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Nr. 9

Teil 3 - Finale Allegretto con brio

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Inhaltsverzeichnis

Neugeburt

Ich gehe zu dem bezeichneten Park. Er ist nicht weit weg und die kühle Abendluft klärt meine Gedanken. Ich kann nicht fassen, was mir gerade passiert ist. Ich habe verloren meinen Traum und gewonnen eine neue Chance. Eine Chance - auf Wirklichkeit. Eine Chance, meinen Traum neu zu entdecken und ihn wahr werden zu lassen. Es zieht mich zu Ihm.

Ich folge der Straße in den alten Stadtpark. Seit Jahrzehnten schlängelt sie sich durch den Park, teilt ihn in zwei ungleiche Hälften. Hinter mir bleiben die letzten Straßenlaternen und mein Schatten verwischt mit der silbrig blauen Dunkelheit. Meine harten Schritte hallen auf dem gepflasterten Weg. Gleichmäßig ist ihr Klang und ruhig tragen sie mich durch die Nacht - zu Ihm.

Ruhig bin ich wohl. Was hab ich auch zu verlieren? Ich habe heute bereits alles verloren. Nun gilt es, neu zu beginnen - neu zu gewinnen. Ich weiß nicht, was sich ergeben wird. Tausend Möglichkeiten stieben durch meinen Kopf: Glück und Unglück vermischen sich und die einzige Konstante ist Er. Ich will zu Ihm.

Ich erreiche die Bushaltestelle und blicke mich nach der Baumgruppe um. Dunkel erhebt sie sich aus dem blauen Gras, ist umgeben von dichten Hecken. Ich suche nach dem Weg durch dieses Dickicht, doch verwehrt es mir jeglichen Eintritt. Kein Eingang lässt sich im schwarzen Mondschein erkennen. Doch da rast ein Auto vorbei, im Licht seiner Scheinwerfer läuft mein Schatten über die Wiese und verschwindet in einem dunklen Loch in den Büschen. In Schwärze zurückgelassen, folge ich ihm und zwänge mich durch die Hecke. Äste zerkratzen meine Hände und Dornen verfangen sich in meinen Sachen, doch auf einmal öffnet sich vor mir eine Lichtung und gibt mich frei. Ich bin bei Ihm.

Ich blicke in die allumfassende Dunkelheit vor mir. Das dichte Blätterwerk verschlingt auch den letzten Schimmer Licht, bildet ein schwarzes Loch im Kosmos der Großstadt, formt einen in tosenden Wirbeln erstarrten Ort der Zeitlosigkeit. Dessen Mitte bildet er. In seiner dunklen Hoffnungslosigkeit mit der Umgebung verschmolzen, erschafft er ihr schwarzes Zentrum und zieht mich an. Ich setze mich neben ihn.

Ich denke, dass er weiß, dass ich hier bin. Er rührt sich nicht und öffnet auch nicht seine Augen, doch warte ich. Der Zeitpunkt zum Reden ist erst gekommen, wenn er ihn bestimmt. Ich werde hier bleiben, in seiner Nähe, als Fokus seiner Gedanken, als Hoffnung und Erklärung. Manchmal sagt ein Schweigen mehr, als tausend Worte vermögen. Der nächste Schritt gebührt ihm.

›Doch wird er ihn tun?‹, durchzuckt mich ein Zweifel. Ich verknote ihn in den Schnürsenkeln meiner Schuhe.

›Soll ich nicht doch lieber?‹, frage ich mich wieder und blicke zu ihm rüber. Er rührt sich noch immer nicht. Es sieht fast so aus, als ob er schlafen würde. Im schwachen Licht erscheint er ganz blass, geht mit seinen schwarzen Sachen in Dunkelheit über. Es ist, als ob er nicht wirklich existiert. Nur ein Geist seiner selbst ist, ein verblasster Ausschnitt. Und doch umrahmen seine dunklen Haare scharf das Gesicht, stechen seine Augenbrauen klar heraus. Sie zerfurchen sein Antlitz, treiben es in grimmige Falten. Niemand schläft mit solch einem verzweifelten Ausdruck. Niemand sollte!

Ich wende mich wieder ab, starre in die Dunkelheit und versuche, sie mit meinem Blick zu zerschneiden, irgendwo einen Schimmer Licht durch das Blätterwerk zu erhaschen. Doch hält sie mir eisern Stand, gewinnt überhand und erfüllt mich langsam, kriecht in meine Knochen und verbreitet Ruhe, Frieden und Gelassenheit. Ich entspanne mich und wir warten …


»Warum muss immer alles so kompliziert sein?«, fragt er irgendwann leise und hält die Augen immer noch geschlossen. Ich überlege eine Weile, finde keine Antwort. Manchmal gibt es keine richtige Antwort, nur Ausreden.

»Weil es sonst langweilig wäre!«, versuche ich es.

»Aber wäre dann nicht alles viel besser? Alle Menschen könnten glücklich sein.«

»Dann würden sie sich drüber aufregen, dass sie es sind.«

»Gibt es denn kein Glück ohne Unglück.«

»Gibt es Licht ohne Dunkelheit? Können wir in die Sonne blicken und sehen wir unter der Erde? Für keines sind wir geschaffen, in beidem bleiben wir blind.«, sage ich.

»Aber es gibt Sonnenbrillen und Lampen.«

»Wir können zwar mit einer Lampe umhergehen und uns wie auch die uns nahe Stehenden erleuchten, doch egal wie hell wir erstrahlen, so gibt es dennoch weiterhin Dunkelheit um uns. Menschen, die darin verbleiben. Dunkelheit ist natürlicher als das Licht und so wird auch das Glück erst im Unglück sichtbar.«

»Ist es da nicht besser, wir löschen das Licht und gewöhnen unsere Augen an die Dunkelheit. Werden wir dann nicht erkennen, dass es auch in dieser ausreichend Helligkeit gibt?«

»Nicht alles wird scharf, nicht alles wird klar sein?«

»So sehen wir dennoch weiter als nur zuvor, die paar Schritte im Kegel unserer Lampe.«

»Dann haben wir also nur die Wahl zwischen Kontrast und Tiefe.«

»Ach Scheiße!«, flucht er und schlägt mit dem Kopf rückwärts auf den Boden, hält die Augen immer noch geschlossen. Die Ruhe hält mich gefangen und wir schweigen weiter.


»Warum? Warum geht mir die Sache nicht mehr aus dem Kopf?«, fragt er leise.

Ich schaue auf meine Hände. In der Dunkelheit sind es zwei graue Massen, die sich ineinander verschlingen, aneinander reiben. Ich beobachte sie dabei, dann reiße ich sie auseinander und lege sie getrennt auf meine Beine. Ich bleibe still.

»Wie ist es …«, fragt Alexander. Er spricht das Wort nicht aus, doch ich weiß, was er sagen will.

»… schwul zu sein?«, helfe ich ihm. Er nickt leise, schluckt und kneift sein Gesicht zusammen. Mein Herz sticht vor Schmerz und ich wende mein Blick von ihm ab.

Ich suche nach einer Antwort in der Dunkelheit. Sie kommt mir auf einmal so bekannt vor. Mein guter alter Freund. Vielleicht muss mann nicht alles hell erleuchten - genügt nicht ein kleines Leuchtfeuer, um den Weg zu weisen.

»Ich kann es dir nicht erklären. … Ich bin nun mal so und es gefällt mir«, fange ich an, Alexander hört zu.

»Bei Frauen? … Ich fühl einfach nichts weiter bei ihnen. Weißt du? … Sie sind ja ganz nett und mann kann sich toll mit ihnen unterhalten, aber das ist auch alles. Ich habe überhaupt keine Fantasien mit ihnen. Es ist so, als ob sie ansonsten nicht existieren. Wenn ne tolle Frau an mir vorbeigeht, denke ich einfach nur: ›Toll sieht die aus‹, und ich schau sie mir an, aber ich finde nicht: ›BOA! Hat die geile Titten. Ist das ein heißer Arsch!‹, sondern ich denke einfach nur: ›Toll sieht die aus, würde ich mir auch ins Wohnzimmer stellen‹, und das ist alles«, beende ich. Alexander rührt sich nicht. Ich betrachte ihn und ein Kribbeln läuft mir über den Rücken. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, als ich fortfahre: »Doch, wenn ich einem tollen Jungen begegne, sträuben sich bei mir die Haare, mein Puls fängt an zu rasen und ich sauge ihn auf. Dann grinse ich wie ein Idiot und schaue ihm ganz automatisch hinterher. Ich denke: ›Wow tolle Schultern. OAH, sind das Hände, die können Berge versetzen und was für Augen - Augen … ‹«, ich schaue auf meine Arme und streiche die Haare runter, sie stellen sich wieder auf. »Deshalb bin ich schwul! Weil ich so empfinde und nicht anders. Deshalb bin ich mir sicher!«, schließe ich und schaue in den Blätterhimmel. Der Mond hat eine offene Stelle gefunden, an der er seine Strahlen durchsendet.

»Ich weiß nicht …«, beginnt Alexander unsicher. Irgendwie verstehe ich ihn und lasse ihm Zeit. Wir alle brauchen Zeit.

»Ich weiß nicht, wie es bei mir ist. Ich weiß gar nichts mehr! Es ist irgendwie alles wie leer gefegt!«

»Mein Gott! Ich habe eine Freundin, warum kann ich dich nicht vergessen?«, fragt er und streicht sich mit seiner Hand über die Augen. Ich umklammere meine Knie und bleibe still. Diese Frage muss er sich selbst beantworten. Mein Herz verknotet sich, doch bleibe ich still.

»Warum?«, fragt er und schlägt wieder mit dem Kopf zurück. Es tut mir weh.

»Warum musste das sein? Warum hat es mir gefallen? Warum! Warum!! WARUM!!!«, schreit er elend und schlägt immer schneller werdend mit dem Kopf auf den Boden.

»Verdammt!«, ruft er ein letztes Mal und setzt sich mit einem Schwung auf. Er hält seine Augen noch immer geschlossen, sich selbst umschlungen und schweigt.

Auch ich schweige, bin unfähig etwas zu sagen. Ich möchte meine Hand ausstrecken und ihm mit einer einzigen Berührung seinen ganzen Schmerz nehmen. Doch tue ich es nicht, kann es nicht.

»Ich liebe Kim!«, sagt er mit fester Stimme. »Was auch immer ist. Ich liebe Kim. Ich habe von ihr geträumt, bevor ich sie das erste Mal sah; verehre sie, seitdem ich sie das erste Mal traf; liebe sie, seitdem ich sie das erste Mal sprach. Ich möchte sie nicht verlieren, möchte Sie nicht enttäuschen - und doch …«

»und doch - ich weiß nicht …«, er schüttelt seinen Kopf und legt ihn auf seine Knie.

»Warum muss diese Welt nur so kompliziert sein!«

Eine Träne löst sich aus seinen Augen und spiegelt sich im Mondlicht. Einer Sternschnuppe gleich gleitet sie auf der Bahn seiner Wange herunter und fällt zu Boden. Ich wünsche mir Frieden für ihn.

Es ist kein Verlangen mehr, das mich für Alexander erfüllt, sondern Trauer. Trauer, ihn hier zu sehen und nicht erfassen zu können, was ihn so zerstört. Ich möchte ihm helfen, mich ihm zuwenden, seine Träne fortwischen. Doch findet sie ohne mich ihren Weg in das dunkle Gras, tränkt den Boden mit ihrer Feuchtigkeit und ihrem Salz. Vielleicht wird ein neuer Halm daraus entstehen? Ein neuer Busch? Ein neuer Baum? Eingereiht in dieses Dickicht ein Punkt der Neugeburt. Vielleicht soll diese Träne nicht umsonst geflossen sein!

»Warum!«, fragt Alexander wieder, schlägt mit den Fäusten auf den Boden.

»Es wird wachsen«, sage ich in die Dunkelheit.

Er öffnet seine Augen und schaut mich an.

Ich blicke weiterhin auf den Punkt, den seine Träne tränkte, fühle mich unwohl unter seinem Blick. Ich kann mich nicht erklären, kann nicht begründen, warum ich das jetzt sagte, nicht erläutern, was es bedeuten soll. Nur eine unbestimmte Klarheit sagt mir: Es ist wahr.

»Ja … ich denke, du hast Recht. - Es soll wachsen!«, erkennt auch Alexander mit gefasster Stimme.

Ich blicke in seine Augen. In der Dunkelheit ist ihr Feuer erloschen. Nun sind es tiefe Seen der Einsamkeit und sie nehmen mich auf. In diesem Moment verstehen wir uns und die klare Stimmung erfüllt uns. Ein leichtes Lächeln formt sich in den Ecken seines Mundes und ein Leuchten streicht durch seine Augen. Mein Herz rebelliert und ich blicke fort. Dieses kleine Schimmern Glück erfüllt mich tausendfach.

Mit einem Mal erscheint mir die Dunkelheit so viel klarer. Der Mond strahlt durch die Blätter und ich erkenne die Lichtung in ihrer vollen Schönheit. Der Boden ist sanft mit Laub bedeckt, in der Form einem Lindenblatt ähnlich. Ein paar Heckenrosen hängen in die Lichtung hinein, ihre weißen Blüten sind zur Nacht geschlossen. Eine kühle Brise umspielt meine Nase, erfüllt mit der Frische der Nacht und einem Hauch von Alexanders Duft.

»Ein schöner Ort!«, empfinde ich.

»Ein ruhiger Ort«, schließt Alexander.

»Ein guter Ort«, beginne ich mit einem Lächeln.

Die Zeit vergeht und wir reden einfach nur. Ich weiß nicht mehr, worüber, aber ist das überhaupt wichtig? Einfach miteinander zu reden, das soll unser neuer Anfang - unser wahrer Anfang sein. Vorbei sind die Träume, verronnen mit der letzten Träne, würden sie nun vielleicht einen viel tragenderen Baum gebären.

Haschen

Lichtschimmer durchbrechen das Dickicht, tragen die nächtliche Kühle fort. Ein kleiner Schauder läuft mir den über den Rücken. Im Raum steht ein Lichtbalken und erhellt den Punkt vor Alexanders Füßen. Tau spiegelt sich dort auf dem Boden.

»Die Sonne geht langsam auf«, unterbricht Alexander meine Beobachtung. Ich schaue hoch und wir lächeln uns an. Es war eine schöne Nacht gewesen - wir beide wissen es.

Eine zufriedene, vollkommene Stille hat uns umfangen. Nicht der Zwang, irgendwas sagen zu müssen, sondern innige Gemeinsamkeit eint uns. Der Zustand ruhig nebeneinander zu sitzen und gemeinsam zu denken. Ein jeder versunken in seiner eigenen Gedankenwelt und doch vereint in der Körperlichen, zufrieden den Anderen nahe zu wissen, nur eine Hand weit entfernt.

»Gehen wir nach Hause?«, frage ich ihn.

»Es wird langsam Zeit«, nickt Alexander und reibt sich die Hände sauber, mit denen er sich auf den Boden abgestützt hat.

Bedächtig stehen wir auf und kriechen aus dem Dschungel. Alex geht vor mir und weiß genau, wie mann sich unbehelligt an den böswilligen Hecken vorbeiduckt, mir hingegen schlagen die Zweige ins Gesicht, die er zur Seite schiebt.

»Au!«

»Oh, sorry.«

»Fuck!«, ich fange mich im letzten Moment, als ich über eine Wurzel stolpere.

»Geht's?«

»JaJa!«, wiegele ich ab. Ich werde hier bestimmt nicht den Waschlappen mimen!

»Autsch!«, schreie ich auf.

»Was?«

»SCHEIß AST!«, fluche ich herum und verfange mich in irgendeinem aufdringlichen Strauch, währen ich versuche dem tief hängenden Ast auszuweichen, mir den schmerzenden Kopf zu halten und den Pfad im Auge zu behalten.

»Hihihi«, kichert es schadenfroh vor mir herum.

»Schnauze!«, feuere ich nach vorne, derweil ich mich ärgerlich von diesem fummelnden Strauch losreiße.

»HAHAHAHA!«, explodiert es vor mir und die Druckwelle voll Glück, bläst auch bei mir die letzte ruhige Stimmung weg.

»Arsch!«, versuche ich böse zu sagen. Doch erwische ich den beleidigten Tonfall nicht richtig, denn das ist ziemlich schwierig, wenn mann das Wort nur zwischen zwei Lachern herauspressen kann.

»Hättest du wohl gerne? Hol ihn dir!«, kommt es provokant von vorn und ich höre ihn fortrennen. So was lasse ich mir nicht zweimal sagen und stürme hinter diesem Stiftung-Männer-Test-Sehr-Gut-Prädikierten-Arsch hinterher. Ein paar loyale Äste versuchen mir den Weg zu versperren, jedoch wische ich sie unachtsam beiseite und breche auf die Wiese. Alexander steht 10 m vor mir und schaut mich herausfordernd an. Ich nutze meinen Schwung und jage auf ihn zu.

10 m

7 m

5 m

3 m

2 m

Er dreht sich um und zischt davon. Ich durchquere den Punkt, den er eben noch einnahm, ziehe sein Aroma ein und komme ins Straucheln. Doch fange ich mich rechtzeitig und hechte ihm hinterher, fokussiere seinen Rücken. Er entfernt sich schnell. Mist! Er ist Leichtathlet!

Alex schaut über seine Schulter, grinst mich selbstsicher an und scheint noch nicht mal stark zu atmen. Ich hingegen schnaufe ihm hinterher, aber so leicht gebe ich nicht auf!

Und ich werde gut motiviert. Alex schlägt ein paar unnötige Haken, beweist mir locker seine Überlegenheit, doch hole ich ihn langsam ein! Bis auf einen Meter komme ich ran und dann stürmt er wieder davon, rauf auf die Straße und um die nächste Ecke. Ich schlittere ihm hinterher und …

knalle auf die mir liebste Mauer, seine muskulöse Brust und seine kräftigen Arme. Sie fangen mich auf. Mehr aus Überraschung, denn Berechnung, drücke ich ihn mit Schwung gegen die Wand, umklammere seine Arme und presse meine Brust gegen die Seine. Unser Atem rast synchron, unsere Herzen schlagen vereint und ich schaue in seine wahnwitzig leuchtenden Augen; sehe das Kind zum ersten Mal auf dem Rummelplatz stehen. Die Farben des Karussells spiegeln sich in seinen Pupillen. Alles rast und fliegt vorbei, ein Rausch der Sinne - nur das Leuchten bleibt.

Langsam vergeht die Magie des Momentes und ich trauere ihr nicht einmal hinterher. Noch immer halten wir uns fest, doch ist es nicht mehr ein gemeinsames Knistern, sondern ich spüre seine Muskeln, wie sie sich gegen meine Finger sträuben, ihnen meine Berührung unangenehm ist.

»Ich bin nicht eine von diesen Parkbekanntschaften«, bringt Alex hervor.

»Och - später können wir uns immer noch kennen lernen«, säusele ich verspielt - imitiere Katja mit meinen Hundeblick. Sanft streiche ich mit meinen Fingern über seine Arme, fahre über seine Brust und komme auf seiner Hose zu liegen.

Aus dieser Perspektive könnte ich mir das richtig gefallen lassen, um nicht zu sagen, ich genieße es, wie er langsam rot anläuft und mich entsetzt anstarrt.

Jetzt ist er es, der angestrengt atmet. ›Süß! Ganz schüchtern der Kleine!‹, erinnere ich mich an Stefan und fahre noch einmal langsam mit meinen Fingern meinen Pfad zurück und lasse von ihm ab.

»Oder wir treffen uns morgen?«, frage ich enttäuscht. Dann grinse ich ihn gemein an und zucke mit den Augenbrauen. Alexander entspannt sich und lächelt zurück.

»Zum Frühstück?«

»Bei mir oder bei dir?«, hake ich nach.

»Im CFK? Die machen da ein super Frühstück«, sagt Alex.

»Ok, wann?«

»1 Uhr?«

»Yo, keine Sache! Ich bin da!«, sage ich freudig grinsend. Es entzückt mich schon jetzt, ihn morgen wieder zu sehen! Wenn ich ihn nur nicht verlassen müsste. Ein kleines Zeichen von ihm und ich bleibe hier!

»Ich glaube deine Bahn fährt gleich?«, sagt er. Nicht ganz das, was ich erhofft habe, doch füge ich mich seiner Bitte. Wir wollten es ruhig angehen lassen! Wie war ich nur auf die blöde Idee gekommen ihm zuzustimmen?

»Hm, ich denke, ich gehe dann?«

»Ja, ist wohl besser so …«

»Also dann …«

»Bis morgen.«

»Bis Heute!«

»Ja, bis heute!«

Ich schaue ihn ein letztes Mal an. Blicke ein letztes Mal in seine Augen. Der Sturm in ihnen hat sich gelegt und die gelbe Blume zur Nacht geschlossen. Er ist müde, wir sind müde. Langsam drehe ich mich um und gehe. Ich schaue nicht noch einmal zurück, brauche ihn nicht noch einmal sehen.

Biojoghurt

»Morgen!«, gähnt Monika mich an und trollt halb nackt an mir vorbei ins Bad.

»MoinMoin«, rufe ich ihr hinterher und stopfe mir mein Portemonnaie in die Hosentasche. Ich setze mich auf mein Bett, ziehe ein paar Schuhe heran und schlüpfe rein.

»Willst du weg?«, fragt mich Katja, die mich vom Küchentisch aus beobachtet.

»Yap!«

»Schon wieder? Bist du nicht gerade erst gekommen?«, forscht Katja betont lässig nach.

»Tja!«, grinse ich und lehne mich in die Küchentür.

»Ihr hattet wohl einen schönen Abend?«, fragt Katja.

In Erinnerung beschworen erheben sich tausend Schmetterlinge in meinem Bauch. Ihre Leichtigkeit erfüllt mich und ihre Energie beflügelt. Ich hebe ab.

Katja lächelt mir an und kommt zu mir. Sanft legt sie mir ihre Hand auf die Schulter und zieht mich auf den Boden der Realität zurück.

»Also dann, viel Spaß euch beiden«, wünscht sie mir und rückt den Kragen von meinem Hemd gerade.

»Klar!«, kopiere ich Martin und verabschiede mich von ihr.

Ich schmeiße mich auf mein Fahrrad und mache mich auf den Weg zum CFK. Der Wind weht mir um die Ohren und ich genieße das berauschende Gefühl der Freiheit, das Kribbeln der Vorfreude. Ich liebe es, wie die Stadt an mir vorbeijagt, es keine Grenzen für mich und meine Schmetterlinge gibt. Schnell fliegen wir zum CFK, nichts kann uns aufhalten.

Es ist erst 12.30 als wir ankommen und ich erwarte nicht, Alexander im Biergarten zu treffen. Doch dafür ist Martin da. Er sitzt an einem einzelnen Tischlein und lässt sich genussvoll die Sonne auf den Rücken brennen. Lässig hat er eine Sonnenbrille in die Stirn geschoben und liest mit hochgeschlagenem Knie Zeitung.

»Hi? Was machst du hier«, frage ich ihn freudig und setze mich ihm gegenüber.

Er blickt kurz über seine Zeitung, schaut mir ruhig in die Augen und senkt dann wieder seinen Blick auf die schwarzen Zeilen.

»Zeitung lesen!«, antwortet er trocken.

Er scheint ja nicht besonders gesprächig zu sein am frühen Morgen. Komisch? Ich hatte jedenfalls beste Laune. Gleich würde Alex kommen!

»Und was gibt's Neues in der Welt?«, frage ich, um das Gespräch am Laufen zu halten und widme mich glücklich dem Lächeln von Alex, das nur für mich von der Titelseite der Zeitung prangt.

»Krieg, Leid, Betrug.«

»Schön«, finde ich. Ich denke gerade darüber nach, was Alex wohl machen will? Worüber wir sprechen werden? Was er essen mag? Was ihn interessiert und wann er herkommt? Herkommt? Ach so, ich wollte ja noch fragen.

»Was machst du hier?«

»Frühstücken!«, entgegnet Martin leicht genervt und lässt geräuschvoll den Teller klappern, als er sich an der Zeitung vorbei ein Brötchen greift.

»Also ich treffe mich mit Alex.«

»Schön.«

»Yap!«, stimme ich ihm zu.

»Toll!«, die Zeitung knistert und dann schmatzt etwas hinter der schwarzweißen Blätterwand.

»Ja wir haben uns gestern …«, fange ich an, doch unterbricht mich Martin.

»Also weißt du was? Ich lese hier Zeitung! Willst du Euch nicht einen anderen Platz suchen? Es ist ziemlich voll und Ihr wollt doch sicherlich Eure Ruhe haben?«

Ich starre ihn mit offenem Mund an. Dieser Typ hat voll den Knall! Da will ich ihm freundlich von gestern Abend erzählen und er macht mich an! Und ob ich mir einen anderen Tisch suche. Einen der ganz weit weg steht! Ich stehe auf und will gehen, doch dummerweise ist wirklich kein anderer Tisch frei. Nur ein paar Tische weiter sind noch vier Plätze an einem großen Tisch unbelegt. Na ja besser als hier zu sitzen! Ich stampfe rüber.

»Ist hier noch frei?«, frage ich, vielleicht etwas barsch.

Auf einmal erstirbt das Stimmengewirr um mich herum. Meine Haare stellen sich auf und mein Hirn schaltet entsetzt auf Zeitlupenbetrieb, meine Augen nehmen selektiv auf:

Mein linkes Auge starrt auf einen Teelöffel. Erstarrt auf dem Weg in den abgrundtiefen Schlund eines weit aufgerissenen Mundes, ruht er hoffnungsvoll in der Luft. Geschockt beobachte ich, wie sich ein Tropfen lebender, rechtsdrehender Jogurtkulturen auf der linken Seite des Löffels bildet und sich rettend in den Tod stürzt, um auf ein naturblasses, grobes Leinenkleid und einen lila-bunt, selbst gefärbten Seidenschal zu klatschen.
Im Rechten sehe ich, wie sich eine dicke in Holzarmbändern eingezwängte Hand langsam auf den Tisch senkt. Instinktiv fürchte ich mich vor dem krachenden Aufprall der Holzkugeln auf die Tischplatte, dem Bersten der quellenden Falten, dem Spritzen des Fettes. Doch ist es gerade die bedrohliche Abwesenheit jeglichen Geräusches, die mir einen Schauder einjagt, als sich die Hand auf den Tisch legt.

Ich blicke auf und sehe, wie sich mir zwei runde Gesichter zuwenden, mich vier aufgerissene Augen fixieren, hundert Nervenpaare unmutig registrieren und tausende Hirnzellen ihr vernichtendes Urteil sprechen.

Scheiße! Jetzt hab ich was angestellt! Ich habe mich unachtsam zwei Ökotrinen genähert und sie auch noch unfreundlich in Ihrem Gespräch über die neusten Sommerfarben und Diät-Tipps unterbrochen. Jetzt werden sie ihren ganzen aufgestauten Hass auf die Männerwelt, ihren ganzen Frust über ihre Pfunde und ihren ganzen verschobenen Hormonspiegel der Wechseljahre über mich ausschütten und dabei wollte ich doch nur etwas entspannt meinem Rendezvous entgegensehnen. Es gab nur eine Chance zur Rettung! Schleimen!

»Oh Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche. Ich hab Sie leider etwas erbost angefahren, das war nicht meine Absicht! Ich wollte nur höflichst fragen ob hier noch zwei Plätze frei sind, bitte?«, säusle ich freundlichst, in Kombination mit meinem besten Schwiegersohngrinsen auf.

»Ach, aber natürlich!«, sagt da auch schon die eine und die andere räumt ihr, selbstverständlich selbst gehäkeltes, Tragenetz von dem Stuhl.

»Tut mir Leid, dass ich Umstände bereite«, lege ich noch nach, es ist ja nicht so, dass Mami mir keine Manieren beigebracht hat!

»Ach machen Sie sich keine Sorgen! Wir sind immer froh auf freundliche junge Leute zu treffen!«

»Ja, die gibt es ja nur noch selten!«, fügt auch schon die andere an.

»Oh, ich verstehe sie. Ich weiß auch manchmal schon nicht mehr, was ich noch sagen soll, wenn 10 jährige Buben mit einer Zigarette rumlaufen!«, sage ich verständnisvoll. Bevor jedoch die Damen das heiße Thema aufgreifen können und ich mir an den Kippen noch die Finger verbrenne, wechsle ich lieber das Thema minuziös.

»Ist das Hanfleinen?«, frage ich. Es sieht aus, als ob jemand versucht hat, aus Grashalmen eine Matte zu flechten und dabei den Rohstoff nicht nur verarbeitet, sondern auch konsumiert hat. Da das Ergebnis überraschenderweise sackförmig geworden ist, hat er es schnell Kleid genannt und als Naturkunstwerk verscherbelt. Dieses rückt sich jetzt stolz in Pose und präsentiert sich in seiner ganzen beeindruckenden Fläche.

»JaAaa! Das ist von Jürgen al' Denne handgewebt worden!«, sagt die Dame würdig.

»Und solch gute Qualität!«, bekunde ich wahrlich beeindruckt über ihre Armreifen, von denen sich kein Span löst, als sie betonend über ihr Kleid streift. Außergewöhnlich hartes Holz.

»Ja und es hat ja solch einen tollen Tragekomfort!«, knüpft schon die andere Dame an.

»Es kühlt bei Hitze und wärmt bei Kälte!«, plappere ich los. Monika soll ja nicht umsonst meine Freundin sein, wenn ich nicht etwas gelernt hätte.

»Sie haben ja soo recht«, sagt die andere Dame.

»Und dann ist es ja auch noch so schön luftdurchlässig, da kann die Haut noch richtig atmen!«, setze ich noch einen drauf.

»Ja eben! Nicht so wie dieses ganze neumodische Zeug, in dem man immer gleich schwitzt!«, betont die andere. Ich hingegen interpretiere tolerant den Moosteppich unter ihren Achseln, als ein die Artenvielfalt förderndes Biotop und bin glücklich, heute ein Baumwollhemd zu tragen, sonst hätte die Diskussion doch recht peinlich enden können. Zum Glück kommt gerade die Kellnerin und ich nutze die Möglichkeit, um erst mal einen Kaffee zu bestellen.

»Das ist aber ein hübsches junges Ding?«, fragt mich die eine Dame, als die Kellnerin weg ist. Ich kontrolliere entsetzt meinen Reißverschluss, bevor ich die Dame verstehe.

»Ähh … ja?«, sage ich und versuche mich krampfhaft an die Kellnerin zu erinnern: irgendein junges Mädel mit langen dunklen Haaren, … keine Ahnung was weiter. Mann, es war nur eine KellnerIn gewesen!

»Ja und sie ist immer so freundlich!«, betont hingegen die andere.

»Ähh ja …«, ich weiß nicht so richtig, wie ich mit den Verkupplungsversuchen der Damen umgehen soll.

»Aber solch ein fescher Bursche, wie sie, ist bestimmt schon in festen Händen?«, knüpft die eine an meine Sprachlosigkeit an.

»Na ja …«, stottere ich und fühle mich gerade mit der Situation total überfordert. Ich weiß nicht recht, ob ich den Damen auftischen soll, dass das wohl doch nichts mit ihren Enkelinnen wird, nachdem sie mich nun schon als Schwiegersohn adoptiert hatten?

»Auf wen warten sie denn?«, lassen die beiden jedoch nicht locker!

»Auf m … einen Freund!«, verkneife ich mir gerade noch eine Falschaussage.

»Ah, machen sie sich keine Sorgen der kommt bestimmt gleich!«, beruhigt mich die eine Frau verständnisvoll und zwinkert mir zu. War ja klar, dass die beiden jeden Braten riechen, aber sie scheinen kein Problem damit zu haben. Schlimmer noch, sie fangen an mich über Alex auszufragen und ich erzähle ihnen das Wenige, was ich von ihm weiß. Die beiden hören mir mit viel »Ach!« und »Huch!« zu und am Ende fiebern wir gemeinsam seiner Ankunft entgegen bzw. eigentlich machen sie mich erst richtig nervös, reden mir alle möglichen Unfalltheorien ein - die bestimmt »Nicht« passiert sind und das ich mir ja keine Sorgen machen soll! Dummerweise überhört mein Hirn immer das »Nicht«.


»Ich glaube, jetzt kommt er!«, schreit Silvia und ergreift meine Hand. Ich fürchte schon, dass sie einem Herzinfarkt erliegt, doch widerspricht ihr felsenfester Griff dieser Theorie. Ich stehe jedenfalls kurz davor. Mindestens sechs Paar Augen und ich glaube noch ein paar Weitere vom Nachbartisch, richten sich gebannt auf den Eingang.

In diesem steht Alexander und blickt sich suchend um. Ich habe sofort einen Kloß im Hals und kann ihn nur bewundern, wie er lässig da steht und seine Augen scharf durch die Menge streichen. Er scheint uns noch nicht entdeckt zu haben, sucht wahrscheinlich nach einer Einzelperson.

»Huuuuhuuuu …«, ruft Gerda gellend und wedelt mit ihrer Hand, ihre Holzreifen klappern. Hunderte Augen richten sich auf uns, natürlich auch Alexanders. Ob dieser Aufmerksamkeit werde ich erst mal rot und versuche ein entschuldigendes Lächeln. Alexander erkennt meine verzwickte Lage und schreitet grinsend zu meiner Rettung.

Gerda und Silvia hingegen stört die Aufmerksamkeit nicht, sie nutzen diese vielmehr und teilen dem gesamten Auditorium gleich ihre Bewertung von Nr. 9 mit.

»Na, der sieht aber hübsch aus!«, sagt Silvia. Ich pumpe schuldig noch etwas mehr Blut in meinen Schädel.

»Da haben sie aber einen Fang gemacht!«, stimmt Gerda zu und rammt mir freundschaftlich ihre holzkugelbewehrten Ellbogen in die Seite. Mir entweicht meine ganze Luft und ich schrumpfe zusammen. Ich hoffe, dass Alex rechtzeitig ankommt, bevor ich implodiere.

Doch auf einmal steht Martin vor ihm und es macht Plopp. Ich sitze kerzengerade auf und werfe Martin pulverisierende Blicke zu. Was ist das wieder für eine Aktion! Ich wähnte ihn schon längst gegangen, doch scheint er dies vielmehr gerade vorzuhaben. Die beiden sprechen miteinander und Alexanders Lächeln erstirbt. Ich möchte schon aufspringen und Martin niedermachen, als sie sich trennen. Mit gerunzelter Stirn kommt Alex auf uns zu.

»Hallo Jean-Pierre!«, begrüßt er mich und sein Lächeln kehrt zurück.

»Meine Damen!«, sagt er und macht eine kleine Verbeugung vor ihnen. Für einen kurzen Moment lässt er eine jede im Scheinwerferlicht seiner Augen erstrahlen und sie schmelzen dahin, wie ihre liebsten Schokoladenstückchen. Dieses Mal werden sie rot und fangen an, wie kleine Mädchen zu kichern.

»Ich darf mich setzen?«

»Oh ja …«

»Aber sicher …«

»Nur zu …«

»Hier ist noch Platz …«

»Ich räume meine Sachen weg!«, überschlagen sich die beiden. Silvia ist schon fast dabei aufzustehen und Alex ranzuzerren, als dieser sich schnell auf den Stuhl mir gegenüber setzt.

»Hi Alexander!«, begrüße ich ihn und tauche in seine Augen.

»Hi Jean-Pierre.«

»Hi Alex.«

»Hi!«

»Hast du gut geschlafen?«

»Prächtig! Und du!«

»Wundervoll!«

»Du siehst gut aus!«

»Danke, du auch.«

»Ach sind sie nicht süß, die beiden!«, wird unser tiefsinniges Gespräch von der Seite unterbrochen. Wir hatten unser Publikum glatt vergessen und bestätigen ihr Urteil, indem wir gemeinsam rot anlaufen.

»Äh … ja! Hast du schon was gegessen?«, versucht es Alexander auf die Professionelle.

»Nein, ich wollte auf dich warten!«

»Er hat nur eine Tasse Kaffee mit uns getrunken!«, mischt sich Gerda ein.

»Was nimmst du?«, fragt Alexander.

»Ich weiß noch nicht?«

»Nehmen sie nicht den Naturjogurt, der ist grausam!«, rät Silvia.

»Vielleicht die Curryheringe?«, frage ich Alexander

»Ach von denen kann ich ihnen abraten, die sind total fahl!«, antwortet mir Gerda.

»Ja, das ist wahr. Die Tortillas sind viel besser!«, empfiehlt Silvia.

»Hmjm - hört sich interessant an?«, bestätige ich und blättere in der Karte.

»Ich wollte eigentlich etwas Süßes!«, eröffnet Alexander uns ganz neue Perspektiven.

»Ein Süßfrühstücker?«, frage ich erstaunt.

»Tja! Es kommt nicht von nirgendwo?!«, sagt Alexander betont lässig und grinst schelmisch.

Wir drei schmunzeln und kleben an seiner Zuckerkruste. Am liebsten würde ich mal etwas davon kosten. Wenn wir nur nicht …

»Dann kommen Sie sich jedenfalls beim Frühstück nicht in die Quere!«, unterbricht Silvia meine Träume. Ich starre erst sie entsetzt an und dann Alexander. Er wendet mir auch gerade seinen Kopf zu und wir schauen uns in die Augen. Dann zuckt er ergeben mit den Augenbraun und ich nicke zustimmend mit dem Kopf.

»Wo sie recht hat …«

»… hat sie recht!«, bewundern wir gemeinsam Silvias Lebensweisheit und grinsen uns an. Dann winke ich die Kellnerin ran.

»Einmal die Tortillas und einmal ein Marmeladenfrühstück!«


»Gehen Sie doch in den Zoo.«, schlägt Gerda vor und unterbricht unsere Diskussion über die Möglichkeiten, gemeinsam den Nachmittag zu verbringen. Ok, wirklich kreativ ist sie nicht gewesen und weiter als bis zum Wechsel in ein anderes Café sind wir noch nicht gekommen, aber mann kann auch nicht zu viel von mir verlangen, wenn mich dieser aufgefüllte Honigbär die ganze Zeit anlächelt und überall seinen Honig verschmiert.

»Den Zoo?«, fragt mich Alexander mit einem spitzbübischen Pavian-Lächeln. Ich griene zurück. ›Wir in den Zoo. Ha! Wir sind doch keine Kinder mehr!‹

»Aber Gerda, das sind doch keine Kinder mehr. Die Jugend von heute macht doch ganz andere Sachen!«, liest Silvia meine Gedanken.

›Genau! Wir machen ganz andere Sachen, z.B. … ehm … Kaffee trinken? Auf jeden Fall gehen wir bestimmt nicht mehr in den Zoo.‹

»Also ich gehe gerne in den Zoo!«, meint Gerda leicht beleidigt. »Und bis jetzt hast du dich noch nie beschwert, Silvia!«, sagt sie betont, ihre Holzkugeln klappern energisch mit.

»Du hast ja Recht. Ich gehe ja auch gerne hin, aber die jungen Leute machen doch so was nicht!«

»Die wissen halt nicht mehr, die Natur zu genießen!«

»Natur ha! Das ich nicht lache! Ich würde eingesperrte Tiere nicht als Natur bezeichnen«, rutscht es mir raus.

»Die Tiere sind nicht eingesperrt! Mit den neuen Freigehegen haben die jetzt viel Auslauf!«

»Aber trotzdem ist ein Zaun drumherum!«

»Das mag ja sein, aber wie wollen sie denn sonst der Stadtjugend von heute noch die Natur nahe führen? Die glauben doch schon alle, dass Kühe lila sind«, mischt sich nun Silvia ein und vereint sich mit Gerda. Ungefähr 250 kg Argumente richten sich gegen mich und erdrücken mich langsam. Ok, jetzt heißt es strategisch handeln und vor allem schnell!

»Das mag ein Argument sein, aber die Tiere sollten doch besser in Freiheit leben«, versuche ich es mit der chinesischen Kesseltaktik.

»Freiheit? Ich möchte Sie mal aufklären, dass Zootiere in der freien Wildbahn gar nicht überlebensfähig sind«, schnappt Silvia den Köder.

»Das ist es ja, was so grausam ist!«, stürme ich die feindlichen Barrikaden und sehe mich schon als strahlender Sieger dieses Wortgefechtes, bis …

»Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr im Zoo!«, mir Alexander in den Rücken fällt. Er grinst nicht belustigt, sondern scheint wahrlich von der Idee begeistert zu sein.

»Da werden überall Omas mit ihren Kiddies sein!«, versuche ich ihn zu überzeugen und ernte für meinen Omaspruch böse Blicke von Gerda und Silvia.

»Ich mag Kinder und finde bestimmte Omas äußerst sympathisch!«, schleimt sich Alex bei ihnen ein, diese danken ihm mit einem Lächeln und beglücken mich mit einem bitterbösen Blick.

Ich merke, wie ich die Oberhand verliere. Gegen die beiden und Alexander komme ich auf keinem Fall an. Alexander besitzt eindeutig die bessere Waffentechnologie, gegen seinen Dackelblick bin ich total machtlos. Also entschließe ich mich schnell zum strategischen Rückzug. Mit einem bittersüßen Lächeln versuche ich Gerda und Silvia zu einem Waffenstillstand zu bewegen und treffe zumindest auf Ignoranz, die beiden schauen durch die Welt und streichen ihre Kleider glatt. Mich durchzuckt die Verlockung zu bemerken, dass dies völlig nutzlos sei und sie nur ihre Haut ruinieren, doch fokussiert gerade in diesem Moment Silvias scharfer Blick auf mich und ich werfe alle Reserven in mein Lächeln. Es rettet mich in letzter Sekunde und Silvia nickt versöhnlich zurück.

»Bitte Papi, kann ich in den ZOO. Bitte! Bitte!«, bekniet mich Alex währenddessen von der andern Seite und macht einen Schmollmund. Meiner Meinung verstößt das eindeutig gegen die Genfer Konvention, als unerlaubtes Psychotika. Aber als Verlierer habe ich kein Recht zu Beschwerden und gebe nach.

»Nun gut, aber nur, wenn du ganz brav bist.«

»Oh toll!«, schreit Alex begeistert und tanzt mit seinen Armen. Ich muss lachen, kann diesem Typen einfach nichts ausschlagen.

»Also dann, lasst uns gehen«, sage ich und rappele mich hoch.

»Wollen wir nicht noch zahlen?«, fragt Alex.

»Also ich kann darauf verzichten!«

»Na ja aber die Kellnerin glaube ich nicht!«

»Die wird sich schon melden!«

»Jean-Pierre!«, versucht Alexander den Mutterton, seine Augen formen zwei kleine Schlitze und fixieren mich.

»Na ja ausnahmsweise«, schlucke ich.

Gerda und Silvia begutachten mich mit misstrauischem Blick.

Ich winke die Kellnerin heran und wir zahlen, auch Gerda und Silvia.

»Tja wir gehen dann auch, denke ich«, meint Silvia.

»Ja ich glaube auch!«, bestätigt Gerda und erhebt sich und nimmt ihre Häkeltasche.

»Wo wollen sie denn hin?«, frage ich freundlich.

»Na in den Zoo!«, antwortet Silvia freudig und grient mich an. Ich muss eine Panikattacke unterdrücken. Mir wird kurz schwarz vor den Augen und bevor ich auch nur etwas Abwendendes sagen kann, tappt Alexander auch schon in die Falle.

»Dann können wir ja zusammen gehen!«

›Super! Das kann ja lustig werden. Wir die Enkel und das unsere Omas!‹, denke ich mir und stütze mich auf den Tisch. Ich hab solch ein komisches Stechen in der Brust. Alexander wirft mir einen besorgten Blick zu und ich versuche ihn mit einem gekünstelten Lächeln zu beruhigen. ›Ich leb noch! Noch?‹

»Hach das wäre schön!«, stimmt Gerda zu. Für mich klingt es wie das Krächzen des Todes. Ich spüre, wie eine kalte Hand nach mir greift und sich um meine Schulter legt.

»Los mein Held! Auf geht's!«, sagt mir Alexander ins Ohr und schiebt mich zum Ausgang.

Ichedichebeli

»Jungs, ihr müsst uns Mädels mal eine Minute Ruhe gönnen«, meint Gerda bestimmt und bleibt bezeichnend stehen. Von der Trägheit überrascht klappern ihre Armreifen revoltierend und ihr Gürtel quäkt bedenklich, doch er hält. Ihre Masse schlägt zurück und hüllt Gerda in eine interferierende Wellenfront, auf der ihre Holzkugeln wanken wie Nussschalen auf dem Ozean. Ich werde seekrank.

Lauter werdendes Schnaufen hinter ihr kündet von der Ankunft Silvias. Auch sie zieht willkommen die Notbremse und kommt neben Gerda quietschend zum Stehen. Mit lautem Stöhnen lässt sie überschüssigen Dampf ab und nach einigen klappernden Atemzügen gibt sie Gerda Recht: »Das wäre schön. Wir müssen uns mal frisch machen gehen!«

»Aber sicher doch, ist doch kein Problem!«, meint Alexander freundlich.

Ich sage nichts und stoße ein paar Steine in das Gehege vor mir und verfehle nur knapp ein paar Erdhörnchen.

»Das ist heute schon mindestens das 10. Mal«, meine ich genervt, als die beiden in der Toilette verschwunden sind.

»Das 10.?«

»Mindestens!«, betone ich, zumindest kommt es mir so vor.

»Rege dich nicht so auf! In diesem Alter ist manchmal die Blase schon schwach!«

»Von Wegen! Wenn mann den ganzen Tag nur Kaffee trinkt, dann braucht mann sich nicht wundern, dass mann auch ständig aufs Klo muss!«

»So sind ältere Frauen nun mal!«, antwortet Alexander versöhnend.

»Ja super! Wenn sie Jung sind, dann schminken sie sich die ganze Zeit, und wenn sie älter sind, rennen sie trotzdem ständig aufs Klo!«

»Ach so? Woher weißt du das denn?«

»Erfahrung!«, antworte ich verbissen.

»Wow!«, meint Alexander und setzt eine beeindruckte Miene auf. Dann fragt er: »Wie viele Freundinnen hattest du denn schon?«

Ich schaue ihn nur entgeistert an: »Blödsinn! So was verfälscht nur die objektive Beurteilung! Die rosarote Brille, du weißt!«

»Ah ja. Ich kenne da jemanden …«, setzt Alexander an, doch haue ich ihm rechtzeitig in die Seite, so dass ihm erst mal die Luft wegbleibt. Im nächsten Moment tut es mir auch schon leid - meine Faust schmerzt. Irgendwie muss ich eine Rippe erwischt haben, aber mann muss opferbereit sein, wenn es um die eigene Ehre geht.

Alexander scheint es hingegen nicht gemerkt zu haben. Er grient mich nur spöttisch an.

»Beruhige dich! Es ist doch ein schöner Tag!«

»Ja! Strahlender Sonnenschein und der erfrischende Wind erst!«, antworte ich und versuche mit kräftigem Handwedeln den Gestank fortzutreiben. Ich werfe den Erdhörnchen einen bösen Blick zu. Diese rotten sich provokant in Windrichtung zusammen und beobachten uns beide.

»Wir sind nun mal im Zoo!«

»Ach so? Ich dachte, das sei eine Messe für öffentliche Toilettenhäuser.«

»Du tust ja so, als ob wir vom Zoo noch nichts gesehen haben?«

»Na ja, die Gehege am Klo schon. Kannst du mir mal sagen, weshalb am Klo immer die Gehege mit den Tieren sind, die noch mehr stinken als das Klo selbst?«, steigere ich mich langsam in die Thematik rein.

»Rrrhhhh!«, knurrt mich Alexander an. Seine Augen leuchten Gelb und erinnern mich an die Wölfe. Eine instinktive Angst vertreibt den Ärger. Ich versuche ein entschuldigendes Gesicht und Alexander lächelt mich wieder an. Irgendwie hat er schon Recht, ich mache hier solch einen Aufstand und dabei ist eigentlich nichts Schlimmes. Doch wenn ich ihn mir so anschaue, dann weiß ich, was mich eigentlich aufregt.

»Ich wollte doch nur mit Dir …«

»Hey Jungs!«, ruft Gerda laut, als sie siegreich aus dem Klo marschiert. Ein paar Vögel stieben auf und meine ganze Wut fokussiert von Neuem auf Gerda. In dem Moment klatscht mir Silvia mit ihren Patschehändchen auf die Schultern und ich gehe fast in die Knie.

»Wollen wir nicht ein Eis essen gehen? Die Hitze ist nicht auszuhalten, man schwitzt sich ja zu Tode«, plappert sie los.

Gerda stimmt auch gleich ein: »Das ist eine gute Idee. Ihr seid eingeladen, dort drüben ist ja auch schon ein Café.«

»Cool!«, meint Alexander und lächelt mir aufmunternd zu. Ohne auf meine Meinung zu warten, ziehen die drei los. Ich kann nur meine wunde Schulter reiben und mich ihnen anschließen.

Sie suchen sich ein Plätzchen im Schatten und bequemen sich. Ich erwische natürlich den Stuhl, der noch halb in der Sonne steht. Diese begrüßt mich freudestrahlend und brennt mir auf meine wunde Schulter.

Ich versuche mich gerade etwas zu entspannen, als Gerda und Silvia los plappern. Die junge Familie am Nebentisch schaut böse rüber und ich kann sie gut verstehen, ich habe das dumpfe Gefühl, dass die beiden taub sind.

»Was möchtest du denn?«, fragt mich Alexander.

»Ich hab keine Karte!«, antworte ich genervt.

Alexander dreht sich so, dass ich auch mit in seine Karte schauen kann. Doch widme ich ihr nur meine halbe Aufmerksamkeit. Anstatt eines Eisbechers hätte ich lieber zwei große Eistüten, die ich den beiden »Damen« in den Mund stopfen kann.

»Hey guck mal, die haben einen Megabecher!«, meint Alexander begeistert. Ich schaue mir das Bild an, auf das er zeigt.

»Der ist zu groß!«

»Nicht für zwei Leute!«, flüstert mir Alexander zu und lehnt sich zu mir rüber. Seine Schulter berührt die meine. Ein Schauder durchläuft mich und ich vergesse das Generve. Auf einmal ist alles still und ich tauche in Alexanders Augen. Nach viel zu kurzer Zeit lehnt er sich wieder zurück und bestellt den Becher beim Kellner, der neben uns wartet. Ich hab gar nicht mitbekommen, wie er gekommen ist. Gerda und Silvia beobachten uns still. Jetzt weiß ich auch, warum es so ruhig war. Die beiden lächeln uns selig an und ich werde rot. Nicht, weil es mir peinlich ist, sondern weil ich mich schuldig fühle, da habe ich mich vorher über die beiden so aufgeregt und dabei sind sie doch wirklich ganz nett.

Die drei fangen an über die Rente zu diskutieren. Ich beteilige mich nicht, sondern bin voll und ganz zufrieden, Alexander in Ruhe betrachten zu können. Er hält den beiden ohne Problem stand und es wird hart diskutiert. Alexander meint, er wüsste schon längst, dass er keine Rente bekommt und es sei Ok. Gerda und Silvia regen sich drüber auf, sie hätten ihr ganzes Leben dafür gearbeitet und man müsse nun auch dafür zahlen und das gelte nicht nur für sie, sondern für alle die Arbeiten; das nicht genug Geld da sei, wäre nun nicht ihr Problem. Ich bin beeindruckt über Alexanders ruhigen, konsequenten Diskussionsstil und seine klare Argumentation. Er scheint sich wirklich Gedanken über Politik zu machen. Ich schweige hingegen und widme mich dem Eis.

Wir beide essen getrennt aus dem Becher, ein jeder, wann er Lust hat. Jedoch passiert es von Zeit zu Zeit, dass sich unsere Löffel berühren. Dann schaut er hoch und lächelt mich an, fokussiert mich mit seinen Edelsteinaugen und ich fühle in tausend Fassetten seine Aufmerksamkeit auf mir ruhen. Es ist mir, als ob die ganze Welt um uns herum verschwindet und es nur mich und Alexander gibt. Diese wenigen Sekunden reichen mir voll und ganz. Danach wendet Alexander seinen magischen Blick wieder Gerda und Silvia zu. Ich lächle weiterhin in den Eisbecher und genieße das Eis, wie es mir langsam auf der Zunge zerrinnt. Ganz sanft wird es langsam warm, so wie seine Zunge - dezent in meinem Mund.

Die Zeit verfliegt und der Becher ist schon längst alle, die zweite Tasse Kakao getrunken, als wir uns aufmachen zu gehen. Gerda und Silvia bezahlen von ihrer wohlverdienten Rente die Rechnung und wir erheben uns langsam. Als Alexander neben mir aufsteht, strecke ich meinen Finger und streiche seinen Arm entlang. Alexander lächelt mich an und ich schaue ihm von unten in seine Augen. Leise gestehe ich ihm:

»ichedichebeli.«

Rummel

»Ach nein, nun ist der Tag schon wieder vorbei! Was machen wir morgen Silvia?«, fragt Gerda und widmet sich der Nacht an der Straßenbahnhaltestelle.

»Hach weißt du, ich wollte mal wieder zu Herbert.«, antwortet Silvia leicht traurig und folgt ihrem Blick.

»Ja, daran hab ich heute auch schon gedacht. Ich sollte meinen Horst auch mal wieder besuchen!«, stimmt Gerda zu, mit einem Lächeln für die Sterne.

Ich schaue auf Alexander, auch er lächelt mit und nun weiß ich, warum er sich den Stress mit den beiden gemacht hat. Auch ihnen soll mal ein erfüllter Tag vergönnt sein, ein Hauch von Jugend gereicht werden, ein Zeichen von Liebe. Liebe? Liebe!

»Weißt du was? Ich vermiss ihn, auch wenn er ein alter Sturkopf war, so vermiss ich ihn doch!«, sagt Gerda.

»Ja, so sind Männer nun mal«, meint Silvia und senkt ihren Blick auf mich.

»Wohlwahr!«, bestätigt Gerda, auch sie schaut mich an.

›Sturkopf? Ich?‹, möchte ich auf die Barrikaden springen, doch dann fährt ein Schmunzeln über mein Gesicht.

»Reine Schutzreaktion!«, revanchiere ich mich und sehe, wie Gerda und Silvia anfangen sich aufzuprusten. Doch mit einem Lächeln kann ich sie wieder gewinnen und wir verstehen uns.

»Es war ein schöner Tag«, sage ich und bin ehrlich.

»Ja, fand ich auch«, stimmt Alexander zu, der uns zufriedenen beobachtet.

»Ja«, bestätigt Silvia und wir stehen ein paar Sekunden ruhig da und lächeln uns an. Dann zieht mich Gerda an ihre große Brust und quetscht ihre Holzkugeln in mein Fleisch.

»Hach Jungs, passt auf euch auf!«, sagt sie, entlässt mich mit zitternden Beinen und zerrt Alexander an sich ran. Silvia steht daneben und schmunzelt uns zu, dann sagt sie:

»Wisst ihr? Ihr passt gut zusammen!«

Ich werde rot und schaue zu Alexander. Er lächelt mich einfach nur an und zuckt mit der Augenbraue.

Die Straßenbahn fährt ein und die beiden erklimmen sie. Wir winken ihnen noch nach, als sie losfahren und dann wende ich mich Alexander zu. Er lächelt noch immer.

»Danke, das war ein schöner Tag«, sagt er zu mir. Seine Zähne blitzen aus dem Mundwinkel hervor, strahlen, wie seine Augen und meine Beine erweichen.

Ich stütze mich an das Haltestellenschild neben mir und will mich dennoch nicht halten. Auf einem Fuß umrunde ich es, die Welt um mich herum verfliegt. Ich tauche in den leuchtenden Schleier der Laternen, lasse mich erfüllen von ihrem schillernden Glück. Und im Karussell meiner Gefühle gefangen, komme ich abrupt zum Stehen, als mich Alexander auf die Wange küsst.

Ich schrecke zurück, von der Bewegung überrascht.

»Wollten wir nicht?«, frage ich verstört.

»Scheiß drauf!«, flüstert Alexander. Seine Augen stechen hintertrieben unter seinen geschwungenen Augenbrauen hervor.

»Hahahah! Nee, du meinst nicht?«, frage ich lachend. Irgendwie dreht sich immer noch alles.

Alexander antwortet nicht, nur seine linke Augenbraue zuckt herausfordernd, langsam kommt er auf mich zu und leckt sich die Lippen.

Ich ziehe meinen Kopf zurück. Mir geht das irgendwie zu schnell. Meint er es jetzt ehrlich oder treibt er nur seinen Scherz?

Alexander macht erst einen Schmollmund und dann schaut er mich nachdenklich an. Seine Augen klären auf und erfassen mich ganz. Ich kann mich seinem Blick nicht entziehen, kann keine Lüge in den Sonnenblumen finden. Nervosität überkommt mich. Unfähig mich zu bewegen, fangen meine Hände an zu schwitzen und zu zittern. Alexander kommt weiter auf mich zu und zögernd ergreift er sie. Behutsam verknotet er seine Finger in den meinen und blickt tief in meine Augen.

Ich fühle ihn, fühle seine Wärme, seine Nähe. Er ist hier, ganz nah bei mir. Mein Herz stockt kurz vorm Bersten und mein Puls erstirbt in einem einzig anhaltenden Schlag. Ganz fest klammer ich mich in seine Hände. Möchte ihn vollkommen spüren. Auch wenn sich seine Finger schmerzhaft in die meinen krallen, ist es nicht annähernd so fest, wie ich ihn zu spüren suche. Und desto stärker ich ihn halte, desto ferner fühle ich mich von ihm entfernt.

In unseren Blicken trinken unsere Seelen und als ob sie sich anziehen, nähern sich unsere Köpfe. Seine Nase stupst kurz an meine.

Mein Herz zerspringt. Glück überrollt mich. Der Bann ist gebrochen und die Anspannung weicht. Es ist, als ob ein Funke in dieser kleinen Berührung lag, viel intensiver als der klammernde Griff unserer Hände, inspirierte er in mir die Erkenntnis: Er ist Mein.

Selig löse ich meine Finger und streiche sanft über seinen Daumen. Alexander macht ein Lausbubengesicht, schrecklich unschuldig, furchtbar infam.

Ich weiß, was er will und langsam gleite ich mit meinem Kopf ihm entgegen und hauche einen Kuss auf seine Lippen, ganz dicht und doch endlos fern. Schnell ziehe ich mich zurück. Er folgt mir nach, doch stoße ich ihn fort und kann ein Lachen nicht unterdrücken.

Alexander leckt sich sanft über die Lippen. Dann schlägt er die Augen auf und nähert sich mir. Kurz nur berührt er mit seinen Zähnen meine Lippe, ziept hinein und ist schon wieder fort. Beim Zurückziehen streicht sein Duft sanft über meine Wange und ein Stöhnen entweicht meiner Brust.

Ich höre Alexander kichern und blicke ihn wieder an. Es genügt ein Blick in sein strahlendes Gesicht und wir lachen gemeinsam. Alexander haucht einen Kuss in die Luft und ich fange ihn in meiner Rechten auf. Ich erwidere seinen Kuss, rechts angetäuscht, links über die Schulter und er fängt ihn, kurz, bevor er auf den Boden aufschlägt. Wir werfen uns immer weitere Küsse zu, immer verrückter wird unsere Wurftechnik. Ich habe mich nie für Ballsportarten begeistern können, doch dass ist ein Sport, den ich ewig spielen könnte.

Dann mit einem Mal ist alles still. Wir stehen uns gegenüber und schauen uns an.

In einem Moment sehe ich noch in sein Gesicht, dann spüre ich ihn auch schon ganz dicht. Ich fühle seine Lippen auf meinen, seine heiße Zunge erregend in mir. Ich merke unsere Hände sich vereinen, in Leidenschaft verschmelzen wir.

Ich vergesse die Welt und verliere die Zeit. Wir küssen uns eine Ewigkeit. In Küssen versunken, haben wir meine Wohnung erreicht, die Zungen verschlungen, öffnet sich die Tür spielend leicht.

Nichts vermag uns zu trennen, wenn Liebe wir uns bekennen. Warum sollten unsere Küsse stoppen, wenn Nacktheit lässt sich entlocken. Warum sollten unsere Lippen sich trennen, wenn in Begierde sie entbrennen. Warum sollten unsere Münder sich teilen, wenn Körper sich vereinen. Warum sollten unsere Zungen ruhen, wenn tausend Hände es nicht tun.

Ein Augenblick, der für immer in mir wohnt. Wie er nackt über mir thront, im Licht der aufgehenden Sonne entflammt als einzig glühendroter Schemen, lacht er diabolisch im Antlitz eines Dämon. Ich beuge mich hoch und im Kusse versunken, fallen wir vereint ins Dunkel.

Erwachen

Ich betrachte sein Engelsgesicht nun schon seit einer Ewigkeit. Es ist so rein, wenn er schlafend neben mir liegt, so voller lieblicher Details, wie zur Entdeckung erschaffen.

Ein kleiner Leberfleck ziert ihn kurz über dem rechten Ohr. Er versteckt sich hinter dem Haaransatz und mann sieht ihn nur, wenn mann diese etwas zurückstreicht. Gefunden habe ich ihn ungefähr vor einer halben Stunde.

Dann hat er eine kleine Narbe an seiner Wange, auf halber Strecke zwischen Kinn und Ohr. Ob er sich dort beim Rasieren geschnitten hat oder stammt sie noch aus seiner Kindheit? Wer weiß. Entdeckt habe ich sie vor einer dreiviertel Stunde, als ich seinen Bartstoppeln beim Wachsen zusah.

In der rechten Augenbraue hat er einen Wirbel und die Härchen stehen wild ab. Ich habe mehrmals versucht sie gerade zu streichen, aber sie haben ihren eigenen Kopf. Das ist wohl einer Stunde her.

Außerdem sind seine Ohren nicht ganz rund. Der äußere Hautlappen ist nicht nach vorne gebogen, wie sonst, sondern an der Seite nach hinten geklappt. Dadurch sehen seine Ohren etwas Spitz aus. Vielleicht eineinviertel Stunden her.

Seine Nase ist etwas nach links gebogen. Es ist mir gleich nach dem Aufwachen aufgefallen. Alexander hat geschnarcht. Nicht laut, aber ich bin es nicht gewöhnt mit jemanndem im Bett zu liegen. Als ich ihn dann neben mir entdeckte, konnte ich eh nicht mehr schlafen. Stattdessen habe ich ihn mit meinen Augen erforscht, wie ich nie dachte, dass es mich erfüllen kann.

In der letzten halben Stunde hab ich seinen Puls gezählt. Mann kann ihn ganz deutlich an seinem Hals erkennen. Gleich links neben dem Knutschfleck hüpft seine Haut im Schlage seines Herzens hoch. Ist 1682 normal für eine halbe Stunde?

»Wie spät ist es?«, fragt mich Alexander verschlafen, hält seine Augen noch geschlossen.

»Viel zu Früh!«, flüstere ich ihm ins gespitzte Ohr und küsse ihn auf die Narbe an der Wange. Er zuckt zurück. Langsam öffnet sich ein Auge und blickt mich verwundert an. Es ist wohl immer noch verschlafen?

Ich lächle ihm aufmunternd zu und streiche mit meinem Finger eine Locke aus seiner Stirn. Schon öffnet sich sein anderes Auge und beobachtet mich - ungerührt. Auch als ich ihm mit meiner Hand durch die Haare fahre, mit meinem Daumen seinen Leberfleck streife, mit meinem Zeigefinger sein Ohr umspiele und mit meinem kleinen Finger an seinem Nacken vorbei zu seiner Brust wandere, kurz den Schlag seines Herzens spürend, um mit einem kleinen Spiel an seinen Brustwarzen zu enden, rührt er sich nicht. Er bleibt einfach ruhig liegen und fragt, als ich meine Finger von seiner Brust nehme, noch einmal.

»Wie spät?«

›Kann es sein, dass er am frühen Morgen nicht richtig zum Kuscheln aufgelegt ist?‹

Nun gut, ich will es ihm noch einmal verzeihen und werfe mit meinem rechten Auge einen Blick auf meinen Wecker, das Linke weiterhin vorwurfsvoll auf ihn gerichtet.

»Halb zehn!«

Es dauert etwa zwei Sekunden, bis diese Information in Alexanders verschlafenem Hirn ankommt und verarbeitet ist. Dann dauert es etwa eine Sekunde, bis ich auf dem Boden neben dem Bett ankomme und die Decke anstarre. Ich habe das dumpfe Gefühl nicht über den Dingen zu stehen. Stattdessen steht Alexander splitternackt über mir. Prinzipiell keine schlechte Perspektive, wenn ich sie hätte auskosten können, doch leider gönnt Alexander mir seinen Anblick keinesfalls, sondern steigt über mich und zieht sich schnell seine Sachen an.

»VERDAMMT! SO SPÄT!«, flucht er herum.

So richtig auf der Höhe bin ich scheinbar auch nicht, denn es dauert, ungefähr bis er in seine Hose schlüpft, dass ich mitbekomme, was los ist.

»Du willst weg?«

»Weg? Ja klar! Ich hab Schule!«, schreit er mich panisch an und schlüpft in sein T-Shirt und verschließt mir somit den Blick auf seinen Körper.

»Oh!«, sage ich niedergeschlagen. Alexander ist schon dabei sich die Socken anzuziehen. Ich hingegen liege immer noch auf dem Boden und starre auf seine Füße. Irgendwas stimmt nicht.

Schnell zieht er sich seine Schuhe an und greift sich seine Jacke.

»Ich ruf dich an!«, ruft er mir zu, als er aus der Tür springt, sie knallt hinter ihm zu.

»Tschüss«, flüstere ich ihm hinterher, doch hört er mich schon längst nicht mehr. Hätte ich ihm vielleicht sagen sollen, dass er eine von meinen Socken an hat?

Es klopft und Katja steckt den Kopf zur Tür rein.

»War das … ?«, fragt sie und scheint wenig darüber erstaunt zu sein, dass ich nackt auf dem Boden liege.

»Ja«, antworte ich ihr immer noch perplex.

»Er hatte es eilig wegzukommen?«

»Hm!«, antworte ich, stehe auf und gehe ins Bad. Katja lasse ich einfach in der Tür stehen.

›Ich hätte mir diesen Morgen auch romantischer vorstellen können!‹


»Hey Jean Pierre! Wie geht's?« fragt Frank, als er mit einer großen Tasche zur Tür herein kommt. Ich brauche nicht zu antworten. Ein Zucken mit der Schulter und mein missratenes Willkommenslächeln reichen ihm wohl als Erklärung. Zusätzlich die Tatsache, dass mein Telefon mir gegenüber auf meinem Bett positioniert ist, wo ich es wunderbar durch mentale Rekursivmeditation zum Klingeln bringen kann, lassen ihn wohl auch die Ursache erraten.

»Oh?«, realisiert er und beißt sich auf die Unterlippe. Ich höre die Bits&Bytes in seinem Kopf bippen. Er ist wohl gerade am überlegen, doch gleich wieder zu seiner Freundin zu ziehen, jetzt wo seine Sachen noch gepackt sind. Ich kann ihn schon verstehen, ich bin derzeit wahrscheinlich kein guter Anblick, wie ich an mein Kissen geklammert da sitze und das Telefon anstarre. Es tut mir wirklich Leid für ihn, aber viel mehr tue ich mir selbst leid!

»Er hat nicht angerufen?«, fragt Frank. Er setzt seine Tasche ab. Scheinbar hat er sich zum Bleiben entschieden und will mich nun aufmuntern, um das Bleiben für sich erträglich zu gestallten. Immer dieser Egoismus! Kann er mich nicht mal leiden lassen!

Ich bin zu schwach, um ihn von seinem Versuch abzuhalten und er kann sich auf eine Ecke von meinem Bett setzen. Als Antwort auf seine Frage schüttle ich nur mit dem Kopf und starre weiterhin das Telefon an.

»Hat er es versprochen?«, fragte Frank weiter.

Ich nicke und teile ihm durch meine konsequent abwesende verbale Kommunikation mit, dass ich eindeutig zu sehr leide, um jetzt darüber zu reden. Frank versteht mich nicht! Er ist Informatiker und für ihn bin ich nur irgendein Programm, das sich im falschen Zustand festgefahren hat. Für solche Situationen gibt es Lösungen, mann muss nur nach Alternativen suchen. Und das ist es, was ich an Informatikern nicht leiden kann. Dieses analytische Denken.

»Ruf du doch an!«, sagt Frank und beweist mir meine Theorie! Er hatte NULL Verständnis! Verdammt, warum soll ich ihn anrufen? Immerhin hat er es mir versprochen! Also bitte, RUF AN!

Ich schaue das Telefon an und drücke demonstrativ auf die Anrufbeantwortertaste. Es kann ja sein, dass gerade jetzt die Anrufbeantworterlampe ausgefallen ist und zusätzlich das Klingeln zu leise ist, obwohl ich es vorhin auf ganz laut gestellt habe. Vielleicht ist dabei sogar der Lautsprecher kaputt gegangen? Ist er nicht. Unüberhörbar hallt diese scheiß freundliche Stimme durch das Zimmer: »Keine neuen Nachrichten!« Warum können die keine knarzige alte Männerstimme nehmen!

Frank neben mir schüttelt nur den Kopf und seufzt resigniert. Dann steht er auf und greift sich seine Tasche. Im Flur schaut er kurz zwischen der Wohnungs- und seiner Zimmertür hin und her, dann geht er in sein Zimmer, auch seine Tür knallt zu.

Ich starre weiterhin das Telefon an und versuche noch einmal die mentale Rekursivmeditation. Es klingelt trotzdem nicht. Ich greife zum Hörer und buddele aus meiner alten Hose den Bierdeckel hervor. Das Ding ist jetzt noch mehr ausgefranst und die Nummer kaum zu lesen. Dennoch kann ich sie entziffern und wähle sie, versuche ich es halt mal mit Analytik. Hoffentlich ist es die richtige Nummer.

»Jeromints«, meint eine freundliche Frauenstimme. Mir wird bewusst, dass ich Alexanders Nachnamen gar nicht kenne, irgendwie sind wir nie auf dieses Thema gekommen. Bin ich überhaupt richtig? Na ja, was hab ich zu verlieren?

»Ja hallo? … ehm … Hier ist Jean … Jean-Pierre. Ich wollte mit Alexander sprechen«, stottere ich in den Telefonhörer, unterbrochen von den Schlägen meines Herzens.

»Alexander?«, fragt dann die Stimme. Sie scheint kurz zu überlegen und auch ich komme ins Grübeln: ›Vielleicht bin ich doch nicht richtig? Dann muss er anrufen!‹

»Nein, tut mir Leid der ist nicht da!«, sagt die Frauenstimme dann. Also doch richtig. Aber wo ist er? Vielleicht schon auf den Weg hierher?

»Wissen sie denn, wo er ist?«

»Ja der übernachtet heute wohl bei Kim, seiner Freundin!«

»Bei Kim?«

»Ja, das hat er gesagt, als er gegangen ist.«

»Danke … danke sehr.«, hauche ich mechanisch und lege auf.

In diesem Moment macht es schnapp, so wie eine große Schere, die mit einem Ruck durch Seide schneidet. Mein Bewusstsein trennt sich von der Realität und verliert sich. Eine Schere groß und schwarz, mit Messern in der Form von Alexander und Kim durchschneidet meine letzte Bindung an diese Welt. Die abgetrennten dunklen Stoffe wirren mich ein und es wird Schwarz um mich herum.

Ich sehe nichts mehr, höre nicht mehr, fühle nichts mehr.

Nur noch erfüllende Dunkelheit.

schnapp.

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