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Convention

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

Schwarz

Es war zitrusfrischeklar: Martin hatte wieder einmal Stefans Dummheiten auszubaden. Folglich badete, wusch und schrubbte er seit einer Ewigkeit an diesem vermaledeiten Shirt herum, ohne erwähnenswerten Erfolg. Die Flecken aus reinem, natürlich abbaubarem Eis und bunter MundM-Verkrustung wehrten sich vehement gegen seine körperlichen Kräfte und der intellektuellen Überlegenheit von Mutters Hausfrauentricks. Aber scheinbar war in diesem Zeugs weder Tinte, Obstsaft noch Rotwein enthalten, sondern einfach nur wetterfester, blitztrocknender Außenlack. Toll! Superduperabsolutobertoll Stefan!

Nachdem Martin das Shirt nahezu zersetzt hatte, abgesehen von den Flecken natürlich, bei denen die Festigkeit des Stoffes eher zuzunehmen schien, gestand er sich notgedrungen ein: Das Shirt war nicht mehr zu retten. Die MundMs hatten gesiegt. Kein Punktsieg, kein Unentschieden, sondern ein K.O. in der ersten Runde. Martin gab auf. Das Shirt besaß jetzt Farben, wo es vorher keine hatte und war farblos weiß, wo es vorher schwarz war. Dann hatte er diesem Jungen wohl eins von seinen T-Shirts anzudrehen. Diese Überlegung brachte Martin auf direktem Weg von Badezimmer zu Wäscheschrank.

Ein blitzartiger, ungezielter Griff ins Fach der T-förmigen Baumwollhemden beförderte ein weißes Exemplar hervor, schlicht und einfach. Die Schranktür war schon fast wieder fest verschlossen, als Martin zögerte.

Er öffnete die Schranktür erneut. Diesmal unterblieb der sofortige Zugriff. Stattdessen versuchte sich Martin an einer anderen Auswahlstrategie und ließ sich viel Zeit, den Inhalt des Fachs mit den T-Shirts zu scannen. Nach nachhaltigen Überlegungen unter Abwägung diverser Einflussfaktoren wurde das weiße T-Shirt an seinen ursprünglichen Platz zurückgelegt und das näherungsweise perfekte neue Textil herausgenommen und im Lichte der Deckenlampe kritisch begutachtet.

Das Shirt wanderte zurück in die Dunkelheit des Schranks und ein zweiter Scanlauf wurde initiiert. Intensiver und länger als der erste, aber genau so erfolglos. Martin verschränkte seine Arme und starrte düster in den Schrank.

Die T-Shirt-Suche ging in die nächste Eskalationsstufe. Martin gab seine bisherige Zurückhaltung auf und ging zu einem aktiveren Auswahlmodus über. Diverse Kandidaten wurden herausgerissen und nach kurzer Sondierung zurück in ihre Lagerstätte befördert. In diesen Momenten konnte man anhand von Martins Schrank das Verhalten idealer Gase modellhaft bewundern. Die Entropie im System »Schrank« wuchs stetig und erreichte ihr Maximum, als Martin mit einem kaum unterdrückten Siegesschrei, dass ultimativ richtige T-Shirt für Kuki gefunden hatte.

Martin schloss die Schranktür, überließ damit das dahinter liegende Chaos sich selbst und trug das Shirt, wie eine heilige Reliquie, in richtig Wohnzimmer.

»Also, die Flecken sind nicht rauszubekommen, aber du kannst ... Oh!«, setzte Martin an, als er sein Wohnzimmer betrat und brach ab, als er sich nicht im richtigen wiederfand.

»Was macht ihr auf meinem Teppich?«, presste Martin irritiert heraus, obwohl die Szene an Deutlichkeit kaum zu übertreffen war. Eine verbogene 69'iger Nummer, gebildet aus einem zusammengerollten Stefan und einem gestreckten Kuki, wälzte sich lustvoll über den Boden -- Martins Boden -- wobei noch beide Socken anbehalten hatten!

Dessen bewusst, schrumpfte der Tatbestand der 69'iger augenblicklich. Das Blut der beiden Protagonisten entschloss sich, schuldbekennend in höhere Körperregionen abzuwandern, ohne dort für bessere geistige Aktivität zu sorgen, wie Stefan umgehend bewies: »Ehm ...«

Kuki konnte nichts bedeutend Intelligenteres zu Stefans postkoitaler Demenz beisteuern, außer einem blöd-verlegenen Grinsen.

Beide starrten Martin abwartend an und zeigten keine Anzeichen, möglicherweise aufzustehen oder wenigstens ihre zwischenzeitlich reduzierte Männlichkeit zu bedecken. Statt dessen starrten sie Martin an, als ob er die schamlose Dreistigkeit begangen hätte, ohne anzuklopfen in ihr Intermezzo reinzustolpern und sich jetzt gefälligst wieder von dannen machen sollte, damit man hier endlich zum Höhepunkt kommen könnte. Dies realisierte wohl auch Martin, denn langsam stieg ihm die Röte ins Gesicht.

»Könntest du vielleicht ...«, setzte Stefan an und machte damit den entscheidenden Fehler. Die Röte erreichte Martins Augäpfel und explodierte.

»Ich werde ja wohl noch entscheiden dürfen, wer in meiner Wohnung -- wann -- einen Höhepunkt hat!«, schrie er die beiden Delinquenten an. Er stampfte durch das Zimmer, packte Stefan bei den Haaren und schleifte ihn zur Tür. Vollkommen überrascht vergaß Stefan sich zu wehren, und bevor sein Hirn die Situation erfasste, fand er sich vor der Eingangstür wieder, die vor seiner Nase zugeknallte.

»Ehm!«, versuchte Stefan eine abwendende Argumentation -- mit der Tür.

Diese erhörte ihn und öffnete sich. Anstatt ihn jedoch hineinzulassen, wurde Kuki hinausbefördert. Die Tür schlug wieder zu.

»Ehm!«, bekräftigte Kuki.

Die Tür erhörte auch ihn und öffnete sich erneut. Eine Unterhose wurde ausgespien, schwebte anmutig durch die Luft und klatschte auf die Fließen. Die Tür knallte zu.

Die zwei Jungs schauten sich überrascht und verstört an. Da standen sie nun: auf einem kalten Flur, auf eiskalten Fliesen irgendeines Hauses irgendwo in Dresden und das splitterfasernackt -- bis auf die Socken. Keiner der beiden wusste etwas Sinnhaltiges zur Situation beizutragen, keiner wusste etwas zu tun.

Stattdessen starrten sie auf die Tür.

Als wenn diese konventionelle Baukomponente von einem eigenen Bewusstsein beseelt wäre, öffnete sie sich erneut. Eine weitere Unterhose flog heraus. Sprachlos bewunderte man den eleganten doppelten Salto in Kombination mit einer halben Schraube auf einer vollendeten Parabelbahn, den dieses Textil vollführte. Völlig überraschend, und für eine Unterhose gemeinhin untypisch, koinzidierte die Landung mit einem lauten Knall. Die Tür war erneut zugeschlagen.

Sprachlos bewunderten beide die so alltäglich anmutenden, vor ihnen liegenden Unterhosen. Diese obskuren Objekte einer fremden Welt. Weder Kuki noch Stefan fühlten sich würdig genug, um einen direkten Bezug zu ihrer Person herzustellen und sich dieser Kunstwerke anzueignen, sie gar anzuziehen.

Noch während die beiden schwanzgesteuerten Wesen sich über die Funktion von Unterhosen im generellen, und der vor ihnen liegenden Exemplare im Besonderen, Gedanken machten, wurde erneut eine Tür geöffnet. Diesmal allerdings eine andere.

Es handelte sich um die Wohnungstür gegenüber Martins. Eine reife Dame mit quietsch-bunten Plastiklockenwicklern im Haar lehnte einen wutverzerrten Kopf raus.

»Können sie ihre Tür nicht einmal leise schließen Herr ... Ähm ...«, schrie die Dame schrill in den Hausflur, bevor sie etappenweise erst die beiden Jungs als solches und ihre Nacktheit insbesondere entdeckte.

Ihre Stimme erstarb in einem Krächzen, ihre Kinnlade klappt herunter und sie stierte die Jungs entsetzt an, mit dem Entsetzen einer Entdeckerin in Anbetracht ihrer großen Mission, die sich aber unweigerlich leidenschaftlich ihrer Bestimmung hingab, der Erkundung der spezifischen Vorzüge unserer zwei nackten Jungs. Testend schnellte ihre Hand nach oben und rückte mit einer routinierten Handbewegung die Lockenwickler in Position. Postbote oder Stromableser zu sein, dürfte in diesem Haus einen potentiell gefährlichen Beruf darstellen.

»Oh, äh, guten Tag die Herren! Ist irgendwas mit Herrn Miller?«, fing die nette Dame an, ihre vermeintlich hauswartlichen Dienste aufzunehmen und die Jungs auszufragen. Diese Begegnung würde am morgigen Tag mindestens für den Bäcker, Schlachter, Frauenarzt und Supermarkt als Gesprächsstoff reichen. Die Hirne von Stefan und Kuki nahmen langsam wieder ihren Dienst auf. Man hatte die Funktion von Unterhosen wiederentdeckt, so dass man sich, ohne die heraufziehende Gefahr zu wittern, entschied, erst einmal die spärlich vorhandenen Textilien zu nutzen und sich etwas anzuziehen.

Instinktiv stammelte Kuki ein: »Nein! Nein! Alles in Ordnung«, und bedeckte seine keck glitzernde Blöße mit einem textilen Objekt, dessen fast vernachlässigbare Winzigkeit umgekehrt proportional zu ihrem Anschaffungspreis gestanden haben dürfte. Grundsätzlich erfüllte das Bekleidungsobjekt seine bedeckende Funktion, in der konkreten Situation aber sorgte der provokant-objektbetonende modische Schnitt für signifikante Hormonausschüttungen seitens der weiblichen Betrachterin. Stefan schlüpfte seinerseits mit einem geniert-verlegenen Grinsen in seinen Tanga, verzog allerdings schmerzhaft sein Gesicht, als das frische Tattoo sich bei der ersten unachtsamen Berührung in Erinnerung brachte.

»Sind sie sich auch sicher?«, gurrte die Dame, ohne in ihrem Studium der Körper der beiden inne zu halten. Was sie sah, erfüllte sie mit ungewohnten und längst vergessen geglaubten Gefühlen. Eine junge, über Jahre verdrängte Libido überfraute sie. Mit einem gelassenen Griff über die Türoberseite schwang sie betont langsam ihre Tür auf, die sich kaum erdreistete zu quietschen. Dann legte sie ihre Hand anmutig in ihre angeklappten, knochigen Hüften, ihre langen, dünnen Finger wiesen auf ihre flachen Brüste. Die andere Hand wand sich um den Türrahmen und strich hypnotisch hoch und runter.

»Wollen sie nicht lieber zu mir kommen? Im Treppenhaus ist es doch so kalt und so ... unbekleidet! wie Sie sind, holen Sie sich noch was weg«, säuselte sie. Kurz schlug ihre Zunge vor und leckte sich über ihre trockenen Lippen.

Es war eine einmalig laszive Vorstellung, die Stefan in ihrer Vollendung gewiss inspiriert hätte, wenn er ihr direktes Opfer wäre. Vielleicht konnte der erotische Funken nicht überspringen, weil er sich in den Lockenwicklern verfangen hatte oder die isolierende Nylonschürze mit Obstmuster nicht überwinden konnte; vielleicht aber auch nur nicht, weil der Sender eine Frau war. Jedenfalls sorgte die sinnliche Vorstellung dafür, dass sich das Blut bei Stefan und Kuki in einer spezifischen Körperregion sammelte: in den Füßen -- dem sichersten Ort in einer stürmischen Nacht auf hoher, rauer See -- Oder im Treppenhaus vor Martins Tür in Anbetracht des ewig lockenden Weibes.

Gelähmt standen beide da und starrten die ausgedörrte Grazie an.

Diese witterte sofort, dass dies der wunderbare Anfang einer vollmündigen Beziehung sein sollte, von der sie noch Jahre zehren würde. Geschmeidig bewegte sich die Schwarze Witwe auf ihre gelähmten Opfer zu, um sie an ihren Garnen in ihre Höhle zu locken. Keiner von beiden vermochte sich zu wehren, als sie ihre kalten Hände in ihre nackten Rückgrate legte und sie ihn Richtung ihrer Wohnung schob.

In allerletzter Sekunde kam die Rettung von anderer und unerwarteter Seite. Martins Tür öffnet sich krachend und er schrie: »Lassen sie ihre lüsternen Finger von meinen Gästen!«

Die nette Witwe fuhr herum, um Martin mit ihrem Hexenblick unmittelbar und endgültig in Staub zu verwandeln. Es funktioniert nicht. Stattdessen gaben sich die beiden einem Blickduell hin, dessen Preis zwei halbnackte Männer waren. Aufgeschreckt aus ihrer Stasis, nutzten jene Objekte des Streites sofort die Situation, um sich den verzehrenden Griffen der Dame zu entziehen. Mit unsicheremn Grinsen und leichten Restspuren von Panik bedankten sie sich für die angebotene Gastfreundschaft und flüchteten in Richtung Martins Tür.

»Wie sie wollen!«, gab sich die Nachbarin geschlagen und zog sich hüftschwingend in ihre Wohnhöhle zurück, ihre Tür hinter sich zuknallend.

Stefan und Kuki atmeten erleichtert auf und wollten im selben Atemzug bei Martin bedanken, als auch diese Tür vor der Nase zuknallte. Sie bewunderten das Klappern des Namenschildes.

»Scheiße!«, meinte Stefan außergewöhnlich deutlich und frei von jeder Tuckigkeit. Soeben einem erbärmlichen Tod durch übermäßigen Eiweißentzug entronnen, fühlte sich seine Zunge unfähig, die übliche Nasalsprache zu pflegen.

»Das kannst du laut sagen!«, bestätigte Kuki, der seine Arme vor seinen Brustpiercings verschränkt hatte und wütend die Tür anstarrte.

»Scheiße!«, schrie Stefan laut und trat gekonnt gegen die Tür direkt unter das Schloss. Es krachte und splitterte, doch es waren nicht Stefans Knochen, die nachgaben, sondern Martins Türschloss, das aus dem Rahmen brach. Kuki machte sich eine interne Notiz, Stefan später über die Herkunft seiner Socken zu befragen.

»Stefan!«, kreischte Martin und traf damit fast Stefans üblichen Nasaltonfall. Sämtliche verfügbaren Endorphine versammelten sich in ihm und er zeigte rigide ins Wohnzimmer: »Rein! Sofort!«

Stefan und Kuki trotteten mit hängendem Kopf in die angewiesene Richtung. Martin warf hinter ihnen die Tür zu. Gedemütigt durch Stefans Tritt schmollte diese und sprang wieder auf. Wütend und knurrend schnappte sich Martin das nächstbeste Verbarrikadierungsobjekt - seinen Schuhschrank - und schob ihn als provisorischen Schlossersatz vor die Tür. Da bekanntermaßen grobschlächtige Aktionen, wie zum Beispiel das Zerschmettern von Schließeinrichtungen, selten geräuschlos ablaufen, war es nicht wenig verwunderlich, vom Hausflur aus gegenüberliegender Richtung die Stimme der Nachbarin wettern zu hören: »Ich werde diesen Vorfall morgen dem Hauswart melden!«

»Ich bin der Hauswart!«, brüllte Martin zurück, der wenig Lust auf Diplomatie verspürte. Er ließ die kaputte Tür Tür sein und die sexuell frustrierte Nachbarin eine sexuell frustrierte Nachbarin.

Kochend stampfte Martin zu Stefan und Kuki ins Wohnzimmer.

Kochduell

»Du hättest klingeln können!«, warf Martin Stefan vor und Kuki das T-Shirt hin. Stefan warf ihm einen schuldigschüchternden Blick zurück.

Ein unangenehmes Schweigen macht sich breit. Immer noch kochend und leicht gerötet vor Wut stand Martin im Türrahmen seines Wohnzimmers, tapste mit dem rechten Fuß auf dem Boden rum und schmiss wechselweise Kuki und Stefan saure Blicke zu. Schuldig, geschlagen und demoralisiert, wagten jene es nicht, seinen Blick zu erwidern.

Schließlich nickte Martin befriedigt und drehte sich um, um lieber einen Tee zu kochen, als selbst weiter zu köcheln. Tee zuzubereiten entspannt.

Im Gegensatz zur ersten Martinschen Abwesenheit nutzen Kuki und Stefan die Gelegenheit diesmal nicht dazu, sich auszuziehen und lustvoll übereinander herzufallen. Im Gegenteil, man zog sich die restlichen Klamotten, die nach wie vor über den Boden verstreut lagen, an und setzten sich jeweils in die am weitesten voneinander entfernten Sessel.

Als schließlich Martin mit dem Tee zurückkehrte, fand er zwei sittsam gekleidete Jungs in demütigem Schweigen vor.

Ohne ein Wort verteilte er drei Tassen und goss plätschernd Tee ein. Der Zucker fiel klirren in die Tassen und Martins Löffel klimperte einsam Tasse für Tasse ab. Martin setzte sich selbst in das Sofa in der Mitte. Seit zwei Minuten schlürfte man nun Tee und es war immer noch kein Wort gefallen.

Wenn Kuki etwas auf Dauer nicht ertrug, dann war es Ruhe und Schweigsamkeit. Jedenfalls dann nicht, wenn mächtig Stress im Raum hing. Es reichte. Kuki fing mit einem diplomatisch ankündigenden Kopfschütteln an und ging schließlich zu einem vorsichtigen Schmunzeln über.

»Ihr spinnt!«

Kurz blitzte Martin zu Kuki rüber, doch verfing sich das Blitzen im Funkeln von Kukis Körperschmuck. Martin fing an zu lächeln und, als wenn dies eine Form von Erlaubnis war, stimmte Stefan mit ein.

»Wie kommst du darauf?«, meinte Martin ernst.

»Nur so.«

Stefan kicherte albern: »Gib's auf, er hat uns durchschaut.«

Stefan versuchte einen Lachausbruch zu unterdrücken und produzierte dadurch einen viel lächerlicheren Grunzlaut.

»Hast du eine Vorstellung, was so ein Schloss kostet? Du kannst nicht einfach ein Sicherheitsschloss zertrümmern.«

»Tut mir leid. Ich kann doch nichts dafür, dass du diesen Billigscheiß holst«, meinte Stefan nicht ernsthaft entschuldigend.

»Billigscheiß?«, kiekste Martin auf.

»Wie hast du das eigentlich gemacht?«, eine Frage, die Kuki schon seit ein paar Minuten nicht los ließ. »Trägst du Kampfsocken?«

»Tae-Kwon-Do«, sagte Stefan abwertend.

»Du machst Tae-Kwon-Do?«, fragte Kuki erstaunt.

Stefan zuckt mit den Schultern und verteidigt sich stotternd: »So ein Überbleibsel von früher.«

»14 Jahre, schwarzer Gürtel und zweimaliger Jugendlandesmeister im Vollkontakt«, fügte Martin beiläufig hinzu.

»Das erklärt ... einiges!«, nickte Kuki beeindruckt und musterte Stefans körperlichen Attribute.

»Hast du gesehen, wie die Schnepfe geschaut hat, als sie uns gesehen hat?«, versuchte Stefan abzulenken.

»Die war kurz vor 'nem Samenkoller«, feixte Kuki.

»Nein, war sie nicht. Es war eine Frau!«, korrigierte Martin.

»Ach ja, stimmt, du hast recht. Ich kenne mich mit sowas nicht so genau aus. Was hatte sie denn dann?«

»Pflaumensturz!«, grunzte Stefan. Lachend stimmten Kuki und Martin zu. Keuchend meinte Martin: »Zwei nacksche Knackärsche, wem kann man das verdenken?«

»Vor allem von Mister Sixpack. Deine Killer-Abs - hammerhart!«, fügte Kuki an und wechselte in eine bequemere Sitzposition.

»Ach das ist nichts weiter, du siehst viel besser aus!«, schmeichelte Stefan und verschränkte schüchtern seine Beine.

Martin hingegen warf sich verzweifelt in seinem Sessel und jaulte: »Ich will jetzt keine Details mehr hören!«

»Sei nicht so verklemmt«, entgegnete Stefan.

»Ich bin nicht verklemmt! Ich kann es nur nicht ausstehen, wenn mann nur ans Poppen denkt.«

»Wir denken nicht nur ans Poppen! ...« entgegnete Stefan und schaute zu Kuki rüber. Der spielte mit der Zunge an seinem Stecker unterhalb seiner Unterlippe und ließ ihn hypnotisch kreisen.

»... Nomalerweise ...«, stotterte Stefan weiter, denn Kukis Anblick an den Rand der Ohnmacht trieb.

Martin verdrehte entsprechend seine Augen: »Hoffnungslos ...«

»Sei ihr eigentlich zusammen?«, fragte Kuki überraschend, wie ein Gewitterblitz an einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel.

»Wir?«, entgegneten Stefan und Martin synchron. Nur ein winziger Phasenunterschied zwischen den beiden Antworten erzeugte einen Dolby-Surround-Effekt und die Frage »Wir?« schwebte dreidimensional akustisch im Raum. Martin und Stefan schauten sich entgeistert an und antworteten perfekt vereint: »Niemals!«

Kuki nickte mit dem Kopf und spielte wieder mit seinem Kinnpiercing, als er plötzlich aufschreckte: »Shit! Wie spät ist es eigentlich?«

»Keine Ahnung?«, zuckte Stefan mit seinen ultrabreiten Schultern.

Martin wusste es genauer: »21 Uhr 47!«

Kuki schlug sich die Hände vor die Augen, ein paar Metallteile schepperten. Zwischen seinen Handflächen nuschelte es ein: »Scheiße! Ich muss doch noch nach Berlin zurück!«

»Jetzt noch?«

»Ja, verdammt!«, grummelte Kuki. »Ich hatte nicht vor unter einer Brücke zu pennen.«

»Penn doch hier.«, bot Martin an.

»Hier?«, unsicher lugte Kuki zu Martin hinüber. Meinte er das jetzt ernst, oder war es nur ein Angebot, dass die Höflichkeit verlangte und das man mit gleicher Höflichkeit ausschlug. »Ich weiß nicht ...«

»Och, bitte ...«, Stefans Intentionen waren eindeutig.

»Wirklich?«

»Ja doch. Sonst würde ich dir das nicht anbieten«, Martin schüttelte seinen Kopf. Kuki fand es schwer, Martin einzuschätzen. Stefan war einfach. Er war sicherlich nicht einfach gestrickt, aber seine Motivation war offensichtlich. Martin hingegen war nicht der Typ, der sich so leicht hinter die Karten schauen ließ. Er schien immer die Kontrolle behalten zu wollen. Ein Konzept, mit dem Kuki wenig anfangen konnte, da er ja nicht mal Kontrolle über sich selbst besaß.

»Ok!«, stimmt Kuki zu. »Danke ...«

»Könnte ich vielleicht auch ...«, bettelte Stefan schüchtern-rhetorisch.

»Nein! Du gehst gefälligst nach Hause!«, unterbrach ihn Martin. Ganz kurz schäumte die alte Wut von vorhin auf, die Stefan völlig überraschte. Nachdenklich musterte er Martin, die Luft begann zwischen den beiden zu knistern.

»Ähm?«, versuchte Kuki ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ein erneutes Aufkeimen von Martins Wut musste unbedingt vermieden werden. Nach kurzer Überlegung warf er Stefan ein beruhigendes, und auch für morgen vielversprechendes Lächeln zu, um dann eine Frage zu stellen, die zum einen das Thema in eine unverfängliche Richtung lenkte und ihn zum anderen sogar interessierte: »Was ist eigentlich mit deiner Stimme?«

»Glaubst du, dass ist natürlich sonst?«, feixte Martin.

Stefan steckte ihm die Zunge raus.

»Weiß nicht?«, flötete Kuki unschuldig.

»Ich kann auch normal sprechen, wenn du so willst. ess isst tnur tie fraje vass tnormal vuer tich peteutet?«

»Von mir aus kannst du Kisuaheli sprechen. Es hört sich irgendwie cool an«, grinste Kuki und fügte mit einer herzerweichenden, lammfrommen Unschuldsmine hinzu: »Du setzt damit einen gelungenen Kontrapunkt zu deiner dominanten Körperlichkeit.«

In Stefans Augen flammten Fragezeichen auf: »Häh?«, während Martin laut losprustete: »Kontrapunkt zur dominanten Körperlichkeit! Wow!«

Völlig souverän überging Kuki Martins Lachanfall und meinte beiläufig: »Du bringst das aber ziemlich perfekt.«

»Tja jahrelanger Feinschliff«, meinte Stefan. »Du hättest ihn mal vor ein paar Jahren hören sollen, als er damit angefangen hat. Grausam!«, fügte Martin hinzu, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.

»Wie lange kennt ihr euch schon?«

»Seit ... ehm?«, setzte Martin an und schaut fragend Stefan an.

»Seit zweieinhalb Jahren.«

Während er noch diese Antwort gab, stutzte Stefan. Irgendetwas an Kuki war ihm aufgefallen, das nicht ins Bild passte. Nur was? Nachdenklich musterte er Kuki und versuchte dabei, einmal nicht auf Kukis appetitlichen Körper, sein schmerzhaft süßes Grinsen oder die ziemlich geilen Piercings zu achten. Eine Aufgabe, die ihn fast überforderte. Seine Männlichkeit wollte gerade wieder mehr Platz in seiner Unterhose einfordern, als es ihm wie Schuppen aus den Haaren fiel. Das T-Shirt! Die Erkenntnis traf ihn wie heißen Stahl. Es war Martins absolutes Lieblings-T-Shirt. Ein Teil, um das er immer einen Mordsaufstand machte, wenn man sich zum Beispiel aus Versehen draufgesetzt hatte oder mit einer Portion Eis mit MundMs zu nah kam. Und dieses T-Shirt hatte er Kuki einfach so zugeworfen? Ohne Kommentar? Ruckartig löste Stefan seinen Blick von Kuki und starrte Martin an. Martin, du wirst doch nicht ... Er versuchte in Martins Gesicht eine Antwort zu finden, doch der war gerade dabei etwas belangloses über ihrer beider Bekanntschaft zu erzählen.

»Stefan?«, Martin entdeckte Stefans Blick und unterbrach seine Erzählung, »Ist etwas?«

Mit in sich gekehrten Blick und etwas verträumt murmelte der Angesprochene: »Nein, nichts ... Es ist spät geworden. Ich glaub' ich mach mich auf den Weg.«

Etwas überrascht von Stefans spontaner Aufbruchstimmung erhob sich Martin und meinte: »Wenn du meinst. Warte ich bring dich noch zu Tür, die hat neuerdings Schließprobleme.«

»chach ich kenn tass. tiese chandverkehr von cheute - kein verlazz mehr!«, entgegnete Stefan und wedelte bestätigend mit den Händen, was bei dessen Größe die warme Sommerluft im Zimmer ordentlich druchquirlte. Dann richtete er sich zu Kuki: »piss morchen honney, vier tsehn uns toch!«

»Klar! Mach's gut!«, rief Kuki noch Stefan hinterher, der schon aus der Tür tanzte.

Unterhosen

»Du, ich wollte mich nochmal für vorhin entschuldigen ...«, begann Kuki.

Martin war wieder zurückgekehrt und hatte sich in seinen Sessel fallen lassen. Die ganze Zeit über hatte Kuki sein vorübergehender Kontrollverlust gequält. Reste elterlicher Erziehungsversuche sorgten für den Drang, sich bei Martin zu entschuldigen.

»Ach, vergiss es. Ich war viel mehr auf Stefan sauer als auf dich. Er hätte sich beherrschen können.«

»Sei nicht zu hart. Ich hatte schließlich auch den Mund ziemlich voll genommen«, meint Kuki mit einem süffisant-entschuldigenden Grinsen. Martin schüttelt grinsend den Kopf.

»Und noch was ...«

»Ja?«

»Du musst mich nicht bei dir pennen lassen, wenn das Umstände macht ...«

»Es macht keine Umstände, denn du wirst dir dein Bett selbst machen«, meint Martin grienend, außerdem sind wir, also eigentlich Stefan, nicht ganz unschuldig daran, dass du deinen Zug verpasst hast.»

»Danke.«

»Wofür?«, Martin rückt kurz in dem Sessel umher. »Kann ich dir 'ne persönliche Frage stellen?«

»Nur zu.«

»Du bist alleine zur Convention gefahren. Hast du keinen Freund?«

»Ja - und nein.«

Martin hob interessiert eine Augenbraue.

»Ich habe zwei ... enge Freunde. Leider hocken die das nächste halbe Jahr in Amiland.«

»Tut mir leid.«

Kuki zuckt mit der Schulter: »Wenn's irgendjemand scheren würde, aber ... Wenn du es genau wissen willst: Auf mich wartet in Berlin niemand. Nicht mal meine Eltern. Die lieben Zwei haben nämlich viel zu viel mit ihrer Scheidung zu tun.«

»Sorry too.«

»Wofür? Dass sie sich scheiden lassen? Damit machen sie nur amtlich, was seit vier Jahren längst Tatsache ist.«

»So abgeklärt?«

Kuki zuckte mit seinen Schultern. Dann grinste er hinterhältig.

»Erstes Piercing?«

»Wie bitte?«, Martin glotzte Kuki verdattert an.

»Ist es dein erstes Piercing? Deine Brust ...«

»Ja ... Moment mal, woher weißt du das überhaupt?«, fragt Martin misstrauisch.

»Ich hab' gesehen, wie du es dir stechen lassen hast und zusätzlich, wie du es später Stefan gezeigt hast.«

Martin beobachtete Kuki prüfend.

»Sei vorsichtig!«, sagte Kuki dann.

»Wobei?«, fragte Martin, dessen Augenbrauen wie zwei Fragezeichen seine Augen pointieren. Er schien einige Probleme zu haben Kukis Worten zu folgen.

»Mit dem Piercen.«

»Warum?«

»Kann zur Sucht werden!«

»Aha«, entgegnete Martin misstrauisch und zog seine Stirn und Augenbrauen zusammen.

»Doch, wirklich! Ich kenn einen Typen - überall Metall. Der braucht nur an einem Piercingstudio vorbei gehen und schon hat er zwei Stifte mehr.«

»Du redest nicht zufällig von dir selbst?«

»Ich und piercingsüchtig? Niemals!«, stritt Kukis entsetzt ab. »Wie kommst du auf solche Ideen.«

»Och, nur so ...«, meinte Martin unschuldig und maskiert mit seiner Hand demonstrativ sein Gesicht, wobei ein jeder seiner Finger gleich mehrere Piercingmöglichkeiten andeutet.

»Hey, hey, hey. Bild' dir nur kein vorschnelles Urteil! Ein jedes Teil ist da, weil ich es explizit wollte. Es ist alles wohl überlegt und perfekt aufeinander abgestimmt.« Kukis Grinsen hatte etwas Diabolisches, seine Zahnreihen blitzten. »Und, hast du das bei deiner Brust auch getan? Oder war es so eine conventiontypische ,Ist cool!`-Entscheidung?«

Martins Mund zuckt ertappt.

»Zeig' mal«, forderte Kuki überraschend und zuckte sicher mit seinen Augenbraunpiercings.

Martin lächelte cool zurück. Genussvoll langsam zog er sein T-Shirt hoch. Seine Finger strichen über seinen Bauch, auf dem sich blonde Haare kräuselten. Mit abgekippten Kopf und stolz geschwungenen Lippen präsentierte er seine Neuerwerbung.

Kuki zeigt sich völlig unbeeindruckt. Während Stefan einen »Das ist cool«-Blick drauf gehabt hatte, beurteilte Kuki die Sticharbeit mit dem Auge eines Gutachters. Er rückte näher an Martin heran, legte seine rechte Hand zwar sanft, aber absolut professionell, auf dessen Brust und zog die Haut vorsichtig straff. Martin räusperte sich.

»Ist ne' gute Arbeit. Du solltest dich aber unbedingt an die Pflegeanleitung halten. Brust ist immer 'ne heikle Angelegenheit.«

»Schon klar«, entgegnete Martin und ließ sein T-Shirt wieder herabsinken. »Und, wie sieht dein Gesamtkunstwerk aus?«

»Alles?«, schmunzelte Kuki provozierend.

Martin grinste Kuki amüsiert an. »Klar.«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog Kuki sein -- also eigentlich Martins -- T-Shirt aus und schmiss diesem ein frech-provozierendes Grinsen zu. Mit einer Hand löste er seinen Gürtel und die Hose rutschte runter. Mit zwei Daumen folgte die restliche objektbetonende Unterbekleidung.

Nackt, wie sein Piercer ihn geschaffen hatte, stand Kuki vor Martin. Dieser verzog sein Gesicht beim Beurteilen. Genüsslich ließ er seinen Blick dieses Mal ganz langsam an Kukis Körper abwärts streichen. Kuki mochte keinen so perfekten Körper wie Stefan besitzen, aber seine Natürlichkeit und unverkrampfte Präsentation gingen an Martin nicht unbemerkt vorbei. Kuki warf sich weder groß in Pose, noch gockelte er machomäßig rum. Er stand einfach nur da und war ...

Präsent! Die »Art« Präsenz, die keiner Selbstdarstellung bedurfte.

Martins Hände zuckten leicht im Wunsch Kuki zu berühren, doch blieben sie in seinem Schoss ruhen. Es waren stattdessen seine Blicke, die ohne Pause sanft die geschwungene Linie von Kukis Körper umstrichen. Entdeckend spielten sie mit einem jeden seiner Piercings und näherten sich in verschlungenen Kreisen genussvoll langsam Kukis Lendengegend. Dort bleiben sie an Kukis Edelstein seiner Komposition haften. Martin setzt sich stirnrunzelnd zurück.

»Und, genug gesehen?«, fragt Kuki gelangweilt.

»Tat das nicht weh?«, fragte Martin und deutete auf etwas metallisches an Kukis empfindlichster Körperregion.

»Ja, es tat weh!«

»Warum hast du es dann getan?'`

Kukis zog bevor er antwortete seine Hose und Unterhose wieder hoch und setzte sich in einen Sessel.

»Ich musste wissen, ob ich es kann!«, sagte er, sein Lächeln war verschwunden.

Martin fokussiert Kuki mit einem Stirnrunzeln.

»Es gibt verschiedene Gründe, warum man sich Piercen lässt. Dieses eine hat spezielle Gründe«, deutete Kuki an und mache klar, dass er nicht mehr darüber verlieren wollte. Er lenkte ab: »Wollen wir nicht langsam Schlafen gehen?«

»Gute Idee!«, stimmte Martin zu. Er gab Kuki ein Matratze, die er für Gäste bereitliegen hatte, seinen Schlafsack sowie Shorts und ein T-Shirt für die Nacht. Kuki nahm die Sachen und baute sich in Martins Wohnzimmer ein provisorisches Nachtlager.

Nachdem Martin die Verriegelung der Wohnungstür überprüft hatte, beide Jungs sich um die notwendigen Körperpflegeaktionen zur Nacht gekümmert hatten, wünschte man sich gegenseitig einen schönen Schlaf und marschierte in getrennte Räume.

Mit einem Grinsen im Gesicht, den eigenen Fingern gedankenverloren an Metallteilen spielend, schlief Kuki sofort ein.

Er war der Einzige.

Martin wälzte sich noch lange schlaflos in seinem Bett. Seine Brust schmerzte und ließ ihn nicht ruhen. Eine undefinierte Unklarheit erfüllte sie und forderte um Ordnung. Als er Stunden später einschlief, hatte sich dort eine glitzernde Klarheit geformt.

Sie war nicht allein. Einige Straßen weiter, war es Stefan, der wach lag.

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