Stories
Stories, Gedichte und mehr
Nr. 9
Allegretto accelerando
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
Inhaltsverzeichnis
Augenblicke
Die Party ist überraschend gut. Nachdem die Vorband schon ordentlich die Stimmung aufgeheizt hatte, wurde nun eine Ethno-House-Kombo auf die Bühne geholt, zwei DJs, drei Trommler und eine Soulsängerin. Ich sage dir: So eine geile Musik habe ich noch nie gehört und scheinbar ging es nicht nur mir so. Innerhalb weniger Minuten bebte der Saal unter dem Rhythmus der Füße im Einklang der Trommeln — der Herzen.
Ich springe unter die aufgeheizte Masse und tanze — schließe meine Augen und verliere mich in der Musik. Die Welt ist vergessen. Ich höre nur noch die Klänge, spüre den Rhythmus auf meiner Haut und weiß, wie ich mich zu bewegen habe. Ich tanze in Trance.
Eine Ewigkeit später wird meine Umgebung langsam wieder klarer. Ich fühle, dass ich erschöpft bin, habe aber keine Lust aufzuhören. Also schalte ich einen Gang runter, bewege mich langsamer, nur noch zu jedem viertem Takt. Wallende Hitze durchströmt meinen Körper, meine Beine bewegen sich halb taub zur Musik, ein geiles Gefühl. So kann ich ewig weitermachen.
Langsam öffne ich meine Augen und blicke mich um. Mal sehen, was sich in der Zwischenzeit getan hat. Die Tanzfläche ist immer noch gerammelt voll. Katja tanzt neben mir; Maik ist entschwunden. Ich lächle sie an, sie grinst zurück — die Musik ist einfach crazy.
Ich lasse meinen Blick schweifen und schalte die direkte Wahrnehmung ab, das Scan-Raster ›potenzieller Kandidat‹ ein. Es ist nicht viel Interessantes in der Nähe. Nur direkt neben uns tanzt ein recht süßer Junge: Jung um die 15, relativ klein, blonde kurze Locken und himmelsblaue Augen, ein sanftes Gesicht und ein weicher Tanzstil. Wahrlich nicht zu verachten.
Katja bemerkt meinen Blick und fragt keinesfalls kleinlaut: »Süß?«
»Und schwul«, antworte ich. Katja schaut mich überrascht an.
Ich deute auf den Hosenrock, den der Junge trägt. Klarer Fall. Mein Gaydar verleiht dem Kandidaten das Prädikat 96.7%'ig. Es ist dabei interessant, dass die Zuverlässigkeit der Aussage mit der Höhe der Wertung kubisch zunimmt. Sie liegt also jetzt bei 87.44%, womit also der Kandidat mit 84.55% Wahrscheinlichkeit schwul ist. Faszinierend, nicht war? Oder kann es sein, dass ich mich in letzter Zeit zu sehr mit Statistik befasst habe?
Also versuche ich, mich mit weltlichen Dingen auseinander zu setzen und schaue ihn mir weiterhin an. Auch Katja blickt ab und zu rüber. Irgendwann fragt sie: »Was gibst du ihm?«
»4«, sage ich ohne zu überlegen.
»Nur? Der ist doch sooo süß?«
»Eindeutig. Doch, zu jung. Ich habe kein Handy, also worüber soll ich mich bitte sehr mit ihm unterhalten?«
»Jung? Du bist vielleicht gerademal 5 Jahre älter und ich kann dir mein Handy leihen«, meint Katja.
»Alte Kupplerin«, sage ich und schüttle verneinend meinen Kopf, um klar zu machen, dass da nichts zu machen sei. Frauen begreifen in solchen Sachen einfach schlechter, besonders Katja!
Katja verdreht enttäuscht die Augen: »Du bist echt schwierig, so wird das nie was!«
Ich grinse zurück, wir beide wissen, dass ich gar nicht so schwierig bin. Immerhin bin ich ja der netteste Typ auf dieser Welt. Und das muss stimmen, denn das haben mir schon einige gesagt. Meistens fangen die Sätze so an: »Du bist ja ganz nett, aber …«
Tja, was soll ich sagen. Irgendwie hat es halt nie sein sollen. Entweder ich durfte mir diesen Satz anhören oder ich habe ihn selbst frei zitiert. Irgendwie sind ich und die Welt zueinander falsch gepolt. Murphy hat mal wieder zu viel rumgespielt und mir einen Geschmack verpasst, der treffsicher all das einkreist, nach dessen Geschmack ich nicht bin und umgekehrt.
Dabei sehe ich noch nicht einmal schlecht aus, habe weder schlechten Atem, noch nur Blödsinn zu erzählen. Ich bin einfach nur Mr. Nobody. Ich bin weder groß noch klein, dick noch dünn, schön noch hässlich. Ich liege mit meinen Noten im totalen Mittelfeld, habe grad mal ein Talent für Unauffälligkeit. Ich habe keine Hobbys nur viele Interessen. Es war schön dich kennen zu lernen, wie heißt du nochmal?
Jean-Pierre Glenis
Nun, das ist mein Name. Interessant nicht? Nicht wirklich! Entstanden ist er weder durch eine waghalsige, abenteuerliche Agentenbeziehung meiner Mutter, noch durch einen interkulturellen Mix meiner Eltern, aus dem ich zumindest von Mehrsprachigkeit profitieren könnte. Vielmehr stammt der Name aus der Vorliebe meiner Mutter für französische Filme, nicht, dass sie ein Wort französisch könnte, aber die Schauspieler …
Meine Mutter ist Hausfrau mit Passion. Sie sieht am liebsten »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«; ist voll aufgeklärt — über alle aktuellen Andreas Türck Themen; pflegt regen Kontakt zu den Nachbarn und kennt Bücher nur als Staubfänger. Wie sie meinen Vater kennen gelernt hat, ist mir bis heute ein volles Rätsel. Wahrscheinlich ist er der Einzige, der einfach nur zuhört, wenn sie redet.
Mein Vater ist der Ruhepol der Familie. Er redet nie viel, schon gar nicht über die Arbeit, liest am liebsten Zeitung und schläft beim Fernsehen gewöhnlich ein.
Um die Familie perfekt zu machen, gibt's da noch meinen Bruder — älter kaum größer. Soweit ich mich erinnern kann, war er eigentlich in meinem Leben immer nur dazu da, mich zu ärgern und zu nerven. Hierin besteht unsere große Gemeinsamkeit: Ich war nie minder bemüht alle Strapazen zurückzugeben. Zum Glück studieren wir jetzt weit auseinander und ich habe endlich die Chance, ein ruhiges Leben zu führen.
Und ruhig ist es wahrlich gewesen die letzte Zeit. Studentenleben halt: spät Aufstehen; ab und zu in der Vorlesung vorbeischauen, um Freunde zu treffen natürlich; abends dann mal ausgehen oder ausspannen. Ein ruhiges Leben meistens, aber nicht in diesem Augenblick. Dröhnen da nicht gerade 5000 W in meinen Ohren?
Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder der Party zu und lasse meinen Blick schweifen. Nichts Neues! Also tanze ich weiter.
Doch dann trifft es mich. Ich reiße meine Augen auf und schaue in die Richtung, in der die Protokollauswertung einen Volltreffer ergeben hat. Ganz hinten in der Menge der Köpfe lugt ab und zu eines der süßesten Gesichter vor, dass ich jemals gesehen habe. Ich setze mich in Bewegung — vollautomatisch. Das muss ich mir aus der Nähe ansehen.
Er tanzt am Rand der Menge. Ich brauche ohnehin eine Pause, also gehe ich an ihm vorbei und fange sein Bild ein: fast genauso groß wie ich; ziemlich schmale Statur, aber wohl proportioniert; ein Pullover und weite Hosen verhüllen die Details; ein schönes Gesicht — etwas ernst, aber feurig; klare Linien, geschwungene Augenbraun, braune kurze Haare.
Wum!
Ich werfe mich an die Wand hinter ihm, meine Beine sind auf einmal so wabbelig. Irgendwie hat mich das Tanzen doch ziemlich fertig gemacht. Ich muss mich erst mal etwas ausruhen, zu Atem kommen. Also blinke ich mir die Benommenheit aus den Augen und schaue mir dieses Kunstwerk noch einmal ganz in Ruhe an, unbemerkt, da er mir den Rücken zukehrt.
Äußerst interessant: diese Form, die Wahl der Farben, der gesamte Ausdruck. Was will uns der Künstler damit sagen? Und vor allem: ›Wie kann man so tanzen, ohne sich die Beine zu brechen?‹
Er tanzt voll im Takt, springt nicht herum, sondern dreht nur irgendwie seine Beine in den Fußknöcheln, als ob die Dinger aus Gummi währen. Steht mal auf den Seiten der Schuhe, dann wieder schwingt sich das Bein zur Seite, dreht sich irgendwie in sich selbst, um dann wieder eine halbwegs natürliche Position einzunehmen. Das Ganze erinnert mich an Schlangen — ihre hypnotischen Bewegungen lullen mich ein, meine Gedanken gehen langsam flöten, eingenommen von Fragen: ›Wer ist er? Wo kommt er her? Wasmachterhier? Allein? WiesoWshlbWrm?‹
Meine wirren, aber spezifischen, Gedankengänge werden unterbrochen, als Katja sich gnadenlos in mein Blickfeld schiebt.
Toll! Ich ziehe sie schwungvoll neben mich an die Wand, mein Blick immer auf das durch sie verstellte Ziel gerichtet.
»Was soll das!?«, kommt es ziemlich beleidigt von der Seite.
Typisch! Frauen sind immer gleich beleidigt und dann wollen sie unbedingt drüber reden! Ich starre sie kurz zurechtweisend an, eindeutig kommunizierend, dass:
- ich jetzt keine Lust auf eine Diskussion über Knigge habe,
- sie nicht die beleidigte Zicke spielen braucht und
- sie eigentlich nur mal meinem Blick folgen braucht, damit die Situation klar wird, und schaue wieder zu IHM.
»Oh«, kommt es kleinlaut von der Seite.
»Yap!«, genau der!
Ein abschätzendes Schweigen von der Seite. Sie stellt gerade Ihre Bewertung auf, doch meine ist schon längst fertig:
»9! Das ist Nr. 9!«, sage ich und bin mir damit hundertprozentig sicher.
»9? Ist das nicht …«
»Nein!«
»Aber …«
»9!«
»Nur fürs Aussehen?«
Ich kann darauf nichts antworten, deute nur mir der Hand rüber. Eigentlich müsste man die Skala anbauen, um so was darin überhaupt noch rein zu pressen.
»Zehn, wenn er auch noch einen guten Charakter hat!«
Schweigen …
Ein Schlürfen von der Seite. Das Klimpern von Eiswürfeln. Ich glaube Katja langweilt sich und erwartet jetzt etwas Fürsorge von mir, aber ich habe wahrlich Wichtigeres zu tun: Ich genieße den Ausblick.
»Du starrst!«
»Hm …«
»Hallo? … Je-an? Hallo!«
»Was?«, ich schaue kurz Katja an. Was ist denn nun schon wieder?
»Junge dir fallen fast die Augen raus!«
Ich zucke nur unbeholfen mit den Schultern und blicke wieder auf Nr. 9.
»Ach vergiss es! Ich suche Maik, bevor er sich noch jemand anders anlacht!«
»Hm!«
Was auch immer! Ich habe mich längst in seinen Bewegungen verloren, folge seinem Körper. Er formt eine 9.
›So sieht also eine 9 aus?‹, frage ich mich in Gedanken.
›Irgendwie? … %$# …‹, d. h. bis jetzt habe ich schon viele schöne Jungs gesehen, manche Leute sehen einfach toll aus, aber eine 9? Es gibt doch keine 9 nur fürs Aussehen, da hat Katja völlig Recht und dennoch bin ich mir so sicher, so verdammt sicher! Das ist eine 9! Eine hundertprozentige 9! Aber das ist zu gut für jemand Unbekannten. Irgendwas stimmt hier nicht!
Irgendwie — stimmt alles! Nicht nur sein Aussehen, sein Tanzstiel, sondern irgendwie ist alles … ich streiche mir durch die Haare, unfähig die richtigen Worte zu finden, dennoch sicher das richtige Wort zu kennen:
»Perfekt?!«
Das ist es — das ist er! Irgendwie ist alles an ihm perfekt. Der Mann meiner Träume, den es nie gegeben hat. Ich habe noch nie eine Idealvorstellung gehabt. Dafür gab es nie genug feste Anhaltspunkte. Was mir schön erscheint, ändert sich ständig. Immer wieder gibt es neue Dinge, die mich an Menschen überraschen, die sie schön erscheinen lassen, andere verblassen über Nacht. Schönheit ist zu vielseitig, als dass sie sich in eine Form pressen lässt, sie taucht überall auf und lässt sich in jedem entdecken, wenn mann danach sucht.
Doch bei ihm brauche ich nicht suchen, sie leuchtet mich an. Er strahlt, wie ein Leuchtfeuer, blendet bis in meinen letzten Nerv, brennt alle Sicherungen durch. Es knallt!
»—PIEP—!«, fluche ich.
»—PIEP— —PIEP—!«, die Leute um mich rum schauen komisch.
»Das geht nicht, das passiert mir nicht!«, versuche ich mich zu überreden, dennoch ist es klar:
Verdammt! Ich habe mich verknallt! Ich habe mich blind in jemanden verliebt, den ich nicht kenne und nur weil er gut aussieht (korrigiere — verdammt gut; (falsch — Bestialisch gut!)).
Ich lehne an der Wand und bin baff. Meine Augen starren ihn an — Herren ihrer selbst, saugen sie jede Unze seines Körpers auf — wiegen, vergleichen, bewerten: pures Gold.
Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, schon gar nicht, was ich machen soll. Ich brauche Abstand — frische Luft! Ich löse mich von der Wand und gehe zum Ausgang. Nur noch ein letzter Blick über die Schulter, dann raus.
In der lauen Frühsommerfrische stehen einige Leute, auch Katja und Maik sind da, flirten miteinander. Ich gehe zu ihnen, hoffe auf etwas Ablenkung.
»Ah, der gnädige Herr konnte sich losreisen?«, begrüßt mich Katja.
»%$#«, grummle ich. Soviel zu der erhofften Ablenkung. Ein Bild formt sich vor meinen Augen: 9.
»Siehst du Maik, ich hab's dir doch gesagt! Der Junge ist voll weggetreten!«, meint Katja und kuschelt sich an Maik, um klar zu machen, dass sie mir in nichts nachsteht.
»Total hinüber, würde ich sagen!«, bestätigt Maik Katjas blasphemische Behauptung A und küsst sie als Beweis für B. Die beiden vergessen, in inniger nonverbaler Diskussion versunken, die Welt um sie herum und lassen mich im Regen stehen. Eifersucht durchnässt mich!
Super! Ich drehe mich rum und gehe wieder rein. Es war eine blöde Idee gewesen raus zu kommen. Von wegen Ablenkung! Als ob irgendetwas mich ablenken könnte. Ich bin süchtig und nur einer kann diese Sucht stillen. Ich muss ihn finden, ansprechen, kennen lernen!
Ich schiebe mich durch die Menge zu dem Platz, wo er getanzt hat, doch da ist er nicht mehr. Ich blicke mich um — nirgends. Ich gehe zur Bar, niemand. Ich durchsuche die Toiletten, darf mich dumm anmachen lassen, ob ich schwul sei, habe aber keine Lust auf einen Quickie, nichts. Ich stöbere an der Garderobe, auch nicht. Ich gehe raus & wieder rein, schlendre über die Tanzfläche, ernte ein paar Ellbogen, aber nirgends! Nirgendwo ist Nr. 9!
›Na ja, vielleicht ist es besser so. Wäre eh nichts geworden!‹, versuche ich mich zu beruhigen, doch geht es nicht. Er ist weg und ich fühle mich, als wenn ich irgendetwas ganz Wichtiges verloren habe. Langsam aber sicher bekomme ich Panik — ungefähr JETZT!
›Arrggghhhh!!!‹
Ich suche weiter, überall …
Katja und Maik halten mich irgendwann fest, als ich immer noch durch die Gegend streife.
»Können wir gehen, es ist schon halb fünf?«, fragt sie mich und schenkt mir ein mitleidiges Lächeln.
»Von mir aus. Nr. 9 ist eh weg«, sage ich frustriert.
In dem Moment läuft er direkt an mir vorbei. Schaut mich kurz an. Er rauscht vorbei und zieht, genauso wie der Mond das Meer, mein ganzes Blut mit sich. Ich werde bleich.
›Er hat mich gehört!‹, mich trifft die Freude, ihn zu sehen, gleichzeitig mit dem Zweifel, dass er mich gehört hat und wusste, dass er gemeint ist. ›Was denkt er?‹
Doch schon wird mir bewusst, dass er seine Jacke in seinem Arm hatte. Ich reagiere sofort und zerre Katja und Maik zur Garderobe.
›Jetzt bitte keine Verzögerung! BITTE!‹, werfe ich noch schnell ein Stoßgebet gen Himmel.
›YEA! DANKE! DANKE!‹, keine Schlange. Ich stürze mich enthusiastisch auf den Garderobier, der meiner Eile mit Geduld begegnet.
Gemächlich sucht er nach dem richtigen Garderobenständer, irrt sich in der Nummer, sucht wieder woanders, plauscht etwas mit der Kollegin, findet nebenbei endlich unsere Jacken, fragt ob es die Richtigen seien. Ich fauche ihm eine Bestätigung entgegen. Er überlegt daraufhin, ob er mir die Sachen unter diesen Umständen überhaupt noch geben soll, ich, ob ich sie überhaupt noch haben will, er entscheidet sich eher und setzt sich in Richtung Tresen in Bewegung. Endlich! Endlich erreicht er diesen, macht ein Kommentar über gutes Benehmen. Ich verkneife mir die Antwort, entreiße ihm die Jacken und renne raus.
Katja und Maik kommen hintendrein getrabt, tuscheln selig, als ob sie von diesem armseligen Zeugnis deutschen Service nichts mitbekommen hätten.
»Beeilt Euch!«, rufe ich zurück.
»Warum? Die Bahn kommt eh erst in fünf Minuten«, antwortet Maik, sich keinen Deut schneller bewegend.
›Bahn, welche Bahn?‹, frage ich mich und stolpere über irgendeine blöde Bordsteinkante. Ich fange mich gerade noch, hohes Lob über die deutsche Straßenwacht auf den Lippen.
Dann sehe ich ihn. Meine Stimme erstirbt. Ich erstarre. Straßenwächter, Bahnen und Garderobiers sind vergessen. Es gibt nur ihn.
Da steht er. An der Haltestelle in die andere Richtung. Die Hände in den Hosentaschen, leicht fröstelnd, schaut er erwartend der Bahn entgegen. Oh mein Gott, ist der süß!
›Und nun?‹, trifft es mich.
›Ich kann doch nicht einfach rüber gehen und ihn ansprechen?‹
›Was soll ich sagen?‹
›Ich könnte ihm meine Jacke anbieten?‹
›Nein, das ist kitschig!‹
›Scheiße!‹
›Nun stehe ich hier fünf Meter von ihm entfernt und trau mich nicht!‹
›Fünf Meter, es sind nur fünf Meter.‹
›Trau dich!‹, sage ich mir zum wiederholten Male. Doch ich trau mich nicht. Ich starre ihn einfach nur an.
Ein Klingeln. Eine gelbe Bahn zerschneidet mein Blickfeld. Katja und Maik steigen ein, ich folge ihnen, setze mich auf einen Platz. Ich fühle mich taub.
Ich schaue rüber. Auch die Bahn in die andere Richtung ist gerade eingefahren. Ich sehe, wie er einsteigt und sich auf den Platz direkt mir gegenüber setzt. Zwei Scheiben und nur ein halber Meter trennen uns. Er blickt rüber, mir direkt in die Augen.
— TIMEOUT —
Ich blicke in seine Augen, sehe sie ganz groß, verliere mich. Sie saugen mich auf — bannen mich.
Sie sind wunderschön. Sie sind grün. Nein, gelb sind sie. Nein — ach — irgendwie sind sie beides. Sie scheinen außen grün zu sein und innen, direkt um die Iris, sind sie gelb. Feine gelbe Spitzen suchen ihren Weg nach außen. Und drinnen, drinnen sind sie tiefschwarz. Ein Tunnel in die Nacht. Ein Abgrund in seine Seele. Sie spricht mit mir:
»Was ist?«
»Wer bist du?«
»Was willst du?«
— FAST FORWARD —
Die Bahn setzt sich in Bewegung, sein Blick entschwindet. Ich schaue ihm nicht nach.
Ich schaue in die dunkle Nacht und sehe — seine Augen.
Die kuhnsche Attacke
Sonnenstrahlen wärmen meine Wange, streichen mir durchs Haar, umspielen meine Ohren. Ich genieße ihre wohltuende Nähe, ihre fürsorgliche Wärme; stelle mir vor, sie würden einer ganz bestimmten Person gehören. Er würde mich verwöhnen mit seinen Lippen. Wir würden gemeinsam den Tag begrüßen, ihm unseren Stinkefinger zeigen und einfach im Bett bleiben. Wir würden all das tun, wozu dieses Federreich geschaffen wurde, uns verwöhnen …
Hmjm! Was für ein geiler Morgen; solch ein toller Tag. Das Wetter ist perfekt, meine Stimmung super. Ich könnte die ganze Welt umarmen. Ach was soll's …
»Rhrrrrrr«, knurre ich in mein Kopfkissen, muss es halt vertretungsweise herhalten. Dann strecke ich mich und springe aus dem Bett. Noch ein paar Dehnungsübungen und ab ins Bad. Nachdem ich mich in Sonntagsform gebracht habe, stöbere ich durch die Wohnung.
›Komisch, die schlafen alle noch?‹
›alle‹ bedeutet in diesem Falle: Monika, Frank, Katja & Maik. Eigentlich wohne ich ja nur mit Monika, Frank und Katja zusammen, aber aus irgendeinem Grunde pennt Maik auch ständig hier und so sind wir eigentlich eine inoffizielle 5'er WG. Nun gut, das stimmt auch nicht so richtig, denn meistens ist Monika immer irgendwo unterwegs. Sie ist die Einzige von uns drei BWL'lern, die etwas Praktisches aus dem Studium gezogen hat, denn sie schafft es, trotz Bafög, ständig irgendwo in der Weltgeschichte herumzureisen - fürs Wochenende mal nach Kiel, nächst's gets au nit, da bin i ja in Stu'gard. Im Sommer will sie dann nach China für vier Wochen. Warum auch nicht? Es ist ja nicht so, dass sie gerade für einen Monat in Afrika war, wie jedes Jahr, und da es ja auf dem Weg lag, noch einen Monat in Australien dranhängte, für einen kleinen Selbstfindungskurs. Es ist wirklich erstaunlich, wie sich ein mittelloser Bafögempfänger einen Reisepass leisten kann, bei dessen Anblick ein jeder Stempelsammler ein Paradebeispiel für den Pawlowschen-Speichelreflex darstellt.
Und dann gibt es ja noch Frank. Er ist zwar kein Stempelsammler aber unser Techniker und so etwas braucht mann einfach in der heutigen Zeit in einer BWL'ler WG. So sieht mann ihn auch ständig durch die Wohnung kriechen, Netzwerk-, ISDN- und Strom-Kabel ver- bzw. zerlegen; die Netzwerkserver überwachen oder die neuesten Telefontarife ausspionieren. Das alles führt zwar nicht dazu, dass irgendwann einmal vielleicht alles funktionieren könnte, aber dafür können wir uns sicher sein, immer auf dem neuesten Stand der Technik zu sein. Das zu wissen beruhigt ungemein das Gewissen und somit ist Frank für uns einfach unersetzlich geworden. Zudem ist er auch persönlich voll Ok - er hat sogar eine Freundin.
Die schläft zwar gerade nicht hier, aber dafür der Rest und Das ist ungewöhnlich. Nicht das »Das« (überhaupt), sondern vielmehr das »Das« (immer noch). Ok, bei Monika ist das keine Sache, sie ist mindestens genauso solch ein Langschläfer wie ich, aber Katja und Frank sind eigentlich ausgesprochen nervende Frühaufsteher, so von der Art derer, die meinen sie müssten den Tag mit lauter Gutelaunemusik begrüßen, mit der sie einen zu nachtschlafender Zeit wach machen, ein schlechtes Gewissen einjagen und dann auch zum Aufstehen bewegen, obwohl mann eigentlich noch länger schlafen müsste, wodurch mann natürlich unausgeschlafen ist und schlechte Laune hat, worüber sie sich wiederum beschweren, wenn sie versuchen einem irgendwelche tagesaktuellen Diskussionen aufzudrängen, bevor mann seine erste Tasse Kaffee hatte, aber es gibt ja noch Gerechtigkeit in diesem Land. Ich schmeiße die Anlage an und lege meine grausamste CD ein: Dieter Thomas Kuhn!
»UNO DUE DRE! HOOOHA!«
Genüsslich falsch mitsingend tanze ich in die Küche und fange an, Frühstück zu machen.
»Jean-Pierre?«, meldet sich mein erstes Opfer - Katja. Sie steht im Pyjama in ihrer Zimmertür und starrt mich wie einen Geist an. Strike Nr. 1!
»Morgen!«
»Was machst du hier?«
»Ehm … Frühstück?«, sage ich, während ich ein paar Marmeladengläser jongliere. Ist ja eigentlich offensichtlich, oder?
»Du bist schon auf?«, fragt sie stattdessen, mich immer noch dumm anstarrend.
Mein Gott, sind wir aber schwer von Begriff, da sind wir wohl noch ziemlich verschlafen? Welch eine Genugtuung!
»Nö, ich schlafwandel!«
»Dann ist ja gut!«, sagt sie und schleicht Richtung Bad. Kaum ist sie aus der Tür, knallt diese auch schon zu.
»Guten Morgen Maik!«, rufe ich durch die Tür. Nr. 2! Ach dieser Tag beginnt einfach herrlich!
»MACH DIE MUSIK LEISER!«, schreit es klagend aus Franks Zimmer. Nr. 3! So jetzt fehlt nur noch …
»JEAN!«, kreischt es von Monika her. Und VIER! Gewonnen! Der Kandidat erhält volle Punktzahl. Ein neuer Rekord im unbeliebt machen am frühen Morgen. YEAH!
Der perfekte Tagesbeginn! Jetzt noch hübsch frühstücken und ich bin für alles bereit! Also packe ich noch ein paar Sachen zusammen und trage das Tablett runter in den Garten.
Wohnen tun wir tun in einer alten verwinkelten Mehrfamilienvilla. Super schön, super billig und einen riesigen Garten gab's auch noch dazu. Die perfekte Wohnung für ein paar Studies, die nicht soviel Wert darauf legen, wenn der Putz draußen von der Wand bröckelt.
Ich stelle die Gartenstühle auf, decke den Tisch und gehe erst mal zur Tanke gegenüber Brötchen holen. Als ich zurückkomme, ist Katja auch schon dabei Kaffee und Tee zu machen. Ich grinse sie glücklich an. Sie schaut misstrauisch zurück, sagt aber nichts.
Nach einer halben Stunde ist dann alles bereit und auch der Rest der Mannschaft aufgestanden. Wir setzten uns gemütlich in den Garten und frühstückten zusammen.
»So, das tat gut!«, sagt Frank, während er sich satt&zufrieden in seinem Stuhl zurücklehnt.
»Vielen Dank, Frau Metzinger«, schließt er und verbeugt sich gespielt vor Katja. Ich räuspere mich betont, wenn hier schon mal Blumen verteilt werden, möchte ich welche abhaben.
»Heute verdanken wir dieses Essen AUSNAHMSWEISE mal Jean-Pierre«, stellt Katja auch gleich richtig. Ich hingegen grinse stolz und wackle mit den Augenbrauen. Genau, Ich!
»Ach so, ja«, sagt Frank undankbar. Auch die andern scheinen mir nicht gerade Beifall spenden zu wollen.
»Wenn du nochmal so eine Kuhn-Sache machst, ziehe ich aus!«, bringt Monika die Sache auf den Punkt und schaut grimmig in ihre Milchtasse.
»Dann zieht Er aus!«, beschließt Katja und deutet mit ihrem Messer auf mich.
Ich hingegen grinse nur frech und sonne mich in meinen tief einschneidenden Traumata-Erfolgen.
»Wie kannst du nur so gut gelaunt sein!«, wirft mir Monika vor.
»Tschuldigung!«, grinse ich.
»Du bist verliebt?«, analysiert Frank. Ich falle fast vom Stuhl, mein Grinsen ist vor Panik geflüchtet.
»Was, ich? Nein!«, sage ich schnell, während ich mich wieder aufrappel.
»Nr. 9!«, diagnostiziert Katja.
»Wer?«, fragt Frank.
»Niemand!«, sage ich betont und schaue Katja böse an.
»So ein niedlicher Typ von der Party gestern!«, fällt mir dieses Mal Maik in den Rücken und grient mich an.
»Ach? Und …«, Monika ist auf einmal wach geworden.
»Nicht dein Geschmack!«, knalle ich ihr ins Gesicht. Erst mal präventiv ein paar Schläge verteilen, bevor mir die ganze Situation aus der Hand gleitet! Ich habe dabei wahrscheinlich noch nicht mal gelogen. Sie hat einen furchtbaren Geschmack - was Männer angeht.
»Hat er auch einen richtigen Namen?«, fragt hingegen Frank.
»Ähhh …«, super jetzt waren wir genau da, wo ich nie hinwollte -
in der Realität.
»Den kennt er nicht!«, vervollständigt Katja meinen Satz.
»Er hat sich nicht getraut ihn zu fragen!«, fügt Maik hinzu.
»Ist er aus der Nähe?«, fragt Frank mal wieder.
›Wie kann mann nur so verdammt rational sein!?‹
»Hab ihn vorher nie gesehen«, sagt Katja.
»Wahrscheinlich nicht!«, bestätigt Maik.
»Ist er schwul?«, fragt Frank die entscheidende Frage.
Ich starre den Tisch an: Das Nutellaglas ist schon wieder fast leer, wir brauchen bald Neue.
»Sah nicht so aus!«, antwortet Katja.
»Als ob das eine Sache des Aussehens ist!«, bemerke ich genervt!
»Ach komm, du hast doch auch nichts gemerkt!«
Scheiße, sie hat ja Recht! Er hat wirklich keinerlei Signale ausgesendet, obwohl ich auch nicht drauf geachtet habe.
»Hoffnungslos!«, fasst Monika das Gespräch zusammen. Sie starrt wieder betrübt in ihre Tasse und auch die andern sind ruhig, blicken durch die Gegend.
›Toll! Nachdem wir jetzt alle gemeinsam über mein Liebesleben diskutiert haben und beschlossen haben, dass es hoffnungslos ist und ich ein Idiot, möchte ich euch allen für euer Mitgefühl danken. Nur zur Erinnerung, vor einer Minute hatte ich noch gute Laune! Ihr habt sie mir restlos verdorben. Vielen Dank - Freunde?!‹, werfe ich ihnen in stummen Blicken vor. Doch sieht sie keiner, schaut mich niemand an. Ich stehe auf und gehe in mein Zimmer.
Das sind doch alle Idioten! Und das Schlimmste ist: Sie haben auch noch recht. Ich werde ihn wohl nie wiedersehen. Vielen Dank, ich wollte es gar nicht wissen! Das hätte so ein schöner Tag werden können. Jetzt kann es von mir aus auch regnen.
Es klopft stattdessen.
»RAUS!«
Die Tür geht auf, auf mich hört ja keiner. Maik kommt rein und lehnt sich an den Türrahmen.
»Tut mir Leid!«, sagt er leise.
»Vergiss es!«, tut er natürlich nicht, es hört ja nie irgendjemand auf mich!
»Die Sache mit der Liebe ist ne blöde Angelegenheit oder?«
»Wem sagst du das! Ich bin Mr. ganz nett höchstpersönlich!«
»Das kenn ich!«, sagt er und lacht leise. Ich finde es jedenfalls nicht lustig!
»Weißt du noch, wie lange es gedauert hat, bis ich und Katja zusammen waren?«
Ok, jetzt kann ich mich eines Grinsens nicht enthalten! Die beiden sind DIE Experimentserie für fehlkoordinierte Liebeserklärungen. Sie haben doch glatt ein ganzes Jahr gebraucht, bis sie sich endlich entscheiden konnten, gleichzeitig zueinander JA zu sagen.
»Siehst du, die Liebe geht manchmal komische Wege!«
»Hauptsache sie kommt irgendwann mal an! Ich hab kein Bock mehr auf Warten!«
»Na ja, sie ist nicht gerade eine Expresslieferung - glaub mir!«
»Mag sein, aber meine Bestellung ist schon seit Jahren raus und wenn sie liefern, dann immer nur das Falsche!«
»Irgendwann kommt auch mal der Richtige für dich.«
»Irgendwann?!«
»Bald! Vielleicht triffst du ihn ja irgendwo?«
»Klar!«
»Die Welt ist klein.«
»Ja, ein Kuhdorf!«
»Und es stinkt uns an, oder?«
»Und wie!«
»Weißt du was?«
»Was?«
»Ich gehe duschen!«, sagt er und verschwindet Richtung Bad.
Ich glaube, er hat Recht. Ich werde auch nochmal duschen, mir meinen Kummer wegspülen. Vielleicht ist der Tag ja noch zu retten?
Erdbeereis
Es war eine beschissene Woche gewesen! Eigentlich war sie wie alle anderen gewesen: langweilige Vorlesungen, öde Tage, alles ein C&A, aber dennoch war sie Scheiße gewesen. Definitiv!
Ich war irgendwie nicht bei mir gewesen. Ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Nichts konnte meine Aufmerksamkeit fesseln, alles flog vorbei. Ich schlief schlecht. Ständig flimmerte alles in meinem Kopf. Ich war auf der Suche, in den Reihen in der Vorlesung, in der Straßenbahn, in der Mensa, auf der Straße. Überall.
Nirgendwo! Nirgendwo er. Noch nicht einmal ein anderes süßes Gesicht. Es gibt irgendwie keine interessanten Menschen mehr, nichts kann mit ihm standhalten. Alles was ganz nett aussieht, verblasst innerhalb von Pikosekunden, sobald es den Vergleich gegen ihn ansteht.
Ich hasse es!
Ich hasse es, in irgendjemand blind verliebt zu sein. Ich hasse es, nicht mehr Herr meiner eigenen Gedanken zu sein, dass mir ständig seine Augen erscheinen. Ich hasse es, dieses blöde Gefühl, das mich erfüllt, wenn ich an ihn denken muss - ständig. Ich hasse es, wie es mir langsam den Rücken hoch kriecht, mich kribbeln lässt. Ich hasse es, wie es die Welt um mich herum einnebelt, sein Lächeln formt, er mit mir spricht. Ich hasse es, dieses Grinsen, das sich auf mein Gesicht schleicht, sich nicht aufhalten lässt. Ich hasse es, dieses wohlig warme Gefühl, das seine Stimme in mir hinterlässt. Ich hasse - dieses ganze Glück.
Denn - ich hasse es, wie es zerplatzt, wie es von Realität getroffen wird, explodiert und Mich verletzt. Ich hasse es, wie es mich in Depressionen reißt, so tief, wie jedes Glucksgefühl hoch. Ich hasse es, nichts dagegen unternehmen zu können, so nutzlos herumzusitzen und einfach nur zu leiden.
›Eaarghh!‹
Ich hacke mit dem Messer auf den Überresten meines Frühstücks herum, versuche meine Wut an einem Stückchen Brötchen auszulassen, es in Krümelchen zu zerlegen, die Krümel in Staubkörner und die dann in …
»Kannst du mal mein Brettchen in Ruhe lassen?«, kommentiert Frank mein Anti-Aggressionsprogramm und kaut weiter auf seinem Brötchen rum. Leicht schuldig ziehe ich das Messer wieder aus dem Brettchen und lege es auf den Tisch. Ich starre stattdessen aus dem Fenster, sehe den Bäumen beim Wippen im Wind zu, wiege mich in Lethargie.
»Kommst du mit zu A-BWL?«, fragt mich Katja, die neben Frank sitzt und gerade ihr Frühstück beendet hat. Ich frage die Bäume nach ihrer Meinung, irgendwie habe ich keine Lust auf das Gelaber. Ich habe eigentlich zu gar nichts Lust, einfach nur hier sitzen und mit den Bäumen reden.
»Ok!«, antworte ich trotzdem, irgendwann sind ja auch Prüfungen.
Katja schaut auf die Küchenuhr. Panik weitet kurz ihre Augen, bis sie feststellt, dass sie die Uhr ja selbst zehn Minuten vorgestellt hat, um nie zu spät zu kommen, was aber eigentlich nichts nützt, da sie ja weiß, dass sie vorgeht, uns dafür aber ständig irgendwelche Schocks einjagt. Nichtsdestotrotz, sie lässt es sich nicht ausreden: Sie genieße die erfrischende Panik?
»Na dann müssen wir jetzt los, wenn wir noch ein Platz haben wollen«, sagt sie und ist schon dabei, ihr Geschirr abzuräumen. Ich erhebe mich mühsam, nehme das gemarterte Brettchen und platziere es geschickt auf dem Stapel der letzten drei Tage. Ich bewundere kurz die statisch perfekte Konstruktion, frage mich, ob ich nicht doch hätte BauIng studieren sollen. Na was soll's, ich habe mich für Betriebswirtschaft entschieden und so schlecht ist's ja nicht.
Somit neu in meinem Studium bestätigt, ergreife ich voller Elan meinen Rucksack, werfe Frank noch ein »Tschau.« zu und lasse mich von Katja zur Haltestelle zerren. Dort bewundere ich etwas die tolle Form meiner Schuhe, während Katja mir ihre, bzw. meine, Tagesplanung präsentiert.
»Ich treffe mich mit Maik nach der Vorlesung in der Mensa, du kommst doch sicher mit?«, eine rein rhetorische Frage, hier wird keine Antwort erwartet, dafür ist eh keine Zeit, weil Katja schon beim nächsten Tagesordnungspunkt ist. »Zu Statistik gehe ich nicht, wir wollten noch in die Stadt etwas einkaufen, du brauchst eh eine neue Hose. Danach können wir ja noch ein Eis essen gehen. Heute Abend wollten wir dann ins Zouk gehen, wie sieht's aus?«
»Ähh …«, für mich kommt mein neuer Terminplan etwas überraschend. Eine neue Hose bräuchte ich? Dabei ist die, die ich trage, doch gerademal zwei Jahre alt, was ist damit nicht in Ordnung? Und ich habe doch noch … zwei andere? Na ja, möglicherweise könnte ich doch noch eine gebrauchen. Dank dir Katja, dass du mal wieder mitgedacht hast. Wie immer, denn Katja ist in der Planung meiner Termine einfach spitze. Sie denkt immer an alles und plant schön im Voraus, dummerweise weiht sie mich immer erst kurz vor knapp ein und fragt eigentlich nie nach meiner Meinung. Obwohl, manchmal ist sie sogar so gnädig, mir ein paar Stunden selbst verwaltete Freizeit zu lassen, wenn sie ihre Ruhe mit Maik haben will. Aber eigentlich beschwere ich mich auch nicht, ich könnte auch irgendwas anderes machen, aber ich bin gerne mit Katja zusammen.
»Ok Mama!«
»Schön. Da kommt ja auch schon die Bahn, also dann: Auf in einen neuen Tag!«, sagt sie und springt fröhlich vors nächste Auto.
Die Reifen quietschen, ein genervter Autofahrer klopft gegen die Scheibe. Katja merkt von alledem nichts und steigt vor sich hinsummend in die Bahn ein.
›Ich hab's immer gewusst! Zu viel Elan am frühen Morgen ist einfach gefährlich.‹ Vorsichtig gehe ich zur Straßenbahn, steige ein und setz mich. Mal sehen, wie der Tag wird.
»Das sieht scheiße aus! Probier das mal!«, sagt Katja, entreißt mir eine weite Khaki und drückt mir ein kurzes, eng anliegendes, glitzerndes Etwas entgegen.
»Was ist denn das?«, frage ich entsetzt.
»Na ein bauchfreies Top. Damit kommst du bei den Jungs bestimmt super an!«
»Das sieht voll schwul aus!« antworte ich, ziehe etwas an dem Ding rum. Wow, das Zeug ist wirklich dehnbar und fühlt sich irgendwie - §%&? - komisch an.
»Ja eben, nun sag nicht, dass du damit Probleme hättest?«
»Deshalb ziehe ich doch keine Kleider an!«, ich betrachte fasziniert den Stoff, irgendwas haben die da herein gewebt, so dass es in unterschiedlichen Farben glitzert.
»Das ist kein Kleid, sondern ein Top. Und das betont wunderbar deine Figur! Wenn du einen Freund haben willst, dann musst du dir schon ein bisschen mehr Mühe geben, gut auszusehen!«
»Welche Figur? Ich habe seit zwei Jahren keinen Sport mehr gemacht.«
»Das ist ja nicht meine Schuld! Probier es doch erst mal an!«, sagte Katja in ihrem Das-ist-mein-letztes-Wort-also-MACH!-Tonfall, den sie äußerst überzeugend beherrschte. So fand ich mich kurze Zeit später in einer Garderobe wieder, entledigte mich meines T-Shirts und betrachtete mich im Spiegel: ›Hm?‹
Ich ziehe den Bauch ein und lasse meine Muskeln spielen. Ich versuche es noch einmal und pumpe, was das Zeug hält. Es bewegt sich nichts. ›Worauf habe ich mich nur eingelassen?‹
Na ja, Katja hat es nicht anders gewollt und jetzt müssen wir da beide durch. Also ziehe ich schnell das Glimmerdings über und zwicke es in die richtige Position. Es kneift und ziept überall, der Glitzerstoff kratzt und ich fühle mich furchtbar. Ein Blick in den Spiegel bestätigt mir meinen emotionalen Eindruck. Ich sehe ein farbenblindes Chamäleon, ausgestopft mit Stahlwolle unter 2000 Volt. Vielleicht trügt mich auch nur mein visueller Kortex, immerhin fällt mir die Sauerstoffversorgung meines Großhirns schwer, da mir das Ding die Atemwege abschnürt. Ich halte also die Luft an und stolpere wie ein Weichspülsupermann aus der Kabine.
Katja hat sich davor platziert und bewertet gerade Maik, der eine schwarze Jeans anprobiert. Dieser erblickt mich und fängt an zu prusten, sichtlich bemüht einen Lachanfall zurückhalten. Katja dreht sich rum und blickt mich skeptisch an. Sie sagt nichts, schaut nur.
»Hey, es war nicht meine Idee gewesen!«, verteidige ich mich. Katja sieht mich hingegen nur vorwurfsvoll an, so als ob ich an der Misere schuld wäre. Frauen!
Ich stampfe wieder in die Kabine und ziehe mir diese Zweithaut ab. Super! Jetzt hat sie es mal wieder geschafft! Mein Selbstbewusstsein kriemelt irgendwo unten auf dem Boden rum. Klasse! Ich werfe das Ding in die Ecke und ziehe mir mein T-Shirt über. Ich habe jetzt keinen Bock mehr auf Einkaufen, ich will nach Hause!
»Ich gehe!«, rufe ich Katja und Maik entgegen, grabsche meine Sachen und schubse die Kabinentür auf.
WUM! Ein Stöhnen von der Seite.
»Soll dir nur recht geschehen, wenn ihr mich hier nur verarschen wollt!«, schnauze ich einen der beiden an, wen immer es getroffen hat. Katja schaut mich überrascht an. Maik steht neben ihr. Beide vor mir. Aber?
»Was soll das!«
»Oh, Entschuldigung«, ich versuche ein gekünsteltes Lächeln und drehe mich zu dem Opfer meines Überfalls um.
Mein Blickfeld verschwimmt! Alles dreht sich …
›Ich träume?‹, stelle ich überrascht fest. ›Einer von diesen Tagträumen, die dich ständig erfassen, wann immer du sie nicht gebrauchen kannst. Die seinen Kopf auf die Köper anderer Menschen pflanzen, so dass du denkst, dass du mit ihm redest. Du anfängst Blödsinn zu labern, bis alles platzt, die Maske abfällt und auf einmal jemand anders vor dir steht, dich anstarrt, nicht weiß, was du von ihm willst. Wow, dabei habe ich gar nicht an ihn gedacht!‹
Ich blinke mir den Schlaf aus den Augen, doch klappt es nicht. Ich sehe ihn immer noch vor mir, wie er da steht und seinen Kopf hält, mich böse anfunkelt. Das Gelb in seinen Augen - kleine Flammen des Zorns - züngelt mich zu versengen.
Mein Mut verdampft. Entsetzen verbreitet seine lähmenden Finger, kriecht in mein Inneres, martert mein Gewissen. Ich starre ihn an. ›Was habe ich getan!‹
»Naa, ist doch halb so schlimm, oder?«, legt Katja ihren Mutterton auf und schwingt sich auf Nr. 9 zu. Sie nimmt seine Hand weg und schaut auf eine fröhlich pulsierende, zunehmende Beule. Er lässt es wehrlos mit sich geschehen, beobachtet mich weiterhin, blickt auf meine Hände und verzieht sein Gesicht zu einem fragenden Ausdruck.
Ich folge seinem Blick und stelle fest, dass ich irgendetwas bunt Glimmerndes in den Händen halte. Auf einmal ergreift mich ein reger Bewegungsstrom und ich versuche, das Ding irgendwo in ein Regal reinzustopfen. ›Danke Katja!‹
»Ich werd's überleben«, höre ich von hinten und das Quietschen einer Kabinentür. Als ich mich umdrehe, ist er fort. Ich starre auf die Tür, hinter der er verschwunden ist.
›Ich aber nicht!‹, schreie ich ihm stumm hinterher. Jetzt ist alles verloren. Es ist vorbei, bevor es überhaupt angefangen hat. ER kann mich nicht ausstehen, hasst mich. Und alles nur wegen … Ich zerbohre Katja mit meinen Blicken, nagle sie an die Kabinentür: ›Du und deine Experimente!‹
Katja schaut nur unschuldig zurück und sagt laut, so dass mann es auch in der Kabine hören kann:
»Wie sieht's aus, wir laden dich als Wiedergutmachung auf ein Eis ein?«
›Was! NEIN! Nur das nicht!‹, warum willst du mich quälen. Besser ein kurzes schmerzvolles Ende, als die Qualen noch künstlich in die Länge ziehen. Ich möchte Katja am liebsten die Haut abziehen, vielleicht kann mann ja etwas Glitzer draufpudern und dann toll die Figur damit betonen, aber ich lausche dennoch besser auf seine Antwort.
Schweigen … es klappert … rumpelt etwas … Stille. Dann geht die Tür auf und ER kommt raus, stellt sich vor den Spiegel und zieht an der Hose rum. Er trägt die Khaki, die ich mir angeschaut hatte, sie sieht super aus. Das ist meine Nr. 9!
»Was meint ihr?«, fragt er.
›Fantastisch! Genial! Blastomanisch! Hyperdynamisch! WHOWHO!!!‹, ich hole erst mal tief Luft.
»Ist OK«, meint Maik.
›OK? OK! Das ist nicht OK. Das Essen in der Mensa ist OK. Aber das ist … $§&%‹
»Am Arsch sitzt sie gut!«
›Katja! Also bitte. Beherrsch dich. Nun gut, recht hast du ja, aber bitte nicht so … ehm … direkt?‹
Nr. 9 nimmt es gelassen, dreht sich im Spiegel und urteilt selbst. Er scheint zufrieden. Dann fragt er mich: »Und was meinst du?«
»$§&%«
»Was?«
»Ganz OK«, würge ich raus und hasse mich! Er lächelt mich an und ich liebe ihn.
»Ich denke, ich nehme die. Das mit dem Eis geht in Ordnung«, sagt er und verschwindet in der Kabine.
Ich schwebe irgendwo auf Wolke 7421#16a, tanze in Gedanken durchs ganze Kaufhaus; küsse die Frau an der Kasse; rocke in der Technikabteilung; mähe Rasen im Kleingartenzubehör; radel durch die Unterwäscheabteilung; flirte mit den älteren Damen im Café.
›Er hat mich angelächelt, habt ihr es alle gesehen? ER hat mich angelächelt! WHOHO!‹
Ich möchte Katja um den Hals fallen, ihr die Füße küssen, dem lieben Gott dafür danken, mir diesen Menschen geschenkt zu haben, doch geht gerade da die Kabinentür auf. Also erhebe ich mich schnell von meinen Knien und wir gehen an die Kasse zahlen. Ich meine die andern gehen; ich schwebe, bilde den Schatten von Nr. 9.
Wir setzen uns ins nächste Café. Katja und Maik bestellen sich den »Pärchenbecher« mit einem Schuss Champagner.
»Wollt ihr auch einen?«, fragt Katja unschuldig.
Mir purzeln die Augen raus, rollen über den Tisch und kommen direkt vor Nr. 9 zu liegen, filmen seinen Mund: Nahaufnahme 16:9, Zeitlupe:
»Nein, ich denke nicht. Ich nehme den Wallnussbecher«, spricht er und klappt die Karte zu. Kein Zucken in den Augenbrauen, kein Nachdenken. Eine klare Entscheidung - gegen mich.
»Ich nehme den Erdbeerbecher!«, versuche ich sicher rauszubringen. ›Ich hasse dich Katja!‹
»Kommen wir mal zu der offiziellen Begrüßung. Also, ich bin Katja, dieser Schnuckel ist Maik und der da, das ist Jean-Pierre«, sagt sie und sie wedelt zu mir rüber. »Er hat heute ein bisschen schlechte Laune, aber ansonsten ist er ganz nett!«, flüstert sie hinter vorgehaltener Hand zu Nr. 9 in solch sensibler Lautstärke, dass mann es auch noch vier Tische weiter gehört hat. Die Leute mustern mich misstrauisch.
›Ich verachte dich Katja!‹
»Wer's glauben mag? Ich heiße Alexander«, grient er mich an und hält mir seine Hand zur Versöhnung hin.
»Alexander«, wiederhole ich wie ein Idiot. Ein toller Name, findet ihr nicht? Es ist wahrlich erstaunlich, was die heutige Technik alles so vollbringt. Anstatt, dass so ein stupider Zufallsgenerator einen Namen wie »Afslfa« oder »Slfadis« ausspuckt, kommt so ein schöner Name wie »Alexander« raus. Faszinierend! Ehm wart mal … wie komme ich eigentlich darauf?
»Wo kommst du her?«, unterbricht Maik meine philosophischen Gedankengänge.
»Neustadt«, das liegt im äußersten Norden der Stadt, wir wohnen hingegen im Süden. Damit erklärt sich auch, weshalb ich ihn vorher nie gesehen habe. Er wäre mir aufgefallen, sogar, wenn ich blind gewesen wäre: Er hat eine so tolle Stimme. Ich lasse mich von der wohligen Wärme umnebeln, lasse mich berauschen von seinen Worten, klebe wie eine dünne Schicht Labello an seinen Lippen. Er ist Schüler und geht jetzt in die 12. und beschwert sich über seine Schule - wie jeder. Also fangen auch Katja und Maik an, ihre Schulerlebnisse auszupacken. Ein Gespräch entspringt, aus dem ich mich jedoch raushalte. Ich bin derzeit völlig unfähig klar zu denken oder gar verständliche Sätze zu formen. Ich muss »Alexander!« bewundern.
Irgendwann kommt das Eis und ich esse gedankenverloren etwas, aber eigentlich lutsche ich die ganze Zeit auf dem Löffel rum und beobachte Alexander, wie er sein Eis verspeist. Ich schmelze darin, meinem Eis gleich.
»Mein Gott, es ist ja schon halb 6. Ich muss los«, Alexanders Stimme befördert mich innerhalb von Millisekunden auf den Boden der Realität. Ich schlage hart auf, verliere den Überblick.
»Was? Wie? Wo? Weg? Wohin denn?«, stammle ich.
»Ich wollte mich um 6 mit Kim treffen, dann mal schauen, was wir heute Abend noch so machen?«, sagt er und zwinkert mir zu. Ich kenne dieses Zwinkern. So zwinkert mann nur, wenn man was ganz Bestimmtes meint. Etwas, dass mann besser nur zu zweit macht! Und es betrifft NICHT MICH! - Kim!
»Wir wollten heute ins Zouk, wenn ihr Lust habt, könnt ihr doch auch kommen?«, sagt Katja.
›Wer ist Kim?‹, frage ich stumm.
»Mal sehen, wann seid ihr denn da?«
›WER IST KIM?‹
»Ich denke mal gegen 11.00.«
»Na dann, vielleicht sieht man sich ja«, sagt er, klopft auf den Tisch und verschwindet.
›KIM?‹, ich schaue in meinen Eisbecher und fühle mich wie das Eis. Erst einmal geschmolzen ist es nur noch matschig, klebrig - ekelig.
Fast Forward
Ich drängte Katja und Maik ein bisschen, die beiden wollten doch wirklich vorher baden? Das dauert bei ihnen immer eine Ewigkeit und endet eigentlich immer erst, wenn unsere Untermieter hochkommen und sich beschweren, dass es bei ihnen von der Decke regnet. Aber ich konnte sie zum Glück überreden, nur mal schnell zu duschen und so waren Sie auch schon nach einer halben Stunde damit fertig. Was die nur immer machen?
Ich für meinen Teil hatte natürlich schon längst geduscht und versuchte seit einiger Zeit die richtigen Sachen auszusuchen. Nachdem ich meinen Kleiderschrank ausgeräumt, alles durchprobiert und es bereut hatte, viel zu selten mit Katja einzukaufen, konnte ich mich letztendlich für Schwarz entscheiden, eine schwarze Jeans und ein schwarzes tailliertes Hemd. Ok, ich hatte vielleicht nicht die Figur, um Batman zu spielen, aber für eine kleine Nebenrolle als Robin reichte es noch aus. Ich nebelte mich noch ordentlich ein, schmierte mir irgendwelches Gleitgel in die Haare und zupfte mir die nächste Stunde die Strähnen in die richtige Position. Dann wurden noch die Schuhe geputzt, fertig!
»Wir können gehen!«, sage ich enthusiastisch, als ich Katjas Zimmer betrete.
Die beiden sind gerademal aus der Dusche gekommen und trocknen sich gegenseitig die Haare - bzw. wurschteln eigentlich nur mit den Handtüchern rum und kichern wie kleine Kinder.
»Super, das kann ja noch eine Ewigkeit dauern und wir sind doch schon knapp dran!«, rutscht es mir raus.
Katja schaut mich überrascht an und lässt von Maik ab. Sie kommt auf mich zugeschwebt, legt ihre Arme um meinen Hals und drängt mich gegen die Wand. Dabei schaut sie mich mit ihrem Unschuldiges-kleines-Mädchen-das-den-Weg-nach-Hause-vergessen-hat-Blick an.
»Ohhh, bist du eifersüchtig mein Süßer. Na dann müssen wir uns aber mal etwas um dich kümmern!«, säuselt sie und fängt an mein Hemd aufzuknöpfen. ›Unschuldig?‹
Ich bekomme Panik! In solchen Situationen kriege ich immer Panik. Auf Frauen sind meine Gene einfach nicht programmiert. Der einzige Instinkt, der bei ihnen noch greift, ist mein Schwimminstinkt: Ich wedle hilflos mit den Armen, schnappe nach Luft und blicke hilfeschreiend Maik an. Der grinst mich nur genussvoll an. Ja tolle Vorstellung: ›Schwuler von Frau vergewaltigt!‹
»So, das ist besser, mein kleiner Casanova!«, sagt Katja und lässt von mir ab. Sie hat mir gerademal den oberen und unteren Knopf aufgemacht. Ich hatte eher das Gefühl gehabt, dass sie schon an meiner Hose war. Puh!
»Wir haben noch viel Zeit, es ist gerademal neun!«, fügt Katja hinzu und sucht sich irgendwelche Sachen.
»Und? Vielleicht kommt er ja früher?«, versuche ich zu argumentieren.
»Zwei Stunden?«, fragt Katja mit hochgezogener Braue.
Ich sehe ja ein, dass ich vielleicht etwas übereilt bin und ziehe ab. Mal schauen, welchen Schaden Katjas Attacke an meinem Outfit hinterlassen hat. Ich besehe mich im Spiegel: Na ja, manchmal trifft sie es gar nicht so schlecht. Die Knöpfe bleiben offen, auch wenn ich mir eine Erkältung hole. Nochmal die Haare überprüft. So, aber jetzt!
»Katja?«, rufe ich durch die Wohnung.
»Kann ich mir erst mal was anziehen?«, antwortet es mit leicht aggressivem Unterton.
»Wieso, du siehst doch auch so toll aus!«, entgegne ich, denn Schmeicheleien helfen immer.
»Ich wollte aber heute mal kein Geld damit verdienen!«
»Schade«, gebe ich mich geschlagen. Mann kann die Leute nicht zu ihrem Glück zwingen.
Ein paar Äonen später, es könnten auch nur 15 Minuten gewesen sein, das lässt sich nach der speziellen Relativitätstheorie nicht mehr so genau festlegen, von meinem Standpunkt aus, welcher sich um seine eigene Sonne drehte, waren es jedenfalls Jahrtausende, ging es endlich los.
Aufgrund des gleichen physikalischen Phänomens brauchte auch die Straßenbahn eine doppelte Ewigkeit. Ich nehme an, das ist auf den Grenzwert bei der Addition von Geschwindigkeiten zurückzuführen. Da ich mich in der Zwischenzeit schon gedanklich mit ungefährer Lichtgeschwindigkeit auf Nr. 9 zubewegte, konnte die Straßenbahn nicht schneller als 0.24156 m/h fahren. Ein sicherlich hochinteressanter und näher zu untersuchender Ansatz, der mich in diesem Moment nicht wirklich beschäftigte, denn wie gesagt, in Gedanken war ich bei Nr. 9 beziehungsweise ziemlich nahe dran:
›Wer ist diese mysteriöse Kim? Seine Freundin? Er hatte keine Freundin in seinem Gespräch mit Katja und Maik erwähnt. Dessen bin ich mir sicher, auf solche Reizworte hätte ich auch tot noch reagiert. Vielleicht ist sie auch nur eine gute Bekannte, so wie Katja für mich‹, ich schaue zu Katja, wie sie gerade dabei ist, Maik wieder auszuziehen. ›Nun gut, besser eine nicht ganz so offenherzige Freundin.‹
›Ich meine, er könnte doch wirklich auch schwul sein? Die Chancen stehen gar nicht so schlecht? Bei so vielen Heten, die ich kenne, muss doch auch mal wieder ein Schwuler dabei sein! Hm … aber das heißt ja nicht, dass er mich auch mag, oder? Scheiße! Ich glaube ich sollte über irgendwas anderes nachdenken!‹
Ich lese mir die Werbung in der Straßenbahn durch, zum ersten Mal in meinem Leben. Mensch ist das interessant!
»Sind wir endlich da!«, frage ich.
»mhhmmmhmmmmmhmmmmmmm!«, also von Katjas und Maiks Seite ist keine Ablenkung zu erwarten. Katja ist gerade dabei, bei Maik eine Bronchialuntersuchung mit ihrer Zunge zu machen.
›Toll!‹, ich lese mir die Werbung nochmal durch, zum zweiten Mal in meinem Leben.
Endlich kommen wir an. Ich springe raus, renne zum Eingang und stelle mich an. ›Mist!‹
Nachdem ich ungefähr 10.000 km auf der Stelle getreten bin, mich jedoch rational gerademal 10 m vorbewegt habe (Die Sache mit der Relativitätstheorie muss ich mir nochmal näher anschauen.), komme ich rein. Ich werfe sofort meinen Scanner an und checke die Anwesenden durch.
Nachdem ich den Selbsttest nochmal laufen gelassen habe, aber immer noch keinen Fehler finden kann und die Menge sicherheitshalber nochmal aktiv überprüft habe, muss ich mir eingestehen, dass er noch nicht da ist. Ich schaue auf die Uhr.
›Dabei ist es doch schon 22:34 Uhr und 18s!‹
Ich platziere mich strategisch geschickt gegenüber vom Eingang. Ok, ein paar Leute beschweren sich, ich würde ihnen den Weg zu der Garderobe verstellen, aber ich kann es nun wirklich nicht jedem recht machen. Ich schaue auf die Uhr.
›22:42 Uhr und 36s. Immer noch nicht!‹, ich schaue schnell hoch, vielleicht ist er gerade in dem Moment … nein leider nicht. Ich überprüfe nochmal die Zeit.
›22:42 Uhr und 42s. Aber jetzt müsste er langsam kommen!‹, ich blicke hoch. Schade. Wie spät ist es jetzt!
›22:43 Uhr und 01s. Er kommt zu spät! Na ja, kann ja mal passieren, aber vielleicht ist er ja auch gerade durch die Tür?‹, ich blicke schnell hoch … Nee.
»Wie spät ist es?«, frage ich jemanden in der Schlange zur Garderobe.
»22:44.«
»Danke«, also an meiner Uhr liegt es nicht! Er ist wahrhaftig zu spät! Ich kontrolliere nochmal die Uhrzeit.
›22:44 und 47s‹, ich blicke hoch und schaue runter …
blicke hoch …
… und schaue runter.
›23:12 und 13s.‹, ich habe nichts mehr dazu zu denken.
Er wird nicht kommen! Es ist ganz klar. Er ist jetzt schon viel zu spät. Ich fühle mich nur noch tierisch müde, mein Nacken tut mir weh. Ich habe mich zum Affen gemacht: mich extra rausgeputzt, mich mit Physik beschäftigt, meine Nerven ruiniert und wofür? Für wen?
Nr. 9 betritt den Raum. Er sieht super aus - wie immer! Er trägt diesmal einen engen, schwarzen Rollkragenpullover und dunkle Jeans. Meine Nr. 9. Ich bin auf einmal hellwach, fühle mich topfit, fliege auf ihn zu und … knalle auf eine Mauer puren Charismas. KIM!
Sie folgt ihm einen Schritt später, durchschreitet die Tür und die Zeit bleibt stehen.
Von einer unbekannten Macht angezogen, fliegen Ihr die Blicke aller Männer zu. Ein jeder dreht sich um - auch die Frauen. Bei den einen zeigt sich nur noch Gier, bei den anderen verbreitet sich Furcht.
Sie strahlt! Sogar für mein frauenblindes, schwules Hirn ist es weithin sichtbar, dass diese Frau ein exorbitantes Karma besitzt. In dem Moment, als sie den Raum betrat, gehörte er Ihr. Keiner würde sich Ihr in den Weg stellen, was immer Sie wollte, war bereits Ihrs! Und was Sie wollte, wurde schnell klar - Sie ergriff Alexanders Hand!
Die Zeit spult weiter. Die Energie schlägt zurück, trifft mich mit ihrer ganzen Wucht.
Männerherzen seufzen, Frauenherzen atmen auf. Mein Herz - bleibt stehen.
»Hi, Jean-Pierre.«
›wuwum … wuwum‹, es gibt einen Grund zu leben.
»Hi«, röchel ich ihm entgegen, ziehe Luft und versuche ein Lächeln. Er schaut mich jedoch nicht an, blickt durch die Gegend.
»Hallo, du bist also Jean-Pierre?«, schwingt eine ruhige, sichere Stimme von der Seite. Sie spricht von Vertrauen, Verständnis & Vollkommenheit. Ich widerstehe einer Antwort, traue mich nicht, zu Ihr rüberzusehen; versuche Sie zu ignorieren.
»Ich bin Kim«, beginnt Sie noch einmal, unbeeindruckt von meinem Versuch. Ich riskiere einen Blick. Sie lächelt mich an und mein Widerstand schmilzt. Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. Ich merke, wie ich Ihre dargebotene Hand ergreife, und spüre unter Ihrem sicheren Händedruck meine Barrikaden fallen. Ich gehöre Ihr.
»Ein schöner Name, französisch?«
»Ja, ich kann aber nichts dafür.«
»Ah ja? Das geht den meisten so«, lacht Sie. Es klingt wie das Singen einer Nachtigall und Glück verzaubert alle um Sie herum. Ich merke, wie ich mitlache. Auch Alexander lacht, glücklich wie ein kleines Kind. Viele Umstehende lachen, ohne zu Wissen warum.
»Was ist so lustig?«, fragt Katja. Auch sie hat Kims Ankunft bemerkt und kam jetzt, um die Grenzen abzutasten. Hinter ihr folgt Maik und tritt an ihr vorbei.
»Hallo, ich bin Maik«, stellt er sich Kim vor und küsst Ihre Hand. Sie schmunzelt leicht zurück und schon fangen seine Lippen an zu zucken. Eine weitere Fliege in Ihrem Netz.
Katja schenkt seinem Rücken einen bitterbösen Blick und lächelt dann Kim unschuldig entgegen. Mit ist, als wenn ich ihre Nackenhaare im Gegenlicht der Scheinwerfer blitzen sehe. Eine Viper, bereit zum tödlichen Kampf.
»Ich bin Kim, Alex Freundin!«, stellt sich Kim vor und zieht ihn zu sich ran. Er schaut Sie glücklich an, pustet Ihr ins Ohr und Sie lacht ein weiteres Mal.
Katja lacht auch. Sie boxt Maik in die Seite und küsst ihn auf die Wange. Er brummt kurz und auf einmal ist die Situation entspannt. Die Grenzen sind abgesteckt und keiner würde dem andern ins Handwerk fuschen. Alle vier sind glücklich vereint, lächeln sich an.
Und ich? Ich lächle nicht. Ich stehe allein!
In meinen Ohren rauscht ein einsamer Wind. Trockener Staub verschleiert meinen Geist und spitzer Sand sticht in meinen Augen. Staubtrocken ist mein Mund. Mir dürstet es - nach irgendwas.
Ich stolpere zur Bar und bestelle einen Ballentines. Ich schütte ihn runter, bestelle noch einen. Langsam löst wohlige Wärme die tausend Krämpfe in meinem Körper und schon ergießt sich der Nächste in mein inneres Ich. Der Knoten löst sich. ›Ahhh…‹
Ich blicke in das nächste Glas, folge den schweren, braunen Wellen. Ein schönes Getränk … so viel Tiefe …
-FILMRISS-
5
Nr. 9 tanzt mit Kim, ganz nah mit Ihr zusammen.
Er umstreicht ihre Hüften.
Sie legt Ihre Hände auf seinen Po.
Die Hose ist runtergerutscht,
mann sieht den Ansatz seiner Boxershorts.
4
Katja redet mit mir,
blickt mich milchig an.
Ihre Augen sind ganz groß?
3
Ich nehme einen Schluck von meinem Bier.
Welchem Bier?
2
Irgendjemand rumpelt mich an.
Ich rumple ihn an?
Er hat mein Bier verschüttet?!
Macht mich blöd an.
Ich schlag ihn!
1
Alexander hilft mir vom Boden.
Maik redet mit diesem Idioten.
»Er hat mir ein Bein gestellt!«
Alexander schaut mich an.
Ich sehe in seine Augen.
Ein Topas in einem Meer aus Saphiren.
Sie kommen näher.
Ich falle?
Ich berühre seine Lippen, spüre die Hitze, die Feuchtigkeit.
Sie öffnen sich und ich dringe ein.
0
-BLACKOUT-
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.