicht ständig klingeln würde.“ Oh weia, daran hatte ich ja gar nicht gedacht. Ich nahm das Handy und schaute gleich nach, wer da was von mir wollte. Festnetznummer, immer dieselbe, bestimmt 6-mal. Die Nummer war mir unbekannt. Ich wollte das Handy gerade ausschalten, als es abermals klingelte. Wieder diese Nummer. Dieses Mal ging ich ran.
„Markus hier, Hallo?“
Am anderen Ende schniefte eine Stimme.
„Markus? Endlich gehst du mal ran. Ich hab‘s schon den ganzen Nachmittag und den Abend versucht.“
„Wer ist denn da?“
„Ach so, ich bin’s, Julius“, schniefte die Stimme wiederholt.
„Hallo Julius, was ist denn los? Hast du geweint? Ist was mit Luis?“
„Ich war heute Nachmittag im Krankenhaus und wollte Luis besuchen, aber er war nicht mehr da.“
Mir wurde ganz spontan schlecht.
„Ist …. ist er abgehauen?“
„Nein, er wurde ins Gefängnis verlegt. Ich …. Ich darf ihn nicht besuchen. Das können die doch nicht tun, oder?“
„Ach Julius, ich denke schon. Das war wohl zu erwarten. Ist bei euch zu Hause alles ok?“
„Ja, soweit alles klar. Wieso?“
„Ich dachte nur wegen deiner Geschwister.“
„Die sind schon im Bett. Ich weiß nicht, wie es weiter gehen soll.“
„Wollen wir uns morgen nach der Schule treffen? Auf welche Schule gehst Du eigentlich?“
„ Max-Planck-Oberschule.“
„Hey, dann gehen wir ja auf dieselbe Schule. Weißt du was? Morgen in der großen Pause am Imbiss. Ok?“
„Ok.“
„Also dann, gute Nacht, bis Morgen…… und Julius …. Es wird alles gut, mach dir keine Sorgen.“
„Ja, danke. Bis Morgen“
Wecker klingelt – aus dem Bett quälen – ins Bad – im Spiegelbild ein völlig fremdes Gesicht – schweigend frühstücken – Haustür klingelt – Sebastian! Wie kann man morgens schon so gut gelaunt sein?
„Moin Markus! Alles fit im Schritt?“
„Moin, hast du Drogen genommen? Wie kann man morgens um diese Zeit schon so aufgekratzt sein?“
„Och, Marküsschen, mein Schatz. Iss dein Müsli, wir müssen los!“ „Marküsschen??? Bist du gaga? Oder bist du gegen die Straßenbahn gelaufen? Oder hast du heimlich eine Freundin?“
„Nö, ich hab ja dich.“
Geschockt drehte ich mich zu Sebastian um, der immer noch lässig an der Küchentür lehnte.
„Sorry, Markus. Ich …. Ich wollte dich nicht aufziehen.“
Jetzt blickte der eben noch so coole Sebastian beschämt auf die Küchenbodenfliesen. Ich konnte mir ein freches Grinsen nicht verkneifen.
„Ist schon in Ordnung. Ich kenn dich ja nicht anders. Aber mal ein anderes Thema: Ich habe gestern noch mit Julius telefoniert.“
„Der Bruder von diesem Luis?“
„Ja genau. Er geht übrigens auf unsere Schule. Ich treffe mich in der großen Pause mit ihm. Er war völlig aufgewühlt. Sein Bruder wurde gestern ins Gefängnis verlegt. Und dort darf Julius ihn nicht besuchen. Seine Mutter hat das völlig kalt gelassen.“
„Im Gegensatz zu dir, stimmt‘s?“
„Jetzt muss Julius sich um seine Geschwister kümmern. Vielleicht kann ich ihn ja ein wenig unterstützen. Ich bin ja nicht ganz unschuldig an der Situation.“
„Markus! Jetzt mach mal `nen Punkt. Willst du jetzt mal eben die Welt retten? Wer hat hier denn wen überfallen? Du bist doch nicht für das ganze Elend dieser Welt verantwortlich! Los beeil dich, sonst kommen wir zu spät zur Schule.“
Damit war das Thema erst mal erledigt. Auf dem Weg zur Schule sprachen wir kein Wort. Eine Doppelstunde Deutsch so früh am Morgen, wer sich das wohl ausgedacht hat? Es war doch fast noch nachts.
Endlich das Pausengeläut. Ich machte mich sofort auf den Weg zum Pausenhof. Mit den Augen scannte ich immer wieder den Pausenhof, doch ich konnte Julius nirgends erblicken. Als mir jemand auf die Schulter tippte, zuckte ich zusammen und blickte mich blitzschnell um.
„Mensch Sebi, musst du mich so erschrecken?“
„Sorry, hast du Julius schon entdeckt?“
„Nein, vielleicht hat er ja heute später Unterricht“
„Komm lass uns in die Cafeteria gehen. Ich brauch noch einen starken Kaffee, bevor wir mit Franz gequält werden.“
Im hinteren Teil des Schulhofs wurde es plötzlich hektisch und laut. Ich drehte mich um und erblickte eine große Schülertraube wild gestikulierend. Ich weiß nicht warum, aber ich musste der Sache auf den Grund gehen.
„Moment Sebi, ich komme gleich nach. Bring mir doch bitte einen Kaffee mit. Muss mal sehen, was dort los ist.“
Sprach‘s und ging auf die Rudelbildung zu. Ich konnte nicht erkennen, worum es ging, nahm nur Sprachfetzen war.
`Wenn dein Bruder kriminell ist, bist du es doch bestimmt auch`
`Hartz IV, ihr seid doch alle asozial`
`Schaut euch doch mal seine Klamotten an`
`Geduscht hat der doch auch nicht, so wie der stinkt` …..
Ich bahnte mir einen Weg durch die anderen und erblickte einen total verschüchterten und den Tränen nahen Julius.
„Seid ihr bescheuert?“, schrie ich die anderen an
„Was soll denn der Scheiß! Lasst Julius in Ruhe. Verpisst euch. Ihr seid doch alle nicht mehr ganz frisch! Los haut ab!“
Ich schrie mich in Rage. So kenn ich mich selbst nicht. Aber mein Geschrei verfehlte seine Wirkung nicht. Die Schüler gingen einige Schritte erschrocken zurück oder verließen den Ort des Geschehens.
„Sein Bruder ist kriminell“, meinte einer aus der Gruppe.
„Ja, vielleicht. Du sagst selbst, sein Bruder. Also nicht Julius! Was hat Julius damit zu tun? Seid ihr verrückt? Los, haut alle ab.“
„Danke Markus, ich hatte echt Angst. Die hätten mich bestimmt verprügelt. Ich habe den Hass in ihren Augen gesehen.“
Julius fing an zu weinen. Langsam sank er auf den Boden und vergrub mit seinen zitternden Händen sein Gesicht. Ich kniete mich neben ihn und nahm ihn in den Arm.
„Hey, Julius, alles ist gut. Ich bin bei dir“
„Danke“, schniefte Julius.
„Geht’s wieder?“ Julius nickte, schaute mich mit seinen roten Augen an.
Komm, ich helfe dir hoch.
„Gehst du schon lange auf diese Schule? Du bist mir vorher noch nie aufgefallen.“
„Seit 3 Jahren“, sagte Julius.
„Alles in Ordnung, Markus?“ Sebastian stand plötzlich vor uns mit zwei Bechern Kaffee in der Hand.
„Hier Markus, dein Kaffee.“
„Danke. Sebastian, das ist Julius, Luis´ jüngerer Bruder. Julius, das ist Sebastian, ein guter Freund von mir. Hier, magst du einen Schluck Kaffee? Tut dir bestimmt gut.“
Julius nahm dankend an und trank einen kräftigen Schluck.
„Kommt ihr? Die Pause ist zu Ende.“
Sebastian lenkte uns damit Richtung Schulgebäude.
„Danke Markus. Bis zur nächsten Pause. Dann können wir uns endlich mal unterhalten. Ok?“
„Yo, Julius. Bis dann.“
Franz oder auch Französisch ist nicht gerade mein Lieblingsfach. Aber auch diese Stunden gingen vorbei. In der nächsten Pause beeilte ich mich zur Schultür zu kommen, um Julius abzufangen, damit ihm nicht das gleiche Schicksal wie zur ersten Pause widerfuhr. Ich sah Julius langsam mit ängstlichem Blick die Treppe herunterkommen. Als er mich dann an der Tür stehen sah, hellte sich schlagartig sein Gesicht auf. Er winkte mir zu und hüpfte dann die letzten Stufen hinunter. „Hey, Markus.“
„Hey, Julius. Lass uns ein wenig nach draußen gehen.“
Wir gingen in eine ruhige Ecke des Schulhofs. Wie sollte ich jetzt das Gespräch anfangen?
„Wann wurde Luis denn verlegt?“
„Gestern früh. Als ich nach der Schule ins Krankenhaus kam, war er schon weg.“ „Du vermisst ihn sehr, stimmt‘s?“
„Ja, er ist schließlich mein Bruder und bester Freund. Auf ihn kann man sich immer verlassen.“
„Er ist ja wohl schon früher mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Da wird man abwarten müssen, ob er nochmal mit einem blauen Auge davonkommt, oder eventuell sogar länger ins Gefängnis muss.“
„Schuld sind nur diese blöden Freunde von Luis, Peer und Dragan. Dragan geht auch auf diese Schule.“
„Was? Scheiße. Ich weiß nicht einmal, wie er richtig aussieht. Das ging an dem Abend alles so schnell.“
„Dort hinten steht er.“
Ich drehte mich um und sah Dragan mit seinen Kumpels in einer Ecke stehen. Sie waren am Rauchen. Das ist eigentlich an unserer Schule verboten (wie wahrscheinlich an allen anderen Schulen auch).
„Das ist Dragan? Der hat mich an dem Abend nach der Uhrzeit gefragt. Dann hat Luis mich auch schon von hinten gepackt und …..“
Markus biss sich auf die Lippe und drehte sich wieder zu Julius um. Dieser schaute ihn nur nickend an und meinte dann:
„Ist schon gut. Ich weiß, was dann geschah.“
In diesem Moment war die zweite Pause beendet.
Nach zwei weiteren Stunden war die Schule für heute beendet. Mit Sebastian verließ ich die Schule. Wir gingen Richtung Bushaltestelle, als ich auf der anderen Straßenseite Dragan stehen sah, der sich angeregt mit seinen Kumpels unterhielt. Einen dieser Kumpels erkannte ich als Julius. Ich stieß Sebastian leicht in die Rippen.
„Sieh mal dort. Das ist doch Julius, der da mit einem dieser blöden Freunde von Luis rum steht.“
„Ja, stimmt. Kennt er die besser, als er zugibt?“
Wir drehten uns um und liefen zur Bushaltestelle. Wie auf Bestellung kam gleich unser Bus. Wir setzten uns ganz nach hinten. Ich schaute nochmal zu den anderen und Julius, die immer noch vertieft waren im Gespräch. Doch dieses Mal war etwas anders. Dieser Dragan tippte Julius, so wie ich es sehen konnte, verärgert auf die Brust, so dass Julius rückwärts stolperte. Dragan ging wieder auf Julius zu. Leider fuhr der Bus los, so dass ich dem Geschehen nicht mehr folgen konnte.
Ich traf mich am Nachmittag, nach der Erledigung der lästigen Hausaufgaben, mit Sebastian zum shoppen. Bei Jugendlichen unseres Alters braucht man öfter neue Kleidung aufgrund des Wachstumsschubes. Da unsere Eltern das auch wussten und wir schon alt genug waren, um alleine zu shoppen, bekamen wir das Geld in die Hand gedrückt, um uns auf eigene Faust neu einzukleiden. Ich musste allerdings zu Hause später Rechenschaft abgeben und eine Modenschau aufführen.
„Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass zu ziemlich lange brauchst um dich für ein Kleidungsstück zu entscheiden?“, grinste mich Sebastian unverhohlen an.
„Blöde Kuh“, grinste ich zurück.
„Markus, schau mal dort. Ist das nicht Julius?“
„Wo?“
„Dort bei den T-Shirts.“
Ich drehte mich um die eigene Achse und wollte gerade rufen, als Julius sich nervös in alle Richtungen drehte und blitzschnell ein teures T-Shirt unter seinem Pullover verschwinden ließ.
„Was war das denn?“, flüsterte mir Markus zu.
„Tja, der eine überfällt Leute und der andere klaut.“
Böse blickte ich Sebastian an.
„Ist doch wahr.“
Ich drehte mich wieder in Richtung des Tatorts, aber Julius war schon weg. Meine Lust auf shoppen war mir vergangen. Wir schnappten unsere bereits ausgesuchten Sachen und gingen zur Kasse. Wieder auf der Straße suchte ich alle Richtungen ab, aber Julius war natürlich längst verschwunden. Schweigend liefen wir durch die Straßen, als wir in einer kleinen Seitenstraße Julius mit anderen Jungs entdeckten. Ich erblickte Dragan, wie er Julius das gestohlene T-Shirt abnahm.
„Sebi, dort ist Julius. Verdammt, dieser Dragan ist auch dabei. Der neben Dragan ist der Dritte, der bei dem Überfall auf mich dabei war.“
„Komm Markus, lass uns gehen.“
„Nein, warte. Ich möchte wissen, ob Julius mit den Idioten gemeinsame Sache macht. Lass uns dort rüber gehen, damit sie uns nicht entdecken.“
Dragan sprach mit Julius. Das wirkte aber nicht so, wie Freunde normalerweise miteinander sprechen. Nach kurzer Zeit sagte Dragan was zu den anderen, aber ich konnte es aus der Entfernung natürlich nicht verstehen. Alle lachten und Dragan schubste Julius zur Seite und ging mit seinen Leuten Richtung U-Bahn. Julius blieb alleine zurück.
„Komm, lass uns zu Julius gehen.“
Julius erblickte uns und wollte gerade in die andere Richtung davoneilen.
„Julius, warte.“
„Sorry, hab gerade keine Zeit. Ich muss noch Schularbeiten machen.“
Ich packte Julius an der Schulter.
„Moment noch. Kannst gleich gehen. Mit wem treibst du dich da eigentlich rum?“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Julius, verarsch mich nicht!“
„Was willst du?“
„Julius, wir waren gerade in dem Klamottenladen dort…“ ich zeigte Richtung H&M.
„…und, fällt jetzt der Euro?“, sprach ich ein wenig ärgerlicher.
„Scheiße. Dragan hat mich erpresst.“
„Womit hat er dich erpresst?“
„Ich darf nichts sagen. Sonst will er seine Leute auf mich hetzen. Versteh das bitte, Markus.“
„Nein, Julius. Das verstehe ich nicht. Das darfst du nicht mit dir machen lassen. Er hat schon Luis auf die schiefe Bahn gebracht. Sonst endest du wie dein Bruder!“
„Lass Luis aus dem Spiel! Du hast nicht das Recht über Luis zu urteilen. Du nicht!“, schrie Julius mich an.
„Relax, Alter. Komm mal runter“, schaltete sich jetzt Sebastian ein.
„Luis wäre bestimmt nicht begeistert von deinem Auftritt.“
Julius blickte auf seine Füße und fing an zu schniefen.
„Julius hör zu, lass uns in das Café dort gehen. Dann erzählst du uns alles, ok? Und dann finden wir auch eine Lösung. Komm schon.“
Zu dritt gingen wir in das Café. Julius erzählte Sebastian und mir, was geschehen war. Dragan erpresste Julius damit, dass er aussagen wolle, dass Luis die treibende Kraft bei ihren Straftaten war und er sie erpresste. Julius betonte, das Dragan der Bandenchef ist und nicht Luis.
„Du musst zur Polizei, Julius.“
„Nein, das geht nicht.“
„Doch das geht. Tu das für Luis.“
„Aber ich habe doch das T-Shirt geklaut.“
„Man hat dich gezwungen. Und wenn du dich selbst anzeigst, nimmst du Dragan den Wind aus den Segeln. Los, Julius wir begleiten dich auch. Du musst da nicht alleine durch.“
Julius rollten ein paar Tränen übers Gesicht, als er abwechselnd Sebastian und mich anblickte.
„Ok, ich mache das. Aber jetzt sofort, sonst verlässt mich wieder der Mut.“ Markus bezahlte die Getränke und dann ging es direkt zur Polizeiwache. Julius machte eine Anzeige und erzählte der Beamtin alles.
Später gingen wir alle drei zu mir.
„Julius, ich habe hier noch was für dich. Das ist mein altes Mobilteil mit Prepaidkarte. Ich brauche es nicht mehr. Es hat noch ca. 10€ Guthaben. Wenn irgendwas ist, meine neue Nummer ist auf 1 gespeichert, und die von Sebastian auf 2.“
„Markus, das kann ich nicht annehmen. Das geht nicht.“
„Julius, keine Widerrede. Wenn Dragan dir mal wieder auflauert, kannst du uns sofort erreichen oder die Polizei rufen. Also?“
„Danke. Aber warum tut ihr das für mich?“
„Ich weiß nicht. Ich denke, ich muss etwas wieder gut machen wegen der Sache mit Luis.“
Ich ging zum Fenster und blickte hinaus. Hatte ich nur Gewissensbisse oder war da mehr?
Die nächsten Tage verliefen ereignislos. Es war Freitag. Endlich Wochenende. Ich hatte mich mit Sebastian verabredet und wollte ins Freibad, als plötzlich mein Mobiltelefon klingelte.
„Es ist Julius. Ja? Hallo Julius was ist los? ….. Ja, das geht ……….. naja, eigentlich wollte ich gerade mit Sebastian und ein paar Freunden ins Freibad …. Ok … mach ich …. Also bis gleich.“
„Das war Julius“, blickte ich verwirrt zu Sebastian
„Ach, das hätte ich jetzt nicht gedacht. Und es geht bestimmt um Luis, dieser Blick sagt alles. Und du willst bestimmt nicht mehr ins Freibad, stimmt’s?“
„Äh ja, .. Sebi … Julius hat mir gesagt das Luis heute Nachmittag aus der U-Haft entlassen wird. Er bat mich, ihn zu begleiten zur Haftanstalt.“
„Ob das so gut ist? Ich weiß ja nicht. Lass die beiden das alleine machen. Wie sieht denn das aus, wenn das Opfer den Täter aus dem Knast abholt.“
„Nein Sebastian, geh du mit den anderen zum Schwimmen und ich gehe zu Julius. Aber bitte, sag den anderen nichts davon.“
„Ok, wie du meinst, Markus. Aber mach dir nicht zu viel Hoffnung. Du weißt ja nicht mal, ob er auch schwul ist.“
„Wie kommst du denn jetzt da drauf?“
„Ich sehe es dir an Markus. Immer diese glänzenden Augen, wenn du von Luis sprichst. Das hat doch Julius bestimmt auch schon bemerkt. Oder warum will er dich dabei haben, um Luis abzuholen?“
„Quatsch, Sebi, geh du mal schön schwimmen und vergiss nicht, vorher ausreichend kalt zu duschen.“
„Dass solltest du auch mal machen“, grinste Sebastian zurück.
„Idiot“, lachte ich jetzt auch.
Nach einer freundschaftlichen Umarmung machte ich mich auf den Weg, um mich mit Julius zu treffen.
Luis
Kurz nach dem Frühstück war auch schon Chefvisite. Ich hatte ein wenig Bammel vor dem Ergebnis. Wenn er mich für gesund genug einstufte, sollte ich noch am selben Tag in den Knast wandern.
Scheiße! Was habe ich bloß angestellt.
Scheiße! Warum habe ich mich bloß von diesen blöden Typen überreden lassen?
Scheiße! Warum hatte dieser blöde Typ beim letzten Überfall bloß ein Messer dabei?
Scheiße! Warum stell ich mich jetzt bloß so wehleidig an? Ich habe doch selbst Schuld.
Der Arzt sieht keinen Grund, mich weiter hier zu behalten. So ein Mist, jetzt geht’s in den Bau. Nach der Visite kommt der Polizeibeamte mitsamt Kollegin, um mich zu eskortieren. Mir wird gerade so richtig schlecht und ich muss mit den Tränen kämpfen. Soweit ist es nun mit mir gekommen. Mache auf große Fresse, und wenn‘s blöd läuft, fange ich an zu flennen. Die Narbe schmerzt immer noch, als ich mich langsam anziehe. So kann ich die aufkommenden Tränen auf die Schmerzen schieben. Als ich mit dem Anziehen fertig bin, kommt die Stationsschwester vorbei.
„Luis, wenn ich dir einen Rat geben darf, dann entschuldige dich bei deinem ‚Opfer‘. Ich glaube, er wird dir verzeihen. Gib ihm diese Chance. Er hatte wirklich Angst um dich, als es kritisch um dich stand. Und entschuldige dich auch bei deinem Bruder. Er hat jede freie Minute hier im Krankenhaus verbracht. Ich hoffe, dass dieser Überfall mit diesem Ausgang dir die Augen geöffnet hat. Ich bin überzeugt, dass du ein anständiger Junge bist.“
Jetzt konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und weinte. Dass die Schwester das Zimmer verließ, bekam ich nicht mehr mit. Der Polizist legte seine Hand auf meine Schulter
„ Komm, Luis, wir müssen los.“ Langsam erhob ich mich nickend.
„Vielleicht tun dir ein paar Tage im Bau gut, damit du merkst, wohin es geht, wenn du so weitermachst“, sagte die Polizistin.
Mit hängenden Schultern schlich ich über den Stationsflur. Die beiden Polizisten verzichteten auf Handschellen, da ich ihnen versprach, nicht fliehen zu wollen. Wohin auch? Zu meiner Mutter? Die hat mich nicht einmal im Krankenhaus besucht. Hat mich vor einiger Zeit rausgeschmissen. Mit Dragan und Peer wollte ich nichts mehr zu tun haben. Also stelle ich mich meiner Strafe. Vor dem Schwesternzimmer blieb ich kurz stehen.
„Schwester Angelika, ich möchte mich bei ihnen recht herzlich bedanken. Ich verspreche ihnen, dass ich mich bessern werde.“
Wieder kamen mir die Tränen. Schwester Angelika nahm mich spontan in den Arm, auch ihr standen die Tränen in den Augen.
„Ich glaube an dich. Deine Geschwister brauchen dich. Außerdem nützt du niemandem, wenn du im Knast sitzt. Versprichst du mir, dass du dein Leben ändern wirst?“ Ich nickte nur stumm und fiepste dann nur noch ein kaum hörbares „Ja.“
Den Rest nahm ich nur noch wie einen Film wahr. Plötzlich stand ich vor dem großen Tor der Strafanstalt.
Adieu Freiheit. Mit großem Gepolter öffnete sich das große Tor. Es war bestimmt drei bis vier Meter hoch. Richtig furchteinflößend. Noch einmal drehte ich mich um und blickte sehnsüchtig Richtung Freiheit. Von beiden Seiten legte sich je eine Hand auf meine Schulter, wohl damit ich es mir nicht plötzlich anders überlegte und doch noch einen Fluchtversuch unternahm. Ich atmete einmal tief durch und blickte dann wieder auf das bereits geöffnete Tor. Wir gingen ein paar Schritte und standen vor dem nächsten großen Tor. Wieder dieses Gepolter. Jetzt schloss sich das große Tor hinter uns wieder. Wir standen jetzt in einem ca. 6 x 6 Meter großen Hof, an dem ich auf den beiden Seiten große getönte Fenster erblickte. Der eine Polizist grüßte Richtung der getönten Scheiben und es öffnete sich eine kleine Tür. Mit einem Schlüsselklimpern kam ein Mann, so um die 50, auf uns zu.
„Moin Dirk. Wen habt ihr denn da für uns mitgebracht?“
„Das ist Luis. Raubüberfall. Er kommt aus dem Krankenhaus, um hier seinen Prozess abzuwarten. Der Aufseher blickte auf seinen Block und dann auf mich. Wieder auf den Block, um dann mir wieder in die Augen zu sehen.
„Ziemlich jung für einen Intensivtäter. Und dann alle Straftaten in kürzester Zeit. Hm, na was meinst du, Luis, kriegen wir das in den Griff?“
Ich sagte nichts und zuckte nur mit den Schultern.
„Na dann kommt mal mit“, und zu den beiden Polizisten, „Ihr bekommt noch eure Unterschrift mit Stempel für die Unterlagen.“
Nachdem diese Unterschrift mit Stempeln erledigt war, wurden noch einige Zettel ausgetauscht, dann verabschiedeten sich die drei voneinander. Die Beamtin drehte sich nochmal zu mir. „Nutze die Zeit hier.“ Ich begriff zuerst nicht, was sie mir damit sagen wollte.
„Komm, Ellen, wir haben einen neuen Einsatz“, rief der Polizist seiner Kollegin zu.
„So, du bist Luis? Ich bin der Anstaltsarzt, werde dich jetzt erst einmal untersuchen und anschließend bekommst du deine Anstaltsklamotten und dann deine Zelle zugewiesen.“
Ich folgte dem Arzt in ein Nebenzimmer, das wie eine gewöhnliche Praxis eingerichtet war. Der Unterschied waren lediglich die vergitterten Fenster.
„So, dann mach dich mal frei. Also, das heißt, alle deine Sachen ausziehen und hinter dir auf den Stuhl legen. Verstört zögerlich begann ich mich auszuziehen, als plötzlich eine junge Frau ins Zimmer kam. Ich erstarrte, blickte zu der jungen Frau und dann zum Arzt und wieder zur jungen Frau. Der Arzt fing an zu kichern.
„Das ist meine Assistentin, Frau Maier. Keine Angst, die hat schon viele nackte Jungs gesehen. Außerdem hat sie selbst einen zu Hause. Also Luis, mach ruhig weiter.“
Mir war das ganz schön peinlich, mich vor den beiden auszuziehen, aber da ich hier eh nicht fliehen konnte, ergab ich mich meinem Schicksal. Ich stand jetzt nackig, mit den Händen meine Juwelen versteckend, vor dem Schreibtisch des Doktors. Die beiden waren mit irgendwelchen Unterlagen beschäftigt, die Frau Maier vorhin mitgebracht hatte.
„Ah, Luis, dann komm mal mit zur Waage.“
Ich wurde gewogen, vermessen und auf alle möglichen Gebrechen hin untersucht. Bis auf die Stichverletzung und einer leichten Phimose war ich völlig gesund und damit voll ‚knastfähig‘. Das mit der Phimose war mir vielleicht peinlich. Da grabbelt der olle Doktor doch tatsächlich an meinem Puller rum und schob genüsslich meine Vorhaut vor und zurück. Ich musste mich sehr beherrschen, keine Erektion zu bekommen. Es war die erste fremde Hand nach Thomas ……. Mir kamen die Tränen.
„Luis, was ist los? Hab ich dir wehgetan? Zieh dir mal diese Anstaltskleidung an und setz dich dann zu mir. Frau Meier, holen sie uns bitte zwei Tee. Luis, ist dir ein Tee recht?“
Ich nickte nur schniefend, während ich mich anzog.
„Willst du mir sagen, warum du gerade geweint hast? Ich bin Arzt und zur Verschwiegenheit verpflichtet“
„Ich, … ich musste an einen Freund denken. An einen guten Freund. Er …. er ach, …“
„Hat er dich missbraucht? Irgendwas, was du nicht wolltest?“
„Nein, ich wollte es genauso wie er…. also ich …. bin schwul, und Thomas war mein erster Freund, bis er vor fast einem Jahr wegen seines Vaters nach Bayern umgezogen ist. Gerade musste ich an ihn denken. Er fehlt mir immer noch sehr. Ich war traurig und wütend, weil mein Leben plötzlich kein Sinn mehr machte. Keine Ahnung, aber als sie mich vorhin da unten anfassten, fühlte es sich wie bei Thomas an.“
„Das tut mir leid. Das war von mir nicht beabsichtigt. Aber gut, dass du mir das erzählt hast. So kann ich für dich eine Einzelzelle besorgen, damit du keine Angst haben musst. In ein bis zwei Wochen solltest du wieder draußen sein. Das hier ist als Erziehungsmaßnahme gedacht, um dich von weiteren Straftaten abzuhalten. Eigentlich solltest du das nicht erfahren, aber ich denke, du bist ehrlich zu mir gewesen, also sollte ich auch ehrlich zu dir sein.“
„Danke.“
„Hast du denn zurzeit einen Freund?“
„Nein, nachdem Thomas weggezogen ist, war alles so traurig und leer. Ich habe mir vorgenommen mich nie wieder zu verlieben.“
„Seit wann weißt du von deinem schwul sein?“
„Seit Thomas mir an unserem letzten Abend seine Liebe gestand. Zuerst war ich verwirrt, aber dann war mir klar, warum ich Thomas so mochte. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Es musste Liebe sein, was ich die vielen Jahre schon für ihn empfand. Ich konnte es nur nicht richtig deuten.“
„Das ist tragisch, dass eure erste Nacht auch gleichzeitig die Letzte war. Das tut bestimmt sehr weh. Das hast du dann mit deinen falschen Freunden versucht zu verdrängen, oder?“
„Ja, das trifft es wohl“, ich nahm die Tasse mit dem heißen Tee, den Frau Maier zwischenzeitlich gebracht hatte, und nahm einen kräftigen Schluck.
Das mit der Einzelzelle hatte leider nicht geklappt. Wegen Überbelegung und so. Was soll‘s, ich musste da jetzt durch.
Ich kam, nachdem ich noch Bettwäsche und Handtücher erhalten hatte, in eine Vierer-Zelle.
Das war ein bunt zusammen gewürfelter Haufen. Ein Libanese namens Mesut, ein Afrikaner aus dem Senegal namens Youssoun und ein Deutscher, der auf den Namen Erik hört. Sie beobachteten mich genau, als man mich in ihre Zelle sperrte. Es war eine gespannte Atmosphäre als ich mit meinen Klamotten, dem Bettzeug und meinen Waschsachen vor ihnen stand.
„Hallo, ich bin Luis“, flüsterte ich mehr als dass ich es sagte. Erik kam auf mich zu: „Warum bist du hier?“
„Ähm, ich habe Leute im Volkspark überfallen.“
„Hat es sich denn wenigstens gelohnt?“
„Nee, sonst wäre ich nicht hier“.
Mesut grinste.
„Voll krass wegen so‘n Scheiß in Knast?“
„Es war ja nicht nur ein Überfall. Und beim letzten ist alles schief gelaufen. Der hatte ein Messer dabei, dass er mir dann ich den Bauch rammte. Pech halt “, zuckte ich mit den Schultern.
„Welches Bett ist denn meins?“ fragte ich die Drei.
„ Da“, zeigte Erik auf das obere Bett.
„Wehe, du bist Bettnässer“, fügte Erik dann noch zu.
„Keine Angst, ich bin kein Auslaufmodel.“, antwortete ich Erik, der dann wohl das Untere des Etagenbettes bewohnte. Er sah hübsch aus mit seinen kurzen blonden Haaren. War etwas größer als ich und hatte ein gutes Six-Pack unter seinem T-Shirt. Das war wohl nicht einfach nur ein Klischee, dass man im Knast nur Bodybuilding macht. Auch die anderen beiden hatten eine ansehnliche Figur, nur machte mich ihr Verhalten und wie sie mich beobachteten nervös. Youssoun hatte mich bisher nur misstrauisch beobachtet und noch nichts gesagt. Ich bezog mein Bett und legte meine anderen Sachen in mein Fach. Später unterhielten wir uns noch eine Weile, bis wir zum Abendessen gerufen wurden. Dabei erfuhr ich, dass Erik in andere Wohnungen eingebrochen ist und dabei erwischt wurde. Mesut hat auf dem Schulhof mit Drogen gedealt und Youssoun soll wohl seine Freundin verprügelt haben, weil sie schwanger war. Das erzählten die anderen beiden mir, weil Youssoun weiterhin kein Wort sagte. Das Abendessen wurde in einem großen Saal mit allen Insassen eingenommen, danach war allgemeine Freistunde. So wie eine Freistunde in einem Gefängnis nun einmal sein kann. Um 20.30 Uhr war dann Zellenpflicht. Das heißt, dass alle Insassen in ihre Zellen mussten, und um 21 Uhr war Schließstunde, da die Zellen geschlossen wurden. Um 21.30Uhr wurde schließlich das Licht ausgeschaltet. Ich lag in meinem Bett und kam langsam zur Ruhe, aber an schlafen war nicht zu denken. Ich lag noch lange wach und dachte über viele Sachen nach. Wie geht es wohl meinen Geschwistern? Muss ich lange hier im Gefängnis bleiben? Wie wird meine Gerichtsverhandlung ausgehen? Wird Markus mir verzeihen? Über all diesen Gedanken bin ich dann doch eingeschlafen. Mitten in der Nacht wurde ich dann von eigenartigen Geräuschen wach. Ich lauschte angestrengt, konnte aber nur leises Flüstern feststellen. Ich lag wie erstarrt in meinem Bett und wagte kaum zu atmen, geschweige denn mich zu bewegen, um mich umzudrehen. Langsam aber drehte ich mich dennoch um, weil ich doch sehr neugierig war. In der Dunkelheit konnte ich erst nichts erkennen. Dann nahm ich leichte Schatten war. Ich konnte in dem unteren Doppelbett gegenüber Bewegungen erkennen. Es war das Bett von Youssoun. Ob er im Schlaf sprach oder schlecht träumte? Dann merkte ich, dass er sich rhythmisch bewegte und stöhnende Geräusche von sich gab. Meine Augen gewöhnten sich immer besser an die Dunkelheit, und ich war jetzt der Meinung, dass Youssoun nicht alleine in seinem Bett lag. Mesut konnte ich in seinem Bett liegen sehen. Es traf mich wie ein Blitz. Es musste Erik sein, der mit Youssoun im Bett lag. Jetzt war es mir klar. Waren die beiden ein Paar? Oder war es einfach nur der normale Triebabbau? Hier gab es ja schließlich keine Mädchen, also musste man sich anders behelfen. Die Bewegungen und das Gestöhne wurden heftiger. Da die beiden nicht unter der Decke lagen, konnte ich erkennen, dass Erik auf dem Rücken lag und seine Beine in die Luft ragten, Youssoun lag auf Erik und wurde immer wilder. Nach einigen Minuten erstarrte er und sackte in sich zusammen. Mich erregte diese Situation. Wieder musste ich an Thomas denken. Ich bekam ihn einfach nicht aus meinen Gedanken. Erik kletterte ein wenig später aus Youssouns Bett und zog sich schnell seine Kleidung wieder an, während Youssoun sich einfach nur zudeckte und Erik zu flüsterte: „Kein Wort oder es passiert was!“
Das war eindeutig eine Drohung. Ich stellte mich schlafend, als Erik in meine Richtung sah. Wenn mein Herz laut pochen würde, hätte ich mich damit verraten. Ich traute mich nicht einmal richtig zu atmen. Erst als Erik in seinem Bett lag und alles ruhig wurde, traute ich mich zu entspannen. Ich lag noch eine ganze Weile wach.
Um sechs Uhr war dann Weckzeit. Nach und nach kam wieder allgemeines Stimmengewirr auf. Am liebsten wäre ich noch ein paar Stunden liegen geblieben. Erik rüttelte mich wach.
„Hey, Luis, besser du stehst schnell auf. Wenn die Wärter dich noch im Bett erwischen, gibt‘s 'ne Strafaktion. Außerdem haben wir nur 20 Minuten zum duschen“
Ich erschrak, als ich Eriks Gesicht direkt vor mir sah. Sofort dachte ich an die Sache der letzten Nacht. Erik lächelte mich an. Von mir kam nur ein gequältes Lächeln zurück. Hoffentlich schob Erik das auf eine mögliche morgendliche Übellaunigkeit. Ich kletterte verschlafen aus meinem Bett, schnappte mir Handtuch, frische Unterwäsche und trapste hinter Erik zu den Duschen her. Dort angekommen erschrak ich. Es gab keine Einzelduschen, sondern nur einen großen Duschraum. Dort standen schon einige Jungs und duschten sich ausgiebig. Ich konnte mich dieser Bilder nicht entziehen. Erst ein Stups von Erik mit dem Ellenbogen in die Seite holte mich in die Wirklichkeit zurück.
„Hey, nicht so auffällig, wenn das jemand merkt, bist du leichte Beute und wirst hier schnell rumgereicht.“
Ich starrte Erik an und verstand nicht, was er wollte.
„Was meinst du?“
„Na ja, so wie du guckst und wohin du guckst, ist das ja wohl eindeutig“, grinste Erik. Ich wurde so was von rot.
„Hey, du bekommst ja Farbe. Ich hoffe, dass wenn du dich ausziehst, sich noch nichts selbstständig gemacht hat.“
„Häh?“
Ich war so was von begriffsstutzig, das ich nicht merkte, wie ich plötzlich nackig unter der Dusche stand. Ich drehte mich zur Wand, um mich ein wenig zu verstecken und damit ich nicht die ganze Zeit die anderen hüllenlosen Körper angaffte. Dann merkte ich, dass ich mein Duschgel vergessen hatte. Ich spürte eine kräftige Hand auf meiner Schulter und zuckte zusammen. Ich drehte mich erschrocken um und Youssoun stand dicht vor mir. Er blickte mir mit ernstem Gesicht direkt in die Augen. Ich starrte zurück. Youssoun strich mir über die Brust und hielt mir sein Duschgel unter die Nase. Ich blickte herunter auf die Plastikflasche und sah dabei auch seinen Penis. Ich zuckte innerlich zusammen, was ich da erblickte. Wie hatte Erik bloß letzte Nacht dieses Monsterteil in seinem Hintern untergebracht, ohne laut aufzuschreien? Ich nahm das Duschgel dankte Youssoun und blickte ihm ins Gesicht. Er nickte nur leicht und verließ dann die Dusche. Immer noch perplex fing ich an, mich wie in Trance einzuseifen.
Wieder in der Zelle stellte ich Youssouns Duschgel in sein Fach, zog mich an und ging zum frühstücken.
Am Nachmittag hatte ich ein Gespräch mit der Anstaltsleitung. Mir wurde ein Mann vom Jugendamt vorgestellt, der mit mir zusammen mein Fehlverhalten analysieren sollte. Ganz schön dröge, dieses Gespräch. Er versuchte, mir klar zu machen, wohin ich komme, wenn es mit mir so weiter geht. Ich erzählte ihm, warum ich so wurde, wie ich bin. Bernd, so stellte sich der Mann von Jugendamt vor, hörte mir interessiert zu. Ich redete und redete und Bernd nickte mir verständnisvoll zu, und stellte mir auch die eine oder andere Frage. Das tat richtig gut, endlich mal alles, was mir auf dem Herzen lag, von der Seele zu reden. An manchen Stellen musste ich schlucken und mit den Tränen kämpfen. Zum Beispiel, als es um meinen Vater ging, den ich kaum kannte, da er uns verlassen hatte, als ich noch klein war. Oder meine Mutter, die sich nicht so richtig um uns kümmert. Oder Thomas, meinen besten Freund. Da kamen mir tatsächlich die Tränen.
„Du vermisst ihn sehr, stimmt’s? Richtige Freunde hat man nur wenige. Die meisten sind nur Kumpels oder Schulfreunde. Wenn dieser dann auch noch weg zieht, dann ist das wie als wenn einem ein Stück von sich selbst rausgerissen wird. Und das tut weh. Und dieser Schmerz schlägt manchmal um in Wut, die man dann an den nächst besten auslässt. Und genau da ist dein Problem. Du bist eigentlich so wie du mir alles erzählt hast, ein hilfsbereiter und herzensguter Junge, der mit dem Verlust seines besten und einzigen Freundes nicht fertig geworden ist.“
Ich starrte ihn nur traurig an.
„Er war meine erste große Liebe“, flüsterte ich und fing an zu weinen.
„Das ist natürlich noch tragischer. Habt ihr denn noch Kontakt?“
Ich schüttelte nur den Kopf und schluchzte ein kaum hörbares „Nein. Er meinte es wäre besser für uns beide, wenn wir keinen Kontakt mehr haben.“
„Es ist für ihn bestimmt genauso schlimm wie für dich.“
Er erzählte mir dann von seinem Bruder, der auch schwul war. Es hatte ihm wehgetan, wie er mit ansehen musste, wie der Bruder unter der Trennung von seinem ersten Freund litt. Daher konnte er sich gut in meine Situation hinein versetzen. Mir ging es nach dem langen Gespräch endlich mal wieder so richtig gut. Wir verabredeten für die nächsten Tage ein weiteres Gespräch. Froh gelaunt ging ich in meine Zelle zurück.
Dort traf ich nur Erik an. Es war Freistunde. Jeder durfte zu den anderen in die Zelle und dort wurde dann gequatscht oder im Freizeitraum gekickert oder Tischtennis gespielt. Erik lag auf seinem Bett und las ein Buch. Als er mich reinkommen sah, legte er es weg und richtete sich auf. „Hey Luis, alles klar?“
„Jo, alles klar“, lächelte ich ihn an.
Er lächelte zurück und ich meinte, in seinem Gesicht eine leichte Rötung zu erkennen. Ich wollte mich gerade auf mein Bett legen als Erik fragte:
„Luis, kann ich dich mal was Persönliches fragen?“
Ich schaute ihn an und antwortete „Kommt drauf an, wie persönlich.“
„Magst du dich zu mir setzen?“ und er klopfte neben sich aufs Bett.
Ich schaute erst skeptisch und merkte wie er verlegen wurde.
„Ok“ und ich setzte mich zu ihm.
„Wie war eigentlich deine erste Nacht? Konntest du gut schlafen? Also, ich brauchte mehrere Nächte, bis ich mich an das hier gewöhnt hatte“, sprach Erik und zeigte bei ‚das hier‘ einmal durch die Zelle.
„Es ging so. Ich habe lange wach gelegen und bin dann irgendwann vor Müdigkeit eingeschlafen.“
„Sag mal, hast du letzte Nacht auch so komische Geräusche gehört?“
Was sollte das denn? Wollte er raus kriegen, ob ich von seinem Schäferstündchen mit Youssoun etwas mitbekommen hatte?
„Was meinst du? Was für Geräusche. Also wenn ich schlafe, verpasse ich sogar das dollste Gewitter“.
Erik sah mir direkt in die Augen. Er kratzte sich nervös erst im Nacken und dann am Ohr.
„Ehm, naja, hm, ich glaube, dass du letzte Nacht was gesehen hast.“
Ich lief so was von rot an. Er muss es bemerkt haben. Ihm war selbst nicht wohl bei der Sache.
„Bitte, erzähl bloß niemandem davon, sonst bin ich geliefert. Wenn so was die Runde macht, kann ich mich erschießen“
Erik ließ seinen Kopf hängen. Tränen liefen ihm über die Wangen.
„Keine Angst Erik, von mir erfährt keiner was. Hat Youssoun dich gezwungen?“
„Na ja, teils, teils. Er bot mir Schutz an, wenn ich ein wenig lieb zu ihm sei. Er hat mich schon ein wenig scharf gemacht.“
„Du bist also schwul?“
„Ich denke schon, zumindest bi. Und wie sieht es bei dir aus? So wie du heute Morgen die anderen unter der Dusche abgecheckt hast, bist du doch auch mindestens bi.“
„Ja, ich bin auch schwul. Da war ich wohl nicht vorsichtig genug.“
Ich sah ihn dabei an und musste ein wenig grinsen. Erik lief wieder mal rot an als er zu mir rüber sah. Erik legte ganz vorsichtig seine Hand auf mein Knie. Mir wurde heiß und kalt, aber bevor ich reagieren konnte, stand plötzlich Mesut in der Tür.
„Ey, was geht denn hier ab? Seid ihr beiden etwa Schwuchteln? Oh Mann, ich fasse es nicht, ich mit zwei Schwestern in einer Zelle.“ Erik und ich saßen einfach nur da und starrten Mesut erschrocken an. Endlich nahm Erik seine Hand von meinem Knie. Scheiße, hoffentlich geht das jetzt nicht nach hinten los. Mesut ging langsam grinsend auf uns zu. Er sah mir direkt in die Augen.
„Na Püppchen, wie wäre es mit ein bisschen … na du weißt schon.“
„Mesut, lass den Scheiß.“
Er wandte sich jetzt an Erik und sprach mit einem bedrohlichen Ton:
„Los, Tussi, lass uns mal alleine. Mach die Tür von draußen zu und pass auf, dass die nächsten 30 Minuten niemand reinkommt.“
„Mesut, lass den Scheiß!“, sagte Erik erneut.
„Verpiss dich, du Opfer“, schrie Mesut jetzt.
Mir wurde augenblicklich schlecht. Wollte Mesut mich vergewaltigen? Erik sah besorgt zu mir herüber, sagte aber nichts mehr. Er drehte sich um und verließ langsam die Zelle. Die nächsten Augenblicke, von denen ich nicht weiß, wie lange sie dauerten, erlebte ich wie im Film. Ich hoffte auf ein Wunder, aber nichts passierte. Mesut stellte sich dicht vor mir auf. Ich wollte mich vom Bett erheben, doch Mesut schubste mich zurück aufs Bett. Dann begann er an seiner Hose zu nesteln. „Wenn du jetzt lieb zu mir bist, beschützte ich dich vor den anderen.“
„Mesut, was soll das!“
Langsam öffnete er seinen Reißverschluss und grinste mich dabei an.
„Ich verspreche, dass es dir gefallen wird. Bis jetzt hat sich noch niemand beschwert. Also, mach schon.“, sprachs und holte seinen mittlerweile harten Schwanz aus der Hose.
Ich schüttelte meinen Kopf und ließ mich nach hinten fallen. Mesut packte aber meine Haare und zog mich wieder hoch.
„Aua, du tust mir weh!“
„Wenn du nicht parierst, wird es noch schmerzhafter. Hier ist niemand, der dir helfen wird. Also finde dich damit ab. Und je weniger du dich sträubst, desto schneller hast du es hinter dir.“
Ich sah keinen Ausweg aus dieser Situation.
„Lass mich los, du Idiot!“
„Halts Maul, du Opfer!“
Ich fühlte seine Hand in mein Gesicht klatschen, als plötzlich die Zellentür aufsprang.
„STOP!!!“, brüllten drei Aufseher und rissen Mesut von mir weg. Sie fixierten ihn am Boden und legten ihm Handschellen an.
„Alles in Ordnung Luis?“, sprach mich einer der Aufseher an.
„Ja, geht schon wieder, danke“, flüsterte ich noch ein wenig eingeschüchtert. „Wenn noch was ist, dann melde dich bei uns, ok? Du kannst aber auch mitkommen, wir finden einen Platz in einer anderen Gruppe für dich.“
Ich blickte hoch und sah hinter dem Aufseher Erik in der Tür stehen. Er blickte mich besorgt an.
„Nein, solange Mesut nicht mehr in diese Gruppe ist, bleibe ich hier.“
Ich sah in Eriks Gesicht ein leichtes Lächeln. Die drei Aufseher verließen mit Mesut unsere Zelle und die Station. Erik kam langsam auf mich zu.
„Ist wirklich alles ok mit dir? Ich hatte echt Angst um dich.“
Ich fing leicht an zu zittern und konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Schnell setzte Erik sich neben mir aufs Bett und nahm mich vorsichtig in den Arm. Ich weiß nicht, wie lange wir so da saßen, aber irgendwann ließ mich Erik los.
„Danke, Erik, ich hatte echt Angst.“
„Gut, dass die Aufseher so schnell reagiert haben.“
„Alles Ok?“, Youssoun war in die Zelle gekommen.
„Ja, alles in Ordnung“, schniefte ich. Das waren Youssouns erste Worte, seit ich hier im Gefängnis war.
Den Rest des Tages geschah Gott-sei-Dank nichts mehr. Die Jungs aus den anderen Zellen schienen nichts von Mesuts Überfall auf mich mitbekommen zu haben, zumindest wurde ich nicht sonderlich beobachtet. Nach dem Abendessen verzogen wir uns wieder auf unsere Zelle. Dieser Tag hatte Spuren hinterlassen. Ich war sehr müde und schlief schon lange vor der verordneten Nachtruhe ein.
Die nächsten Tage verliefen ruhiger.
Mitten in der Nacht wurde ich von flüsternden Stimmen geweckt. Erik schien sich mit Youssoun zu unterhalten. Ich versuchte angestrengt zu verstehen, was die beiden zu bereden hatten. Da ich mit dem Gesicht zur Wand lag, konnte ich nicht mal etwas sehen. Mich umzudrehen traute ich mich nicht. Aber ich konnte mir schon denken, was bei den beiden wieder abging. Nach einiger Zeit quietschte das Bett rhythmisch, was mich in meinen Vermutungen bestätigte. Nach einiger Zeit schlief ich wieder ein.
Am nächsten Tag hatte ich wieder einen Termin mit meinem Jugendbetreuer Bernd.
„Hallo Luis, wie geht’s, wie steht‘s?“, begrüßte er mich lächelnd.
„Wenn ich nicht hier wäre, wäre ich der glücklichste Mensch der Welt. Tja, leider läuft nicht immer alles optimal.“
„Ich habe gehört was vor ein paar Tagen vorgefallen ist. Da kannst du dich bei Erik bedanken, dass er so besonnen reagiert hat.“
„Erik hat die Wachen alarmiert?“
„Wusstest du das nicht?“
„Nein, er hat nichts davon erwähnt.“
„Ich hoffe, du hast den Schrecken gut weggesteckt.“
„Ja, Erik hat sich um mich gekümmert.“
Nach einem ausführlichem Gespräch über mein Verhalten und meine Zukunft, eröffnete mir mein Betreuer, dass ich morgen entlassen werden kann.
„Echt? Super. Ach, bin ich froh, hier wieder raus zu sein.“
„Und wirst du Sehnsucht haben, hier jemals wieder her zu kommen?“
„Nein, niemals wieder. Versprochen!“
„Das habe ich auch gehofft. Ich habe vorhin mit deiner Familie telefoniert. Wie ist eigentlich dein Verhältnis zu deiner Mutter?“
„Nicht gut.“
„Sie wollte nichts von dir wissen. Dann habe ich mit deinem Bruder Julius gesprochen, der war richtig glücklich. Er will dich morgen abholen kommen.“
Mir kamen die Tränen. Julius mein kleiner Bruder. Ach, wie hatte ich ihn die letzten Tage vermisst. Die anderen beiden natürlich auch.
„Du liebst deinen Bruder?“
„Ja, und ich habe ihn enttäuscht. Ich muss bei ihm einiges wieder gut machen.“ „Bleib einfach sauber und geh deinen Weg, damit bist du ihm das beste Vorbild.“
„Ich habe verstanden, Bernd.“
„Ach ja, ich werde dich auch weiterhin begleiten, denn ich bin dein Bewährungshelfer. Also keinen Scheiß, sonst sitzt du schneller wieder im Bau als dass du ‚Ene – Mene – Muh‘ sagen kannst. Hast du mich verstanden?“
„Ay ay, Sir“, sagte ich und salutierte ein wenig übertrieben.
Bernd lachte nur und gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf.
Wieder zurück in der Zelle, bemerkte Erik, der auf seinem Bett saß, mein Grinsen.
„Was ist denn plötzlich mit dir los?“
„Ich werde morgen entlassen“, strahlte ich ihn an.
„Was? Aber…“, er brach ab und blickte auf den Boden.
Irgendwas stimmte nicht mit Erik. Dieser komische Blick und dann das nach Worten suchen. Er blickte mich wieder an. Ich bemerkte seine Traurigkeit.
„Was ist denn los Erik? Freust du dich denn nicht für mich?“
„Doch, doch….. ich finde es nur schade, dass du schon wieder gehst. Ich meine, es ist natürlich schön, dass du wieder rauskommst. Ich…. Ich….“, er blickte auf seine Hände die er nervös knetete.
„Erik, was ist los?“, fragte ich ihn erneut und ging auf ihn zu. Ich kniete mich vor ihn auf den Boden. Vorsichtig legte ich meine Hände auf seine. Erik sah mich mit traurigen Augen an.
„Luis, ich glaube, ich habe mich in dich verliebt. Bitte mach dich jetzt nicht lustig über mich. Ich weiß nicht wieso, aber immer wenn ich dich sehe, oder an dich denke, habe ich so ein komisches Gefühl im Bauch. Das hatte ich bisher noch bei niemanden. Ich weiß, es klingt blöd, aber ich kann nichts dafür. Ich habe sogar davon geträumt, dass wir zusammen wohnen und wie eine Familie sind.“
Erik sah mich jetzt verstört an und wartete auf eine Reaktion von mir.
"Erik, ich danke dir für dein Vertrauen. Ich weiß nicht, ob ich dich liebe, aber du bist mir schon am ersten Tag aufgefallen. Ich bin mir nicht sicher. Auf jeden Fall würde ich dich gerne wiedersehen. Draußen in Freiheit. Gib mir Zeit. Bitte!“
Erik versuchte ein zaghaftes Lächeln und nickte mir zu. Wir verabredeten, in Verbindung zu bleiben.
Am nächsten Morgen tauschten wir unsere Adressen aus. Erik umarmte mich zum Abschied und versprach mir, sich zu melden. Youssoun stand vor mir reichte mir seine Hand: „Junge, bleib sauber.“
Ich nickte ihm lächelnd zu und antwortete: „Pass bitte auf Erik auf.“
Ich verließ die Zelle, ohne mich nochmals umzudrehen. Ich war den Tränen nahe. Einerseits vermisste ich schon jetzt Erik und Youssoun, andererseits freute ich mich auf meine Freiheit. Am großen Tor wartete Bernd auf mich.
„Moin Luis. Gut geschlafen?“
Ich grinste ihn nur an. Im Pförtnerhaus mussten noch ein paar Formalitäten erledigt werden: Unterschriften und die Entgegennahme meiner Wertsachen. „Na dann kann‘s ja jetzt losgehen.“
Wir standen vor dem Tor als es sich langsam öffnete. Ich erkannte die eine Person auf der anderen Seite, die plötzlich auf mich zu gestürmt kam. „Luuuis, Luuuuis endlich….“
Markus
Ich traf mich mit Julius am Zoologischen Garten.
„Hallo Julius.“
„Na endlich, ich dachte schon du kommst nicht mehr.“
„Ich bin doch pünktlich, oder?“
Julius sah aufgeregt auf seine Uhr
„Ja, stimmt schon. Aber wir müssen uns beeilen. Ich will nicht zu spät kommen. Los Markus, auf geht’s.“
„Immer mit der Ruhe, Julius, wir haben Zeit. Wenn wir den nächsten Bus bekommen, sind wir immer noch 20 Minuten zu früh da.“
„Und wenn der Bus im Stau stecken bleibt?“
„Julius, hallo, ich kann ja verstehen, dass du aufgeregt bist, aber du machst mich verrückt.“
„Freust du dich denn nicht, Markus?“
„Ich , wie?... was … ääh… wieso freuen?“ mir wurde plötzlich heiß und kalt und wieder heiß.
Julius grinste nur frech. Ich glaube, ich sehe gerade aus wie eine reife Tomate, zumindest fühle ich mich so.
„Der Bus kommt.“
Julius hüpfte, aufgeregt wie ein kleines Kind, das auf die Bescherung wartet. Ich musste grinsen. Julius schaute mich verwirrt an.
„Was ist?“
„Äääh, nix.“
Im Bus setzten wir uns in die letzte Reihe.
“In 20 Minuten sind wir da. Freust du dich auch so wie ich, Markus?”
“Ich freue mich für dich, Julius.“
„Freust du dich nicht, dass Luis wieder rauskommt?“
„Doch, schon, aber ich bin skeptisch, ob er mich überhaupt sehen will. Ich habe ihn nur einmal seit dem Vorfall im Volkspark gesehen. Das war im Krankenhaus, und er hat mich damals rausgeschmissen. Also erwarte lieber nicht zu viel.“
„Aber warum bist du dann mitgekommen?“
„Weil du mich gefragt hast und weil ich dir deinen Wunsch gerne erfülle.“ Julius sagte nichts und schaute nur aus dem Fenster.
„Nächste Station müssen wir raus, Julius“
„Hm.“
„Sag mal Markus, hast du eigentlich Geschwister?“
„Nein,“ seufzte ich „… leider nicht. Einen Bruder oder Schwester hätte ich schon gerne gehabt. Aber so muss ich halt mit niemanden teilen.“
„Ich kann es mir nur sehr schwer vorstellen, wenn ich ein Einzelkind wäre. Wir Geschwister sind schon ein eingeschworenes Team“, lächelte Julius vor sich hin. „Da ist immer was los. Nie wird’s langweilig. Ok, es gibt manchmal auch Streitereien, aber wir vertragen uns immer schnell wieder. Ich möchte meine Geschwister für nichts in der Welt wieder hergeben.“
Ich blickte ihn an und sah in seinem Blick, dass er das wirklich so meinte. So ein Glückspilz aber auch.
„So, Julius, wir sind da“
„Endlich. Ich freue mich so. Hoffentlich ist es Luis gut ergangen. Man hört ja immer so gruselige Geschichten, wie das im Knast so vor sich geht.“
„Wird schon nicht so schlimm gewesen sein. Hoffen wir, das die Knasttherapie ihn auf den rechten Weg zurück bringt.“
„Ja, das hoffe ich auch.“
Da standen wir jetzt vor diesem hässlichen Gebäude mit dem Stacheldraht oben drauf.
„Wie spät ist es eigentlich, Markus?“
„Gleich 13 Uhr. Und jetzt zappel mal nicht so rum, Julius.“, grinste ich, als er mich genervt anschaute.
„Er müsste doch schon längst draußen sein.“
„Julius!“, ermahnte ich ihn. Wenn er mein Bruder wäre, oha, das gäbe sicherlich nur Streit. Man, wie dieser kleine Wirbelwind manchmal nerven kann. Natürlich war auch ich aufgeregt. Wie wird er reagieren, wenn sich gleich das Tor öffnet und er mich hier stehen sieht. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst. Dann plötzlich, gerade als Julius mir was sagen wollte und mit dem Rücken zum Tor stand, öffnete sich dieses.
„Julius, schau, das Tor.“
Blitzschnell drehte sich Julius um. Dort standen im sich langsam öffnenden Tor zwei Personen. Im gleichen Moment stürmte Julius auch schon los.
„Luuuis, Luuuuuis…endlich …“
Sie fielen sich freudig in die Arme. Ich freute mich für die beiden. Mir kamen die Tränen. In diesem Moment vermisste ich eine gewisse Person. Mich überkam es plötzlich wie aus dem Nichts. Ich wünsche mir einen Freund, auf den ich mich freuen kann. Das sah so schön aus, wie die beiden sich umarmten. Tja, das ist wohl mein Schicksal. Ich wollte jetzt nicht stören, drehte mich sehnsüchtig um und ging die Straße zur Bushaltestelle. Julius hatte seinen großen Bruder wieder. Ich schaute auf die Uhr. Wenn ich mich beeile, bekomme ich noch den Bus. Jetzt stand ich an der Bushaltestelle und studierte den Fahrplan. In 4 Minuten kommt der Bus.
„Markus“, Julius rief über die Straße.
„Markus, warte doch mal.“
Ich drehte mich um und schon stand Julius vor mir. Hinter ihm kam Luis langsam und sichtlich unsicher auch auf mich zu.
„Warum läufst du weg?“
„Ich wollte nicht stören. Ihr habt euch lange nicht gesehen. Kannst mich ja in den nächsten Tagen mal anrufen.“
Bevor Julius antworten konnte sprach Luis: „Äh, hallo, Markus. Danke, dass du dich um Julius gekümmert hast. Er hat mir erzählt, was passiert ist.“
„Hallo Luis, keine Ursache, habe ich gerne getan.“
In dem Moment kam der Bus.
„Der Bus, ich werde dann mal…..man sieht sich.“
Ich stieg in den Bus und schaute nochmal kurz zu Julius und Luis, die leicht verwirrt vor dem Bus standen und zu mir hinein schauten. Kurz winkend setzte ich mich, und schon fuhr der Bus an. Mir ging durch den Kopf, wie Luis mich ansah und wie enttäuscht er schien, als ich in den Bus stieg.
Er sah niedlich aus. Den konnte ich mir gut als meinen Freund vorstellen. Aber der ist bestimmt nicht schwul. Wie Julius und Luis sich freudig in die Arme fielen, gab mir einen Stich ins Herz. Ich wäre gern an Julius Stelle gewesen.
Am Abend bimmelte mein Telefon. Sebastian.
„Hallo Markus. Wie war dein Wiedersehen mit Luis?“
„Kurz.“
„Na, erzähl schon.“
Ich fing an zu weinen.
„Nicht am Telefon.“
„OK, ich bin in einer halben Stunde bei dir. Danach können wir noch in die Disco, wenn du willst. Also bis gleich“
„Ja, bis gleich.“
Nach einer halben Stunde stand Sebastian dann in meinem Zimmer. Wir schauten uns nur an. Ich hatte noch rote Augen. Langsam kam er auf mich zu und nahm mich in den Arm.
„So schlimm?“
Ich zuckte nur mit der Schulter.
„Ich weiß nicht, ich glaube ich habe mich verliebt.“
„Und wie sieht Luis die Sache?“
„Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt schwul ist.“
„Oh, sehr kompliziert. Dann musst du es herausfinden.“
„Aber wie?“
„Weiß nicht. Auf jeden Fall nicht überstürzen.“
„Warte mal Sebi, mein Telefon. …. Hallo? …. ah, was gibt’s? … äääh, ja … Ok, … alles klar, dann bis gleich.“
„Lass mich raten Markus, das war Julius?“
„Hä, ..was .. ach so, na ja ... richtig Julius. Seine Mutter ist wohl ausgeflippt, oder so. Sie kommen gleich hier vorbei.“
„Was, die Mutter von Julius?“
„Ja, gleich .. was? …welche Mutter? Hä? ..ach nein, nicht die Mutter….“
Ich war mit einem Mal völlig verunsichert und blickte mich panisch um und kratzte mich am Kopf.
„Hallo, Markus, hallo, bist du zu Hause? Was ist … wer kommt denn jetzt?“ „Nee, äh ja, ach so, Julius kommt.“
Wieder blickte ich mich verwirrt um und blickte an mir herunter. Mein Zimmer! Nicht aufgeräumt. Und wie sehe ich bloß aus!
„Und? Mensch Markus, du sagtest SIE kommen gleich ….“
Ich sah Sebastian an als würde er mit einem Mal eine andere Sprache sprechen. Dann sagte ich ganz ruhig
„Ach ja, Luis kommt auch.“ Sebastian fing an zu lachen
„Dann ist ja auch klar, warum du dich plötzlich wie in eine andere Welt gebeamt aufführst.“ Verstört blickte ich zu Sebastian.
„Ich habe gar nicht aufgeräumt. Geduscht bin ich auch noch nicht und meine Lieblingsjeans ist in der Wäsche“, jammerte ich weiter hilflos umblickend vor mich hin.
Sebastian war das zu viel, er schrie vor Lachen und ließ sich aufs Bett fallen. Ihm kamen die Tränen und er rang nach Luft.
„Was ist los Sebi, was hast du?“
„Du … Du … hahaha .. Richtig niedlich, wie du plötzlich Panik bekommst, weil Luis sich angekündigt hat. Hahaha.“
„Hallo? Du bist soooo blöd, Sebi, weißt du das?“
„Tschuldige Markus, aber so wie du dich gerade aufgeführt hast …. Einfach süüüüß. Ich hoffe, dass dein Wunsch in Erfüllung geht.“
Er stand auf, kam auf mich zu und legte mir seine Hände auf die Schultern.
„Ich wünsche dir das, von ganzem Herzen“ und blickte mir dabei tief in die Augen.
Wir standen einen Augenblick nur da und blickten uns an.
„So, Markus, wann kommen denn die Beiden hier an?“
„Halbe Stunde, oder so.“
„Na denn, ab unter die Dusche. Ich räume hier ein wenig auf, obwohl ich nicht weiß, was ich hier aufräumen soll. Es ist doch alles sauber.“, sagte Sebastian und blickte sich dabei im Zimmer um.
Sebastian
Als es klingelte, stand Markus noch unter der Dusche. Bevor ich mich aber auf den Weg zur Tür machen konnte, öffnete Markus´ Mutter die Haustür und schickte die beiden nach oben.
„Hallo Sebastian, ich hoffe wir stören nicht. Ach ja, das ist Luis“, sprach Julius und zeigte auf seinen Bruder.
„Hallo ihr beiden. Kommt rein, Markus ist noch unter der Dusche. Setzt euch, wollt ihr was trinken?“
Beide nickten und setzten sich auf die Couch.
„Ich hol dann mal schnell was. Äh, was wollt ihr denn?“
„Cola“, sagten die Brüder synchron.
„Alles klar, kommt sofort“, lachte Sebastian und verschwand in die Küche.
Markus
So eine Dusche tut richtig gut. Jetzt muss ich mich aber beeilen. Typisch, wenn’s mal schnell gehen muss, vergesse ich die Wäsche zum Wechseln. Nur mit einem Handtuch um die Hüften flitzte ich wieder ins Zimmer.
„So’n Mist. Habe vergessen, mir eine Boxer Short aus dem Schrank zu nehmen“, brabbelte ich vor mich hin, ärgerte mich über mich selbst und stand mit dem Rücken zur Couch. Ich bückte sich zur untersten Schublade meines Schrankes, um mir eine Short raus zu suchen.
„Was meinst du, Sebi, soll ich die Schwarze nehmen?“
„So, da sind die Getränke. Oh, Markus du bist schon fertig. Dann hast du unseren Besuch ja schon begrüßt.“
Ich schreckte hoch und stieß mit dem Kopf gegen die obere, nicht richtig verschlossene, Schublade, drehte mich dabei mit großen Augen um und merkte nicht, dass mein Handtuch der Erdanziehungskraft folgte und langsam zu Boden rauschte. Einen Bruchteil von einer Sekunde stand ich nackt vor den Dreien. Blitzschnell hielt ich mir dann meine Short vor meine Männlichkeit und hob dann das Handtuch wieder auf. Verkrampft lächelnd sah ich jetzt abwechselnd zu Sebastian, Julius und Luis und wieder zurück.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße“ brabbelte ich nur künstlich lachend, und hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Luis grinste mich nur an. Aber wie er bei diesem Grinsen blickte. Ich weiß nicht, irgendwie, … ja er blickte einfach nur. Oh Gott, meine Beine … lauf ich noch oder schwebe ich schon.
DA! Ich glaube, er hat mir zugezwinkert, oder? Schnell machte ich mich mit meiner Short und dem sich wieder fest um meine Hüfte befindenden Handtuch auf ins Bad, nicht ohne Luis nochmal einen Blick zuzuwerfen. Er blickte doch tatsächlich immer noch freundlich grinsend zu mir, so dass ich beinahe Sebastian das Tablett mit den Getränken aus der Hand geschlagen hätte. Mein Gott, wie peinlich war das denn. Scheiße, jetzt hält Luis mich bestimmt für einen Trottel.
Luis
Der kleine Wirbelwind, der gerade auf mich zugerast kam, war natürlich Julius. Ich blickte kurz zu Bernd, der neben mir stand. Dieses Grinsen von ihm.
„Da hat dich aber jemand vermisst, was?“
Erst war mir das peinlich, aber dann freute ich mich genauso auf Julius wie er sich auch auf mich. Schniefte er etwa?
„Endlich, Luis, ich habe dich sooooo vermisst.“
Tatsächlich, mein kleiner Bruder weinte. Er weinte vor Glück.
„Ist ja gut Juli. Hey, musst doch nicht weinen.“
„Ich freue mich doch so, dass ich dich endlich wieder habe. Luis, ich habe dich doch so vermisst. Deine blöden Freunde haben versucht mich zu erpressen, aber Markus hat mir geholfen, die Idioten bei der Polizei anzuzeigen. Hatte echt Angst.“
„Welcher Markus?“
„Der Typ, der dir das Messer …. na du weißt schon.“
„Wieso hilft der dir?“
„Ich denke, er will was wieder gut machen. Und er ist echt nett, Luis.“
„Der soll sich um seine Sachen kümmern.“
Ich war ein wenig angepisst. Nach einer Weile schaltete sich Bernd wieder ein. „Also Luis, ich muss noch ins Büro. Meine Telefonnummer hast du ja. Sagt mal der junge Mann dort, kennt ihr den? Der schaut immer hier rüber.“
Julius hatte Markus in der Aufregung wohl total vergessen. Schnell löste er sich von mir und sah in die Richtung wo der Junge gerade noch stand.
„Markus, warte doch. Markus!“
„Macht‘s gut, ihr beiden.“, sagte Bernd und ging zu seinem Auto.
„Danke Bernd, ich melde mich“, rief ich dem Sozialhelfer noch nach. Julius lief Markus hinterher, der schon fast die Bushaltestelle erreicht hatte. Langsam ging ich auf die beiden zu.
„Warte doch mal, Markus. Warum läufst du denn weg?“
Er sagte nur so was wie: er wolle nicht stören und wir könnten ihn ja mal anrufen oder so. Ich hätte mich schon ganz gerne mal mit Markus unterhalten. Irgendwie fand ich ihn sehr sympathisch, und wie er mich anschaute, als ich mich dafür bedankte, dass er sich ein wenig um meinen kleinen Bruder gekümmert hatte. Markus stieg in den Bus und schaute uns nochmal kurz an, während sich der Bus wieder in Bewegung setzte.
Julius und ich machten uns dann auf den Weg nach Hause. Ich freute mich, endlich meine Mutter und meine kleinen Geschwister wieder zu sehen. Nach 40 Minuten waren wir dann zu Hause. Ich war ziemlich aufgeregt, als Julius die Tür öffnete. Ehe ich mich versah, kamen zwei kleine quiekende Wesen auf mich zu gerannt. Wie von einem Magneten angezogen hingen Kevin und Susi an mir. Augenblicklich wurde mir bewusst, wie sehr ich die beiden vermisst hatte.
„Hallo meine beiden, wie geht es euch? Oh Mann, was habe ich euch vermisst.“ „Was willst du denn hier!“, riss mich eine keifende, an einen Marktschreier erinnernde Stimme aus meinen Gedanken. Erschrocken drehte ich mich in die Richtung, aus der die Stimme kam, um. Meine Mutter sah mich böse an. Hinter ihr tauchte eine männliche Gestalt auf.
„Ist das dein krimineller Sohn von dem du mir erzählt hast, Schätzchen?“, dabei griff dieser Typ meiner Mutter von hinten an die Brust und drückte ihr dabei auch noch einen schmatzenden Kuss auf den Hals. Mir wurde plötzlich eiskalt, wie er mich dabei die ganze Zeit fixierte.
„Ich gebe dir 30 Minuten Zeit, deine Klamotten zu packen, um dann meine Wohnung zu verlassen“, meldete sich meine Mutter dann wieder zu Wort. „Komm Süße, lass uns wieder ins Schlafzimmer gehen. Ich schaue dann später noch mal, ob dieser Nichtsnutz deine Wohnung verlassen hat.“
Mit diesen Worten schob dieser widerliche Kerl meine Mutter zurück ins Schlafzimmer. Hinter der Tür hörte man nur noch Gekicher und obszöne Wortfetzen. Ich sah Julius ungläubig an, dieser zuckte nur traurig mit den Schultern.
„Den hat sie letzte Woche aus der Kneipe mitgebracht. Die kommen kaum aus dem Schlafzimmer raus, und ich muss für den blöden Wichser auch noch immer irgendwelche Besorgungen machen. Ich weiß nicht, was sie an dem findet. Ach Luis, es ist kaum zum aushalten.“
Julius lehnte an der Wand und fing leise an zu weinen. Ihn nahm diese Situation ganz schön mit. Kevin und Susi blickten nur verstört zwischen Julius und mir hin und her.
„Ich kann euch doch hier nicht alleine lassen. Aber was sollen wir nur machen?“ Julius war inzwischen an der Wand heruntergerutscht und zuckte nur verzweifelt mit der Schulter.
„Wenn wir das Jugendamt einschalten, kommen wir bestimmt alle ins Heim.“ „Ich weiß auch nicht, Julius, aber so kann es auch nicht weiter gehen. Auf jeden Fall werde ich erst mal meine Klamotten packen und verschwinden. Nicht dass dieses Monster noch gewalttätig wird und seine Wut an euch auslässt.“
„Nein, Luis, du kannst uns doch nicht alleine hier zurück lassen.“
„Hey, ihr Drei, wird schon nicht so schlimm werden. Oder hat er euch schon mal geschlagen, oder so?“
„Nein, manchmal ist er sogar nett. Aber mögen tu ich ihn trotzdem nicht. Sag mal, wo willst du denn eigentlich hin? Du kannst doch nicht auf der Straße übernachten.“
„Werde mal schauen, ob Peer oder Dragan zu Hause sind.“
„Nein Luis, das lass ich nicht zu. Die beiden haben dich zu einem Kriminellen gemacht, da kannst du dich doch nicht schon wieder mit denen einlassen.“ „Dann sag du mir, wo ich hin kann.“
„Ich wüsste da eventuell jemanden, den wir mal fragen könnten.“
Julius holte sein Mobiltelefon aus der Tasche.
„Wo hast du denn das her?“
„Von dem, den ich jetzt anrufen werde“, grinste Julius.
Flink drückte Julius ein paar Tasten und hielt sich das Teil dann ans Ohr.
„Ja, hallo, hier ist Julius. Ich hoffe ich störe nicht. Ich hab da ein Problem, kann ich mit Luis mal bei dir vorbei kommen? Meine Mutter macht einen riesen Ärger, weil sie Luis aus der Wohnung werfen will.“
Julius lauschte der Stimme am anderen Ende. Zwischendurch nickte er immer mal wieder und blickte ab und zu mir herüber.
„Ok, Markus, dann bis gleich …. Und danke!“
„Doch nicht DER Markus, oder?“
„Doch, Luis, genau DER Markus!“
„Vergiss es, dann lieber auf der Straße.“
„Mann Luis, jetzt komm mal wieder runter. Er hat mir auch geholfen. Komm doch erst mal mit, und wenn du dann immer noch lieber auf der Straße leben willst …ach ist mir doch egal“, wurde Julius jetzt richtig zickig.
„Überlege es dir noch mal. Aber wenn du zu deinen kriminellen Freunden gehst, will ich nichts mehr mit dir zu tun haben. Das ist mein Ernst, Luis!“
Julius stand mir gegenüber und blickte mich sehr ernst an. Nach einer gefühlten Ewigkeit atmete ich dann einmal kräftig durch und sagte dann:
„Ok, Juli, lass es uns versuchen. Aber wenn er mir blöd kommt, bin ich schneller weg, als dass du deinen Namen buchstabieren kannst.“
„Einverstanden! Also pack deine Sachen, dann können wir endlich los. In ein paar Tagen wird Mama sich bestimmt wieder beruhigt haben.“
„Und wenn nicht?“
„Keine Ahnung“, zuckte Julius mit den Schultern.
Ich packte meine Sachen, während Julius mit seinen kleinen Geschwistern redete. Als ich dann mit dem Packen fertig war und wieder im Flur stand, öffnete sich die Schlafzimmertür meiner Mutter und der blöde Kerl kam raus. Er war nur mit einer Short bekleidet.
„Hat deine Mutter nicht gesagt, dass du verschwinden sollst?“
„Das geht dich einen Scheißdreck an.“
Wütend kam der Kerl auf mich zu und baute sich bedrohlich vor mir auf.
„Werde bloß nicht frech, sonst gibt’s was auf die Fresse. Und jetzt sieh zu, dass du hier verschwindest. Deine Mutter hat schon genug Ärger wegen dir. Du bist hier nicht erwünscht.“
„Zahlst du denn wenigstens die Miete?“, platzte es aus mir heraus.
Der Kerl packte mich am Kragen und wirbelte mich herum. Mit einer Hand öffnete er die Haustür und stieß mich dann ins Treppenhaus. Dabei kam ich ins Stolpern und fiel rückwärts auf die nach oben führenden Treppenstufen. Ich schrie auf und wollte mich gerade wieder erheben, als mir in dem Moment meine Reisetasche an den Kopf flog.
„Ey du Idiot, hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank?“
Als Antwort knallte nur die Wohnungstür. Ich kämpfte mit den Tränen. „Scheiße, das war’s dann wohl.“ Im nächsten Moment öffnete sich wieder die Tür und Julius stand vor mir.
„Los, Luis, schnapp dir deine Tasche und ab geht’s!“
Wir machten uns auf den Weg. Schweigend gingen wir zur U-Bahn. Eine halbe Stunde später standen wir beide vor dem Haus von Markus Eltern.
„Wohnt Markus hier mit seinen Eltern? Das ist ja richtig groß.“ ,meinte ich nur, als ich staunend das Haus begutachtete.
„Ja, Markus wohnt oben und hat sogar ein eigenes Bad.“
Als Julius dies sagte klingelte er auch schon. Nach kurzer Zeit öffnete eine nette ältere Frau die Tür.
„Guten Tag“, sagte die nette Frau, die sich als Markus Mutter vorstellte. „Guten Tag, Frau Jäger, mein Name ist Julius und das ist mein Bruder Luis. Wir sind mit Markus verabredet.“
„Na, dann kommt mal rein“, und zu mir schauend „Bist du der Junge, der meinen Sohn mit zwei weiteren Jungs im Volkspark überfallen hat?“
„Ja, das stimmt“, sagte ich leise mit hängendem Kopf. Ich traute mich nicht, Markus Mutter in die Augen zu schauen.
„Na ja, geht es dir denn jetzt besser, also gesundheitlich?“
„Ja, geht schon. Hatte ja auch selbst Schuld“
„Markus war ganz schön fertig, als du im Krankenhaus lagst und nicht aus dem Koma erwachen wolltest. Ist ja Gott sei Dank alles gut gegangen. So, dann geht mal die Treppe rauf, und dann geradeaus ist Markus Zimmer.“
„Danke, Frau Jäger!“
Markus hat sich um mich Sorgen gemacht? Und diese Blicke heute Vormittag an der Bushaltestelle. Und dann hilft er auch noch Julius. Er wird mir immer sympathischer. Kaum kamen wir oben an, öffnete sich die Tür und Sebastian stand vor ihnen.
„Oh, da seid ihr ja schon. Hallo Julius. Und du musst dann Luis sein.“
„Hallo Sebastian, ja, ich bin Luis, Julius Bruder.“
„Na dann kommt rein. Markus ist noch im Bad. “
Das Zimmer war schön eingerichtet. Computer, ein eigener Fernseher, eine schöne, alte Couch, wie die von Loriot. Nur die Farbe war himmelblau. Ich musste an mein Zimmer denken, das nur mit billigen Schweden-Möbeln eingerichtet war, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich hatten. Zudem musste ich mir das Zimmer auch noch mit Julius teilen. Und jetzt dieses Zimmer von Markus. Es strahlte Wärme aus. Wenn er es selbst eingerichtet hat, dann hat er einen super Geschmack.
„Setzt Euch, wollt Ihr was trinken?“
„Cola?“, kam es von beiden Brüdern.
„Kommt sofort.“
Sebastian ging hinunter in die Küche. Im nächsten Moment kam dann Markus aus der Dusche. Nur mit einem Handtuch um der Hüfte, kam er brabbelnd ins Zimmer.
„So‘n Mist, habe doch tatsächlich meine Boxer Short vergessen mit zu nehmen.“
Ich bekam großen Augen. Wow, super Körperbau. Breites Kreuz. Bestimmt Sportler, wahrscheinlich Schwimmer. Julius sah zu mir herüber. Grinsend bemerkte er, wie ich fast sabbernd zu Markus stierte. Markus bückte sich vor seinem Schrank, um aus der untersten Schublade eine Short zu nehmen.
„Was meinst du Sebi, soll ich die schwarze Short anziehen?“
Einen Moment später ging wieder die Tür
„So, hier sind die bestellten Getränke. Oh Markus, du bist ja schon fertig. Da hast du bestimmt schon deinen Besuch begrüßt.“
PENG!
Markus schreckte hoch und knallte mit seinem Kopf an die obere Schublade. Er drehte sich so schnell um, dass sich das Handtuch um seine Hüfte langsam löste. Ich bekam augenblicklich einen heißen Kopf, als ich dies bemerkte. Mit großen Augen blickte ich jetzt Markus an, der im Adamskostüm von uns stand. Blitzschnell hielt sich Markus jetzt seine Shorts vor sein bestes Stück.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“
„Nee Markus, das ist Cola“, lachte Sebastian, als er auf die Colagläser auf dem Tablett blickte, dass er immer noch in der Hand hielt.
Markus sah einfach nur niedlich aus, wie er jetzt verschreckt vor uns stand. Ich hätte ihn am liebsten in den Arm genommen, so wie er jetzt da stand, wie ein verschrecktes Eichhörnchen. Apropos Hörnchen, das konnte sich auch sehen lassen. Sein Blick, einfach zum dahinschmelzen. Panisch lief Markus zur Tür und hätte beinahe noch Sebastian das Tablett aus der Hand geschlagen. Von Julius bekam ich einen leichten Ellenbogencheck in die Rippen. Vermutlich hatte er meinen sabbernden Blick, den ich Markus zuwarf, bemerkt. Beim Rausgehen schaute ich Markus nochmals an und zwinkerte ihm lächelnd zu.
„So, das war die Show, und jetzt gibt’s noch was zum Abkühlen.“
Nachdem Sebastian die Getränke verteilt hatte, versuchte er aufgrund der Stille etwas Konversation.
„Du bist also Luis, der ältere Bruder von Julius?“
Ich blickte immer noch verträumt zur Tür, durch die vorhin Markus verstört verschwunden war.
„Hallo? Jemand zu Hause?“
Während Sebastian zu mir blickte, bekam ich von meinem Bruder einen weiteren Ellenbogenstoß in die Seite.
„Ey, Bruder, Sebastian hat dich gerade was gefragt.“
„Hä? Was ist los?“ Julius schreckte mich aus meinen Gedanken hoch.
„Sorry, hab wohl gerade nicht aufgepasst. War wohl ein langer Tag.“ Ich nahm das Glas Cola und schaute beim Trinken zu Sebastian.
„Schön habt ihr das hier.“, meinte ich dann völlig aus dem Nichts.
„Sorry, aber das ist Markus Zimmer“, kam es dann von Sebastian.
„Ach, dann hast du auch ein eigenes Zimmer?“
„Ja, natürlich habe ich ein eigenes Zimmer. Aber warum fragst du? Äh, … Moment mal, um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ich wohne nicht hier. Ich bin nur ein Freund von Markus“, legte Sebastian schnell nach. Meine Gefühlswelt bekam einen Knacks. Ich machte mir schon Hoffnungen, so wie Markus mich vorhin und am Vormittag vor dem Gefängnis angeschaut hatte. Er hatte also einen Freund. Ich stellte mein Colaglas zitternd auf den Tisch zurück.
„Was ist mit dir Luis? Geht’s dir nicht gut?“ Standhaft versuchte ich meine Fassung zu bewahren, was mir aber nicht gelang. Langsam kullerte mir unkontrolliert eine Träne nach er anderen über meine Wangen.
„War sehr anstrengend der Tag, komm Julius lass uns gehen.“
„Was soll das jetzt Luis?“
In dem Moment geht die Tür wieder auf und Markus kommt herein. Schnell wischte ich mir noch eine Träne aus dem Gesicht, und atmete einmal tief durch. Markus schaute verwirrt zu mir und dann zu Julius.
„Was ist denn los? War meine Vorstellung vorhin so schlecht?“, fragte er bevor er sich zu Sebastian auf die Sessellehne setzte. Schweigen.
„So, was ist denn jetzt los. Was ist mit eurer Mutter?“, durchbrach Markus das angespannte Schweigen. Jetzt war es an mir, etwas zu sagen.
„Unsere Mutter hat mich vor die Tür gesetzt. Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Ach was soll‘s, bin ja selbst schuld. Alles Scheiße.“
Ich stand auf und wollte zur Tür.
„Wohin willst du jetzt?“ sprach Julius.
„Weg hier.“
„Warte doch mal Luis!“, das war Markus.
Er war aufgesprungen und zu mir hinübergegangen.
„Lass uns mal in Ruhe reden. Komm mal mit.“
Markus zog mich hinter sich her auf den Flur.
„Sag mal was ist mit dir los? Schon vor ein paar Wochen im Krankenhaus hast du mich so komisch angeblökt. Was soll das?“
„Ich …. ich weiß nicht. Das ist ein wenig kompliziert. Ich kann nicht darüber sprechen.“
„Hat es mit dem Überfall auf mich zu tun?“
„Nein, damit nicht. Es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Julius hat mir erzählt, dass du schon mal überfallen wurdest. Ich weiß auch nicht, was mich damals geritten hatte. Es tut mir wirklich leid.“
„Warum hast du überhaupt bei solchen Überfällen mitgemacht? So wie Julius mir erzählt hat, hast du dich rührend um deine Geschwister gekümmert. Das passt doch irgendwie nicht zusammen.“
„Ich kann es dir nicht erzählen. Du wirst mich noch mehr hassen.“
„Quatsch, warum sollte ich?“
Wir schwiegen uns an.
„Was ist passiert, dass du auf die schiefe Bahn geraten bist?“, nahm Markus die Unterhaltung wieder auf.
„Es begann vor einem Jahr. Thomas, ein guter Freund von mir ….“
Mir fiel es schwer weiter zu sprechen
„Also, Thomas erzählte mir, dass er mit seiner Familie nach Bayern ziehen würde, weil sein Vater ein gutes Jobangebot angenommen hatte. Er hatte sich nicht getraut, mir vorher etwas davon zu erzählen. Ich war geschockt. Wir kannten uns seit dem Kindergarten. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Wir waren beste Freunde.“
Ich fing wieder an zu weinen. Markus strich mir zärtlich über meinen Rücken.
„Ich glaube, ich kann dich verstehen. Wenn Sebastian plötzlich aus meinem Leben verschwinden würde, wäre ich auch am Ende.“
Ich blickte zu Markus und versuchte aus seinen Worten heraus zu hören, wie dieser zu Sebastian stand. War er nur ein Freund oder sogar DER Freund?
„Wenn du magst, kannst du heute Nacht hier schlafen. Wir haben ein Gästezimmer. Ich werde mal mit meinen Eltern reden.“
„Würdest du das tun? Ich wüsste echt nicht, wo ich sonst hin sollte. Ich hatte schon überlegt, zu Peer oder Dragan zu gehen.“
„Bloß das nicht. Die haben dich schon genug manipuliert.“
„Julius hat sich auch über diese Möglichkeit aufgeregt“, grinste ich nun Markus leicht verlegen an.
„Das glaube ich sofort. Er macht sich ernsthaft Sorgen um dich. Tu ihm den Gefallen und lass dich nicht mehr mit deinen komischen Freunden ein.“
Markus hatte Recht, ich blickte nickend zu Boden.
„Du bist eigentlich ein ganz netter Kerl“, fügte Markus noch schnell hinzu, um sich dann rot werdend umzudrehen, um seine Eltern über das Vorhaben, mich hier übernachten zu lassen, zu informieren. Ich ging wieder zurück in Markus Zimmer, dort unterhielten sich Sebastian und Julius lachend über die letzte Staffel von >Pastewka< .
„Na, Luis alles geklärt?“
„Markus fragt gerade seine Eltern, ob ich heute Nacht hier übernachten darf.“ „Markus‘ Eltern sind echt toll, da gibt’s bestimmt keine Probleme.“
Nach ein einiger Zeit kam Markus wieder ins Zimmer und sagte nur knapp: „Ich richte dann mal das Gästezimmer her“, dreht sich wieder zum gehen um. Sebastian schaute zu mir und nickte in Richtung Markus, was ich sofort verstand. Ich erhob mich von der Couch und folgte Markus ins Gästezimmer.
Sebastian
„Sag mal Julius, darf ich dich was persönliches fragen? Sei mir bitte nicht böse, du musst auch nicht antworten, wenn du nicht magst.“
„Frag nur, wenn's zu persönlich wird, sag ich es dir schon.“
„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, na ja, verstehst du dich gut mit deinem Bruder?“
„Natürlich, wir lieben uns, …. na ja, …äh, … wie Brüder sich halt lieben natürlich.“, grinste Julius verlegen.
„Verstehe, ich liebe meine kleine Schwester ja auch, wie man sich als Geschwister halt so liebt. Schon klar. was ich eigentlich sagen will, hatte dein Bruder schon mal eine Freundin?“
„Nee, nicht das ich wüsste. Willst du ihn mit deiner Schwester verkuppeln?“ Sebastian fing an zu lachen
„Nein, nein, sie ist doch erst 9. Nee, mal im Ernst Julius, ist dir an deinem Bruder schon mal aufgefallen, das er … na ja, …. eventuell nicht sooo an Mädchen interessiert ist?“
Julius grinste leicht vor sich hin.
„Du meinst, weil er Markus immer so komisch anschaut und dann immer leicht verwirrt wirkt?“
„Ist dir das auch schon aufgefallen?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber mit Thomas, bevor er nach Bayern weggezogen ist, war das auch so. Ich weiß nicht, ob da was lief. Aber als Thomas plötzlich weg war, war nichts mehr wie vorher. Luis verkroch sich immer mehr und wenn mal etwas war, fuhr er immer schnell aus der Haut. Er war immer so verständnisvoll, aber von einem auf den anderen Tag war er wie ausgewechselt. Er war kaum noch zu Hause. Nach ein paar Wochen kam dann die Polizei und brachte ihn zum ersten Mal nach Hause. Er verkroch sich sofort in sein Zimmer, also unser Zimmer, ich versuchte mit ihm zu sprechen, aber Luis blockte nur ab.“
Ich bemerkte, wie Julius mit den Tränen kämpfte.
„Julius, hey, du musst nicht weiter erzählen wenn es dir zu nahe geht.“
„Ist schon gut. Er hat sich ja wieder gefangen. Ich glaube, dass die Woche im Knast ihn wieder auf den rechten Weg zurück gebracht hat.“
Jetzt grinste Julius sogar wieder ein wenig.
„Markus ist schwul.“
Sebastian flüsterte mehr als das er es sprach.
„Na und? Ich mag ihn trotzdem. Er ist echt ein guter Kumpel. Wie er sich immer wieder um mich gekümmert hat …… Luis hätte so jemanden verdient. Da bräuchte ich keine Angst mehr um meinen Bruder zu haben.“
Julius strahlte Sebastian an.
„Tja, letztendlich können wir nur abwarten und hoffen. Ich kenne Luis zwar nicht so gut, aber so wie du immer von ihm schwärmst. Markus wäre, wenn ich schwul wäre, was ich aber nicht bin, mein Traumpartner. Ja, ich liebe ihn, aber so wie man einen Bruder liebt. Er ist ein sehr einfühlsamer Kerl. Mit ihm könnte ich die sprichwörtlichen Pferde stehlen. Markus würde ich sogar mit meinem Leben verteidigen.“
Jetzt war es an mir, mit den Tränen zu kämpfen.
„Ich bin stolz, sein Freund sein zu dürfen.“
Julius und Sebastian grinsten sich nur nickend an.
„Wo bleiben die beiden eigentlich? Die wollten doch nur ein Bett beziehen. Oh, ….“
Beide standen gleichzeitig auf und gingen zum Gästezimmer. Die Tür war nur angelehnt und es war mucksmäuschenstill. Sebastian und Julius schlichen zur Tür und öffneten sie einen kleinen Spalt. Was sie dort sahen, war……
Markus
Ich ging ins Wohnzimmer zu meinen Eltern. Beide saßen auf der Couch und schauten einen Tatort.
„Mama, Papa, ich muss mal mit euch reden.“
„Was gibt’s denn mein Sohn? Komm setz dich zu uns.“
Ich setzte mich in den gegenüberstehenden Sessel und überlegte dabei, wie ich anfangen sollte.
„Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.“
„Hast du was ausgefressen? Ich hoffe, es steht kein Ärger ins Haus?“
Papa schaltete den Fernseher aus und schaute fragend zu Mama rüber.
„Nein, Mama, ihr braucht euch keine Sorgen machen. Ich bin nicht kriminell geworden oder so. Es ist …. „ Jetzt oder nie. Ich atmete einmal tief durch und „…..Mama, Papa ich bin schwul.“
Meine Eltern schauten mich nur an. Das einzige Geräusch im Wohnzimmer war das Ticken der Standuhr. Verwirrt schaute ich zu meinen Eltern, die immer noch erstarrt zu mir herüber blickten. Lief hier gerade was gewaltig schief? Hatte ich meine Eltern falsch eingeschätzt? Ich spürte wie mir eine Träne nach der anderen über die Wangen lief.
„Markus, bist du dir sicher? Ich meine … eventuell ist es ja nur eine Phase. Hey du bist noch mitten in der Pubertät, da schwanken die Gefühle schon mal. Und viele probieren das eigene Geschlecht schon mal aus.“
„Nein Mama, ich bin mir sicher. Diese Phase dauert schon eine ganze Zeit. Ich dachte auch erst, dass es vorüber geht. Mädchen haben mich aber nie interessiert. Ich habe es versucht …..“
Wieder kullerten Tränen. Papa reichte mir ein Taschentuch.
„Ich habe es damals auch mal probiert, aber es blieb damals bei dem einen Mal. War nicht so besonders“, flüsterte Markus Papa.
„Markus, wenn du dir sicher bist, so ist das für uns ok“, sprach Markus Mutter und sah dabei zu ihrem Mann, der ihr zustimmend zunickte.
„Lass uns ein wenig Zeit, uns daran zu gewöhnen. Eines sollst du aber wissen, egal ob schwul oder hetero, du bist und bleibst unser Sohn. Markus, wir lieben dich. Und, danke für dein Vertrauen.“ Papa sprach diese Worte mit einem leichten Lächeln.
„Dem kann ich mich nur anschließen, mein Sohn. Ich wusste schon immer, dass du was Besonderes bist.“
Ich fiel meiner Mama um den Hals und weinte Freudentränen. Danach nahm ich auch noch Papa in den Arm, während Mama eine Flasche Sekt und Gläser aus dem Schrank holte. Sie goss die 3 Gläser voll und fragte nebenbei, ob es denn schon einen möglichen Schwiegersohn gäbe.
„Äh, …. ich bin mir nicht sicher, …. aber es gibt jemanden ….. ich weiß nicht, ich weiß nicht, ob er so denkt wie ich, das heißt, … äh ….. keine Ahnung ob er überhaupt schwul ist, aber …. ich ….. ach, ich wünschte, ich wüsste es, na ja ….“
„ Markus, wir haben dir das Sprechen beigebracht, formuliere mal klar, also, es gibt da jemanden, aber du weißt nicht, ob er auch schwul ist, stimmt’s?“
Papa wirkte ein wenig genervt. Mama legte ihre Hand auf seinen Arm und nickte kaum bemerkbar mit dem Kopf.
„Ja, so kann man es auch formulieren“, antwortete ich erleichtert. Mama grinste ein wenig, als sie sich zu Wort meldete.
„Markus, kann es sein das diese Person gerade in diesem Haus ist?“
„Mama, woher weißt du….?“
„Pssssst, mein Lieber. Es ist nicht Sebastian.“
„ Woher, … wie … was? … Du weißt Bescheid?“
„Markus, ich bin deine Mutter!“
„Ja, es ist Luis.“
„Nein, das geht nicht!“, meldete Papa sich sehr bestimmend wieder zu Wort. „Papa, ich … ich kann nichts dafür, aber ich habe mich schon im Krankenhaus in ihn verliebt. Sebastian meinte auch, dass ich verrückt wäre, aber ich kann nicht anders. Ich hab‘s Luis noch nicht gesagt, aber ich habe ihm schon verziehen. Ich hoffe, er verzeiht mir auch.“
Ich schaute verzweifelt in mein Sektglas.
„Du hast ein gütiges Herz mein Junge. Herbert, unsere Erziehung zeigt Früchte. Markus, solange du damit glücklich bist, sind wir es auch.“
„Danke, danke für alles. Da ist noch etwas, um dass ich euch bitten wollte. Luis ist doch heute aus dem Gefängnis entlassen worden und wurde von seiner Mutter vor die Tür gesetzt, und jetzt weiß er nicht, wo er hin soll. Ich dachte, er könnte die nächsten paar Tage im Gästezimmer schlafen.“
Ich schaute zu meinen Eltern und hoffte auf eine positive Reaktion. Markus Vater atmete einmal tief durch.
„Markus, es scheint dir sehr wichtig zu sein. Wir haben Vertrauen zu dir und wenn du dir sicher bist, können wir es mal versuchen.“
Markus Mutter nickte nur zustimmend.
„Danke, ich bin froh euch als Eltern zu haben.“
Markus Augen fingen wieder an zu leuchten, und ehe seine Freudentränen eine Chance bekamen, umarmte er nochmals seine Eltern.
„Ich gehe dann mal rauf und mach das Gästebett fertig.“
„Mach das, und Markus, wenn was ist….“
„Ja, Mama, dann komm ich sofort zu euch. Alles klar und danke nochmals.“ Schnell ging ich wieder hoch, schaute kurz in mein Zimmer und sagte zu den dreien:
„Ich richte dann mal das Gästezimmer her.“
Drehte mich um und verließ das Zimmer wieder.
Langsam kam Luis sich räuspernd zu mir ins Gästezimmer.
„Kann ich dir beim Bett beziehen helfen?“
„Oh Luis, ääh …. ja, du kannst das Kopfkissen beziehen“, und warf ihm das Kissen zu.
„Hier ist der Bezug.“
„Markus, ……ich ……ich möchte mich bei dir in aller Form für die Scheiße die ich angerichtet habe, entschuldigen.“
Luis hielt das Kissen vor seinen Oberkörper und knetete es nervös. Ich hielt inne und drehte mich langsam zu Luis um. Dann blickte ich ihm direkt in die Augen und Luis blickte daraufhin zu Boden.
„Es tut mir leid. Ich habe großen Mist gebaut, und ich hoffe du kannst mir irgendwann verzeihen.“
Luis liefen langsam Tränen über die Wangen und tropften auf das Kissen. Lange standen wir uns beide schweigend gegenüber. Von Luis kam nur ab und zu ein Schluchzen.
„Komm setz dich zu mir.“
Ich hatte mich bereits auf das Bett gesetzt und klopfte neben mir auf die Matratze. Luis sah zu mir und kam dann langsam auf mich zu, ohne dabei das Kissen loszulassen. Wieder schluchzte er nur, als er sich neben mich niederließ, atmete einmal tief durch und fing dann leise und immer wieder vom Schluchzen unterbrochen an zu erzählen. Ich saß nur da und hörte ihm geduldig zu, ohne ihn dabei zu unterbrechen.
Luis erzählte, wie er und Thomas sich kennen lernten. Erst im Kindergarten und dann in der Schule wurden sie beste Freunde. Auch als Thomas später aufs Gymnasium wechselte, während Luis nur die Hauptschule schaffte. Nur Thomas Eltern fanden diese Freundschaft nicht standesgemäß. Aber das interessierte Thomas nicht. Luis erzählte mir von ihrem Traum, die Welt zu bereisen. Luis hatte noch nicht einmal die Nordsee gesehen. Es fehlte halt zu Hause an Geld, und seine Mutter war nicht sonderlich interessiert an familiären Aktivitäten. Sie saß meistens nur vorm Fernseher, rauchte und trank literweise ihren Kaffee.
Die Ferien waren bei Luis nicht so beliebt gewesen wie bei allen anderen. Nicht nur, weil sie nie verreisten, sondern auch vor allem, weil Thomas die meiste Zeit mit seinen Eltern unterwegs war. Es waren für Luis die langweiligsten Wochen des Jahres. Er unternahm natürlich viel mit seinen Geschwistern, weil er nicht wollte, dass sie so leiden mussten wie er selbst.
Ich spürte, wie gut Luis das Erzählen tat. Auch spürte ich, dass es wohl das erste Mal war, dass Luis sich alles von der Seele reden konnte. Immer wieder knetete er das Kopfkissen in seinen Händen. Nur als er wieder von seiner Mutter erzählte, hatte es den Anschein, als schlüge er auf das Kissen ein oder würgte es.
Als Luis mal wieder zitternd das Kissen würgte, wagte ich den ersten Schritt und legte meine Hand auf die von Luis. Augenblicklich beruhigte sich Luis. Langsam hob er seinen Kopf und blickte in meine Richtung. Ich schaute ihn nur an und nickte leicht.
„Danke“, flüsterte ich nur.
„Danke wofür?“, entgegnete Luis leicht verwirrt.
„Dass du mir deine Geschichte anvertraut hast.“
Über mein Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln.
„Ich muss dir danken, dass du mir zugehört hast. Dass du mich wegen meinem Angriff auf dich nicht hasst, und dass du mich bei dir aufgenommen hast.“
Nach einer Weile des Schweigens und noch immer meine Hand auf der seinigen liegend fragte dieser:
„Markus, warum tust du das für mich? Das ist doch nicht normal, oder?“ Mein Blick erhellte sich und schmunzelnd schaute ich auf die gegenüber liegende Wand und atmete einmal tief durch.
„Nee Luis, normal ist das nicht. Aber ich mag dich.“
Jetzt bemerkte Luis meine Hand auf seiner, zog sie allerdings nicht wie von mir erwartet zurück.
„Luis, dir ist in deinem Leben scheinbar noch kein richtiges Glück widerfahren, stimmt’s?“
„Was ist Glück? Wenn man gesund ist? Oder wenn man Freunde hat? Oder wenn man ein Dach über dem Kopf hat? Oder Eltern, die einen unterstützen?“
„Vielleicht ist Glück ja auch einfach nur, dass man spürt, dass da jemand ist, den man mag.“
„Glücklich war ich, als Thomas mir seine Liebe gestand. Aber leider wurde dieses Glück schnell wieder zerstört, als er schon am nächsten Tag mit seiner Familie nach Bayern zog.“
Wieder kullerten bei Luis die Tränen.
„Hey, nicht wieder weinen. Das Glück, liegt, oder in diesem Fall, sitzt gar nicht so weit weg. Manchmal muss man seine Hand nur ein wenig ausstrecken, um sein Glück zu greifen.“
Luis blickte mich verschüchtert an.
„Markus, ich ….. ich …. du … ähm, … ich …. ich glaube, ich habe mich verliebt. Auch wenn du mich jetzt hassen wirst,……Markus, ich wäre gerne dein Freund.“
Ich versuchte ernst zu bleiben, doch bevor meine Lippen ein Lächeln fabrizierten, fingen meine Augen schon an zu lachen. Innerlich ballte ich gerade vor Freude die berühmte Becker-Faust. Ich hatte so sehr gehofft, dass Luis mich auch mögen würde, und nun dieses Liebesgeständnis. Jetzt war es an mir, auf Luis Geständnis zu antworten.
„Luis, danke für die schönen Worte, aber…“
Luis verlor sämtliche Farbe aus seinem Gesicht und blickte erschrocken zuerst mir in die Augen und dann traurig zu Boden. Er versuchte seine Hand unter meiner hinweg zu ziehen. Doch ich griff energisch nach seiner und hielt sie fest.
„ …. aber, könntest du dir vorstellen mich in den Arm zu nehmen?“
Luis zuckte zusammen und drückte das Kissen fest an seinen Körper. Langsam drehte er sich wieder zu mir. Ich sah, wie er langsam begriff, was ich da gesagt hatte.
„Du … Du … bist auch…..?“
Ich nickte nur.
Unsere immer noch aufeinander liegenden Hände fingen jetzt einen leichten Kampf an. Leicht zitternd und verschwitzt verschlangen sich unsere Finger ineinander. Wir beide sahen verschämt auf unsere verwuselten Finger, hoben langsam unsere Köpfe, um den anderen dann direkt in die Augen sehen zu können. War es nur ein Traum, oder hatten wir uns gerade tatsächlich gegenseitig unsere Liebe gestanden? Als ich ihm direkt in die Augen sah, war auch schon aller Zweifel verflogen.
Langsam kamen sich unsere Gesichter näher und ich spürte den Atem des anderen an meiner von Tränen des Glücks feuchten Wangen. Ich hob meine noch freie Hand, und strich Luis zärtlich die Tränen von seiner Wange und unsere Münder trafen sich zu unserem ersten Kuss. Prickelnd wie eine Brausetablette oder wie eine Silvesterrakete spürte ich mein Gegenüber.
Luis ließ endlich das Kissen los und legte seine jetzt freie Hand in meinen Nacken, um mich näher an sich heran zu ziehen. Nach einer Ewigkeit, oder waren es auch nur wenige Sekunden, trennten sich unsere Münder wieder und wir schauten uns verliebt in die Augen.
„Genau so, und nicht anders, habe ich`s mir immer erträumt. Und jetzt sitzt mein Prinz neben mir und hat mich wach geküsst.“
Ich war so glücklich. Aber auch Luis ging es nicht anders.
„Solange ich nicht der Frosch in deinen Träumen bin, soll es mir recht sein. Musste ich dir erst wehtun um zu begreifen was für ein toller Mensch du bist?“ Wieder machten sich Tränen in Luis Gesicht breit, aber dieses Mal mit einem breiten Grinsen. Bevor Luis weiter reden konnte, küsste ich ihn erneut. Auch unsere Zungen meldeten sich und verlangten Einlass, um sich einen Ringkampf zu liefern. Lange saßen wir uns einfach nur küssend da, jeweils im Arm des Anderen. Langsam begann Luis seine Hände auf Erkundungstour zu schicken um meinen Körper zu erkunden. Ich tat es ihm gleich.
„M ….. mmh …..Markusch … mmh“
Versuchte Luis mich beim Küssen etwas zu fragen?
„Hmmm …..“ kam nur beschäftigt von mir zurück. Luis schob mich jetzt zärtlich aber bestimmt ein wenig von sich weg und schaute mir dabei in die Augen.
„Markus, wie soll das jetzt mit uns weiter gehen….?“
„Na, so!“, kam es grinsend von mir zurück, um ihn dabei wieder einen großen Schmatzer aufzudrücken und gleichzeitig durch seine Haare zu wuseln.
„Markus, mal im Ernst. Wem sollten wir von uns erzählen. Weiß jemand von deiner Familie oder Freunden, dass du schwul bist?“
„Meine Eltern und Sebastian wissen über mich Bescheid.“
„Von mir weiß es niemand. Vor ein paar Tagen war ich mir selbst noch nicht sicher. Ob ich in Thomas verliebt war, kann ich gar nicht so gewiss sagen. Wahrscheinlich war ich mehr darüber geschockt, dass er so plötzlich weggezogen ist. Vielleicht sollte ich es Julius erzählen.“
„Das könnte sich eventuell schon erledigt haben.“
„Was? Du meinst, er hat es schon bemerkt?“
„Ich glaube ja. Er freut sich bestimmt für dich.“
„Irgendwann werde ich es ihm erzählen, aber jetzt noch nicht.“
„Zeig ihm, dass du ihm vertraust, dass er dir wichtig ist. Er hängt sehr an dir.“
Luis sah mich nun ängstlich an und schwieg.
„Luis, er freut sich für dich, glaube mir. Oder dreh dich doch ganz einfach mal zur Tür um.“
Wie vom Blitz getroffen drehte Luis den Kopf. Dort standen Julius und Sebastian im Türrahmen und grinsten wie Honigkuchenpferde. In dem Moment, als er die beiden erblickte, reckten beide ihren Daumen hoch. Luis fing wieder an zu weinen. Es waren Freudentränen. Schnell sprang er vom Bett auf und die Brüder gingen aufeinander zu und fielen sich in die Arme.
„Luis, ich freue mich so für dich. Endlich habe ich meinen Bruder wieder. Genauso wie er früher immer war.“, flüsterte Julius.
Derweil kam Sebastian zu mir herüber und setzte sich zu mir. Ich saß einfach nur da und schaute glücklich zu den beiden Brüdern, wie sie sich fest in den Armen hielten.
„Na, Markus, wenn du mal einen Bruder brauchst ‚Ruf-mich-an‘.“
Ich blickte grinsend zu Sebastian. Dann nahm ich ihn in den Arm und sagte:
„Du bist der Bruder den ich mir immer gewünscht habe.“
„Was ist denn hier los? Eine Orgie in unserem Haus?“
Meine Eltern standen plötzlich im Zimmer. Erschrocken fuhren wir alle vier auseinander und starrten die Eindringlinge an.
Luis
„Mama, Papa, …. “
Markus hatte als erster seine Stimme wieder gefunden.
“….. darf ich euch meinen Freund vorstellen?”
Er kam, während er sprach, zu mir und Julius rüber, nahm mich in den Arm und sagte dann:
„Das ist Luis, mein Freund. Luis, die beiden hier sind meine Eltern.“
Seine Eltern lächelten und Markus Mutter sagte nur:
„Herzlichen Willkommen in unserer Familie“, kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Das war zu viel für mich. Ich fing wieder an zu weinen und zu zittern. Markus Mutter strich mir über den Rücken.
„Hey, ist doch alles ok, Luis.“
Ich musste an meine Mutter denken, die mich nie in den Arm nahm. Und jetzt Markus‘ Mutter, die mich wie selbstverständlich einfach umarmte und dabei beiläufig gleich adoptierte. Sie hielt mich einfach fest und redete ruhig auf mich ein, bis ich mich langsam wieder beruhigte.
„Danke, Frau Jäger. Tut mir leid dass ich ihnen hier was vorheule.“
„Luis, mein Lieber, du musst dich für deine Gefühle nicht entschuldigen. Es gibt für alle Probleme eine Lösung. Und wir werden dich so gut es geht unterstützen, ok? Und, Luis, für dich heiße ich Sabine.“
„Danke, Sabine. Ich weiß deine Hilfe zu schätzen.“
„So, jetzt kommt ihr alle mit runter. Ich muss irgendwo noch eine Flasche von diesem süßen Prickelwasser haben, die köpfen wir jetzt zur Feier des Tages. Und für alle, die es noch nicht wissen: Ich heiße Herbert.“ Das war der Beitrag von Markus‘ Papa.
Später, nachdem sich Sebastian und mein Bruder leicht angeschickert auf den Heimweg gemacht hatten, saßen Markus und ich noch mit Sabine und Herbert im Wohnzimmer und unterhielten uns. Durch das bisschen Alkohol löste sich meine Zunge immer mehr und ich erzählte alles aus meinem Leben. Es tat mir gut. Sehr gut sogar. Manchmal erzählte ich lachend und aufgeregt und an einigen Stellen der Erzählungen wurde ich leiser und mir kamen so manches Mal die Tränen. Dann war es an Markus mich einfach in den Arm zu nehmen, einen Kuss auf die Wange zu geben oder einfach nur ein leichtes streicheln über meinen Rücken. Mir half das sehr. Ich erfuhr auch einiges über Markus. Zum Beispiel, dass er gerne kocht oder schöne Bilder malt. Endlich war ich angekommen. Zwar wusste ich nicht genau, wie es weiter gehen wird, aber mit der Unterstützung von Markus und seinen Eltern war die Zukunft nicht mehr so düster.
Epilog
Einige Wochen später fuhren Markus und Luis für ein paar Tage an die Nordsee. Markus‘ Eltern hatten dort in Bensersiel einen Wohnwagen zu stehen. Nach einer längeren Zugfahrt kamen sie endlich an, um sich sofort zum Campingplatz zu begeben. Markus wurde von dem Campingplatzeigentümer begrüßt.
“Moin Markus, deine Eltern haben euch schon angekündigt. Ich habe das Wasser angestellt, und meine Frau hat den Wohnwagen durchgelüftet und feucht durchgewischt.“
„Danke, Hinnerk. Ich werde mich dafür bei euch revanchieren.“
Gemeinsam gingen sie zum Wohnwagen.
„Das ist ja so was von toll hier. Da wird man richtig neidisch.“
„Quatsch nicht, komm Luis, ich will dir was zeigen.“
Markus griff nach Luis Hand und zog ihn wieder aus dem Wohnwagen. Es war schönstes Sommersonnenwetter. Wie es sich gehörte, wehte ein kräftiger aber nicht zu kalter Wind vom Meer her. Markus setzte seinen Weg fort und Luis konnte ihm kaum folgen. Sie liefen zum Deich. Markus drehte sich im laufen immer wieder zu Luis um.
„Los, komm schon.“
Am Fuß des Deiches hielt Markus an, griff wieder Luis Hand und ging langsam den Deich hinauf. Kurz vor der Deichkrone blieb Markus stehen und lies Luis die letzten Schritte alleine machen. Das, was Luis dort zu sehen bekam, verschlug ihm die Sprache. Er stand auf dem Deich und blickte auf das Meer. Der salzige Wind wirbelte durch seine Haare. Das Rauschen des Meeres klang in seinen Ohren wie eine schöne Melodie. Die kreischenden Möwen schienen ihn zu begrüßen. Langsam ging Luis den Deich herunter, durch den weichen, weißen Sand und blieb direkt an der Wasserkante stehen. Die ganze Zeit sprach Luis kein Wort. Er blickte nur in die Ferne und lächelte leise vor sich hin. Luis merkte nicht mal dass seine Schuhe von dem Meerwasser umspült wurden. Er schloss seine Augen legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein und wieder aus. Die ganze Zeit hatte Luis ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit spürte er wie sich zwei Arme um seine Hüften schlängelten und ein Kopf sich zärtlich auf seine Schulter legte.
„Na, Luis, ist es so wie du es dir vorgestellt hattest?“
„Nein, Markus, viel, viel schöner. Danke dass du mir diesen Traum ermöglicht hast.“
Markus steckte Luis einen Stöpsel seines mp3-Players ins Ohr, den anderen nahm er selber. Dann startete er das Gerät.
When you're down in troubles
And you need some love and care
And nothing, nothing is going right
Close your eyes and think of me
And soon I will be there
To brighten up even your darkest night
You just call out my name
And you know wherever I am
I'll come running to see you again
Winter, spring, summer or fall
All you got to do is call
And I'll be there
Yes I will
You've got a friend
© 1971 Carole King – You've got a friend, Published by Colgems-EMI Music
Dabei drehte sich Luis zu Markus um und schaute ihm in seine strahlenden Augen. Luis konnte seine Tränen des Glücks nicht mehr zurück halten, gab Markus einen leidenschaftlichen Kuss um ihn dann fest an sich zu drücken. „Danke Markus, du hast mir die Freude am Leben wiedergegeben.“
In den nächsten Tagen machten die beiden lange Spaziergänge am Strand und sprachen über ihre Zukunft. Sie machten sogar eine Bootsfahrt mit einem Krabbenkutter, der, wenn er nicht zum Krabbenfang auf die Nordsee hinaus fuhr, Touristen die nahe gelegenen Robbenbänke zeigte. Luis war wie ein kleines Kind, als er die erste Robbe entdeckte. Markus war glücklich, wenn Luis sich so freuen konnte.
Mit seiner Mutter näherte sich Luis nur langsam wieder an. Als er ihr erzählte, dass er schwul und mit Markus zusammen ist, wollte seine Mutter ihn gleich wieder rausschmeißen. Aber da hatte sie die Rechnung ohne ihren Freund gemacht.
„Carola, wenn du deswegen deinen Sohn verstößt, gehe ich gleich mit.“
Dieser erzählte dann, dass er einen Bruder hatte, der ebenfalls schwul war, und als sich dieser bei den Eltern outete wurde er rausgeschmissen.
„Ich habe meinen Bruder geliebt und es nicht verstanden. Meinen Bruder gab es für meine Eltern nicht mehr. Ich weiß nur, dass er mit seinem damaligen Freund weggezogen ist.“
„Und was ist aus ihm geworden?“, fragte Julius nach.
Dirk, so hieß der Freund von Luis Mutter, wirkte sehr traurig und blickte aus dem Fenster. Einmal tief einatmend drehte er sich wieder den anderen zu.
„Ein damaliger Freund von ihm meinte, er wäre nach Neuseeland ausgewandert. Ich habe nie wieder was von ihm gehört. Später habe ich deshalb den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen.“
Dieses Geständnis machte den sonst so spröden Freund der Mutter um einiges sympathischer. Luis Mutter kam durch die Geschichte ins Grübeln und erbat sich die Zeit, um sich ihre Gedanken machen zu können. Luis bedankte sich bei Dirk und wünschte ihm, dass er eines Tages seinen Bruder bestimmt wiederfindet.
Nach einem halben Jahr holte Luis die Vergangenheit wieder ein. In der Post lag ein Schreiben vom Gericht. Markus versprach ihm, ihn zu unterstützen so gut er nur konnte. Luis wollte allerdings die Sache selbst durchstehen und die Strafe, die er aufgebrummt bekommen würde, akzeptieren, um mit seiner Vergangenheit endlich abschließen zu können.
In der Gerichtsverhandlung wurde Luis, da er schon eine Woche in Untersuchungshaft saß, lediglich zu 40 Stunden Sozialarbeit verurteilt. Die Strafe leistete er in einer Kindertagesstätte in den Ferien ab. Da ihm diese Arbeit so gut gefiel, machte er sein späteres Schulpraktikum ebenfalls in dieser Einrichtung. Sein Berufswunsch war fortan: Erzieher. Er wollte andere Kinder und Jugendliche vor den Dummheiten bewahren, die ihm widerfahren waren.
Ende. Oder der Anfang des Lebens.
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