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Kann Sehnsucht krank machen?

Zweiter Teil

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Vorwort

Hey Leute!

Zuerst einmal möchte ich mich recht herzlich für die vielen Feedbacks bedanken. Eins war jedoch aus den meisten Mails herauszulesen - ich scheine hier ein ziemlich sensibles Thema aufgegriffen zu haben. So oder in ähnlicher Form haben es viele schon erlebt. Und bei Einigen scheint es längst »Bewältigtes« wieder hervorgebracht zu haben - dafür mein Sorry, aber manchmal hilft es beim Verarbeiten, sich in dieser Form damit auseinanderzusetzen.

He seid aber nicht zu überrascht, wenn die Geschichte ein oder auch zwei andere Wendungen nimmt, als Ihr Euch so vorgestellt habt - ist ja meine Geschichte, gell ;-)).

Viel Spaß wünscht Euch Euer jR

 

Irgendetwas weckte mich. Innerhalb von Sekunden war ich hellwach und fand auch keinen Schlaf mehr. Ein Blick auf den Wecker zeigte mir in grausamen Leuchtzahlen die Ziffern 4:30, oh je das war früh! Draußen war es noch dunkel, na ja was will man auch im März erwarten. So lag ich nun in meinem Bett und so langsam kamen die Gedanken zurück. Trotz der frühen Stunde fühlte ich mich relativ ausgeschlafen und war auch nicht mehr in zu deprimierter Stimmung. Wo ich gestern Abend noch Probleme sah, flogen mir jetzt die Lösungen nur so zu.

Mein Entschluss stand schnell fest 'Ja ich wollte Dark näher kennen lernen!' Vor allen wollte ich seinen richtigen Namen erfahren, konnte ihn ja nicht immer Dark nennen - obwohl das so schön dunkel und schaurig klang. Dieser Gedanke zauberte dann doch mal ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Und bei Christian musste ich einfach abwarten, wohin sich die Sache entwickelte. So motiviert schwang ich mich aus meinem Bett, die Zahlen auf dem Wecker hatten sich nicht sehr verändert, es waren gerade mal 10 Minuten vergangen. Verwundert schüttelte ich meinen Kopf 'Da haben wir es noch nicht einmal 5 Uhr in der Früh und ich hopse hier schon rum. Ich war doch mehr krank als angenommen!' Im Hinausgehen schaltete ich meinen PC an, wollte doch noch mal nach Mails schauen. Meine Morgenhygiene war heute mehr als eine Katzenwäsche, denn ich hatte ja Zeit, viel Zeit.

Eine halbe Stunde später saß ich dann vor meinem Computer und fand im Mailpostfach eine Mail von Chris. Sie war ziemlich kurz und der Ton kam mir auch etwas unterkühlt vor. Natürlich war er enttäuscht, dass ich nicht im Chat war und sein Ton war verständlich. So formulierte ich eine Antwort an ihn, die etwas länger ausfiel, denn ich schilderte ihm diesmal auch, dass mir das Chatten nicht so behagte. Ich hoffte, dass er mich wenigstens verstand, denn ich wollte seine Mails nicht missen. So wie Svenja zu Recht gesagt hatte, mit ihm konnte ich über alles im Allgemeinen und über das Schwulsein im Besonderen auf gleicher Augenhöhe reden. Dann öffnete ich noch einmal Dark's Mail und las sie zum wiederholten Male durch. Fasziniert blieb ich an seinem PS hängen, diese zwei Sätze ließen mich einfach nicht los. Ich war versucht, ihm jetzt zu antworten, aber irgendwie wollte ich das in Ruhe heute Nachmittag erledigen. Dafür benötigte ich Zeit, um die passenden Formulierungen zu finden. Schweren Herzens schloss ich das Postfach, denn wenn Dark auf Antwort wartete, so wie es bei mir der Fall gewesen wäre, dann musste er sich noch gedulden. Danach surfte ich noch ein wenig durch das Internet, aber mich hatte eine innere Unruhe befallen, so dass ich mir etwas vor der Zeit meine Schulsachen schnappte und mich auf den Weg machte.

Zwei Strassen weiter lauerte mir eine weibliche Person auf. Svenja überfiel mich regelrecht, um nach einer stürmischen Begrüßung in ein nervöses Schweigen zu verfallen. Dieses Schweigen war unangenehmer, als wenn wir uns gestritten hätten, somit beendete ich es.

»Svenja ...?!« »Jean ...!?« Hm da hatte wohl jemand denselben Gedanken, verlegen grinsten wir uns an.

'Toll, jetzt schweigen wir weiter', murmelte ich so zu mir. Svenja bekam mein Gebrabbel wohl mit und lächelte leicht.

»Svenja«, fing ich noch einmal an »es tut mir leid, dass ich letztens so bescheuert reagiert habe.«

»He Jean, auch ich muss mich bei Dir entschuldigen, denn meine Worte waren nicht fair. Vielleicht sollten wir uns darüber in Ruhe noch einmal unterhalten, damit ich Dir meine Gedanken erklären kann.«

Ich sah sie verwundert an. Sie hatte sich zwar entschuldigt bei mir, aber wenn ich das nun richtig verstanden habe, war sie von der Richtigkeit ihrer Gedanken überzeugt. Mir blieben nun zwei Möglichkeiten, entweder mich wieder wütend zurückzuziehen oder mir in Ruhe mal ihre Meinung anzuhören. Meinem Mienenspiel waren meine Überlegungen wohl mehr als deutlich anzusehen, denn fast behutsam hörte ich sie sagen.

»Sei nicht wieder böse, ich will es Dir nur in Ruhe erklären. Danach kannst Du immer noch entscheiden, ob wir Freunde sind.«

»He so schnell gebe ich keine Freundschaft auf«, kam es ziemlich entrüstet von mir.

»Okay, kommst Du heute Nachmittag so gegen 15 Uhr zu mir?« hörte ich sie fragen. Ups, zu Svenja nach Hause, bisher hatten wir uns immer nur bei mir getroffen.

»Haben wir ein Date?«, fragte ich grinsend.

»Blödmann!«

»Schade, ich dachte, du wolltest noch einen Versuch starten«, foppte ich sie.

»Ich glaub, da kann ich mir was Hübscheres leisten«, kam postwendend der Konter.

»Nöö, mein Zwilling ist ja schon vergeben. An eine Kotzkuh, das geb ich zu, aber wech is wech und andere interessante Männer seh ich nicht«, gab ich nicht so schnell auf. Mir war, als würde ich einen kurzen Schatten über ihr Gesicht fliegen sehen, als ich Tim erwähnte, aber ich hielt es für eine Täuschung. Alles andere war im wahrsten Sinne an den Haaren herbeigezogen. Svenja hatte an jedem Finger mindestens zwei Kerle, die sie anhimmelten. Sie gab sich jedoch mit mir ab, obwohl ja nun von meiner Seite nichts zu erwarten war, darüber konnten wir auch mal ein oder zwei Gedanken verschwenden.

»Schau an, aus unserem grübelnden wird wieder ein frecher Jean, ob mir das so gefällt?!«, grummelte sie, jedoch ließ ein Lächeln die Worte in einem ganz anderen Licht erscheinen. »Also ist es abgemacht, Du kommst heute zu mir.«

»Okay, aber nur, wenn Du Deinen Hund davon abhältst, mich zu fressen«, musste ich noch klarstellen. Zwar sagte ich dies nun mit einem Lächeln, aber so richtig wohl war mir bei diesem Gedanken nicht. Ich hatte ziemlichen Schiss vor Hunden und je größer desto mehr. Da sie mir erzählt hatte, dass sie einen Golden Retriever besaß, war meine Angst nicht so unbegründet.

»Och der große Junge hat Angst vor Hunden?!«, neckte sie mich, das Lächeln verschwand jedoch, als sie meine erstarrten Gesichtszüge sah und viel Farbe war da auch nicht mehr zu sehen.

»Na ja, irgendwie kann ich diesen Vierbeinern nichts abgewinnen, seit dem mich als Kleinkind ein Hund ziemlich gebissen hat«, murmelte ich leise vor mir hin.

Svenja sah mich mitfühlend an. »Entschuldige bitte, aber Franka ist lammfromm und tut keinem etwas«, versuchte sie mich aufzumuntern.

»Ja, ja, das sagen sie alle und dann hängt die Schnauze an meinem Hosenboden?!«, erwiderte ich und schob noch hinterher »Und dann auch noch ein Weibchen, ich steh halt mehr auf Männchen!«

»Wird Zeit, dass wir Dir einen Kerl suchen. Du scheinst es ja echt nötig zu haben«, grinste sie mich an.

'Oh je, dieses Weib schien immer das letzte Wort zu haben, aber wo sie Recht hat, hat sie halt Recht', ging es mir durch den Kopf. Unsere neckische Auseinandersetzung wurde jetzt auch beendet, denn wir trafen an der Schule ein.

Die erste Stunde rauschte an mir nur so vorüber, ich konnte Französisch nichts abgewinnen - jedenfalls nicht der französischen Sprache. In der Pause rempelte mich Svenja an und deutete mit ihrem Kopf in Tims Richtung. Stirnrunzelnd sah ich herüber, konnte aber nichts Ungewöhnliches ausmachen. Fragend sah ich sie an.

»Tim ist alleine!«

Wieder wandte ich meinen Kopf zu seinem Platz. Es stimmte, mein »Zwilling« saß alleine, seine bessere Hälfte war nicht zu sehen.

»Vielleicht ist sie krank?«, mutmaßte ich.

»Nein, Du musst nur ein paar Bänke nach vorne schauen«, kam es postwendend als Antwort. Stimmt, da saß sie bei einer ihrer Freundinnen. Auf dem Platz hatte sie auch schon früher gesessen.

»Soll ich mich wieder umsetzen?«, fragte ich Svenja spöttisch.

»Untersteh Dich!«, brubbelte sie mich an, »aber ich frage mich, ob es da eventuell eine kleine Krise gibt?«

»Und wenn schon. Tim kann mir gestohlen bleiben!«, erwiderte ich ihr tapfer, nur zog sich mein Magen bei diesen Worten zusammen.

Sie sah mich nur kurz an und ließ dann den Blick wieder rüberschweifen »Jean, Du lügst jämmerlich«, kam es fast beiläufig von ihr, jedoch trafen mich ihre Worte wie ein Hieb.

»Lass uns das heute Nachmittag besprechen, vielleicht weiß ich dann auch etwas über unser Traumpaar«, schloss sie dieses Thema. Leider war für mich damit keineswegs die Sache abgeschlossen. Mein Blick irrte immer wieder zu Tim, und ich erwischte ihn öfter, dass er seine Augen von mir abwandte. Jedenfalls blieb er den ganzen Tag alleine und auch in den Pausen gesellte sich seine Freundin nicht zu ihm.

Zum Glück war heute gegen Mittag der Schultag beendet und ich flüchtete fast nach Hause. Svenja erinnerte mich noch kurz an unser Treffen heute Nachmittag - als ob ich das vergessen würde.

Zuerst einmal wollte ich zu Hause die Mail von Dark beantworten, damit er nicht wie auf glühenden Kohlen saß. Während der Schulstunden hatte ich auch schon darüber gegrübelt, wie ich es am Besten anpacken wollte. Ich blieb bei unserem lockeren lustigen Ton, ohne auf sein PS einzugehen. Auch ich wollte die Art des Post Scriptums nutzen, um ihm eine Antwort zu geben.

Ich schrieb einfach.

'Natürlich weiß ich nicht, was mich erwartet, aber ich würde es gerne darauf ankommen lassen. Ein kleiner Schritt in diese Richtung wäre Dein Name.'

Mit etwas Bauchgrummeln schickte ich die Mail ab, denn damit war meine Entscheidung gefallen. Jetzt kam es auf ihn an, ob er mit mir diesen Weg beschritt.

Seufzend setzte ich mich an meine Hausaufgaben. Es waren zwar nicht viele, aber gemacht werden mussten sie trotzdem.

Gegen 15 Uhr machte ich mich dann auf die Socken. Der Weg zu Svenja war nicht sehr weit und ich war echt schon auf ihr zu Hause gespannt. Wie wir wohnte sie in einem Mehrfamilienhaus mit einem kleinen Vorgarten davor. Pünktlich klingelte ich an der Gegensprechanlage und ein Summton öffnete mir die Tür.

'Na toll, sie hätte sich ja wenigstens melden können. Jetzt muss ich jedes Stockwerk absuchen', grummelte ich vor mir hin. Im zweiten Stock stand ein Junge, na ja eher ein junger Mann in der Tür. Irgendetwas kam mir bekannt vor, aber ich ignorierte es einfach.

»He willst Du nicht zu Svenja?«, hörte ich eine angenehme Stimme in meinem Rücken. Wie von einer Tarantel gestochen, fuhr ich zu ihm herum. Verblüfft sah ich ihn an, na ja eigentlich starrte ich ihn an. Der junge Mann grinste mich an und machte eine einladende Bewegung, an ihm vorbei in den Flur zu treten. Die Erkenntnis traf mich mit voller Wucht. Alles an diesem Jungen schrie: 'Ich bin schwul!!' Seine Haare hatten eine krasse grüne Farbe, in seiner linken Augenbraue steckte ein Piercing. Seine Kleidung war erstklassig und passte ihm ausgesprochen gut. Seine blau-grauen Augen funkelten belustigt und jetzt kam mir auch in den Sinn, warum er mir vorhin so bekannt vorgekommen war. Er sah Svenja ausgesprochen ähnlich, somit war es ein sehr hübsches Kerlchen.

Nun ja Kerlchen war dann doch etwas untertrieben. Er war bestimmt 10 cm größer als ich und auch etwas älter, aber nicht sehr viel. Ich hatte keine Ahnung, woher ich nun so felsenfest annahm, dass er schwul war, aber ich wusste es einfach. Svenja's Bruder war nicht tuckig oder irgendwie..., ach ich konnte es nicht beschreiben. Nervös lächelnd wollte ich mich an ihm vorbeidrücken, sein Geruch stieg mir sofort in die Nase und war mehr als betörend, da erwartete mich die nächste Katastrophe...

...bellend und schwanzwedelnd schoss etwas helles Großes auf mich zu. Sofort blieb ich stocksteif stehen und wollte eigentlich die Flucht nach dort antreten, wo ich herkam, nur...

...mit meinem eingelegten Rückwärtsgang traf ich postwendend auf ein Hindernis. Es war weich aber doch gleichzeitig hart und es roch seeehr gut. Auf jeden Fall ging dieses Etwas nicht weg, eher kam es mir so vor, als glitt es noch näher an mich, was eigentlich nicht mehr möglich war. Spöttisch hörte ich dieses Etwas in mein linkes Ohr flüstern.

»Och hat der kleine Junge Angst vor dem großen Wau Wau?«

Das war mir dann doch zu blöd und ich riss mich fast von ihm los, was mich aber wieder näher an den Hund brachte. Der blöde Köter sprang jetzt auch noch an mir hoch und ich schwitzte hier Blut und Wasser. Mein Hintermann tat nichts, was mir irgendwie helfen könnte. Nein eher schien ihn das sehr zu amüsieren, denn ich hörte ihn leise vor sich hin lachen. Trotz meines aufkommenden Ärgers und der mehr als peinlichen Situation fand ich dieses Lachen irgendwie süß. Der ganze Spuk fand ein schnelles Ende, als ich vom anderen Ende des Flurs eine mir sehr bekannte und jetzt ziemlich energische Stimme hörte.

»Franka aus!«, fast augenblicklich ließ der Hund von mir ab und setzte sich vor mich hin. Erwartungsvoll schaute die Hündin zu mir hoch, so als ob ich ihr dafür jetzt noch eine Belohnung geben sollte.

»Nu geh schon. Sie tut Dir nichts«, hörte ich ihn hinter mir glucksen.

»Wer?«, hörte ich mich sagen und drehte mich leicht zu ihm um »Franka oder Svenja?« Mit offenem Mund ließ ich ihn stehen und ging mit wackligen Knien in die Wohnung. Dass meine Beine weich wie Pudding waren, lag nicht nur an der Hündin, da war ich mir sicher.

»Hey, komm rein in mein Zimmer« sagte Svenja zu mir, an die Hündin gewandt, »Du bleibst draußen!«. Immer noch ein wenig durcheinander folgte ich ihrer Aufforderung.

»Hast Du also Bekanntschaft gemacht mit den beiden durchgeknallten Mitgliedern unserer Familie«, sagte sie zu mir, als ich mir es auf ihrem Bürostuhl bequem gemacht hatte.

Sie schien von ihren Worten sehr belustigt zu sein.

Meinen fragenden Gesichtsausdruck unterstützte ich noch mit einem blöden langgezogenen »Heee?????«

»Na die wandelnde Grünpflanze, die sich mein Bruder schimpft und das große bellende Wollknäuel, das keinem etwas zu leide tun kann!«, beantwortete Svenja meine unausgesprochene Frage. Ihre komische aber durchaus passende Beschreibung der zwei Familienmitglieder draußen auf dem Flur entlockte mir nun auch ein kleines Lächeln. Ich wollte gerade ansetzen, um ein wenig mehr von der niedlichen Grünpflanze zu erfahren, da fuhr sie fast übergangslos fort.

»Tim und seine Flamme«, wobei sie das Wort Flamme regelrecht ausspie »hatten mächtig Streit. Worum es ging, konnte ich jedenfalls nicht in Erfahrung bringen, aber Tim ist ziemlich genervt.« Eigentlich war ich mit meinem Gedanken ganz woanders, aber der Name meines Zwillings brachte mich dann doch schnell in die Realität zurück.

»Und was interessiert’s mich!«, blaffte ich.

»Ach komm, tu nicht so taff. Du sehnst Dich doch immer noch nach ihm«, antwortete sie leise.

»Grr, wobei wir beim Thema wären, nicht wahr?!?«, gab ich genervt zurück.

»Jean, alles was Du mir von Christian erzählt hast, machte auf mich einen eindeutigen Eindruck.«

»Ja und welchen??«, fragte ich sie, wollte die Antwort aber bestimmt nicht hören.

Sie seufzte und zögerte etwas, so als hätte sie keine Lust, mir die Wahrheit zu sagen.

»Du wirst danach nur wieder sauer sein und ich habe keine Lust, mir Dein Rumgezicke in der Schule anzutun«, grummelte sie auf einmal.

»Was??? Ich und rumzicken? Sag mal, geht's noch?«, rief ich aufgebracht. Jetzt wurde ich langsam sauer.

»Na ja, was war das denn die letzten Tage. Komm sei ehrlich, Du warst wütend auf mich und bist mir aus dem Weg gegangen!«, kam es leise von ihr. Svenjas Tonfall war zögernd, so als wäre ihr nicht wohl bei der Antwort. Ihren Kopf hielt sie gesenkt. Meine patzige Antwort blieb mir im Halse stecken und ich schaute sie genau an.

»Moment mal, Svenja was ist los?«, fragte ich sie.

»Nichts?!«, kam es erstickt von ihr zurück. Ich war ziemlich ratlos. 'Was geschah hier denn gerade? Hatte ich sie verletzt?'

Stockend fragte ich sie, »He... hab ich, ähmm irgendetwas falsch gemacht, hmm gesagt??«

Traurig sah sie mich an, schüttelte jedoch leicht den Kopf. Man konnte sehen, wie sie mit sich rang und dann wohl doch zu einem Entschluss kam. Sehr leise hörte ich ihre Stimme.

»Weißt Du, es ist nicht gerade leicht für mich«, fing sie langsam an.

»Wahrscheinlich denkt ihr Kerle, dass mir die Freunde nur so zufliegen. Das ich an jedem Finger ein Dutzend Jungs hab?«, den letzten Satz ließ sie mit einem Seufzen eine Weile in der Luft hängen. Ich war schon versucht, ihr zu antworten, aber da redete sie weiter.

»Aber das ist nicht so. Ich habe keine richtigen Freunde oder Freundinnen. Alle halten sich von mir fern. Entweder trauen sie sich nicht, mich anzusprechen oder sie sind neidisch auf mich. Mann, ich kann doch auch nichts dafür, dass mir das Lernen leicht fällt und ich einigermaßen aussehe!«, schloss sie fast ein wenig wütend ihren Vortrag. Das war es also, was sie bedrückte.

»He und was bin ich?«, versuchte ich sie aufzumuntern. Ein kleines Lächeln stahl sich in ihr Gesicht, welches aber gleich wieder verflog.

»Hm, ich hatte schon gehofft, dass wir Freunde werden, aber Dein Verhalten gestern ließ alte Wunden aufbrechen!«, antwortete sie.

Ich schluckte tapfer den Kloß herunter, der in meiner Kehle langsam hinauf kroch. 'Oh was hatte ich da bloß angestellt?', durchfuhr es mich kalt.

»Tut mir leid, das habe ich nicht gewollt«, murmelte ich »Weißt Du, so viele echte Freunde hatte ich außer Tim auch noch nicht und da vertrag ich es nicht so einfach, wenn mir einer etwas an den Kopf wirft!« Das Schweigen, welches meinen Worten folgte, lastete unangenehm auf uns.

Ich musste es brechen und wusste auch schon womit »Auch ich hatte gehofft, dass wir gute Freunde werden!« Ihr Kopf fuhr nach oben und sie sah mich durchdringend an.

»Kein Scheiß?«, fragte sie mich.

»Kein Scheiß!«, sagte ich überzeugt.

»Du hast mir in einer verdammt schwierigen Phase sehr geholfen, alleine deshalb bin ich Dir etwas schuldig«, fuhr ich fort. Bevor Svenja darauf etwas erwidern konnte, denn der Protest war in ihrem Gesicht abzulesen, redete ich einfach weiter.

»Aber das ist es nicht alleine. Ich will ehrlich zu Dir sein. Du erschienst mir früher auch unerreichbar, fast schon arrogant. Da hatte ich aber meinen Zwilling und wir haben uns sogar ab und zu darüber lustig gemacht. Als ich Dich dann kennen lernen durfte, habe ich meine Meinung schnell über Bord geworfen. Du warst so ganz anders. Hilfsbereit und sehr liebenswürdig und ich würde mich sehr freuen, wenn wir gute Freunde werden würden!«

Svenja hatte mich unverwandt angeschaut. Bei meinen letzten Worten lief sie sogar leicht rot an und lächelte verlegen.

»Danke. Auch mein Bild von Dir musste ich korrigieren, denn im Zusammenspiel mit Tim warst Du oft ziemlich bescheuert. Ihr habt immer Eure Späße auf Kosten der Anderen gemacht und eine vernünftige Unterhaltung war kaum möglich. So sehr mir das missfallen hat, fand ich Deine depressive Phase noch schlimmer. Da war mir der freche Jean einfach lieber! Und ich hoffe, dass unsere Freundschaft auch weiter von Bestand ist, wenn wir uns mal ein paar ehrliche Worte an den Kopf werfen müssen«, gab sie mir als Antwort. Ich nickte zustimmend, um kurz danach aufzuseufzen.

»Was ist?«, kam ihre prompte Frage.

»Nix!«, antworte ich, konnte mir ein Grinsen aber nicht verkneifen.

»Los, spuck es schon aus!«

»Schade, dass ich mir aus Mädels nichts mache«, grinste ich anzüglich.

»Blödar...«, kam es postwendend.

»Mann, der Traum aller pubertierenden Jungs ist meine Freundin, die neidvollen Blicke möchte ich mal sehen.« Diese Bemerkung brachte mir einen ziemlich harten Knuff in die Rippen ein.

»Bild Dir nur nix ein. Ich wäre als Freundin sehr besitzergreifend - Deinen Tim könntest Du Dir dann abschmatzen!«

»Den kann ich mir auch so abschmatzen«, murmelte ich zurück und der Hauch von Heiterkeit war verflogen.

»Na gut, weil Du das Thema nun selbst anschneidest, können wir uns die ehrlichen Worte auch jetzt gleich an den Kopf werfen, oder?!?«, versuchte sie es mal scherzhaft. Eigentlich wollte ich das überhaupt nicht.

»Okay, was ist Dir denn aufgefallen?«, versuchte ich interessiert zu klingen, obwohl mir nun gar nicht an einer Aufklärung gelegen war.

Svenja seufzte auf und sah mich zweifelnd an: »Bist Du Dir sicher, dass Du das hören willst? Ist so eine Idee von mir, also sei nicht bös und lass uns drüber reden, ja?« Da ich nichts darauf erwiderte, fing sie an, ihre Vermutungen vor mir auszubreiten.«

»Was denkst Du von Christian?«, kam ihre erste Frage.

»Nun ja, was Du auch mal zu mir gesagt hast. Endlich habe ich jemanden gefunden, mit dem ich auf gleicher Augenhöhe über das Thema reden kann!«, war meine Antwort.

»Okay, und welches Bild malst Du Dir beim Mailen und Chatten von ihm?«

Verdutzt sah ich sie an, »Wie meinst Du das?« Diese Frage hatte ich nun gar nicht erwartet.

»Komm sei ehrlich. Wen siehst Du vor Dir???«, fragte sie hartnäckig nach.

»Ich male mir gar kein Bild!«, antwortete ich genervt. Nun ja das stimmte nicht so ganz, aber ich wollte ihr diese Frage nicht beantworten.

Aber Svenja ließ nicht locker, »Gut, wenn Du es nicht machst, tue ich es für Dich«, sagte sie und machte eine bedeutungsschwangere Pause »TIM!!« Das Wort war leise gesprochen, aber es traf mich wie ein Hammer.

»NEIN!« Diese Antwort war einfach logisch und ich machte mich für einen harten Schlagabtausch bereit. Svenja sah mich nur fast mitleidig an und sagte einfach nichts.

»Das... stimmt einfach...«, mein Stottern machte die Sache auch nicht gerade einfacher und ich wurde mir der Falschheit meiner Worte bewusst.

»SCHEISSE!!«, schrie ich sie fast an. Ich fühlte mich verdammt schlecht und die Tränen schossen mir in die Augen.

»Ich will ihn doch nur einmal in meinen Armen...

...meine Lippen auf seine...

...einfach für ihn da sein...«, schluchzte ich fast zusammenhangslos.

»Ja ich weiß, aber dafür darfst Du nun nicht Christian benutzen. TIM ist Tim und Christian ist ein anderer Mensch. So hat er nie eine Chance bei Dir«, gab sie mir noch den 'Todesstoß'. Dabei legte sie leicht ihre Hand auf meinen Unterarm.

»Ja, ja Du hast gut reden«, versuchte ich eine trotzige Antwort

Eine Weile später sprach ich einfach aus, was ich bisher nur immer gedacht hatte.

»Mich macht diese Sehnsucht krank, ich fühle mich soo einsam. Du hast ja keine Ahnung wie das ist«, murmelte ich erstickt.

»Oh mein lieber Jean, wenn Du Dich mal da nicht irrst«, seufzte jetzt auch sie und der Tonfall, der meiner Verzweiflung nicht sehr nachstand, irritierte mich. Langsam hob ich meinen Kopf und wir sahen uns tief in die Augen. Ihre Verunsicherung war fast greifbar, aber ich war gerade nicht in der Lage, klar zu denken.

»Wie meinst Du das?«, fragte ich sie, aber irgendwie wollte ich die Antwort gar nicht wissen. Als würde meine Frage sie wieder in die Wirklichkeit zurückholen, verschwand die Verunsicherung sofort und ein kleines Lächeln stahl sich in ihr Gesicht.

»Moment, lass uns erst mal das eine Problem hier zu lösen, dann können wir uns anderen Sachen zu wenden«, hörte ich sie wieder mit fester Stimme sagen.

»Auch wenn Tim mit seiner Freundin jetzt eine Krise zu meistern hat, ist Dir doch wohl klar, dass er nie das werden kann, was Du Dir so sehr erhoffst?«, fragte sie leise aber eindringlich.

'Mann dieses Weib hatte es wirklich drauf, den Finger in die Wunde zu legen!', durchfuhr es mich und ich wollte schon wieder zu einer blöden Antwort ansetzen.

»Jean, ich seh Dir Deine Gedanken an, aber das ändert nichts an der Wahrheit. Tim steht doch mehr auf Frauen als auf Männer...«, fuhr sie weiter fort.

Ich wollte es nicht weiter hören und unterbrach sie.

»Man wird doch wohl noch träumen dürfen. Das kann mir keiner nehmen!«, brummte ich ungehalten.

»Nur scheint sich diese ganze Sache zu einem ausgewachsenen Alptraum zu entwickeln«, antwortete sie sanft und leise fügte sie noch hinzu, »Jean, lass den Traum los!«.

»NEIN - bitte nicht«, murmelte ich. »Es ist doch das Einzige, was mir geblieben ist!«

»Ja, ich weiß«, antwortete sie und ich glaubte ihr sofort, dass das so war. Schweigen breitete sich aus. Ich wollte dieses Thema nicht weiter verfolgen, aber Svenja machte auch keine Anstalten, das Schweigen zu brechen.

»Und nun?« Es waren doch meine Worte, die die Stille beendeten.

»Keine Ahnung, sag Du es mir!«, forderte sie mich auf.

»Soweit habe ich noch nie gedacht, meistens endeten meine Träume in einem Happy End!?!«

»Na ja kommt drauf an, wie das Ende so aussieht. Ich sage ja nicht, dass es unbedingt unerfreulich sein muss!«

»Wie meinst Du das?«, fragte ich sie.

Svenja runzelte ihre Stirn. »Kommt drauf an, was Du alles als Happy-End betrachtest??«

Obwohl mir nicht so richtig danach war, zauberte die Frage ein Grinsen auf meine Lippen.

»Aaaaaach weißt Duuu«, fing ich langsam und genüsslich an »Tim und ich wachen morgens in meinem Bett auf, seine Finger wandern suchend an meinem Körper hinunter...«

»HÖR AUF!«, rief Svenja entrüstet »so genau wollte ich es auch nicht hören!!«

»Du hast gefragt!«

»Ja, ja aber ich wollte nicht in die Sexpraktiken pubertierender Jungens eingeweiht werden!«, brubbelte sie aufgebracht.

Dann stellte sie die Frage, die ich mir auch schon ein paar Mal gestellt hatte, »Möchtest Du denn Eure Freundschaft wieder?«

»Ehrliche Antwort??«, fragte ich. Auf diese Worte bekam ich keine Reaktion, jedenfalls keine mündliche, ihre hochgezogenen Augenbrauen waren Antwort genug.

»Hmm, nein zur Zeit nicht. Ich würde immer mehr wollen. Ich sehe halt zurzeit in ihm immer noch DEN idealen Boyfriend, alles andere wäre mir nicht genug!« Dieses Eingeständnis fiel mir zwar schwer, aber es war genau das, was ich fühlte.

»Aha«, war ihre ganze Antwort und dieses Wort drückte Verständnis, aber auch ein gewisses Missfallen aus.

»Was 'aha'? Komm lass Dich nicht bitten, Dir gefällt doch etwas nicht!«, wollte ich natürlich wissen.

»Hast Du auch mal an Tim gedacht?«, formulierte sie vorsichtig ihre Frage.

Wumm - das hatte gesessen. Was sollte diese Frage? Er hatte sich doch die dumme Zicke gesucht und sich immer mehr entfernt.

»Du hast ihn in der letzten Zeit ganz schön im Regen stehen lassen!«, kam der nächste Hammer von meiner »Freundin«.

WIE BITTE?? Jetzt dreht sie doch voll durch. Wer hatte denn keine Zeit mehr? Wem ist denn gar nicht aufgefallen, dass ich krank war? Die letzte Frage musste ich wohl, so aufgebracht wie ich war, laut formuliert haben.

»Jean Neumann das ist nicht wahr!«, kam es ziemlich heftig von Svenja, nicht die Worte, sondern der Tonfall brachte mich von meinen Grübeleien in die Realität zurück. Sauer sah ich sie an, aber die gerunzelte Stirn und die wütenden Augen ließen jeden Widerstand im Keim ersticken.

»Damit Du die Sache mal nicht zu einseitig betrachtest, möchte ich etwas klarstellen. Wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß, hat Tim jeden Tag bei Euch angerufen, aber Du warst ja nicht ansprechbar. Natürlich hat er Dich in gewisser Weise hintergangen, weil er Dir einfach so Knall auf Fall seine Freundin präsentiert hat, aber habt ihr über dieses Thema eigentlich einmal vernünftig geredet??«, grummelte sie weiter. Mir fielen die Worte meiner Eltern ein, die mir von den Anrufen Tim's erzählt hatten. Auch war er ja einmal zu Besuch da - nur war ich nicht richtig in der Lage gewesen mit ihm zu reden. Ich wurde nachdenklich. Svenja ließ mich in Ruhe und holte etwas zu trinken.

Nach einer Weile fragte sie mich »Na, was denkst Du?«

»Vielleicht hast Du ja Recht, aber zurzeit kann ich mir ein vernünftiges Gespräch mit ihm nicht vorstellen. Ich hab einfach Angst, dass die ganze Sache kippt«, gab ich seufzend zu.

»Ich hab da so eine Idee«, begann Svenja nervös. Neugierig sah ich sie an.

»Soll ich mal vorsichtig vorfühlen?«, gespannt sah sie mich an.

Irgendwie war mir nicht wohl bei dem Gedanken. »Ich glaube nicht, dass Du meine Gespräche führen kannst«, hielt ich ihr entgegen.

»Nein, nein«, vehement schüttelte sie den Kopf. »DAS Gespräch musst Du schon alleine führen, aber ich kann ja mal schauen, wie es um Tim im Allgemeinen so bestellt ist?«

Immer noch nicht sehr überzeugt von ihrer Idee sah ich sie prüfend an.

»Warum?«

Diese Frage schien sie zu überraschen, nein eher zu erschrecken. Etwas hilflos suchte sie nach Worten.

»Na ja... hm... weißt Du, ...also ich will der blöden Planschkuh eine Lehre erteilen und...«, stotterte sie ziemlich los, aber leiser und flüssiger kam noch etwas hinterher, »Dir zeigen, wie ernst es mir mit unserer Freundschaft ist!«

Irgendetwas fehlte oder es steckte mehr hinter den Worten. Ich konnte es nicht greifen. Svenja verschwieg mir was, aber ich hatte nun schon wirklich mit genug Problemen zu kämpfen. Außerdem war es ja nur so eine Ahnung von mir, zu wenig, um es formulieren zu können.

»In Ordnung, ich vertrau Dir«, gab ich ihr mein Einverständnis und sie lächelte mich an.

»Sag mal, wo ist denn Euer Klo?«, wollte ich dann von ihr wissen.

»Links den Flur entlang und dann die letzte Tür auf der rechten Seite«, erklärte sie mir den Weg. Zügig folgte ich ihrer Wegbeschreibung. Als ich die Zimmertür aufmachte, war es mir, als würde auf der anderen Seite die Tür gerade geschlossen. Ohne weiter darüber nachzudenken, suchte ich die Toilette auf. Ich nutzte die Räumlichkeiten nicht nur, um mein Geschäft zu erledigen. Nein, diese himmlische Ruhe gab mir die Möglichkeit, den einen oder anderen Gedanken noch einmal konsequent zu verfolgen. So dauerte es eine Weile bis ich die Örtlichkeit wieder verließ.

Auf dem Flur hörte ich aus Svenjas Zimmer laute Stimmen.

»Schau an, schau an, meine kleine Schwester hat endlich einen Lover!«, hörte ich eine Männerstimme etwas belustigt erklingen.

»Das geht Dich gar nichts an. Jean ist ein guter Freund«, hörte ich ihre Antwort, der Rest war undeutliches Gemurmel.

»He dann kann ich mich ja mal versuchen. Dein Freund ist ein absoluter Schnuckel«, kam es herausfordernd von der anderen Person in ihrem Zimmer.

»Nein!«, fuhr Svenja ihn fast an. »Du lässt die Finger von ihm. Dein Verschleiß geht in die Hunderte und ich werde alles tun, damit Du nicht mit einer neuen Eroberung angeben kannst.«

'Moment mal, die reden ja über mich. Ihr Bruder muss zu ihr ins Zimmer gegangen sein', überlegte ich. Vorsichtig schlich ich näher, denn ich war gespannt, was sie noch so über mich erzählten. Leider hatte ich die Rechnung ohne den »liebenswürdigen« Vierbeiner gemacht, der auch immer noch auf dem Flur herumlungerte. Entweder mochte Franka keine Lauscher oder sie mochte mich nicht! Jedenfalls bellte sie kurz und ich schrak kräftig zusammen, so sehr, dass ich an den Kleiderständer stieß. Der war meiner »Männlichkeit« nicht gewachsen und kippte wie in Zeitlupe um. Mein Augenmerk war viel zu sehr auf die Hündin gerichtet, als mich mit dem Möbelstück zu beschäftigen. Franka beobachte mich genau und ich war mir sicher, dass sie mich angrinste, als ich mir mein schmerzendes Schienbein rieb. Auf jeden Fall war meine Lauschaktion gescheitert, denn die angelehnte Zimmertür wurde aufgerissen und Svenja stand in der Tür.

»Franka au...!«, befahl sie der Hündin, nur blieb ihr das letzte Wort in der Kehle stecken. Ihre Augen blitzten noch von der Auseinandersetzung, die sie bis eben mit ihrem Bruder hatte, aber das Chaos draußen im Flur verschlug ihr die Sprache. Ich konnte sehr gut erkennen, dass sie sich redliche Mühe gab, ein Lachen zu unterdrücken. Es musste auch zu komisch aussehen, wie ich mich vorgebeugt hatte, um mein Bein zu reiben, so als würde ich mich vor Franka verbeugen. Ringsherum lagen die Klamotten vom Kleiderständer.

»Ja, ja lach mich nur aus. Dein Wischmopp hier wollte gerade über mich herfallen!«, grummelte ich rum, konnte mir aber ein Grinsen auch nicht verkneifen. Svenja schüttelte nur den Kopf und beugte sich zu Franka runter.

»Hast Du gehört, wie böse Jean Dich genannt hat? Wischmopppp???? Ich glaube, Du darfst ihn doch mal beißen!!!«, redete sie auf die Hündin ein. Und der blöde Köter tat auch noch so, als würde er bzw. sie genau verstehen, was man von ihr wollte. Jedenfalls ging der Schwanz wie ein Propeller und mir war, als würde sie mir einen gierigen Blick zu werfen.

»Schön, jetzt haben sich die Weiber vollständig gegen mich verschworen«, stöhnte ich gespielt auf. Svenja lächelte spöttisch, aber da tönte es auf einmal aus ihrem Zimmer.

»Dann versuch es doch mal mit mir«, hörte ich diese süße Stimme. Innerhalb von Sekunden geschahen mehrere Dinge auf einmal. Mir blieb die Spucke weg, ich wurde eindeutig knallrot, Svenja fuhr zu ihrem Bruder herum und ihre Stirn umwölkte sich in ihrem Zorn furchteinflößend.

»Felix Johannes Schüttler, ich sag es Dir nicht noch einmal. Lass meinen Freund in RUHE!!«, blaffte sie ihn wütend an. Der grüne Haarschopf erschien im Türrahmen, aber als er das lustige Arrangement auf dem Flur sah, konnte er nicht an sich halten. Laut prustete er los. Auch wenn sein Lachen größtenteils auf meine Kosten geschah, fand ich es einfach unwiderstehlich. Ich konnte nicht anders und musste mit einstimmen. So einfach war Svenja wohl nicht zu beruhigen, sie schnappte sich ihre Hündin und verschwand im Zimmer. Über die Schulter rief sie ihren Bruder noch etwas scheinheilig zu:

»Felix sei so lieb und räum das Chaos weg. Jean und ich haben noch etwas zu bereden!« Na ja so fies konnte ich dann doch nicht sein. Fast vorsichtig streckte ich ihm meine Hand entgegen.

»Jean Neumann«, wenigstens wollte ich mich anständig vorstellen. Felix grinste mich an.

»Na meinen Namen haste ja eben gehört, aber schön Dich kennen zulernen.« Dabei spürte ich seinen warmen festen Händedruck. Mir wurde schlagartig schwindlig, schwummrig - ich war einfach hin und weg. Fast fluchtartig zog ich meine Hand zurück. Ich brauchte meine Hand sofort zurück, sonst verfiel ich diesem Jungen hier und jetzt auf dem Flur mit Haut und Haaren. Mann, hatte ich ein Kribbeln im Bauch. Ich bückte mich schnell zu den Kleidungsstücken auf dem Boden und wollte mich ablenken - aber denkste!! Er legte seine schlanken Finger auf meine Schulter, kam mir nahe, fast zu nahe, sein Körpergeruch vermischt mit einem Deodorant stieg mir betörend in die Nase.

»Ne lass mal mein Kleiner. Geh lieber zu meiner Schwester, sonst hab ich die nächsten Wochen keine ruhige Minute. Das schaff ich schon alleine!«

'Oh Mann, diese Stimme, diese Augen - Jean reiß Dich zusammen', rief ich mich innerlich zur Ordnung, während Felix seine schönen grau-blauen Augen auf mir ruhen ließ. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Widerstrebend richtete ich mich wieder auf. Einerseits wollte ich diesen Flur nicht verlassen, anderseits sagte mir meine Vernunft, wenn ich nicht sofort wegging, konnte sonst was passieren. Diese Entscheidung wurde mir abgenommen. Ich spürte seine Hand auf meinem Hintern, sanft schob er mich zu Svenjas Tür.

»Los zisch ab!«, forderte er mich auf, ließ die Hand aber etwas länger als nötig auf meinem Allerwertesten. Wie in Trance ging ich in ihr Zimmer, schloss die Tür und lehnte mich seufzend an sie.

»Oh nein!«, hörte ich meine Freundin sagen. »Hat er Dich schon in seinen Fängen.« Resignierend verzog sie ihren Mund - verwundert sah ich sie an.

»Wie..., was... meinst Du?«, stotterte ich.

»Ich brauch bloß Deinen träumerischen Blick sowie Dein dämliches Grinsen im Gesicht zu sehen und schon weiß ich Bescheid!«

»Heee????«, entfuhr es mir und ich wusste immer noch nicht, wovon sie redete.

»Ach komm Jean, mein Bruderherz hat Dich wie eine Landpomeranze innerhalb von Sekunden um den Finger gewickelt. Du bist ihm ja jetzt schon hemmungslos verfallen!«, offenbarte sie mir leicht vorwurfsvoll. Oh je, meine Verlegenheit machte sich mit einer tiefroten Färbung meines Gesichtes bemerkbar. Nervös fummelte ich mit meinen Fingern an meiner Hosentasche.

Also wenn sie mal in Fahrt war, dann war sie nicht zu bremsen. So redete sie weiter auf mich ein.

»Sag bloß, Dich hat noch keiner angemacht. Du bist rot wie eine Tomate. Das braucht Dir übrigens nicht peinlich zu sein und einzubilden brauchst Du Dir darauf auch nichts. Du bist nicht der Erste und bestimmt nicht der Letzte, bei dem es Felix probiert!«

Moment irgendetwas passte hier nicht so richtig zusammen. Sie sprach über ihren Bruder, als wenn er... . Okay ich hab es vorhin ja auch angenommen, aber annehmen und es wirklich wissen sind doch zwei paar Schuhe, oder!?! Ich holte tief Luft.

»Ist Dein Bruder schwul????«, stieß ich schnell hervor, bevor ich es mir wieder anders überlegen würde. Svenjas Redestrom versiegte.

»Was, bitteschön, ist an meinem Bruder nicht schwul?«, fragte sie mich spöttisch.

»Hm..., na ja..., er scheint nicht tuckig zu sein«, stammelte ich.

»Soll ich ihn mal fragen, ob er extra für Dich seine Handtasche ausgräbt!«, frotzelte sie.

Aber ihr Satz drang gar nicht bis zu mir durch, denn ich war in meinen Gedanken versunken. Innerhalb kürzester Zeit lernte ich einen Schwulen nach dem Anderen kennen und sie erfüllten das vielbemühte Klischee in keiner Weise. Okay, persönlich hatte ich jetzt nur Felix gesehen und ich war dabei, mich über beide Ohren in ihn zu verlieben, aber mein Leben schien so oder so an einem Wendepunkt angekommen zu sein.

»Jean??«, hörte ich Svenja fragen und tauchte aus meinen Gedanken wieder auf. Besorgt sah sie mich an.

»Alles in Ordnung?«

»Yeb nur ein bisschen viel auf einmal«, gestand ich ihr.

»Dein Bruder ist also schwul?!«, stellte ich fest.

»Warum hast Du das nie gesagt?«, schob ich noch vorwurfsvoll hinterher.

»Weil das Keinen etwas angeht. Du willst ja auch nicht, dass ich Dich überall oute!«, entgegnete sie mir.

»Moment mal, Du wusstest es auch von mir. Vielleicht hätte es mir ein wenig geholfen, wenn ich mal mit jemandem darüber hätte reden können?!«, murmelte ich.

»Jean, wenn mein Bruder der Meinung ist, Du solltest es wissen, dann bleibt die Entscheidung immer noch bei ihm. So sehr wir uns auch manchmal fetzen, ich liebe meinen Bruder und werde ihn schützen, wo ich kann!«, sagte sie, aber in ihren Augen war ein nervöses Flackern, welches nicht zu diesen Worten passte.

»Aha, Du musst ihn also vor mir beschützen?«, fragte ich nun spöttisch.

»Dreh mir nicht das Wort im Munde herum. Nein, Dich muss ich eher vor ihm beschützen. Trotzdem stand es mir nicht zu, es Dir einfach so zu sagen. Deshalb habe ich Dich auch unter anderem heute zu mir eingeladen, damit Du es eventuell alleine herausfindest.«

»Warum musst Du mich vor ihm beschützen? Ich bin ja wohl alt genug!«

Svenja verdrehte die Augen.

»Ja, das habe ich gesehen. Am liebsten wärst Du ihm doch gleich an die Wäsche gegangen. Aber ich bin ja selbst schuld, ich habe es kommen sehen!«

»Du hast es gewusst???«, fragte ich ungläubig.

»Ja, ich kenn den Geschmack meines Bruders zu Genüge. Jean lass die Finger von ihm, bitte«, bat sie mich.

»Warum?«

»Felix wechselt seine Freunde wie andere die Unterwäsche und hinterlässt dann gebrochene Herzen. Er ist ein Filou, meint es ja gar nicht bös, aber ich will Dir das ersparen«, redete sie eindringlich auf mich ein.

»Aber...«, entgegnete ich.

»Nix aber und damit Du erst einmal auf andere Gedanken kommst, will ich Dir meine Hündin näher bringen. Franka komm her!«, rief sie den Hund. Schwanzwedelnd kam Franka, warf sich vor ihr auf den Boden und Svenja kraulte ihr den Bauch.

»Los Du Angsthase komm her«, forderte sie mich auf. Leise klopfte es an der Tür und die Hündin spitzte die Ohren. Svenja runzelte die Stirn, ihre Ablehnung war ihr am Gesicht abzusehen.

»Ja, was ist?«, hörte ich sie unwirsch fragen. Langsam, fast zögerlich öffnete sich die Tür und ein grüner Schopf schaute um die Ecke.

»Hat die kleine Schwester noch weitere Wünsche an ihren überforderten Bruder, die sie so herzallerliebst äußern kann?«, hörte ich Felix fragen, wobei seine Augen aber auf mich gerichtet waren. Seine Stimme zog mich sofort wieder in ihren Bann.

»Felix!«, erhob sie warnend ihre Stimme. Sein Blick wanderte von mir zu ihr und er setzte einen Dackelblick auf, der bei mir jeden Widerstand hätte schmelzen lassen. Svenja schien aber damit Erfahrung zu haben, denn sie behielt ihre abweisende Miene.

»Macht nur weiter, ich werde nicht stören«, antwortete er. So konnte man eine Aufforderung wieder zu verschwinden auch entgegnen. Lässig blieb er an der Tür gelehnt stehen und sein Blick ruhte auf meiner Person. Svenja winkte resigniert ab. Jetzt widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit mir und der Hündin. So nach und nach überzeugte sie mich, dass Franka doch harmlos war und nur spielen wollte. Ehrlich gesagt, war mir gar nicht bewusst, was sie mir alles erklärte. Ich spürte seine Anwesenheit und war viel zu abgelenkt, um über meine Angst vor Hunden überhaupt nachdenken zu können. So streichelte ich die Hündin eigentlich nur, damit meine Hände eine Beschäftigung hatten. Nach einer Weile gab Felix seine Position an der Tür auf und kam näher - gefährlich nahe!! Sein Duft stieg mir in die Nase, das Kribbeln im Bauch wurde wieder stärker. Nervös wechselte ich meinen Sitzplatz, setzte mich jetzt so, das Svenja zwischen uns saß. Diese runzelte die Stirn und Felix lächelte ein wenig. Trotz allem entwickelte sich ein amüsanter Nachmittag, mir war seine Nähe nicht unangenehm, nein eher sehr erregend. Verstohlen musterte ich ihn ab und zu, wenn sein Blick nicht auf mir ruhte. Er sah einfach sehr gut aus, die Schönheit musste in ihrer Familie liegen. Er hatte eine sportlich-schlanke Figur, lange Beine, schlanke lange Finger, eine kleine Stupsnase, grau-blaue Augen, die manchmal einen verträumten Glanz hatten, volle Lippen und sogar die grünen Haare passten zu ihm. Seine Art zu reden war sanft, immer mit einem kleinen sarkastischen Unterton. Ob ich es nun wahr haben wollte oder nicht - ich hatte mich bis über beide Ohren in den Bruder meiner Freundin verknallt.

Nach ca. zwei Stunden verabschiedete sich Felix dann und ich blickte ihm traurig hinterher. Svenja schüttelte amüsiert ihren Kopf.

»Was?«, brubbelte ich.

»Mannomann, wenn ich nicht als Anstandsdame hier gewesen wäre«, grinste sie anzüglich.

»Die hatten wir nicht nötig!!«, rief ich entrüstet.

»Klar, ihr habt Euch ja schon mit den Blicken ausgezogen. Ich werd erst einmal frische Luft reinlassen, soviel Hormone wie hier herumschwirren«, ärgerte sie mich und das war noch nicht alles.

»Außerdem scheint Dir Deine Hose ziemlich eng geworden zu sein!«

Ich lief so rot an wie ein Feuermelder. Mann, war mir das peinlich, Svenja hatte doch wirklich meine Erregung mitbekommen.

»Aber Jean, ich bleib bei meiner Meinung. Felix ist nichts für Dich!«

»Ja, ja.«

»He, ich mein das ernst. Dir schwebt doch etwas Dauerhaftes vor und dafür ist mein Bruderherz nicht der Typ. Tut mir leid«, versuchte sie ihre Meinung zu begründen. Mein Blick irrte auf die Uhr, die auf ihren Schreibtisch stand.

»Scheiße!«, entfuhr es mir. Erschrocken sah Svenja mich an. Sie dachte wohl, das wäre meine Reaktion auf ihre Bitte gewesen.

»Nein, ich meine nicht Dich. Ich hab nur zu Hause verlauten lassen, dass ich gegen 17 Uhr wieder zurück bin und nun ist es schon halb sechs. Ich denke aber über Deine Worte nach, versprochen!«, sagte ich. Zweifelnd sah sie mich an.

»Mann, Dein Bruder ist ein echt geiler Typ, außerdem ist es der erste Schwule, den ich persönlich getroffen habe und der baggert mich gleich so an. Das muss ich erst verkraften!«, versuchte ich sie zu beschwichtigen.

»Ich hab es gewusst«, stöhnte sie genervt auf, aber sie schien mit meiner Entscheidung nicht ganz unzufrieden zu sein. Dann brachte sie mich zur Wohnungstür und zur Verabschiedung streichelte ich sogar noch einmal den Hund, was war ich für ein Held!! Leider bekam ich Felix nicht zu sehen, aber er war bestimmt gar nicht mehr in der Wohnung.

Langsam und in Gedanken versunken ging ich die Treppe hinunter. So merkte ich nicht, wie sich jemand hinter mir aufbaute.

»Na Kleiner, Du willst doch nicht etwa gehen, ohne Dich richtig zu verabschieden?«, säuselte mir eine leise Stimme ins Ohr. Erschrocken fuhr ich herum.

»Felix«, brachte ich gerade noch so heraus. Da stand er vor mir mit einem frechen Grinsen im Gesicht. Langsam kam er näher, ich versuchte zurück zu weichen. So fand ich mich Sekunden später in einer Flurecke wieder, vor mir ein ziemlich schnuckeliger Kerl. Seine Augen funkelten belustigt.

»Soso, Du bist also derjenige, der meiner kleinen Schwester den Kopf verdreht«, kam es von ihm - nur mit so etwas hatte ich nun gar nicht gerechnet.

»Dabei bist Du viel zu schade für die holde Weiblichkeit«, murmelte er mehr zu sich, straffte sich und fuhr sehr ernst fort:

»Pass auf mein Kleiner, wenn Du ihr weh tust oder das Herz brichst, bekommst Du es mit mir zu tun. Sie hat nicht sehr viele Freunde und von Dir scheint sie eine Menge zu halten, jedenfalls redet sie fast ununterbrochen von Dir. Du solltest...!« Seine Augen hatten mich sehr genau beobachtet und waren von dem Ergebnis überrascht.

Jedoch war er nicht halb so überrascht wie meinereiner, denn dieses Geständnis von Felix haute mich einfach von Socken. Jetzt passte auch alles viel besser in ein Gesamtbild, vor allen die Bemerkungen von Svenja, die ich bisher nicht richtig einordnen konnte.

'Oh je, sollte Svenja etwa mit der gleichen unglücklichen, weil unerfüllbaren Liebe gestraft sein, wie ich?', fuhr es mir durch den Kopf.

Meine verwunderte, na ja wohl eher entsetzte Miene brachte ihn aus dem Konzept. Felix stockte und schaute mir tief in die Augen. Meine Beine wurden wieder weich wie Pudding und aus meiner Überraschung wurde eine kribblige Nervosität. Er setzte seine Musterung fort, ich hatte meine Augen schon lange verlegen zu Boden gesenkt. Dann fühlte ich seine schlanken Finger unter meinem Kinn und langsam hob er es an, so dass ich in seine herrlichen Augen schauen konnte. Sein Gesicht hatte einen verträumten Ausdruck angenommen. Leise seufzte er.

»Meine arme kleine Schwester hat sich wieder den Falschen ausgesucht!«, flüsterte er mehr zu sich. Dann strich seine Hand sanft über meinen Oberkörper.

»Jean, Du bist schwul?!« Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Nur bekam ich kein Wort heraus, ich war mehr mit der Hand auf meinem Oberkörper beschäftigt und den Reaktionen, die sie bei mir auslöste - Gänsehaut war noch mein geringstes Problem. Felix erwartete gar keine Reaktion von mir, sondern redete einfach weiter.

»Deshalb hat Dich meine Schwester so beschützt!«, leise lachte er auf.

»Sie wollte Dich vor mir retten, denn dass wir beide denselben Geschmack haben, hat sie schon lange herausgefunden. Kleiner, bist Du das überhaupt wert??« Sein Blick wurde bei den letzten Worten hart, seine Augen durchbohrten mich. Ich war ihm ausgeliefert, denn er verstellte mir jeglichen Fluchtweg. Nervös wollte ich meinen Blick wieder nach unten richten, denn wenn ich noch länger in diese Augen blicken musste, konnte wer weiß was passieren.

»Oh Mann, das wird mir wirklich noch sehr leid tun! Weißt Du eigentlich, wie niedlich Du bist? Aber ich werde meine Finger von Dir lassen, den Gefallen bin ich ihr mindestens schuldig!«, seufzte er.

'Wer sagte denn, dass ich wollte, dass er die Finger von mir ließ??', dachte ich mir. Mein Unbehagen wuchs. Felix war echt schnuckelig, aber ich schien wirklich nicht mehr als ein »Jagdopfer« für ihn zu sein. Außerdem passte es mir nicht, dass er hier so einfach über mich bestimmen wollte.

»Wer sagt denn, dass ich überhaupt etwas von DIR will??!!«, stieß ich hervor, darauf bedacht, dass meine Stimme mich nicht verriet. Verwundert zog er die Augenbrauen hoch.

»Außerdem weiß Deine Schwester, dass ich schwul bin!«, schob ich noch triumphierend hinterher. Damit wollte ich eine Reaktion von ihm erzwingen. Das, was dann kam, war einfach nur...

Felix näherte sich mir noch mehr, sein Kopf senkte sich zu mir. Ich war wie erstarrt, sah seine Lippen. Die wurden immer größer, vor allem machte sich Panik in mir breit. Was wollte er von...? Bevor ich diesen Gedanken zu Ende führen konnte, berührten mich seine Lippen. Zärtlich legten sie sich auf meinen Mund. Der Kuss traf mich wie ein elektrischer Schlag, meine Beine gaben nach. Zum Glück lehnte ich an der Wand, sonst wäre ich einfach umgefallen. Mir war, als dauerte es eine Ewigkeit. Nach einer Weile öffnete ich meine Augen, die ich in meiner Panik vorher fest geschlossen hatte.

Ich sah einen lächelnden Felix vor mir. Sein Lächeln war wissend, nicht überheblich. Seine Hand streichelte jetzt an meinem Oberkörper abwärts - oh man sehr viel tiefer durfte sie aber nicht mehr wandern.

»Dein erster Kuss, stimmts?«, hörte ich ihn, ohne dass er seine Hand stoppte. Dann lag sie an delikater Stelle - er musste es einfach fühlen, dass er sehr viele Hormone freigesetzt hatte.

»Hm und Du willst nichts von mir. Der hier sagt was anderes«, brummte er, wobei er unterhalb meines Gürtels fester zupackte.

»Lass das!«, wollte ich ihn anschreien, aber meine Stimme krächzte nur. Ich war mir nicht einmal sicher, ob die Worte überhaupt zu verstehen waren. Er musste jedoch meine Ablehnung, die eigentlich gar keine war, sondern nur mein Unwissen widerspiegelte, gespürt haben, denn er ging ein Stück zurück und gab mir den Weg frei. Da er das aber falsch auslegte, hörte ich ihn noch entschuldigend sagen.

»Keine Angst Jean, ich tue Dir nichts«. Dabei sah ich zum ersten Mal ein wenig Traurigkeit über sein Gesicht huschen, welches sonst immer von einem verwegenen Grinsen gezeichnet war. Mir tat es fast ein wenig leid, aber ich musste hier weg - das wurde mir doch auf einmal alles zu viel. Langsam schob ich mich an ihm vorbei und wollte mich auf den Heimweg machen, da spürte ich seine Hand auf meinem Oberarm. Nervös drehte ich mich noch einmal zu ihm um.

'Hatte er es sich anders überlegt?' Aber da hörte ich seine Stimme, aus der jede Fröhlichkeit gewichen war.

»Jean, Du darfst nicht weiter davor davonlaufen - akzeptiere es. Ich weiß, wovon ich rede und wenn Du es willst, können wir jederzeit darüber reden!«

Diese Worte waren das Letzte, was ich heute von ihm hörte, denn er drehte sich um und ging die Treppen zur Wohnung hinauf.

'Was sollten diese Worte?', murmelte ich verwirrt. Erst knutschte er mich ab, dann warf er mir solchen Scheiß an den Kopf. Total aufgedreht machte ich mich auf den Nachhauseweg. Der Nachmittag war wirklich der Hammer. Trotz aller Erlebnisse ging mir Felix nicht aus dem Kopf, vor allem nicht seine letzten Worte.

Hatte ich es nicht akzeptiert, schwul zu sein??!!

Hatte ich nicht Svenja davon erzählt??!!

Habe ich nicht bei NiSt schwule Bekannte gefunden und tauschte Mails mit ihnen aus??!! Mir war, als würde jemand auf meiner Schulter sitzen und mir leise Widerworte ins Ohr flüstern.

'Hast Du es Deinen Eltern erzählt??'

'Wie reagierst Du selbst auf Schwule??' Lauter solche Gedanken, aber der wirkliche Hammer kam erst noch.

'Warum erzählst Du es nicht Deinem besten Freund??? Was ist mit Tim???'

»Weil ich nicht will!«, rief ich aufgebracht. Diese laut ausgesprochenen Worte ließen mich zusammenschrecken, zum Glück war niemand in meiner unmittelbaren Umgebung. Auf jeden Fall rissen sie mich aus meinen Grübeleien. Unbewusst wanderte meine Zunge über meine Lippen.

'Ja Jean, Du hast heute Deinen ersten Kuss von einem Jungen bekommen und zugegebenermaßen von einem echt Süßen dazu!' Dieser Gedanke zauberte mir nun doch ein Lächeln auf die Lippen, trotz der düsteren Überlegungen. Es war kein Zungenkuss, einfach nur ein sachtes Berühren unserer Lippen, aber ich fand es einfach himmlisch. Das brachte mich natürlich gleich zu dem nächsten Problem.

Einer Person namens Felix.

Der Junge machte mich schwach. Das Ausgeflippte an ihm traf meinen Nerv, aber etwas anderes faszinierte mich viel mehr. Zum Ersten die Bitte von Svenja, mich mit ihm nicht einzulassen und zum Zweiten, seine Aussage, dass er seine Finger von mir lässt. Da fand ich endlich jemanden, der auch schwul war, attraktiv aussah und sollte ihn gleich wieder vergessen??

'Aber vielleicht bist Du für ihn nur ein neues Unschuldslamm, das man danach wieder fallen lässt', flüsterte mir wieder diese Stimme ins Ohr.

'Dazu gehören immer Zwei', beantwortete ich mir diese Frage selbst. Auf jeden Fall wollte ich ihn wieder sehen und das sollte mir ja bei Svenja ab und zu gelingen. So in Gedanken versunken, traf ich dann zu Hause ein. Wie nicht anders zu erwarten, schaute meine Mutter vorwurfsvoll. So brachte ich Svenja und Hausaufgaben ins Spiel, was die griesgrämige Miene meiner Mutter aufhellte. Bevor sie ihre Befragung fortsetzen konnte, verschwand ich in meinem Zimmer. Fast automatisch schaltete ich meinen PC an und als meinem Hirn diese Handlung bewusst wurde, setzte ein leichtes Kribbeln ein.

'Vielleicht hatte Dark ja schon geantwortet', murmelte ich nervös. Da klopfte es an meiner Tür.

»Ja«, rief ich etwas unwirsch. Die Tür öffnete sich und meine Mutter steckte ihren Kopf hinein.

»Bevor Du wieder am Computer versumpfst, habe ich noch eine Aufgabe für Dich!«, hörte ich sie in diesem bestimmten Ton sagen, die jede Verhandlung über den Sinn der Aufgabe sofort im Keim erstickte. Resignierend erhob ich mich von dem Stuhl und ging ihr entgegen.

»Und die wäre?«

»Es tut mir wirklich leid, aber Du müsstest kurz zum Supermarkt um die Ecke, mir ist die Margarine ausgegangen.«

'Klar, mal kurz um die Ecke, das waren 15 Minuten strammer Fußmarsch', ging es mir durch den Kopf, aber den Gedanken behielt ich dann doch lieber für mich. Bewaffnet mit Geld und einem Einkaufsbeutel machte ich mich auf den Weg. Nun musste ich mich noch eine Stunde gedulden bis ich Gewissheit hatte, ob meine Nervosität berechtigt war. Wie es nicht anders zu erwarten war, drängelten sich die Menschen nur so im Supermarkt. Da ich keinen Einkaufswagen brauchte, schob ich mich durch die Menschenmassen zum Eingang. Meine Mutter hatte natürlich die Gelegenheit genutzt und mir noch mehr zum Einkaufen aufgetragen.

Zuerst musste ich zur Käsetheke. Von weitem sah ich schon, dass sie zum Glück nicht so voll war. Eigentlich befand sich nur ein Kunde vor mir, so konnte ich meinen Blick über die Auslagen streifen lassen, um dann unwillkürlich an dem Kunden hängen zu bleiben. Irgendetwas irritierte mich an seinen Bewegungen. Er schien mit den Händen zu reden, aber in den Gesten war noch etwas anderes. Von den Händen wanderten meine Augen höher. Ich hatte einen jungen Mann, na ja eher einen Boy, etwas älter als ich vor mir. Er war mehr als nett anzusehen. Schlanke Figur, etwas kleiner als meine »überragenden« 1,80 m, dunkle Haare mit kleinen blonden Strähnchen drin, seine Wangen waren vor Aufregung etwas gerötet. Die Verkäuferin verstand wohl nicht ganz, was genau er wollte und somit versuchte er seinen Aussagen mit den Händen noch Nachdruck zu geben. Seine Stimme war sanft, fast etwas zu leise, aber ein lautes Organ hätte zu der ganzen Person auch nicht gepasst. Ich bekam gar nicht mit, was er mit der Verkäuferin debattierte, ich beobachtete ihn nur - nein ich starrte ihn an. Und dann fiel der Groschen, mir war augenblicklich klar, was mich an diesem Menschen faszinierte.

Er war schwul ...

Er musste einfach schwul sein ....

Es passte zu gut. Verwundert schüttelte ich den Kopf. Erkannte ich meine »Spezies« ab sofort mit einem Blick? Bei dem Gedanken musste ich unwillkürlich grinsen. Mein Nebenmann, der von mir in Gedanken so eben geoutete Schwule, bekam mein Lächeln mit und hob verlegen die Schultern. Ein kleines Lächeln stahl sich auch in sein Gesicht und genau diese Gesten schienen meine Annahme noch mehr zu bestätigen. Er sah einfach süß aus. Die Verkäuferin war gerade mit der Schneidemaschine beschäftigt und so konnten wir uns mit uns beschäftigen. Sein Blick glitt prüfend an mir hinunter, jetzt kam ich mir gemustert vor. Dann musste er sich wieder der Theke zuwenden, denn er bekam sein Paket zugereicht. Er schien aber mit der Frau noch nicht fertig zu sein, denn nun ging es noch zur Salatauswahl. Ich konnte somit wieder ungestört meinem Hobby frönen - ihn beobachten. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Ich sah aus einer Regalreihe einen weiteren jungen Mann auf uns zu schlendern. Na ja, der war nun gar nicht mein Typ, was ihn aber nicht davon abzuhalten schien, zielstrebig auf uns zu zu kommen.

Er schien etwas in der Hand zu halten. Dann war er bei uns angekommen und warf dieses »Etwas« in den Einkaufswagen von meinem Schnuckel. Mein Blick fiel auf diesen Gegenstand und ich verschluckte mich vor Lachen, denn...

...im Wagen lag eine große Packung Kondome. Mein Prusten brachte den Kleinen ein wenig aus dem Konzept in seiner Salatauswahl und er sah den Neuankömmling unwirsch an. Dieser grinste über beide Backen und warf mir einen wissenden belustigten Blick zu. Mühsam kam ich wieder etwas zu Atem und nun erspähte der Salatkäufer auch den Gegenstand unserer Belustigung. Seine Reaktion war mehr als interessant, denn er wurde knallrot. Mann war der niedlich!! Erst warf er seinem Freund, denn als solchen sah ich den anderen jetzt an, einen vorwurfsvollen Blick zu, um mich dann nur kurz mit einem Blick verlegen zu streifen. Das Ganze schien ihm mehr als peinlich zu sein, aber ich konnte mir ein aufmunterndes Lächeln nicht verkneifen. Leider machte die Verkäuferin dem ganzen Spuk ein jähes Ende, denn sie war mit dem Zusammenstellen der Salate fertig und wandte sich an mich. Bedauernd riss ich meinen Blick von dem Paar los und gab meine Bestellung an sie weiter. Schnell war sie damit fertig, nur die Beiden waren natürlich weiter gezogen. In Gedanken versunken, machte ich mich auf die Suche nach der Margarine. Irgendwie konnte ich es immer noch nicht fassen, dass ich heute innerhalb kürzester Zeit einen Schwulen nach dem anderen traf. Zuerst Felix und dann dieses Pärchen. War das früher auch schon so und ich hatte es nur nicht wahrgenommen? Mehr aus Neugierde durchstreifte ich noch ein wenig die Regalreihen, nur um die Beiden noch einmal wieder zu sehen. Eigentlich hätte ich mich längst auf den Weg nach Hause machen müssen, denn meine Mutter wartete ja auf die Margarine, aber den Kleinen wollte ich gern noch einmal sehen - der war genau mein Typ.

'Mann Jean, was ist Dein Typ??', grübelte ich. Vor ein paar Tagen fand ich noch, dass Tim das Nonplusultra war und nun hatte ich meine Meinung innerhalb von Stunden mehrmals geändert. Zuerst die »Grünpflanze« Felix, eher der hellere Typ wie Tim und nun den Käsekäufer, der eindeutig eher dunkel war. Hatte ich eigentlich so etwas wie einen Traumtypen?? Ich konnte mir diese Frage nicht beantworten, vielmehr kam ich zu der Überlegung, dass ich mich da nicht festlegen konnte - er musste mir halt gefallen. Dann brach ich meine Suchaktion ab, denn ich konnte die Beiden nicht aufspüren und schlenderte zur Kasse. Ich bog in den Hauptgang ab und ging zügig zu den Kassen, fixiert auf die Schnellkasse - die natürlich die längste Schlange hatte. Noch schwankte ich in meiner Entscheidung, mich trotzdem dort anzustellen, da ließ ich den Blick über die anderen Kassen streifen.

Tja meine Entscheidung war dann sehr schnell gefallen, fast stürmte ich zu der letzten Kasse in der Reihe, denn wer hatte sich da gerade angestellt??

Jo meine beiden Schnuckels packten schwatzend den Inhalt ihres Einkaufswagens auf das Förderband. Der Versuchung konnte ich nicht widerstehen und schob mich hinter sie. Der Kleine war noch mit dem Sortieren beschäftigt, da erspähte mich sein Freund. Was jetzt kam, war zu unlogisch, um wahr zu sein. Der süße Boy musste noch den letzten Gegenstand auf das Band legen und ich konnte mir ein Kommentar nicht verkneifen.

»Eine große Packung für das ganze Wochenende???«, fragte ich süffisant. Verdutzt biss ich mir auf die Zunge, da war mein lockeres Mundwerk wieder schneller, als mein Kopf. Der Kleine fuhr zu mir herum, ließ die Packung Kondome fallen und verfärbte sich schon wieder in eine Tomate.

»Ganz schön frech«, hörte ich seinen Freund sagen, der sich jedoch nur mühsam das Lachen verkneifen konnte.

»Sorry, da war mein Mund einfach schneller als mein Hirn«, gab ich zähneknirschend zu, sah dem Kleinen aber unverwandt in seine schönen dunkelbraunen Augen.

Langsam schoben sich die Mundwinkel bei ihm nach oben und sein Lächeln war einfach süß.

»Na, Dir brauch ich ja nicht weismachen, dass wir daraus Luftballons basteln wollen!«, konterte er meinem Ausspruch, auf dem Mund gefallen schien er jedenfalls nicht. Wissend grinste er mich an, um dann seinem Freund einen Kuss zu geben. Wie gerne wäre ich an der Stelle seines Freundes gewesen, einmal diese Lippen spüren. Die Sehnsucht überfiel mich ungefragt einfach so aus dem Nichts. Betrübt wandte ich mich ab und konnte nur mühsam ein Seufzen unterdrücken. Die Beiden waren auch mit Bezahlen und Einpacken beschäftigt. Dann war ich dran, meine zwei Sachen waren schnell erledigt und ich wollte gehen, da spürte ich eine Hand auf meinem Arm.

»He keine Bange, Du findest auch noch den Richtigen!«, hörte ich jemanden sanft sagen und drehte mich um. Da lächelte der Kleine mich aufmunternd an. Mehr als ein resignierendes Schulterzucken fiel mir nicht ein, aber irgendwie war ich ihm für seine Worte dankbar.

Mit einem leichten Nicken zu ihren Einkäufen rief ich ihnen noch ein lustig klingendes »Viel Spaß« zu, was beiden ein gemeinschaftliches Grinsen entlockte. Dann nahm ich aber meine Beine in die Hand, denn erstens konnte ich so viel Glück nun nicht mehr ertragen und zweitens wartete meine Mutter händeringend auf ihre Margarine.

Eine Standpauke musste ich zu Hause nicht über mich ergehen lassen, hörte meine Mutter aber undeutlich brubbeln »da wäre ich ja mit Krückstock schneller gewesen« oder »ein Wunder, dass er überhaupt wieder hergefunden hat«. Großzügig überhörte ich diese Bemerkungen und stürzte in mein Zimmer. Jetzt hielt mich keiner mehr von meinem PC ab. Sogar der Computer war heute gnädig und fuhr beim ersten Mal zügig und ohne Probleme hoch - die Kiste zeigte in letzter Zeit ein paar Mucken.

Ha, erleichtert atmete ich wieder aus, als ich in mein Postfach sah. Ich hatte zwei Mails, eine von Chris und eine von Dark. Tja nun saß ich in der Zwickmühle, welche zuerst. Fast unbewusst brachte ich mit dem Öffnen der Mails eine Wertigkeit in die Angelegenheit. Zuerst las ich die von Chris, Darks wollte ich mir als etwas Besonderes zum Schluss aufheben. Chris schien meine Entschuldigung anzunehmen und verstand meine Situation mit dem Chatten wohl sogar. Falls ich Lust hätte, könnten wir es ja heute Abend noch einmal versuchen. Irgendwie war ich es ihm schuldig, große Lust hatte ich nicht dazu, aber entgegen meiner inneren Überzeugung wollte ich nachher mal im Chat vorbeischauen.

Danach sammelte ich mich einen Augenblick. Ich wusste auch nicht warum, aber irgendwie erwartete ich etwas besonders von Dark. Fast fieberhaft überflog ich seine Mail. Ein PS war diesmal nicht zu erspähen, das hatte ich schon mit dem ersten Blick gesehen. Zuerst war alles wie sonst auch, Dark hatte sich in seinem lustigen Stil über die kleinen Erlebnisse am Tag ausgelassen. Mein Kribbeln in der Magengegend wurde stärker und dann kam ein abrupter Wechsel in seinem Stil. Fast schlagartig bekam ich feuchte Hände - was faszinierte mich denn so sehr an diesem Jungen?? Dieser Gedanke bohrte sich so langsam durch mein Gehirn nach vorne. Es war doch eigentlich ein wildfremder Kerl! Und dann stand da der Satz.

'Du hast Dich also entschieden und bist über die Schwelle getreten'

Was meinte er damit? Die Erklärung folgte auf dem Fuße.

'Mit dieser Mail ist ein wenig Anonymität verloren gegangen. Wir fangen an, uns näher kennen zulernen. Wird uns das Ergebnis, welches sich daraus ableiten lässt, gefallen?'

Mir wurde klar, was er damit meinte. Mit jedem Stückchen Puzzle, das der Andere von sich preisgab, konnten wir ein Bild vervollständigen, das uns die reale Gestalt klarer erkennen ließ, jedoch würde es nicht das Bild, welches wir in unseren Träumen geschaffen haben, zerstören???? Wollte ich das? Dazu war es zu spät, denn das erste Puzzleteil bekam ich im nächsten Satz.

'Mein Name ist Raphael' stand dort geschrieben. Jetzt hatte ich zu meinem Traumbild einen realen Namen und der passte hervorragend. Leise flüsterte ich diesen Namen vor mich hin - der Klang war einfach perfekt. Dieser Junge namens Raphael alias Dark hatte sich mit seinen Mails in mein Leben geschlichen und ich ließ zu, dass er seine Hand immer mehr nach mir ausstreckte. Über unsere Mailfreundschaft breitete sich eine Mystik aus, die für mich nicht zu beschreiben war.

Er verlangte von mir nichts, aber ich gab doch ein wenig von meiner Persönlichkeit preis. Meinen Namen kannte er ja schon, jedoch schrieb ich ihm ein wenig von meinem Heimatort und meinen Freunden. Zwar versuchte ich diesmal keine Fragen zu stellen, aber ich hoffte natürlich mit meiner Schilderung etwas Ähnliches von ihm zu erfahren.

Dann rief meine Mutter zum Abendbrot und ich schickte meine Mail auf Reisen. Wir hatten nun beide einen Schritt getan und ich war gespannt, wohin uns der Weg führen würde. Nach dem Essen setzte ich mich wieder an den PC und klickte mich in den Chat. Es war zwar noch nicht so weit, aber ich wollte diesmal pünktlich sein und schon mal schauen, was so los war. Einige Leute befanden sich ja in der Namensliste, nur passierte nichts im Chat. So stellte ich mich auch »tot« - ich kannte ja eh keinen. Ein paar Minuten vor unserer Verabredung tauchte dann Chris auf und sprach mich gleich privat an. Wir alberten am Anfang ein wenig herum und das Chatten ging mir heute etwas besser von der Hand. Ich weiß nicht, wer das Thema auf einmal aufbrachte, aber es stand der Name »Tim« im Raum. Zuerst musste Chris immer noch ein wenig nachhaken, durch unsere Mails kannte er meinen Zwilling schon, aber er wollte ein wenig mehr wissen. Mit der Zeit sprudelte es dann nur so aus mir heraus und Chris wurde immer stiller. Von ihm kamen nur noch sporadisch irgendwelche Bemerkungen. Ich bekam das gar nicht so richtig mit, denn ich war froh, dass ich mich mit ihm wieder so gut unterhalten konnte. Völlig aus dem Konzept brachte er mich dann mit der Bemerkung, dass er jetzt aus dem Chat müsste. Ein kurzes Cu und weg war er.

'Was war das denn jetzt', grübelte ich. Hatte ich ihn mit irgendetwas verletzt? Leider hatte ich den Chat geschlossen und konnte den Verlauf des Gespräches nicht mehr auf den Bildschirm zaubern. Eigentlich fand ich, dass ich mich im Chat heute ganz gut geschlagen hatte. Chris war mir durch seine Mails näher gekommen, ich mochte ihn - jedoch unsere Chats bewirkten irgendwie das Gegenteil. Ohne Übergang musste ich an meine andere Mailfreundschaft denken. Das mit Raphael entwickelte sich ganz anders. Am Anfang war es nur lustig, seine Mails waren einfach gut geschrieben, aber nichts Ernstes. Aber jetzt scheinen wir uns näher zu kommen, vorsichtig, so als wollte keiner einen Fehler machen. Seufzend machte ich meinen PC aus und ging zu Bett.

Man der Tag war wirklich mehr als aufregend gewesen. Kurz vor dem Einschlafen war mir, als würde ich wieder eine paar warme Lippen auf den meinen spüren. Dieser Kuss heute war einfach himmlisch und dann geschah etwas Seltsames. Ich versuchte mir zu diesen Lippen ein Gesicht vorzustellen und es war nicht Tim! Ein Junge mit verstrubbelten schwarzen Haaren, eine kleinen schmalen Nase und herrlich vollen Kusslippen senkte genau diese auf meine. Mehr sah ich nicht, denn ich war eingeschlafen, aber nicht schnell genug um noch einen Namen zu hauchen.

»Raphael«


Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge. Der Grundtenor war - auf Mails von Raphael zu warten und er enttäuschte mich nicht. Fast täglich hatte ich Post von ihm. Ich weiß nicht, ob ich verknallt war oder echte Liebe empfand.

Warum ich das nicht wusste? Ganz einfach, weil ich mich bisher ja noch nie verliebt hatte. Na ja das war auch nicht ganz richtig, wenn ich einmal von Tim absah. Jedoch Tim kannte ich ein Leben lang, der war einfach seit Anfang an da. Die Entwicklung, die für mich aus unserer Freundschaft mehr hat werden lassen, war schleichend gewesen - aber das hier mit Raphael war anders. Bei den Gedanken an ihn wurde ich unruhig, meine freudige Erwartung auf seine Mails wurde von einem leichten Bauchkribbeln begleitet und seine Zeilen verschlang ich zuerst, um sie danach noch mehrmals langsam und genüsslich zu lesen. Und mit jeder Mail bekam ich ein neues Puzzleteil von ihm. Es waren manchmal wirklich Puzzleteile, denn sie passten nicht immer gleich an die von mir gedachte Stelle.

Warum?

Raphael war nicht cool, nein eher war es eine Schutzschicht, die er sich da zugelegt hatte und eine ziemlich dicke dazu. Er war verdammt zerbrechlich. Nein, das schrieb er mir nicht, aber ich las es zwischen den Zeilen mehr als deutlich heraus. Er musste schon einige sehr schlechte Erfahrungen mit seinen Mitmenschen gemacht haben, denn manche Äußerungen von ihm waren verbittert.

Und das gab mir Rätsel auf!!

Wieso?

Ganz einfach, er hatte sich schon bei seinen Eltern geoutet und überhaupt keine Probleme dabei gehabt. Sie haben es akzeptiert und konnten, nach seinen Aussagen, sehr gut damit leben.

Wo kam dann die Verbitterung her? Da war noch mehr - nur was?! Weil ich diesen Gedanken nicht in Worte fassen konnte, geschweige denn aufschreiben, grübelte ich weiter. Ich war zeitweise so mit meinem Mailfreund beschäftigt, dass ich aus meiner realen Umgebung nicht so viel mitbekam bzw. auch nicht mitbekommen wollte.

Tim musste sich mit seiner Trulla wieder vertragen haben, dann sie gluckten mehr als eng aufeinander. Trotz allem erwischte ich ihn, wie er mir verstohlen ein paar Blicke zuwarf. So ganz kalt ließ mich das nicht, aber das Wissen, einen neuen Freund zu haben und natürlich Svenja, die mich in der Schule sehr beschäftigte, ließen erst gar keine depressiven Gedanken aufkommen.

Ja Svenja, das war auch so ein Thema für sich. Des Öfteren hörte ich nun schon hinter nicht einmal mehr vorgehaltener Hand, dass wir ein Paar wären. Das war ja auch nicht weiter verwunderlich, denn wir verbrachten sehr viel Zeit miteinander. Was die Anderen jedoch stutzig machen müsste, wir hielten kein Händchen und küssten uns nicht. Trotzdem nahmen die neidischen Blicke meiner Mitschüler zu und meine Schulbanknachbarin schien das zu genießen. Auf jeden Fall tat sie nichts dagegen, was die Meinung der anderen hätte ändern können und ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Anderseits kam mir diese Situation sehr entgegen, denn damit konnte ich etwas aufschieben, wozu ich mich noch lange nicht in der Lage fühlte - mich zu outen.

Svenja lud mich jetzt auch öfter zu sich ein, nur traf ich ihren Bruder nicht mehr bei ihr zu Hause an. Entweder war das ein Zufall oder ihr Organisationstalent, und da sie wahrlich keine Dumme war, nahm ich eher das Zweite an. Auch wenn ich in meinen Gedanken immer noch von diesem Kuss schwärmte und bestimmt schon tausend mal versucht hatte, dieses Gefühl nachzuempfinden, war ich mir jetzt sicher, dass ich nicht in Felix verknallt war. Vielleicht war es Schwärmerei, aber mehr bestimmt nicht.

'Moment, wieso klärte ich das nicht gleich mit ihr', fuhr mir durch den Kopf. Wir standen beide alleine auf dem Schulhof, da bei uns eine Stunde ausgefallen war und wir mit den anderen nicht in die Stadt wollten.

»Svenja?«, fing ich vorsichtig an. Mein Ton schien bei ihr aber alle Alarmglocken läuten zu lassen, denn nachdenklich schaute sie mich an.

»Jaaaaa??«, so konnte man auch jemanden mitteilen, dass man den Einstieg mehr als verbockt hatte. Okay dann machten wir es halt auf die coole Art.

»Du brauchst Deinen Bruder nicht vor mir zu verstecken!«, warf ich ihr entgegen.

»Biiitttteeee!!!« Sie schien wohl auf einiges gefasst gewesen zu sein, aber das verschlug ihr dann doch etwas die Sprache.

»Ach komm, verkauf mich nicht für dumm. Zufällig war er immer nicht da, wenn ich bei Dir zu Besuch war. Nur soviel Zufall ist etwas auffällig, oder??!!«, brummte ich.

»Er ist halt ein viel beschäftigter Mann und vergräbt sich nicht so in sein Zimmer wie andere Jungs«, grinste sie mich schelmisch an. Na ja, lange hatte es ihr ja nicht die Sprache verschlagen und schon hatte sie wieder Oberwasser.

»DANKE!!«, grummelte ich jetzt etwas ungehaltener, denn es war offensichtlich, wen sie damit meinte, schob dann aber doch aus Trotz noch etwas nach, »Na, Du lässt mich ja nicht mit ihm um die Häuser ziehen!«

»Ich glaube nicht, dass er mit Dir um die Häuser ziehen will, eher Dich durchs Bett treiben«, sagte sie sehr anzüglich. Jetzt verschlug es mir die Sprache auf Grund ihrer Offenheit. So direkt hatte sie das noch nie gesagt.

»Mach den Mund zu! Mich schüttelt es allein schon bei dem Gedanken, mein liebster Bruder treibt es mit meinem besten Freund, was mich aber nicht davon abhält, es mal auszusprechen!«, kam als nächstes von ihr und ich hörte eine gewisse Nervosität aber auch Traurigkeit raus. Das Thema stand immer noch zwischen uns.

'Warum es nicht mal zur Sprache bringen?', machte ich mir Mut.

»Svenja, es tut mir echt sehr leid, aber Dir ist schon klar, dass wir nie mehr als gute, als sehr gute Freunde werden können??«, fragte ich sie vorsichtig. Sie seufzte gequält auf.

»Nicht nur Du hast Deine Hoffnungen und Wünsche«, gab sie ziemlich traurig von sich.

»Bitte mach es mir nicht so schwer, ich habe Dich als Freundin sehr lieb gewonnen, aber Du bist halt wie eine Schwester für mich, mehr kann ich Dir nicht bieten!«, versuchte ich zu erklären.

»Ja ich weiß, das heißt jedoch nicht, dass man trotzdem seine Träume haben kann, oder? Gerade Du solltest das wissen!«, hörte ich sie leise flüstern. Mit etwas festerer Stimme sagte sie dann: »Auf der anderer Seite bedeutet das wiederum nicht, dass ich Dich meinem Bruder zum Fraß vorwerfe. Für eine kleine Eroberung bzw. Episode bei ihm bist Du mir viel zu wertvoll. Da schauen wir mal, ob wir nicht den Richtigen für Dich finden!«

Bei ihren Worten musste ich lächeln, denn so hatte sich bisher selten jemand schützend vor mich gestellt. Jedoch schien sie ja von ihrem Bruder nicht soviel zu halten.

»Du stellst Felix aber als echten Hallodri dar. Auf mich machte er eigentlich einen eher vernünftigen, wenn auch sehr charmanten Eindruck«, versuchte ich sie ein wenig aus der Reserve zu locken.

»Heee, Du hast ihn doch gesehen. Sieht der etwa vernünftig aus? Übrigens ist aus dem grün jetzt leuchtend rot geworden!«, entrüstet schüttelte sie den Kopf.

»Trotzdem sah er süß aus!«, rutschte mir raus.

»Ha, hab ich's doch gewusst. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hätte er Dich in Grund und Boden geknutscht!«

»Schon längst passiert!«

'Mist konnte ich nicht den Mund halten', ärgerte ich mich sofort.

»WAAAAAAAAAAAAAASSSS!«, rief Svenja entsetzt. Tja das war ein Punkt, über den wir noch nicht gesprochen hatten. Ich wollte Felix nicht unnütz in Verlegenheit bringen, was mir nun natürlich wunderbar gelungen war.

»Was habt ihr???«, fuhr sie mich an. »Und vor allem wann?«

Ich konnte nun schlecht weiterdrucksen und somit beichtete ich ihr von unserem Zusammenstoß bei meinem ersten Besuch in ihrem Hause. Die kleine Bemerkung, dass sie in mich verliebt wäre und ihr Bruder das sehr wohl gesehen hätte, behielt ich jedoch für mich.

»Wow!«, war ihr einzige Reaktion, danach war Ruhe. Ihr hübsches Köpfchen hatte einen sehr nachdenklichen Gesichtsausdruck angenommen.

»Da hab ich meinem großen Bruder wohl Unrecht getan«, murmelte sie vor sich hin.

»Das musst Du ihm sagen und nicht mir!«, forderte ich sie auf, worauf ihr Gesicht einen echt gequälten Gesichtsausdruck annahm.

Ich grinste sie an und foppte sie: »Mich lässt Du das ja nicht machen, sonst könnte ich es ihm zwischen ein bisschen Körperakrobatik im Bett erklären!«

Svenja steckte mir die Zunge raus und antwortete mir: »Du weißt doch gar nicht, was man mit einem Boy im Bett so anfängt«. Wumm, das hatte gesessen.

»Vielen Dank«, brummte ich missmutig, aber böse sein konnte ich ihr dafür natürlich nicht.

»Also kann ich damit rechnen, dass ich Felix die nächsten Male zu Gesicht bekomme?«

»Ja, ich frage mich nur, was sein Antrieb dazu ist. Nur so einfach meine Bitte zu erfüllen ist zu einfach. Da steckt mehr dahinter!«, mutmaßte sie laut.

»He, vertrau mir einfach. Und mit Nachwuchs müsst ihr ja bei uns nicht rechnen!« Ich konnte es einfach nicht lassen, nur brachte mir diese Bemerkung einen schmerzhaften Knuff ein.

Die Pausenklingel informierte uns, dass der Unterricht demnächst weiterging. Den Rest des Schultages bekamen wir auch noch herum und dann hielt mich nichts mehr an diesem Ort, denn ich hatte große Hoffnungen, dass zu Hause eine Mail auf mich wartete.

Tja ich hatte sogar zwei Mails. Auch Chris hatte mal wieder geschrieben. Seit unserem letzten Chat hatte sich eine gewisse Distanz aufgebaut. Seine Mails waren immer relativ kurz und wir redeten kaum noch über unsere Probleme. Auch heute hielten sich seine Zeilen in Grenzen, jedoch lud er mich heute Abend mal wieder zum Chat ein. Ich war jetzt öfter dort, nur Chris hatte ich nie getroffen. Lange hielt ich mich mit seiner Mail nicht auf, sie gab ja eh nicht viel her. Und so stürzte ich mich auf Raphaels Post. Mein Kleiner, irgendwie hatte ich mir angewöhnt, ihn so zu nennen, hatte wieder ein paar Seiten geschrieben. Ich hatte schon mehrmals so bei mir gedacht, wieso er eigentlich keine Storys schrieb, denn ich fand seinen Stil genial. Diese Idee würde ich in meiner Mail nachher mal aufgreifen. Aha heute schrieb er in dem privaten Teil, meistens waren es nur zwei oder drei Sätze, dass er aus Frankfurt kommen würde und seine Eltern auf Grund ihrer Jobs nicht so oft zu Hause wären. Viel wusste ich immer noch nicht von ihm, seine Informationen waren mehr als spärlich, aber genau das machte diesen Jungen so interessant für mich. Meine Antwortmail hob ich mir für heute Abend auf. Ich schrieb ihm meistens kurz vor dem Schlafengehen und er antwortete am frühen Nachmittag.

Abends enterte ich dann den Chat - nur Chris war noch nicht da. So verfolgte ich ein wenig das Geplänkel im Mainchat und machte mir schon so meine Gedanken zu meiner Mail. Dann tauchte der Nick »CH« auf und flüsterte mich gleich an. Unser Chat war nicht so doll. Chris hielt sich reserviert zurück und ließ mich zum größten Teil berichten. Aus irgendeiner Laune hielt ich die Entwicklung mit Raphael heraus, Chris wusste nur, dass ich noch mit anderen schrieb, aber nicht wie intensiv. Auf einmal stand da auf meinem Bildschirm:

'Jean, ich habe mal über einiges nachgedacht und ich glaube wir müssen Reden!' Na toll und was machten wir denn hier die ganze Zeit - Blumen pflücken???

'Es tut mir leid, aber ich kann Dir Deinen Tim nicht ersetzen'

Peng, der Satz hatte gesessen. Schon wieder jemand, der mir vorwarf, alles mit Tim zu vergleichen. Ich war nicht fähig, auf diese Zeile von Chris zu reagieren.

'Für Dich existiert nur Tim, aber ich bin nicht Tim - ich bin Chris!' Super, das wurde ja immer besser. Ich saß wie erstarrt vor dem Monitor, zu keiner Reaktion fähig.

'Akzeptiere endlich, dass Du schwul und er hetero ist!' Jetzt kam meine Reaktion blitzschnell...

...mein Computer war innerhalb von Sekunden abgeschaltet. Ich hatte keine Lust, diesen Mist weiter zu lesen. Wütend schnappte ich mir meine Jacke. Ich brauchte etwas frische Luft, in meinem Kopf schwirrte es.

Dieser blöde Arsch!!! Das war der einzige klare Gedanke, den ich zurzeit greifen konnte, alles andere war wirr. Da war ich so langsam dabei, mein Schwulsein zu realisieren. Sogar mit meiner Sehnsucht nach meinem Zwilling konnte ich etwas besser umgehen. An all diesen Sachen war zum Teil auch Chris beteiligt und dann warf er mir so etwas an den Kopf.

Okay, dieses Ungezwungene vom Anfang hatten wir über die Wochen etwas verloren, aber ich war doch immer ehrlich zu ihm. Mit einem Mal konnte ich das Gefühl greifen, welches die ganze Zeit schon in mir rumorte.

Ich kam mir verraten vor.

Mit diesem Gedanken machten sich aber auch Zweifel in mir breit. Chris war ja schon der Zweite, der so etwas verlauten ließ. Nur hatte mich diese Sache bei Svenja nachdenklich gemacht, jetzt machte sie mich nur noch wütend. Ich hatte mein Verhalten echt geändert, wobei mir die Schwärmerei für Raphael sehr half - aber das alles konnte Chris ja nicht wissen. Wie war ich denn Christian gegenüber?

Meine Wut verrauchte so allmählich. Je länger ich darüber nachdachte umso bescheuerter kam mir mein Verhalten vor. Ich nahm mir vor, mich bei Chris per Mail zu entschuldigen, aber ihm meine Meinung zu dem Thema mitzuteilen. Dieses Vorhaben konnte ich postwendend in die Tat umsetzen, denn meine Füße hatten den Weg nach Hause ganz alleine gefunden. Mein PC nahm die abrupte Abschaltaktion von vorhin nicht so locker und rödelte eine ganze Weile vor sich hin, um mich dann doch irgendwann mit dem beliebten Windoof Bild zu begeistern. Zuerst widmete ich mich dann der Mail an Chris, ich hoffte inständig, dass ich die Situation gut erklärt hatte.

Dann kam ich zu dem angenehmen Teil des Abends. Ich schrieb meinem Kleinen. Auf einmal kam mir eine Idee. Chris war mit seinem Vorwurf ein wenig Schuld daran, anderseits war ich wirklich interessiert. Ich schlug Raphael vor, ob wir nicht ein paar Bilder miteinander tauschen wollten. Um mir einerseits nicht wieder vorwerfen lassen zu müssen, ich würde in ihm auch Tim sehen, aber auch um meinen Träumen ein konkretes Bild zu geben. Mit etwas mehr Bauchgrummeln als sonst schickte ich diese Mail auf Reisen. Ich wusste, mein Wunsch kam fast einem Überfall gleich, jedoch ich musste es einfach versuchen.

In der Nacht fand ich kaum Schlaf. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere und wenn ich die Mail noch einmal schreiben müsste, ich würde den Vorschlag mit dem Bild weglassen. Was hatte mich da nur geritten? War es Übermut? Wie wahrscheinlich war es, dass er mir visuell genauso gefiel wie ich ihn aus den Mails kennen gelernt hatte? Was war, wenn...?? Ich mochte gar nicht weiterdenken. Zum Glück übermannte mich der Schlaf dann doch.

»PIEP, PIEP, PIEP, PIEEEEEEEEEEPPP!!!«

Der Wecker holte mich nur Sekunden nach dem Einschlafen aus meinen wirren Träumen. Ich war wie gerädert und mir wurde sofort klar - ich hatte die Mail gestern wirklich geschrieben, es war nicht nur ein blöder Traum. Einen Moment überlegte ich, ob ich die Schule heute nicht lieber sausen lassen sollte, denn ich fühlte mich zum Kotzen. Meine Mutter machte diesen Gedankengängen ein jähes Ende, in dem sie mich zum Frühstück rief. Ein paar Minuten später war ich auch schon auf dem Schulweg. Und der Schultag zog sich zäh in die Länge, aber so war es ja immer, wenn man auf einen bestimmten Zeitpunkt hinbangte. Wollte ich jedoch diesen Punkt wirklich sooo schnell erreichen?? Den Unterricht verbrachte ich größtenteils mit Grübeln. Svenja versuchte natürlich meine Sinnkrise zu ergründen, aber diesmal wollte ich erst schauen, wie es heute Nachmittag lief.

Tja und wie sollte es anders sein, mein Zwilling suchte auch mal wieder das Gespräch. In der großen Pause kam er auf mich zu geschlendert. Im Schlepptau hatte er seine Prinzessin - na ja eher hing sie wie eine Klette an ihm dran. Tim hatte es aber in letzter Zeit auch gut drauf, mich immer zu den ungünstigsten Zeitpunkten anzusprechen. Bevor er etwas sagen konnte, bügelte ich eine eventuelle Diskussion rigoros ab. Das brachte mir zwei sehr unterschiedliche Gesichtsausdrücke ein. Corinna, die etwas hinter Tim stand, lächelte zufrieden, fast verächtlich. Mein Zwilling schaute erst verdutzt, dann wurden seine Züge traurig und seine Augen blickten sehnsüchtig, aber auch eine Spur nervös. Irgendetwas bewegte ihn, das war jetzt deutlich zu sehen. Ich hatte jedoch genug eigene Probleme und wollte mich nicht noch damit belasten. Sollte er das doch mit seiner Freundin ausmachen. Um ihm nicht länger in seine Augen zu schauen, drehte ich mich schnell weg, sonst wäre es um mich geschehen gewesen. So tapfer ich auch versuchte, Abstand zu Tim zu bekommen, ein Blick aus seinen herrlich blauen Augen und alles war wieder da! Der Junge machte mich einfach schwach. Fast fluchtartig verließ ich die Beiden.

Im Unterricht schaute ich fast jede Minute auf die Uhr - der Fuckzeiger bewegte sich überhaupt nicht. Svenja grinste mich auch noch spöttisch an und ich hörte so etwas wie »Da wartet einer wohl mal wieder auf Post«.

'Wenn die wüsste?!', grummelte ich vor mir hin. Dann war es endlich geschehen, kaum hörte ich den ersten Klingelton, war ich schon aus dem Klassenraum verschwunden. Aus den Augenwinkeln sah ich noch, dass Tim wieder einen Schritt in meine Richtung machte.

Atemlos vom Rennen stürzte ich in mein Zimmer und warf die Kiste an. Man war ich nervös - so hippelig war ich schon lange nicht mehr. Ran ans Mailpostfach...

...und ich hatte Post...

Hm die Mail war nicht sehr groß, eher so groß wie sonst auch immer. Aber sie war von Raphael. Diesmal kam er gleich zur Sache. Er fand meine Idee von einem Bild überhaupt nicht gut. Er schrieb konkret dazu.

'Durch Deine Worte und Deine Beschreibung von Deinem Aussehen habe ich in meinem Kopf ein Bild geformt, das ich immer sehe, wenn ich Dir schreibe oder von Dir eine Mail lese. Dieses Bild ist mir genauso wie die Person dahinter so lieb geworden, dass ich Angst habe, sie mit der Realität zu vergleichen. Das ist eine Seite meiner Angst, die andere ist, ich entspreche bestimmt nicht Deinem Idealbild. Ich sehe nicht aus wie Tim, nicht mal annähernd.'

Ich konnte seine Traurigkeit und Verletzbarkeit aus den Zeilen regelrecht rauslesen. Das war überhaupt nicht mehr der coole Junge, der mich mit seinen ersten Mails so fasziniert hatte, aber dadurch wurde er mir nicht unsympathischer. Mir tat es leid, da ich ihn höchstwahrscheinlich verletzt hatte. Ich saß sehr nachdenklich an meinem PC und da formte sich ein Gedanke in mir, den ich eigentlich schon lange mit mir herumtrug. Entschlossen beichtete ich ihm mein Anliegen. Ich offenbarte ihm, was er mir mittlerweile bedeutete, wie sehnsüchtig ich auf seine Mails wartete und warum ich gerne ein Bild von ihm haben möchte. Fast wie selbstverständlich formte ich dann die entscheidenden Sätze und sah auf meinem Bildschirm stehen

'Raphael, ich trage diesen Wunsch schon eine Weile mit mir herum und habe mich bisher nicht getraut, Dir das zu Schreiben. Ich würde Dich gerne richtig kennen lernen - ich möchte mich mit Dir treffen!'

Als ich das jetzt las, musste ich doch schlucken, aber es war die Wahrheit. Diesmal hängte ich ein Bild von mir bei - um das zu finden, brauchte ich fast eine Stunde, denn ich fand einfach kein vernünftiges von mir. An jedem Foto hatte ich etwas auszusetzen, es war wie verhext. Wie meistens in solchen Angelegenheiten hätte ich mir das lange Suchen sparen können, denn zum Schluss nahm ich dann doch ein Foto, welches mir als eines der Ersten unter die Finger gekommen war.

Ich wollte die Mail noch einmal durchlesen, sandte sie jedoch plötzlich schnell weg. Mir wurde klar, wenn ich mich noch einmal mit dem Thema befassen müsste, wäre mein Entschluss sehr wahrscheinlich gekippt. So schaffte ich vollendete Tatsachen.

'Oh je, hoffentlich hatte ich ihn jetzt nicht vor den Kopf gestoßen', lief es mir nun doch eiskalt über den Rücken. Um mich etwas abzulenken, surfte ich durch das WWW, um mir etwas später eine Geschichte von NiSt herunter zu laden und sie in Ruhe zu lesen. Ich fand nur keine Ruhe.

Eine Stunde später konnte ich es nicht mehr aushalten und schaute in mein Postfach. Natürlich hatte ich keine Post, aber enttäuscht war ich trotzdem. Die Anspannung, die ich mir ja nur selbst geschaffen hatte, wurde unerträglich. Im Stillen schalt ich mich - mit Post von Raphael war frühestens morgen Nachmittag zu rechnen.

'SCHEISSE!!!!!' Da reichten keine 100 Ausrufezeichen, ich war einfach ein Idiot. Kurz bevor ich das Internet verließ, aktualisierte ich noch einmal mein Postfach und...

...eine nicht gelesene neue Mail erschien auf dem Bildschirm. Ich glotzte ziemlich blöd auf den Monitor, denn ich las zwar den Absender - nur zum Begreifen war mir mein Hirn abhanden gekommen. Ich schluckte, denn die Mail war von...

...Darkness, von Raphael und sie war sehr groß! Und ich saß einfach nur da und war unfähig, sie zu öffnen - der Kloß in meinem Hals war riesengroß. Seine Antwort hatte nicht mal eine Stunde gedauert. Nur so kam ich nicht weiter und somit gab ich mir einen Ruck.

Gleich der erste Satz war fett und größer als die anderen geschrieben.

'Bitte zuerst die Mail lesen!'

Dann erwarteten mich Zeilen, die den Kloß in meinem Hals nicht verschwinden, nein eher noch wachsen ließ.

'Jean, ich sitze hier ziemlich aufgelöst vor meinem PC und weiß gar nicht, wie ich meine Gefühle schildern soll. Du hast vieles von dem ausgesprochen, was mich auch bewegt. Natürlich möchte ich wissen, wie Du ausschaust, möchte mich mit Dir unterhalten, will Dich in meiner Nähe spüren. Von Anfang an war ein unsichtbares Band zwischen uns, das mit jeder Mail stärker wurde. Alles schreit in mir, mich mit Dir zu treffen, aber würde unsere Mystik nicht damit verfliegen? Warum lässt Du mich nicht weiterträumen?'

Aus diesen Worten sprach pure Verzweiflung. War mein Wunsch so schwer zu erfüllen, doch die Mail ging noch weiter - er zitierte einen Song. Ich wusste sofort, welcher es war, denn die CD lief oft bei mir. Und obwohl ich den Text kannte, trafen mich die Zeilen total überraschend

'du bist nicht wie ich -

doch das ändert nicht...'

'ich hab gedacht ich kann es schaffen

es zu lassen

doch es geht nicht'

'ich bin nicht wie du -

ich mach die augen zu

lauf blindlings durch die strassen -...

... ich war so lang allein

es war alles ganz in Ordnung -

ganz ok -

und dann kamst du'

Der Song war von Juli und hieß »Regen und Meer«.

Mir standen Tränen in den Augen. Man wir kannten uns doch eigentlich gar nicht, wie konnte er so genau meinen Nerv treffen? Aus seinen Worten sah ich aber auch, dass es ihm sehr ähnlich ergangen ist. Den Abschluss bildete folgender Satz.

'Wenn Du den Weg weiter gehen willst, dann öffne den Anhang. Falls Du ihn öffnest, dann verlange ich aber auch eine ehrliche Reaktion von Dir - BITTE

Dein Dark'

Ich konnte seine Angst vor meiner Reaktion regelrecht spüren, was machte ihn so unsicher? Natürlich hatte ich die Chance, die Mail einfach zu löschen, aber daran verschwendete ich nicht mal einen Gedanken. Ich wollte ein Bild von ihm und hier war es. Entschlossen griff ich zu meiner Maus...

...und öffnete den Anhang...

Nachwort

... sorry, ich hasse Cliffhanger als Leser, aber als Autor haben sie einfach so was Mystisches an sich, dass ich schlecht daran vorbei kann - ich hoffe, Ihr verzeiht mir ;-)).

Euer jR

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