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Kann Sehnsucht krank machen?

Vierter Teil

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Informationen

Vorwort

Hey Leute!

Hier werfe ich Euch den nächsten Teil zum Verschlingen vor, aber prügelt bitte nicht auf mich ein. ICH kann nix dafür, was meine Charas so verbrechen, das hat immer eine unvorhersehbare Eigendynamik. Mein Dank gilt wieder all jenen, die bei der Stange geblieben sind, naja bei den anderen hätte es ja auch kein Sinn, denn sie lesen diese Zeilen ja eh nicht ;-)

Und somit Vorwort kurz - Teil lang...

...Viel Spaß beim Lesen wünscht Euch

jR

 

Ein Tag, der so herrlich begonnen hatte, nahm ein alptraumhaftes Ende. Ich fing an zu zittern und las Tims Zeilen immer und immer wieder, ohne deren Sinn zu begreifen.

Mein Zwilling hatte unsere Freundschaft endgültig beendet. Und ich heulte hemmungslos, denn ich konnte das nicht akzeptieren. Okay, dass wir uns die letzten Wochen aus dem Weg gegangen waren, damit konnte ich leben, aber soooo endgültig - NEEEIIIIIIIIIIINNNNNNNNN!!!!!!! Hilflos musste ich zusehen, wie das Blatt meinen entkräfteten Fingern entglitt. Langsam schwebte es zu Boden, verabschiedete sich wie all meine Träume.

Ich weiß nicht, wie lange ich auf meinem Stuhl gesessen hatte, aber Zeit war nicht wichtig. Stumpfsinnig brütete ich vor mich hin. Ich war total aus der Spur und stierte auf das Blatt zu meinen Füssen. Dieser Satz brannte sich in mein Gehirn

ES IST VORBEI!!!??

Er verschwamm vor meinen Augen. Etwas stimmte nicht, aber ich konnte es nicht greifen. Ich verstand nur eins - Tim wollte mit mir nichts mehr zu tun haben. Und das wollte ich nicht begreifen!!

»Jean????!!«, hörte ich die alarmierte Stimme meines Vaters. Durch meinen Tränenschleier nahm ich nur die verschwommene Gestalt von ihm war. Ich musste sein Klopfen nicht gehört haben.

»Entschuldige, aber Du hast auf mein Anklopfen nicht reagiert und da wollte ich nur mal schauen...«, bekam ich schon meine Erklärung, aber mein Vater brach mitten im Satz ab und kniete sich vor mich hin. Vorsichtig nahm er eine Hand von mir in seine Finger und sah mich an.

»Mein Junge, was hast Du denn nur? Willst Du nicht mit uns darüber reden?«, sprach er beruhigend auf mich ein. Ich hörte diese Worte wohl, nur drangen sie nicht richtig bis zu mir vor. Meine Gedanken drehten sich immer noch nur um eine Person, um Tim. So übernahm mal wieder ein Körperteil von mir die Führung, das ich in solchen Situationen lieber zukleben sollte.

»Tim..., Tim hat... hat mich..., hat mir die Freundschaft gekündigt«, schluchzte ich sehr unverständlich und die Krönung schob ich dann hinterher.

»Und ich bin... schwul!«

Verzweifelt biss ich mir auf die Zunge, als ich mitbekam, was ich da so vor mich hin plapperte. Mit großen Augen sah ich meinen Vater prüfend an, vielleicht war meine Sprache ja so unverständlich, dass er es nicht verstanden hatte. Seine Reaktion war eindeutig - er hatte sehr wohl verstanden. Und obwohl sie eindeutig war, war sie für mich gänzlich unverständlich...

... mein Vater lächelte! Fast zärtlich wischte er mir die Tränen von meiner Wange und strich mir beruhigend durch meine Haare. Das hatte er schon seit Jahren nicht mehr getan.

»Vielleicht sollten wir alle drei darüber reden!«

»Du bist nicht wütend?«, flüsterte ich sehr, sehr leise.

»Dummkopf. Mach Dich ein wenig frisch und komm in ein paar Minuten einfach in die Küche. Falls nicht, dann können wir uns ja beide heute Abend in Ruhe drüber unterhalten!«, antwortete er und schenkte mir noch ein aufmunterndes Lächeln. Dann saß ich wieder alleine in meinem Zimmer, nur die Situation hatte sich grundlegend geändert. Tims Brief lag immer noch zu meinen Füssen, aber ich hatte mich gerade...

,War das alles Wirklichkeit oder träumte ich vielleicht??', fuhr es mir durch den Kopf. Der Schmerz in meinem Arm überzeugte mich sehr schnell, dass dies kein Alptraum war. Ich hatte mir in den Arm gekniffen - man war ich durch den Wind! In meinem kleinen Bad hielt ich erst einmal meinen Kopf minutenlang unter kaltes Wasser, aber meine Augen blieben trotz allem rot umrandet, die Auswirkungen meiner Tränen waren nicht so einfach weg zu wischen. Den Brief von Tim nahm ich vorsichtig vom Boden auf, ohne noch einmal einen Blick drauf zu werfen.

Mein Entschluss stand fest - ich wollte in die Küche zu meinen Eltern gehen. Mein Verhältnis zu ihnen war gut, nein eigentlich sehr gut. Und eins war klar, mein Vater gab mir die Chance, mich bei meiner Mutter selbst zu outen. Da die Beiden keine Geheimnisse voreinander hatten, das hatte ich bei schlechten Noten schon ein paar Mal mitbekommen, würde er es ihr über kurz oder lang sagen - zumal sie sich zurzeit wohl auch mächtig Sorgen um mich machte. Somit stieg ich mit festem Schritt, aber sehr nervösem Magengrummeln, die Treppe hinunter zu unserer Küche. Dort spielte sich ein Großteil unseres Familienlebens ab. Die große Sitzecke und die immer neuen Gerüche der Kochkünste meiner Eltern zogen alle Familienmitglieder wie magisch an. Da hatten bisher die besten Gespräche stattgefunden, ohne Ablenkung durch Fernsehen oder anderes. Trotz allem war ich hypernervös und stieß langsam die Türe zur Küche auf.

Mein Vater stand am Kühlschrank und meine Mutter rutschte nicht minder nervös auf dem Stuhl hin und her. Ihre Augen suchten meine und als sie mein Gesicht sah, huschte ein Ausdruck des Entsetzens über ihres. Bevor sie aber etwas sagen konnte, hatte mein Vater sich hinter sie gestellt und ihr beruhigend die Hände auf die Schultern gelegt. Zögernd blieb ich in der Tür stehen, sehr unschlüssig, und ich war mir nicht mehr so sicher, ob das hier eine gute Idee war. Mein Vater schien wie ein ruhender Pol über allem zu schweben. Er nickte mir zu und ich ließ mich seufzend auf einen Stuhl sinken.

,Verdammt, wie fang ich nun bloß an??', grübelte ich. Mir wollte einfach nix passendes einfallen. Nur wurde das Schweigen in der Küche mit der Zeit immer unangenehmer.

»Entschuldigt, aber ich kann nicht«, flüsterte ich und wollte mich wieder verdrücken.

»Jean...«, rief meine Mutter entsetzt, aber irgendetwas ließ ihr den Rest im Halse stecken bleiben. Da ich meinen Blick krampfhaft auf die Tischdecke gerichtet hatte, konnte ich nicht sehen, was der Anlass war. Die Hand meines Vaters spürte ich aber auf meinen Schultern und er drückte mich zurück auf den Stuhl.

»Nein mein Sohn, wir werden jetzt darüber reden und nicht weiter jeder für sich vor sich hin leiden!« Seine Stimme war ruhig aber sehr bestimmt. Resignierend sackte ich in mich zusammen.

Meine Mutter konnte sich nun nicht mehr länger beherrschen und platzte heraus.

»Hat es was mit Timmy zu tun???«

Sie hatten beide immer noch den kleinen Tim vor Augen und nannten ihn meistens Timmy, auch wenn wir beide dieser Verniedlichung unserer Namen schon einige Zeit entwachsen waren. Mir entlockte diese Frage nur ein weiteres Schniefen.

,Ja Timmy, mein Tim... nein eben nicht!' Bei diesen Gedanken wurde mir wieder klar, wie sehr er mir fehlte.

»Nein mit Tim hat es nicht so sehr was zu tun..., na ja eigentlich doch...«, begann ich sehr stockend.

»Mehr mit mir oder... über das was ich empfinde.«

Meine Stimme war nur noch ein leichtes Flüstern. Ach verdammt, was war da eigentlich so schwer dran?? Meinem Vater hatte ich es doch vorhin schon an den Kopf geworfen. Also straffte ich mich ein wenig, meinen Blick konnte ich aber doch nicht heben. Vielmehr suchte ich mir einen Punkt auf der Tischdecke.

»Ich bin schwul!«

Hatte ich überhaupt laut gesprochen?? Von meinen Eltern kam keine Reaktion. Langsam hob ich meinen Blick und konnte nicht fassen, was ich sah. Meine Mutter lächelte leicht und mein Vater schien amüsiert über meine Reaktion zu sein.

»Habt..., habt Ihr damit kein... Problem?«, stotterte ich.

Meine Mutter schüttelte leicht mit dem Kopf und fragte nun ihrerseits verwundert.

»Warum?«

»Jean, wir sind doch nicht blind. Denkst Du wir haben nicht gesehen, wie Du mit Tim umgegangen bist. Ihr wart immer ein Herz und eine Seele und...« Er stockte kurz und sah mich fest an

»Ihr habt Euch beide gegenseitig angehimmelt!« Als mir der Inhalt dieser Worte klar wurde, schüttelte ich erst leicht, dann aber ziemlich heftig den Kopf.

»Ja ich ihn vielleicht, aber er mich bestimmt nicht. Ich habe ihm gestern erzählt, dass ich schwul bin und was ich empfinde. Seine Reaktion war..., na ja sie...« Ein Kloß machte sich wieder in meinem Hals breit. Ich schluckte mehrmals, jedoch das beklemmende Gefühl blieb.

»... der Brief heute Mittag war von ihm. Er hat unsere Freundschaft beendet«, stieß ich trotz allem noch hervor. Die Tränen schossen mir schon wieder in die Augen.

»Bist Du Dir sicher?«, hörte ich meinen Vater verwundert fragen. Ich nickte mit dem Kopf, dieser abschließende Satz stand wieder vor meinem inneren Auge. Jedoch stutzte ich jetzt leicht.

,Moment mal, waren das hinter dem Satz Ausrufe- oder Fragezeichen???' Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich von meinem Stuhl auf und raste nach oben in mein Zimmer. Da lag sein Brief auf meinem Tisch. Vorsichtig ging ich näher, wollte mir den kleinen Hoffnungsschimmer erhalten.

Ich las: ES IST VORBEI!!!??

Das war eindeutig - nur was bedeutete es? Grübelnd stand ich an meinen Tisch gelehnt und starrte den Satz wie hypnotisiert an.

»Jean??«, hörte ich meine Eltern hinter mir. Sie waren mir in mein Zimmer gefolgt. Ich reichte ihnen Tims Zeilen und beobachtete sie. Aus ihren Mienen war nichts abzulesen. Nach einer Weile sah mein Vater mich an.

»Und was glaubst Du?«, fragte er mich.

»Eigentlich wollte ich gern Eure Meinung dazu hören«, antwortete ich mit belegter Stimme.

»Du liebst ihn?!« Meine Mutter fragte das eigentlich nicht, sie stellte es fest.

»Ja«, murmelte ich, aber dann konnte ich es nicht mehr zurückhalten und erzählte ihnen fast alles der letzten Wochen. Es tat mir gut, mit meinen Eltern darüber zu sprechen - na ja es war ja eher ein Monolog. An den erstaunten Blicken zwischendurch konnte ich erkennen, dass sie mir so einiges nicht zugetraut hätten, aber zum Schluss grinsten sie ziemlich anzüglich. Na ja von meiner letzten Nacht hatte ich nicht soviel erzählt, aber meine Andeutungen hatten wohl gereicht.

»Schau an, unser Sohn hat schon nen Freund und wir machen uns hier Sorgen.«, murmelte mein Vater. Meine Mutter schaute mich jedoch noch einmal nachdenklich an.

»Was denkst Du nun von Tim?«, fragte sie.

»Was ich denke oder was ich hoffe?«, kam meine Gegenfrage. Da ich keine Antwort bekam, dachte ich kurz nach.

»Vielleicht kann ich mir meine Freundschaft zu ihm erhalten, aber als Boyfriend..., das wird nur ein Traum bleiben. Aber er fehlt mir...«, seufzte ich.

»Also Jean, ich glaube, Du fehlst ihm genauso«, hörte ich meinen Vater. Meine Mutter nickte zustimmend.

»Der Meinung bin ich auch. Diese Zeilen deuten das mehr als an. Aber ich glaube auch, Du musst ihm ein wenig Zeit geben, damit er mit dieser Situation zurecht kommt«, ergänzte meine Mutter.

»Ja ich weiß, aber auch ich muss damit klar kommen!«, murmelte ich mehr zu mir als zu ihnen.

»He, Du hast doch neue Freunde gefunden«, versuchte mich mein Vater aufzumuntern.

»Wann lernen wir Felix mal kennen?«, fragte er mit einem süffisanten Grinsen.

»Ich hatte da eher an das nette Mädel gedacht!«, kam der Konter von meiner Mutter und dann schob sie noch nach.

»Wie war der Name noch einmal..., Svenja nicht? Das wäre ne Schwiegertochter gewesen, olala!« Jetzt grinsten beide wie die Honigkuchenpferdchen und ich lief leicht rot an. Soviel zu verständnisvollen Eltern!!

»Hm, wisst Ihr überhaupt, was das Wörtchen «schwul» bedeutet?«, fragte ich jetzt mit einem kleinen Lächeln.

»So gefällst Du mir schon viel besser, Sohnemann«, atmete mein Vater hörbar auf. Dann wurde seine Miene noch einmal ernst und er sprach weiter.

»Du wirst immer unser Sohn bleiben, egal was passiert und Junge, wir lieben Dich!« Meine Mutter nickte zustimmend mit dem Kopf. Auch wenn ich unmittelbar vor der Erwachsenenschwelle stand, übermannte es mich jetzt und ich umarmte meine Eltern. Ich wusste, dass ich mich auf sie verlassen konnte und mir fiel eine ziemlich große Last vom Herzen. Nicht dass ich vorher irgendwelche Todesängste vor diesem Gespräch gehabt hätte, aber sicher war ich mir halt nicht.

»Sag mal, ist dieses Mädel in eurer Klasse neu?«, fragte meine Mutter nun doch sehr neugierig.

»Nö, wieso?«, kam meine verwunderte Gegenfrage.

»Na ja...«, druckste sie nun weiter herum. Mein Vater sprang für sie in die Bresche.

»Deine Mutter meint damit, so ein hübsches Mädel wäre ihr sonst doch schon eher aufgefallen.« Diese Zwischenbemerkung brachte ihm einen Knuff von ihr ein.

»Aaaaachhh sooooo«, grinste ich sie an. Dann erklärte ich ihnen, dass wir Svenja früher nie beachtet hatten, da wir uns eh keine Chancen ausrechneten. Dafür erschien sie uns zu hübsch und vor allem nicht auf den Kopf gefallen. Außerdem haben wir für unsere Späße manchmal von ihr schon Feuer bekommen und ihr dafür eine lange Nase gedreht - das erzählte ich ihnen natürlich nun nicht, aber denken konnte man es ja.

»Na ja, wenn ihr Bruder nur halb so hübsch aussieht, bin ich zufrieden!« - Das konnte sich meine Mutter einfach nicht verkneifen, und ich lief rosarot an.

»Komm Inge, lassen wir unseren Großen mal alleine. Da gibt es wohl noch ein wenig zu verarbeiten«, kam von meinem Vater und nachdem er ihr den Arm um die Schultern gelegt hatte, gingen sie wieder nach unten. Ich nahm wohl zu Recht an, dass auch sie ebenfalls noch ein wenig die ganze Problematik aufarbeiten wollten. So war ich wieder allein in meinem Zimmer und drehte das Blatt mit Tims Zeilen gedankenverloren zwischen meinen Fingern.

,Konnte das stimmen, was mein Vater angedeutet hatte. Bedeutete ihm die Freundschaft auch etwas mehr als...? Na ja an eine schwule Beziehung hatte er definitiv nicht gedacht, das war aus seiner Reaktion gestern mehr als offensichtlich, aber...'

Ich las seine Worte noch einmal gründlich, vor allem die Zeilen des Liedes hatten es mir angetan. Er hatte nicht das komplette Lied aufgeschrieben, vielmehr nur ausgewählte Zeilen. Man konnte sie wirklich auch anders deuten, viel positiver...

Ein kleiner Hoffnungsschimmer breitete sich wieder in mir aus. Entscheidend war nun wohl, was wir daraus machten. Was würde morgen in der Schule passieren? Dieser Gedanke überfiel mich jetzt völlig unvorbereitet - daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht. Hatte ich Angst davor - nein eigentlich nicht! Aber nervös war ich trotzdem.

Der Abend verflog dann recht schnell und bevor ich weiter drüber nachdenken konnte, klingelte mich mein Wecker aus einem erholsamen Schlaf.

Meine Nervosität steigerte sich auf dem Schulweg - was würde mich nun erwarten? In der Klasse grinste mich Svenja an, na da schien ja wenigstens eine ihren Spaß zu haben.

»Kann ich heute Nachmittag bei Dir vorbeikommen?«, raunte ich ihr zu. Verwundert zog sie die Augenbraue nach oben.

»Du willst MICH besuchen?« Ihr Lächeln wurde eine Spur anzüglicher.

»Svenja!!«, genervt verdrehte ich die Augen und sie spürte wohl, dass es mir sehr ernst war.

»Okay, ich bin ab 14 Uhr zu Hause, komm einfach vorbei«, hörte ich sie, aber mein Blick wanderte zu Tim. Na ja nicht so sehr zu Tim, eher zu seinem Platz, denn mein Zwilling war noch nicht da. Nur Corinna saß auf ihrem Platz und unterhielt sich mit einem anderen Mädel. Tims Platz blieb auch nach der ersten Stunde leer, er ließ sich den ganzen Tag nicht blicken. Zum Glück hatte ich ja Svenja, denn die hatte ihre Ohren überall. Irgendwann überraschte sie mich dann mit der Aussage, dass Tim wohl krank wäre - hm, am Freitag hatte er aber noch ziemlich munter ausgesehen.

,Man was soll ich nun machen??', grübelte ich.

Sollte ich bei ihm vorbeischauen - wollte er mich überhaupt sehen???

Diesen Gedanken wälzte ich immer wieder hin und her und konnte zu keinem Entschluss kommen. Am frühen Nachmittag schlug ich dann bei Svenja auf und erzählte ihr die Sache mit Tim und meinen Eltern. Sie freute sich mit mir, dass meine Eltern das so locker aufgenommen hatten, jedoch zu Tim fiel ihr auch keine Lösung ein. Sie tendierte auch dazu, ihm ein wenig Zeit zu lassen. Nach zwei Stunden ergriff ich dann ziemlich überhastet die Flucht. So sehr ich mich nach einer Umarmung von Felix sehnte, so wenig hatte ich Lust, meine Probleme mit ihm zu wälzen. Was sah ich nur in ihm?

Zu Hause schmiss ich erst mal meine Kiste an und wollte meine Mails abrufen. Enttäuscht starrte ich in mein leeres Postfach - Raphael hatte jetzt schon zwei Tage nicht mehr geschrieben. Ich checkte noch einmal meine abgesandten Mails, aber da war alles in Ordnung.

Was war denn hier los? Irgendwie lief hier einiges nicht in so rechten Bahnen. Resigniert seufzte ich laut auf.

Mann, konnte das Leben nicht einfach und unkompliziert sein?? Kaum hatte ich ein Problem gelöst, türmte sich ein nächstes vor mir auf! Um mein schlechtes Gewissen so richtig wachsen zu lassen, summte mein Handy - eine SMS von Felix. Er wollte mich sehen! Meine Antwort war sehr vage, ich ließ mir ein Hintertürchen offen.

****

Die Tage schleppten sich so dahin. Tim war jetzt schon fast eine ganze Woche krank und ich Feigling hatte ihn noch nicht einmal angerufen. Das war der erste Punkt, warum ich mich nicht so blendend fühlte. Am Mittwoch hatte ich dann Felix gesehen, aber bin ziemlich distanziert geblieben. Die Enttäuschung war ihm sehr gut anzusehen und seine traurigen Augen machten mich verrückt. Das war der nächste Punkt, der meine Stimmung weiter in den Keller zog. Und der Hammer war - Raphael hatte sich seit Samstag nicht mehr gemeldet. Ich bin seine letzte Mail immer und immer wieder durchgegangen und war mir jetzt sehr sicher, dass er irgendwie eifersüchtig war. Bloß wie konnte das sein - wir haben doch beide nie mehr als freundschaftliche Gefühle gezeigt. Er hat mir doch auch angedeutet, dass er jemanden in Aussicht hätte. Gegen Tim hatte er nie was gesagt, aber das mit Felix schien ihm echt gegen den Strich zu gehen. Aber wieso schrieb er mir das denn nicht - dieses Schweigen war einfach eine riesengroße Scheiße!! Ich hatte immer noch nicht richtig verkraftet, dass Chris so sang und klanglos unsere Mailfreundschaft beendet hatte und nun fing Raphael auch mit diesem Mist an??!! Auf jeden Fall fehlten mir seine Mails sehr - seine Worte waren mir einfach wichtig. Und wie gerne hätte ich mich mit ihm über die Sache mit Tim ausgetauscht.

Heute, am frühen Freitagmorgen hatte ich die Faxen dicke. Ohne Wecker war ich schon gegen 5 Uhr wach und mein Postfach gähnte mir immer noch leer entgegen. Ich schrieb ihm eine Mail und machte ihm klar, wie ich sein Schweigen fand. Nachdem das raus war, schilderte ich ihm etwas versöhnlicher, was sich noch so ereignet hatte und ich seinen Rat hören wollte.

Dann machte ich mich auf den Weg zur Schule, zum Glück war es ja der letzte Schultag in dieser Woche. Die erste Überraschung erwartete mich im Klassenraum - Tim war wieder da und...

Er sah fürchterlich aus. Entsetzt zog ich die Luft ein. Er bekam das mit und nickte mir recht schlapp zu. Dann wichen seine Augen aber meinen aus und er stierte auf einen Punkt vor sich auf dem Tisch. Traurig setzte ich mich auf meinen Platz. Svenja hatte natürlich alles mitbekommen und legte mir aufmunternd die Hand auf meinen Arm. Meine Augen waren nach wie vor wie gebannt auf meinen Zwilling gerichtet und somit konnte ich erkennen, dass mittlerweile Tims Freundin ihren Platz erreicht hatte. Tim entzog sich aber ihrem Begrüßungsküsschen und schien auch sonst nicht so viel Interesse an einer Konversation mit ihr zu haben. Das störte Corinna aber nicht im Mindesten, denn sie redete ununterbrochen auf ihn ein. Dann fing zu seinem Glück die Stunde an und sie musste ihn zufrieden lassen. Ich konnte es nicht lassen und warf immer mal wieder verstohlene Blicke zu Tim hinüber und erwischte ihn ein paar Mal, wie sein Blick auf mir ruhte. Passierte das, schaute er jedes Mal jedoch schnell weg. Die Stunde zog sich ewig hin und auf den Unterricht konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Svenjas Ellenbogen sorgte schon dafür, dass ich nicht ganz in meine Gedankenwelt abdriftete. Dann klingelte es endlich zur Pause und mich hielt nichts mehr auf meinen Platz - ich musste mit Tim reden, das ging einfach nicht so weiter. Jedoch zog mich eine Hand wieder auf meinen Stuhl zurück. Verwundert drehte ich mich zur Seite und sah in ein ernstes Gesicht meiner Nachbarin.

»Jean, keine so gute Idee!«, murmelte sie leise.

»Warum?«, fragte ich sie laut.

»Irgendetwas braut sich da zusammen. Warte einfach bis zum Ende des Schultages, okay!«, beschwor sie mich. Bevor ich noch was Sinnvolles sagen konnte, wurde es im Klassenraum ziemlich unruhig. Der Ausgangspunkt war der Tisch von Tim. Jedoch die Person, die die Unruhe verbreitete, war seine Flamme. Sehr laut führte sie ein Gespräch mit ihren Freundinnen, die sich um sie versammelt hatten. Zuerst waren nur Wortfetzen zu verstehen, aber irgendetwas sagte mir, dass sie nicht umsonst ihre Stimme noch ein wenig anhob.

»Stellt Euch vor, was ich gestern Interessantes erfahren habe!« Ihre Stimme hatte irgendwie einen triumphalen Klang.

,Warum wurde es auf einmal so ruhig in der Klasse?', durchfuhr es mich. Corinna tratschte doch immer irgendetwas mit ihren Weibern.

»Wir haben eine Schwuchtel in unserer Klasse!«, posaunte sie auf einmal heraus.

»Was...?«

»Wie...?«

»Los sag schon, wer...?« Ihre Grazien überschlugen sich förmlich, um auch den Rest zu erfahren.

»Tja das ist jemand, der uns seit einiger Zeit mächtig was vorspielt. Von wegen Weiberheld und so...« Mit diesen Worten wollte sie wohl die Spannung noch ein wenig steigern. Ich fand das nun wirklich nicht mehr spannend - mir war hundeelend. Zu allem Überfluss drehte sie sich auch noch langsam in unsere Richtung.

,Bitte, lass sie das nicht wissen!!!', betete ich still vor mich hin.

»Na Jean, was wolltest Du denn von meinem Freund, Du kleine schwule Sau!«, schrie sie mir fast ins Gesicht.

PENG, damit war es raus und das war sooo laut, die Nachbarklasse müsste taub sein, um das nicht mitbekommen zu haben. Fassungslos starrte ich hinüber - mein Hals war staubtrocken. Mein Blick war jedoch nicht auf Corinna gerichtet, nein meine Augen ruhten auf Tim. Er war kreidebleich, seine Augen waren schreckensweit geöffnet und seine Lippen bewegten sich lautlos. Irgendwie kam mir der Gedanke, dass ich in einen Spiegel sah - denn anders sah ich bestimmt auch nicht aus. Ansonsten beherrschte mich nur eins.

,Wie konnte er mich so verraten!!!' Das erste Mal in meinem Leben spürte ich so etwas wie Wut. Dieses Gefühl in Verbindung mit meinem Zwilling war mir total fremd, aber jetzt war es da!

Die Klasse war nach wie vor mucksmäuschenstill und wartete auf eine Reaktion von mir. Doch ich starrte nur Tim an. Die Reaktion kam von einer ganzen anderen Seite. Neben mir spürte ich eine Bewegung und bevor ich registrieren konnte, was da geschah, war Svenja an Tims Platz gegangen.

Das Seltsame war, sie schien Corinna gar nicht wahrzunehmen, auch sie schien nur Augen für Tim zu haben.

»Wie konntest Du das tun!!«, hörte ich sie aufgebracht Tim anraunzen. Tim sah sie an und sein Gesicht wurde noch weißer, wenn das überhaupt ging.

»Du warst ja in den letzten Wochen ein richtiger Arsch, aber was Du Dir jetzt geleistet hast, ist das Letzte! So hintergehst Du Deinen besten Freund?!«, sprach sie mit eisiger Stimme zu ihm, aber eine Handbewegung stellte dann alles in den Schatten...

... sie scheuerte Tim eine. Und das war eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Diese Aktion löste auch die Erstarrung, die auf der Klasse lag. Corinna reagierte mit als erste und schrie Svenja an.

»Du blöde Zicke, lass meinen Freund zufrieden!«, keifte sie los. Langsam wandte sich die Angesprochene der Gegnerin zu.

»Halts Maul, Du Schlampe - sonst fängst Du Dir die Nächste!!« Sprachlos starrte Corinna Svenja an. Das hatte ihr die Sprache verschlagen, dieser Ton und vor allem solche Worte war man von der Klassenbesten nicht gewohnt. Der Augenblick der Ruhe herrschte aber nur einen Moment vor, dann brach die Hölle los. Corinna stürzte sich auf Svenja...

Ich bekam das alles nur am Rande mit. Mein Blick ruhte immer noch auf Tim. Nach der Ohrfeige war er in sich zusammen gesunken und saß wie ein Häufchen Unglück auf seinem Platz - konnte ich da sogar Tränen sehen?? Bei diesem Anblick war meine Wut fast augenblicklich verraucht.

Hier stimmte etwas nicht!

Eigentlich sollte ich mich ja mehr um mich sorgen, denn mein Geheimnis war nun keins mehr. Jedoch der Tumult in der Klasse steigerte sich noch mehr und keiner schien sich so richtig um mich zu kümmern. Bevor die beiden Mädels nun handgreiflich wurden, donnerte auf einmal eine Stimme von der Tür.

»Was ist hier los???« Im Türrahmen stand Herr Müller. Augenblicklich war Ruhe in der Klasse. Seine Augen wanderten funkelnd umher, blieben erst bei den beiden Mädels hängen, etwas länger verweilte er bei Tim, um mich danach gründlich zu mustern.

»Herr Müller, Svenja hat...«, fing Corinna mit schmieriger Stimme an, doch ein Blick vom Müller ließ sie verstummen.

»So, jetzt gehen alle auf ihre Plätze, der Unterricht hat schon vor ein paar Minuten angefangen!«, hörte ich seine strenge Stimme.

»Mathebuch Seite 120, Aufgaben 3 bis 6, damit müssten Sie eine Weile beschäftigt sein und ich will hier kein Mucks mehr hören!«, grummelte er weiter. Unter allgemeinem Stühlerücken nahmen alle wieder ihren Platz ein.

»Tim, Sie packen ihre Sachen und gehen nach Hause. Nutzen Sie das Wochenende und kurieren Sie sich richtig aus!« Seine Stimme war sehr viel weicher geworden.

»Und Sie, Jean, begleiten mich bitte jetzt zum Lehrerzimmer!« Ich konnte meinen Blick nicht von Tim wenden und sah, wie er geistesabwesend seine Sachen zusammenpackte. Die Worte von Herrn Müller hatte ich wohl gehört, nur verstanden hatte ich sie nicht.

»Jean??«, hörte ich ihn von der Tür, aber erst der sanfte Schups von Svenja brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Mein Blick wanderte zur Tür und Herr Müller machte eine auffordernde Handbewegung, ihm zu folgen. Mein Hirn hatte wohl ausgesetzt, jedoch meine motorischen Fähigkeiten waren mir erhalten geblieben. So kam ich Schritt für Schritt der Tür näher, meine Augen waren dabei aber wieder auf Tim gerichtet. Ich suchte seinen Blick, wollte in seinen Augen lesen - selbst sehen, dass er mich verraten hatte. Tim hatte sich aber von mir, nein nicht nur von mir sondern von der ganzen Klasse abgewandt und packte apathisch seine Sachen in die Tasche. Dann unterbrach Herr Müller den Blickkontakt, indem er die Tür schloss. Die ersten Meter schob er mich vor sich her, dann war ich selbst in der Lage, ihm zu folgen. Langsam gingen wir schweigend zum Lehrerzimmer. Dort führte er mich in einen kleinen Nebenraum und bot mir einen Platz zum Sitzen an.

»Jean, Sie haben es vielleicht schon vergessen, aber ich bin auch so eine Art Vertrauenslehrer an der Schule. Ich helfe Schülern, die Probleme mit Lehrern, ihren Eltern oder Mitschülern haben. Bei Ihnen war das bisher nicht nötig, da Sie mit ihrem Schatten bisher alles gut im Griff hatten«, hörte ich Herrn Müller anfangen, bei den letzten Worten lachte er sogar leicht auf.

»Aber nun scheint Ihr Leben ein bisschen aus der Kontrolle geraten zu sein?!?«, fuhr er in einem ruhigen Ton fort.

»Was wissen Sie schon?«, brach es aus mir raus.

»Ja, was weiß ich schon?«, kam seine Gegenfrage.

»Aber vielleicht erzählen Sie mir ja ein wenig!?«

,Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Lehrer es ehrlich meint?', grübelte ich. Bloß was hielt mich davon ab, nicht offen mit ihm über die Geschehnisse im Klassenzimmer zu reden? Das Thema würde in den nächsten Stunden eh die Runde in der Schule machen.

»Was haben Sie denn vorhin schon mitbekommen?«, fragte ich Herrn Müller.

»Hm, vielleicht alles oder auch nichts«, war seine Antwort, die verworrener nicht hätte sein können. Mein Gesicht spiegelte wohl meine Zweifel wieder.

»Entschuldige Jean, ich wollte Sie nicht verschrecken, aber ich bin es nicht mehr gewöhnt, dass ein Schüler seine Probleme bereitwillig preisgibt. Eigentlich ist es mir egal, was da vorhin im Klassenraum passiert ist. Wenn wir uns darüber unterhalten, dann möchte ich erst Ihre Version hören!«

Diese Worte überraschten mich dann doch. Sie passten nicht so zu dem Bild des harten, strengen und unnahbaren Lehrers. Mir gegenüber saß ein Mensch, der mir wirklich zuhören wollte, egal was sein Antrieb dazu war. So überwand ich meine Hemmungen und erzählte ihm, was vorhin im Klassenraum passiert war. Der Miene des Herrn Müller war nichts zu entlocken. Nach meinen Worten saßen wir eine Weile schweigend da. Es war keines der unangenehmen Art. Bevor ich jedoch wieder ins Grübeln verfiel, unterbrach der Lehrer die Stille.

»Und Herr Neumann, was denken Sie nun - wie wird es weiter gehen??« Gute Frage, nervös machte mich aber mehr die Nennung meines Nachnamens.

»Gute Frage, aber könnten wir bei Jean bleiben, die andere Variante lässt mich so erwachsen erscheinen und so fühle ich mich zurzeit echt nicht!«

»In Ordnung, Jean und...?«

»Na ja, eigentlich bin ich auch etwas erleichtert, dass es raus ist. Den Zeitpunkt und die Umstände hätte ich zwar selber gerne bestimmt.«

»Sie scheinen das ja doch ganz locker zu nehmen!«, hörte ich eine gewisse Verwunderung aus seiner Stimme.

»Dann nehme ich wohl zu Recht an, dass Ihre Eltern das wissen?« Zur Bestätigung nickte ich mit dem Kopf. Dann setzte ich ihn kurz von meinem Outing zu Hause und der Reaktion meiner Eltern in Kenntnis.

»Zu Ihren Eltern kann ich Ihnen nur gratulieren. Leider verläuft es manchmal nicht so harmonisch.« Auch aus seinen Worten war die Erleichterung heraus hörbar.

»Aber irgendwie glaube ich, diese Frage stellt sich heute nicht, oder?«, sprach Herr Müller weiter.

»Glauben Sie wirklich, dass Tim das gemacht hat, was ihm vorgeworfen wird??«, stellte er die ultimative Frage. Ich konnte keine Antwort drauf geben, denn ich wusste es nicht. Nein, das war so nicht ganz richtig. Wenn es wahr war, dann wollte ich es nicht wissen, anderseits traute ich es ihm nicht zu. Und wenn ich mir das Bild von vor ein paar Minuten heraufbeschwor, dann schien er sehr zu leiden.

»Jean, ich kann Ihren Zwiespalt sehen. Lassen Sie mich mal ein paar Worte über jemanden verlieren, der nur Außenstehender in der ganzen Angelegenheit ist - von mir. Ich habe Sie beide vor ein paar Jahren als untrennbare Einheit kennen gelernt. Zugegeben, Sie waren manchmal schon etwas anstrengend, aber die schulischen Leistungen waren nicht so schlecht. Ich habe selten solch eine Freundschaft gesehen. Vor ca. einem Jahr sackten Ihre Leistungen dann aber ab und das Lehrerkollegium stand kurz davor zu reagieren. Dann kam die Wende und die hatte den Namen Svenja. Aber die Unzertrennlichen waren auf einmal nicht mehr unzertrennlich. Und so sehr Sie wieder Ihre Leistungen steigerten, um so mehr sackte Tim ab. Sie haben mir durch die Blume gesagt, dass Ihnen Tim fehlt. Ich steigere das mal noch ein wenig, er fehlt Ihnen wahnsinnig - Sie sind in ihn verliebt!« Die letzten Worte ließen mich zurückzucken und ich wollte gerade anfangen zu protestieren, das ging ihn ja nun wirklich nichts an!!

»Moment, bevor Sie mich lynchen, lassen Sie mich bitte meine Ausführungen erst beenden. Jean, ich bin nicht blind. Ich habe durchaus mitbekommen, wie sehr Sie sich «Ihren Tim» zurückwünschen, aber das ist leider Vergangenheit. Ich möchte Ihnen jedoch mal die Augen für die andere Seite öffnen. Haben Sie mal daran gedacht, was Tim alles verarbeiten muss? Auch Sie waren für ihn etwas Besonderes und aus seinen Gesten sehe ich, dass Sie ihm genauso fehlen wer er Ihnen! Ihr Freund braucht dringend jemanden, an dem er sich aufrichten kann oder jemanden, der ihn in den Arsch tritt!« Obwohl er leise und eher sanft gesprochen hatte, schlugen die Worte wie eine Bombe bei mir ein.

Entgeistert sah ich ihn an - Tim hatte doch seine Freundin, hatte sich doch von mir zurückgezogen. Und das fasste ich auch in Worte.

»Tim hat sich doch von mir zurückgezogen und sich neue Freunde gesucht! Er hat mich nach meinem Outing im Regen stehen lassen. Da hätte ich ihn echt gebrauchen können!«

»Ist das nicht ein klein wenig egoistisch gedacht? Eins ist Fakt - egal was die letzten Wochen passiert ist, heute war es offensichtlich, dass Tim Unterstützung braucht. Jean, er braucht Ihre Hilfe. Weisen Sie die Hand, die sich nach Ihnen ausstreckt nicht zurück!«

Ich spürte, dass Herr Müller Recht hatte, aber wollte ich das wirklich hören? Konnte ich über seinen Verrat so einfach hinweggehen? Fragen über Fragen schossen mir durch das Gehirn.

»Jean, ich sehe, dass ich Ihnen vielleicht einen kleinen Denkanstoß gegeben habe. Gehen Sie nach Hause und denken in Ruhe darüber nach. Ich sag Svenja Bescheid, dass sie sich um Ihre Schulsachen kümmert.« Das ganze Verhalten passte in meinen Augen nicht zu der Gestalt »Mathe-Monster-Müller«, aber ich würde seiner Bitte sehr gerne nachkommen. Langsam erhob ich mich und trottete zur Tür.

»Und Jean?!«, hörte ich noch in meinem Rücken.

»Ja?«

»Falls es irgendwelche Probleme mit Schülern oder Lehrern gibt, lös nicht alles alleine - komm einfach zu mir und wir finden eine Lösung, okay?« Seine Augen waren bei den Worten forschend auf mich gerichtet. Wenn ich es nicht schon vorher mitbekommen hätte, wäre ich jetzt endgültig überzeugt, dass ich diesem Lehrer trauen konnte.

»Vielen Dank und auf Wiedersehen Herr Müller!«, verabschiedete ich mich. Ich musste erst einmal Ordnung in meine ganzen Gedanken bekommen. Das Gespräch mit dem Pauker hatte die Sache nicht gerade vereinfacht. Wieder einmal verbrachte ich den Weg nach Hause tief in Gedanken. An der Haustür empfing mich mein Vater verwundert.

»Hm Sohn, was machst du denn schon hier??«

»Herr Müller hat mich nach Hause geschickt!«, murmelte ich leicht abwesend als Antwort.

»DER Müller etwa??«, fragte mein Vater erstaunt.

»Nach Euren Worten, wie war das noch mal ,MMM - Mathe Monster Müller', macht diese Freistellung doch keinen Sinn, oder... ??«

Das ,oder' hatte einen eher sorgenvollen Unterton. Ich hörte gar nicht richtig hin und drängte mich an ihm vorbei, warf meine Jacke über den Kleiderständer. Mit schwerem Schritt wollte ich mich die Treppe hoch quälen.

»Jean?« Die Stimme meines Vaters war lauter geworden, was mich aus meinen Gedanken schrecken ließ.

»Ja?« Ich sah seinen fragenden Blick, aber konnte mich nicht erinnern, was er eigentlich wollte.

»Mann Junge, du bist ja total durch den Wind. Was ist denn passiert?«, fragte er vorsichtig.

»Können wir darüber heute Abend reden? Ich brauch ein paar Minuten, um mir über einiges klar zu werden«, murmelte ich. Die Enttäuschung war ihm anzusehen, aber ich wollte das Ganze innerhalb von einer halben Stunde nicht noch einmal durchkauen. Sein Nicken reichte mir aber als Antwort und Sekunden später lag ich auf meinem Bett. Meine Gedanken rasten - ich fand kein Anfang und kein Ende in diesem Wirrwarr.

,Okay, dann fang einfach einmal von Vorne an. Was ist heute in der Schule passiert??' Tim war den ersten Tag in der Woche da und er sah schlecht aus. Er sah nicht krank aus, nein eher sehr niedergeschlagen.

Aber warum?? Was war da vorgefallen? Dann die Ereignisse der ersten größeren Pause. Nun war es also raus! Und wie ich schon Herrn Müller gesagt hatte, es hob mich nicht weiter an. Die Art und Weise des Outing war mehr als Mist, aber irgendwie war ich erleichtert, dass es raus war. Jetzt kam es auf die Reaktion meiner Mitschüler an, aber das war mir zurzeit auch mehr als Schnuppe. Mich interessierte nur mein Zwilling. In meinem Geiste sah ich sein Bild nach den Worten von Corinna. Es war eindeutig - danach sah er noch schlechter aus. Man könnte fast annehmen, dass ihn die ganze Sache mehr mitnahm als mich. Mist, durch Grübeln kam ich hier nicht weiter. Auf einmal hatte ich mein Handy in der Hand und die Nummer von Tim leuchtete auf.

»Dieser Anschluss ist zur Zeit nicht erreichbar!«, flötete mir eine Frauenstimme in mein Ohr - Tim hatte sein Handy abgestellt. Also der nächste Versuch - Festnetz. Ich ließ es bestimmt zwanzigmal klingeln, aber keiner nahm ab. In der Zwischenzeit hatte ich meinen Rechner hochgefahren und hatte mich zu meinem Postfach durchgeklickt...

Der verlorene Mailfreund hatte wieder geschrieben, ich hatte Post von Raphael. Ich las die ersten Worte und schon hatte dieser Kerl mich in seinen Bann gezogen. Er entschuldigte sich von Herzen bei mir für sein bescheuertes Verhalten und die Art und Weise seiner Zeilen zeigten mir, dass ihm das nicht so einfach gefallen war. Er gab aber auch schonungslos zu, dass ich mit meinem Eifersuchtsverdacht sehr richtig lag. Raphael umschrieb das jedoch so, dass er sehr darauf eifersüchtig war, dass ich nun schon diesen Freund hatte und er halt immer noch nicht. Ein Satz machte mich etwas stutzig, da stand

,Für mich ist meine große Liebe leider in letzter Zeit noch mehr in die Ferne gerückt, fast endgültig unerreichbar!'

Warum war das so? Er hatte noch nie groß über diesen Jungen geschrieben, den er so anbetete. Auf jeden Fall schien seine Liebe unglücklich zu sein und da kam ihm mein Glück wie ein Hohn vor. Ich hatte ihm schon längst nach den ersten Worten verziehen, aber mein Kopf war mit Problemen gerade so überlastet, dass ich der Sache keinen näheren Gedanke schenkte. Mit Freude las ich, dass er nie wieder so lange Schweigen wollte und ich ihm bei einem wiederholten Auftreten solchen Verhaltens auch mal cybermäßig in den Arsch treten sollte. Das konnte er haben, der Kleine. Dann beglückwünschte er mich zu meinem Outing und erzählte mir ein wenig von seinen Erfahrungen. Bei seinen Eltern war alles problemlos verlaufen. Das Problem war eigentlich nur der ellenlange Vortrag, den er sich danach über Safer-Sex hatte anhören müssen. Aber von Sex, schrieb er, war noch lange keine Rede - sein Seufzen konnte ich bis hierher hören und sehr gut nachvollziehen, denn bis vor ein paar Tagen hatte ich auch nur zu Träumen davon gewagt. Außerhalb seiner Familie war es aber nicht so sehr bekannt. Was mich gedanklich wieder zu dem Punkt brachte, wer waren seine Freunde, in welche Schule ging er, wie wohnte er - soviel wir auch miteinander mailten, aber seine konkreten Verhältnisse waren mir mehr als schleierhaft. Dann kam er auf Tim zu sprechen und seine Aussage war dieselbe wie meine Überlegungen - ich sollte unbedingt persönlich mit ihm reden. Raphael wusste ja noch gar nichts von den Ereignissen heute und gab mir denselben Rat. Um seine Unkenntnis zu beheben, aber auch um die ganze Sache noch einmal aufzuarbeiten, schilderte ich ihm die Geschehnisse des heutigen Vormittags. Je öfter ich mich damit befasste, desto klarer wurde mir, dass mit meinem Zwilling was nicht stimmte. Nachdem ich die Mail auf Reisen geschickt hatte, versuchte ich es noch einmal telefonisch, aber das Ergebnis war genauso frustrierend, wie vor einer Stunde.

Bevor ich mich zu einem persönlichen Besuch aufraffen konnte, wollte ich mir noch eine Meinung einholen. Das Opfer saß nur ein paar Meter weiter in der Küche - mein Vater. Er kannte Tim, seit dem dieser Laufen konnte. Wie nicht anders zu erwarten, saß mein Vater am Küchentisch und las die Tageszeitung. Erstaunt sah er hoch, konnte aber eine erwartungsvolle Miene nicht ganz unterdrücken.

»Ich würde gerne Deine Meinung hören«, fiel ich gleich mit der Tür ins Haus. Mein Vater faltete die Zeitung zusammen, goss uns beiden einen Kaffee ein und setzte sich mir gegenüber. Irgendwie wusste ich nicht, wie ich richtig anfangen sollte.

»Na Großer, wo drückt der Schuh?«, fragte mein Vater ganz allgemein, sein forschendes Auge war jedoch auf mich gerichtet. Okay, ich gab mir innerlich einen Stoß und erzählte ihm die ganze Angelegenheit vom Vormittag. Ich versuchte jede Deutung oder Anspielung zu unterlassen, denn ich wollte eine unbeeinflusste Meinung von ihm.

»Und Jean, was möchtest Du jetzt von mir hören?«, war seine Reaktion, nachdem ich geendet hatte.

»HE???« Was war das denn für eine Frage???

»Mein Junge, Du hast doch Deine Entscheidung schon längst gefällt!«

,Na Klasse, da frage ich ihn mal und dann solch eine Antwort!', dachte ich mir und meine Entrüstung war mir wohl auch sehr gut anzusehen.

»Moment Jean, bevor Du das in den falschen Hals bekommst. Ich bin verdammt froh und auch ein wenig stolz, dass Du zu Deinem alten Vater kommst und mit mir so etwas besprichst. Ich wollte mit meinen Worten nur zum Ausdruck bringen, dass ich genau Deiner Meinung bin - geh schnellstens zu Tim und rede mit ihm!!«, kamen die besänftigenden Worte von ihm. Erstaunt sah ich ihn jetzt doch an, denn von diesem Entschluss hatte ich ja noch gar nichts verlauten lassen.

»Woher weißt Du das?«, kleidete ich mein Erstaunen auch in Worte.

Mein Vater lächelte still vor sich hin. »Ich hätte es nicht anders gemacht und Deine Gene kannst Du nun mal nicht verleugnen!«

Aber da war noch etwas anderes...

»Hm..., weißt Du...«, stotterte ich ein wenig vor mich hin.

»Ja, ich weiß - Du hast Angst! Aber wenn sich Tim nicht grundlegend geändert hat, was ich eigentlich bezweifele, so wie ich ihn kenne, dann wartet er auf Dich!«

Zweifelnd sah ich meinen Vater an. Nach den Ereignissen der letzten Wochen konnte ich mir das eigentlich nicht denken, aber wenn ich mir das Bild meines Zwillings von heute Vormittag so vor Augen hielt, könnte an den Worten was Wahres dran sein.

»Geh mein Sohn, das bist Du Eurer Freundschaft schuldig, auch wenn Du es nicht wahrhaben willst, aber ich glaube, Ihr Beiden braucht Euch!« Seine letzten Worte waren für mich so etwas wie ein geistiger Schubser und mein letzter Widerstand schmolz dahin.

»Danke«, murmelte ich, erhob mich vom Stuhl und wandte mich zum Gehen.

»Jean?«, hörte ich meinen Vater noch einmal in meinem Rücken fragen.

»Ja!?«

»Darf ich Dir noch einen Rat geben?« Sein Ton war auf einmal sehr vorsichtig.

»Klar«, meine Stimme klang fester, als ich mich fühlte.

»Auch wenn er auf Dich wartet, heißt das nicht zwangsläufig, dass er Dich auch erwartet!« Verwirrt war noch ein untertriebener Begriff für das, was gerade in mir vorging. War das jetzt so ne Erwachsenensache - verworren zu Reden, um zu zeigen, dass noch viele Rätsel des Lebens vor einem liegen? Dafür hatte ich nun wahrlich keinen Sinn, das Problem, was ich jetzt lösen wollte, war schon groß genug - hoffentlich nicht zu groß.

»VATI???!!!«, stieß ich dann auch ein wenig genervt hervor und drehte mich wieder zu ihm um. Er hob die Hände abwehrend vor seine Brust und lächelte mir aufmunternd zu.

»Ist ja schon gut, Junge. Ich wollte Dir nur etwas verschlüsselt sagen, dass Tim es Dir nicht leicht machen wird. Du musst vielleicht mehr Rücksicht aufbringen, als Du Dir jetzt vorstellen kannst. Dein Freund fühlt sich zurzeit von allen und jedem verlassen. Bitte erzwing heute nix, es wäre für Euch beide schon ein Erfolg, wenn ihr bloß wieder miteinander redet!«

Während dieser Worte war er aufgestanden und stand nun vor mir. Mein heroischer Entschluss, jetzt sofort zu Tim zu gehen, kam schon wieder ins Wanken. Mein Vater nahm mich aber bei den Schultern, drehte mich zur Tür und schob mich in ihre Richtung.

»Nein, nein, nein - Du gehst jetzt!«, murmelte er und gab mir noch einen Klaps auf meinen Hintern.

Dann stand ich vor unserer Haustür und meine Beine kannten den Weg ja von alleine. Je näher ich Tims zu Hause kam, desto langsamer wurde mein Schritt.

Was sollte ich sagen??? Und vor allem...

Wie sollte ich das Was sagen??

Ehe ich diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, wobei ich mir nicht sicher war, ob es da überhaupt ein Ende gab, stand ich auf einmal vor seinem Haus. Ein kleines Stoßgebet zum Himmel und ich nahm all meinen Mut zusammen, den ich noch besaß und klopfte an die Tür. Bevor ich meine Hand zum zweiten Klopfen an die Tür führte, wurde diese aufgerissen und Tims Mutter stand vor mir. Sie war eine attraktive Frau Ende dreißig und dass mein Zwilling ihr Sohn war, konnte man auf den ersten Blick feststellen. Sie hatte ihr sehr positives Erscheinungsbild an ihren Nachwuchs weitergeben, und das so sehr, dass mich der Anblick alleine schon wieder zweifeln ließ. Zweifeln daran, ob ich ihn wirklich loslassen könnte.

»Hallo Jean, Dich schickt der Himmel!«, sagte sie und ein kleines Lächeln huschte über ihr verzweifeltes Gesicht. Sie sah zutiefst betrübt aus und ihre Augen glitzerten leicht feucht.

»Hallo«, presste ich durch meine Lippen, denn zu mehr war ich nicht fähig. Sie nahm meinen Arm und zog mich in die Wohnung.

»Tim will einfach nicht mit uns reden. Seit Tagen verschanzt er sich in seinem Zimmer. Heute Morgen hat Klaus ein Machtwort gesprochen und er ist gezwungenermaßen zur Schule gegangen - nur war er am frühen Mittag wieder da. Weißt Du, was mit ihm los ist???« Tims Mutter sprach ohne einmal Luft zu holen auf mich ein und die letzte Frage war mit einem flehentlichen Blick an mich gerichtet.

»Ist er in seinem Zimmer oder im Hobbyraum?«, beantwortete ich ihre Frage mit einer Gegenfrage.

»In seinem Zimmer«, kam ihre Antwort.

»Okay«, murmelte ich und holte noch einmal tief Luft. Zaghaft klopfte ich an seine Tür...

... kein Laut, nichts geschah...

So versuchte ich es noch einmal, wieder nichts. Ich legte meine Hand auf die Klinke - noch zögerte ich. Hier und jetzt stand ich vor der Entscheidung. Ich könnte mich umdrehen und wieder gehen.

,Warum sollte ich den ersten Schritt machen??' Dieser Satz hallte mit einem trotzigen Ton in meinem Kopf. Die Antwort kam postwendend.

,Wenn Du ihn nicht machst, wird es wahrscheinlich nie passieren. Du brauchst diese Freundschaft wie die Luft zum Atmen!' Entschlossen drückte ich die Klinke herunter und mit einem Ruck öffnete ich die Tür. In seinem Zimmer war es stockdunkel und auch das bisschen Licht, das aus dem Flur in das Zimmer drang, erhellte es nicht wirklich. Vorsichtig trat ich ein und schloss die Tür nervös hinter mir. Warum nervös?? - ich hatte Tim in dem kurzen Moment des Lichtes nicht ausfindig machen können. Auf seinem Bett lag er nicht.

Wo war er??

»Tim???«, flüsterte ich leise in die Leere des Raumes.

Keine Antwort, kein Atmen - einfach nichts!

»Timmy???«, mein Flüstern wurde lauter, fragender, aber auch nervöser.

Wieder war nichts zu hören...

... doch halt, da war ein leichtes Schnaufen...

»Tim, bitte...«, meine Stimme war jetzt nur noch ein Krächzen. Mir wurde es in meinem Hals sehr eng.

Wieder diese Stille, unterbrochen vom Schnaufen oder war es mehr ein Schluchzen?

Ich hatte solch eine Ahnung, wo Tim etwa war. Da ich mich in seinem Zimmer blind auskannte, ging ich zu seinem Bett, um mich darauf niederzulassen. Er musste sich genau in der Ecke gegenüber befinden.

»Weißt Du Timmy, was mich verrückt macht, was in den letzten Wochen immer schlimmer wurde...??«, leise ließ ich die letzten Worte ausklingen. Nicht, dass ich wirklich eine Antwort von ihm erwartet hätte, aber wenn ich es ihm jetzt nicht sagen würde, würde es nie passieren.

»Die Sehnsucht!«, gab ich mir selbst die Antwort und dieses Wort wirkte wie eine Schleuse. Eine Schleuse, die all die Emotionen, die ich mühsam die ganzen Tage unterdrückt hatte, wie ein Geysir freigab. Ich verlor die Kontrolle, mein beherrschtes Äußeres brach einfach zusammen.

»Ich weiß nicht, wann es genau passiert ist...«

»... aber es ist passiert... ja... ich habe mich verliebt...«, die Worte kamen immer stockender, leiser.

»... ich habe mich in Dich verliebt... in meinen besten Freund... .« Die Tränen liefen mir über die Wangen.

»Es hätte nie geschehen dürfen. Wie oft habe ich mir eingeredet, dass es nicht stimmt, dass wir nur Freunde sind, aber...«, meine Stimme war wieder schneller geworden, so als wollte ich meine Erklärung ohne Unterbrechung an den Mann bringen.

»... aber dann war es meistens eine kleine Geste oder Blick von Dir, der mir Hoffnung auf mehr machte, der mich träumen ließ...«

»Die Sehnsucht wurde immer größer und meine Träume immer intensiver und dann...« Ein bitteres Lachen kam mir über die Lippen.

»Dann platzte mein Traum wie eine Seifenblase. Von heut auf morgen warst Du unerreichbar für mich. Mein Tim war einfach nicht mehr da...«, während meines stockenden Monologes hatte ich eine Bewegung in der Zimmerecke wahrgenommen. Anhand der Geräusche konnte ich erkennen, dass Tim aufgestanden war und sich mir langsam näherte. Nach meinen letzten Worten stand er unmittelbar vor mir, auch wenn ich es mehr fühlte als sah. Ich hob ein wenig meinen Kopf.

»... ja Du warst nicht mehr da, aber die Sehnsucht ist geblieben!!« Langsam erhob ich mich - ich wollte wenigstens versuchen, ihm in die Augen zu schauen. So standen wir uns schweigend einen Augenblick gegenüber, ich konnte ihn riechen, seine Tränen fühlen und dann...

... riss mich Tim in seine Arme, klammerte sich wie ein Ertrinkender an mich. Mit heiserer Stimme flüsterte er in mein Ohr.

»Jean, Du fehlst mir!«

Ich weiß nicht, wie lange wir so eng umschlungen in seinem Zimmer gestanden hatten. Tim hatte seinen Kopf an meinen Hals gelegt und ich spürte seine Tränen. Mir ging es nicht anders, nur fiel eine ungeheure Last von meinem Herzen. Wir hatten eine neue Chance erhalten.

Nur wie würden wir sie nutzen??

Tim zitterte in meinen Armen und ich zog ihn noch enger an mich. Es dauerte bestimmt Minuten, bis er sich einigermaßen beruhigte und nur noch leise vor sich hin schniefte. Dann löste er sich vorsichtig aus meinen Armen. Er blieb jedoch vor mir stehen und ließ den Kopf hängen.

»Timmy was ist?«, fragte ich leise, denn ich spürte, dass ihn etwas bedrückte.

»Ich..., ich war... es nicht!«, stammelte er, wobei er immer noch ein leichtes Schluchzen unterdrücken musste.

Ich wusste sofort, wovon er sprach. In seiner Stimme war soviel Aufrichtigkeit und Unsicherheit, dass ich ihm einfach glauben musste.

Aber hatte ich es überhaupt auch ernsthaft angenommen, dass er mich verraten hatte??

Mit Erschrecken musste ich mir eingestehen, dass die Antwort darauf ein fast eindeutiges Ja war. Hatte ich ihm das wirklich zugetraut - meinem Zwilling??!! Diese Erkenntnis schockte mich und ich sank wieder auf das Bett.

Ich war hierher gekommen, um seine Entschuldigung zu hören!! Ja, eigentlich wollte ich ihn flehen sehen und nun das!

Ich kam mir sooooo mies vor - ich war das Arschloch!

Tim kannte mich viel zu lange, um diese Veränderung bei mir nicht zu bemerken, aber er deutete sie falsch.

»Jean, bitte glaube mir!!« Sein Schluchzen wurde wieder stärker.

»Psst, Tim, ich glaube Dir!«, sagte ich ein wenig lauter, als ich wollte, so dass wir beide ein wenig erschraken und schob umso leiser hinterher:

»Hätte ich das nur von Anfang an!«

Tim ging vor mir in die Hocke.

»Wie meinst Du das, von Anfang an?«, hörte ich ihn verwundert, sehen konnte ich ihn immer noch nicht richtig.

»Na ja, wie konnte ich nur annehmen, dass gerade Du mich verraten hättest?«, offenbarte ich ihm meine Gefühle.

»Weil es mir genauso ergangen wäre. Ich komme heute das erste Mal nach Deinem Outing mir gegenüber in die Schule und meine Freundin outet Dich vor der ganzen Klasse. Was sollst Du da anderes annehmen???!«

Unabhängig davon, dass seine Schlussfolgerungen ziemlich logisch waren, ließen zwei Worte eine kleine Gänsehaut bei mir entstehen. Die Betonung von »meine Freundin« löste bei mir ein leichtes Kribbeln aus.

»Aber ich habe ihr nichts verraten!«, murmelte er heiser mehr zu sich. Nicht diese Worte waren es, die mir den letzten Zweifel nahmen, nein es war die Art und Weise, wie er es sagte und durch die nächsten Sätze wurden sie endgültig regelrecht zertrümmert. Immer noch ziemlich leise, aber auch mit einer gewissen Spur Nervosität fuhr er fort.

»Ich war die letzten Tage viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Am Anfang konnte ich es einfach nicht begreifen. Mein Freund, nein eigentlich eher mein Bruder, denn das warst Du immer für mich, war schwul. Einer von den Arschfickern, die doch überall so schlecht wegkamen...«, flüsterte Tim zu mir, dabei hatte er seinen Kopf gehoben - was ich nicht wirklich sah, eher nur an seiner Stimme erahnen konnte. Die Beleidigung in seinen Worten war überhaupt nicht so ausgesprochen, eher hörte ich eine große Spur Mitleid heraus.

»... und als ob das nicht schon heftig genug für meinen Zwilling gewesen wäre. Nein, da gesteht er mir auch noch, dass er sich in mich verliebt hat und ich Trottel hab nie etwas gemerkt... .« Den Rest verschluckte er fast in einem sehr traurigen Ton. Dann schien es mir, als würde er sich einen Ruck geben und legte mir seine Hände auf die Schulter.

»Jean, es tut mir leid, aber ich habe es hin und hergewälzt. Ich hab wirklich alles versucht, aber...« Tim schluckte, aber nicht nur er hatte einen Kloß in seiner Kehle. Mir schossen die heftigsten Gedanken durch den Kopf, jedoch konnte ich nicht einmal ein Zehntel davon greifen - nur einer schwebte über allem...

,Es ist aus - er beendet unsere Freundschaft doch!!'

»... aber ich liebe Dich nur wie einen Bruder... Mehr kann ich Dir leider nicht bieten. Doch eins ist mir klar geworden, ich brauche Dich und hoffe sehnsüchtig, dass Dir meine Freundschaft genug ist!«

Meine trüben Gedanken waberten wie Nebel um meinen Kopf und ich nahm seine Worte erst gar nicht richtig wahr. Gehört hatte ich sie gut, nur der Sinn blieb mir verborgen. So saß ich einige Augenblicke wie erstarrt und langsam drangen die Worte zu mir durch.

»Jean????«, hörte ich Tim mit solch einem Flehen meinen Namen sagen, dass es endgültig in meinem Kopf explodierte.

»Tim, Du hast keine Ahnung wie sehr ich mich nach diesen Worten gesehnt habe. Aber ich will ehrlich sein. Ich weiß nicht genau, ob ich Dir der Freund und Bruder sein kann, den Du Dir wünschst, denn eins hat sich nicht geändert...«, antwortete ich ihm endlich und mit einem tiefen Seufzen schloss ich meinem Satz mit dem Unvermeidlichen ab. »Ich liebe Dich nach wie vor!«

Tim zog mich an sich und ich hörte ihn. »Jean, es tut mir leid und ich hoffe, es wird nicht zu schwer für Dich, aber ich glaube ganz fest daran, dass wir das auch hinbekommen!« Und ich ließ mich einfach in seinen Armen fallen, nicht körperlich, nein seelisch - ich hatte meinen Tim wieder! Scheiß was auf die Zukunft, entscheidend war hier und jetzt und Tim brauchte mich!

Etwas verschämt lösten wir uns voneinander. Ich ging zur Tür, um das Licht anzuschalten. Die Dunkelheit drückte mir doch ein wenig auf das Gemüt.

»Stopp, Jean!«, rief Tim mir zu. Mitten in der Bewegung blieb ich wie erstarrt stehen.

»Will nur ein wenig Licht machen«, antwortete ich ihm.

»Warte, die Stehlampe reicht vollkommen!«, murmelte er und ließ seinen Worten Taten folgen. Und schon das bisschen Licht brannte in den Augen, so dass ich mehrmals blinzeln musste. Mein Blick schweifte zu Tim und obwohl ich ihn ja heute Morgen gesehen hatte, zog ich scharf die Luft ein. Am Vormittag sah er schon nicht so gut aus, aber jetzt - einfach grauenhaft.

»So schlimm?«, grinste er mir verlegen entgegen. Ich zuckte nur kurz mit den Schultern, ob ich viel besser aussah, war stark zu bezweifeln. Unschlüssig stand ich nun in der Mitte des Zimmers herum und wusste nicht wie weiter. Auch Tim schien es ähnlich zu gehen, denn er spielte nervös mit seinen Fingern und wich meinem Blick aus. Vielleicht sollten wir wieder das Licht ausmachen, denn die Dunkelheit war doch so etwas wie ein Schutzmantel für unsere Gefühle und Gedanken.

»Tja«, murmelte Tim.

»Ach ne«, antwortete ich ihm und musste grinsen. Er schaute mich an und seine Mundwinkel wanderten langsam nach oben.

»Mann, wir sind vielleicht Helden!«, lächelte er mir entgegen.

»Nee, Held nicht, aber schwul!«, griente ich als Antwort.

»He, Du nimmst das ja ganz schön locker«, antwortete er mir, aber ich konnte die Frage, die dahinter steckte sehr wohl hören.

Leicht schüttelte ich den Kopf. Wie viel konnte, nein wollte ich ihm sagen?? Wir hatten vor kurzem noch nie Geheimnisse voreinander gehabt, aber würde er auch alles verstehen?

»Jean, erzähl mir einfach, was Du möchtest und wenn ich was nicht kapier, frag ich einfach nach, okay??!!«, seine Stimme klang neugierig - er schien echt daran interessiert. Das er mal wieder das aussprach, was ich dachte, war nicht ungewöhnlich - dafür kannten wir uns zu gut.

»In Ordnung, aber zuerst machen wir uns ein wenig frisch, außerdem habe ich tierischen Durst!«, antwortete ich ihm ausweichend und machte mich auf den Weg in die Küche. Ich ließ Tim den Vortritt im Bad und machte mich auf den Weg zum Kühlschrank. Als ich die Tür zur Küche aufstieß, fuhr seine Mutter vom Herd zu mir herum.

»Ti...?!«, rief sie erschreckt aus, aber als sie mich erkannte, schluckte sie den Rest herunter. Eins konnte ich gleich erkennen - wir waren nicht die Einzigen gewesen, die in der letzten Stunde geweint hatten. Sofort fühlte ich mich schuldig, denn das Ganze war ja mehr oder weniger auf meinem Mist gewachsen!

»Margrit, kann ich uns etwas zu Trinken holen?«, fragte ich sie. Wortlos wandte sie sich ab und zwar so schnell, als wolle sie ihre Tränen vor mir verstecken.

»Du hast doch früher nicht gefragt, Jean«, antwortete sie mit erstickter Stimme.

»Keine Sorge, Tim und ich sind auf dem besten Wege, alles zu klären und ich bin verdammt sicher, das es fast wieder so wird wie früher«, mein Versuch, das mit fester Stimme vorzutragen, erstickte im Keim, denn mitten im Satz kippte sie um. Mir wurde gerade richtig klar, dass mein Zwilling akzeptierte, dass ich schwul war und was noch viel entscheidender war - er wollte unsere Freundschaft erhalten. Überrascht fuhr seine Mutter wieder zu mir herum und musterte mich mit durchdringendem Blick.

»Und warum heulst Du dann?«, kam ihre Frage vorsichtig, zögernd.

»Keine Ahnung - irgendwie haben wir wohl alle die letzte Stunde nichts anderes gemacht!?« Ihre Miene drückte nach wie vor Zweifel, Frustration und Trauer aus. So setzte ich erneut zu einer Erklärung an.

»Im Gegensatz zu den Tränen vor ein paar Minuten sind es diesmal welche der Freude. Ich hab wohl gerade kapiert, was ich wieder gefunden habe!«

Das Verhältnis zu unseren »Zwillingseltern« war schon außergewöhnlich. Für uns beide war es so etwas wie ein Elternersatz und wir wurden all die Jahre von insgesamt vier Elternteilen erzogen. Das Kuriose an der Situation war, dass Tim und ich uns im Kindergarten kennen gelernt hatten. Im glorreichen Alter von drei einhalb Jahren beschlossen wir, dass der Eine ohne den Anderen nicht mehr leben konnte und führten so zwangsläufig unsere Familien zusammen. Wir waren beide Einzelkinder und so wurde der Andere von der Ersatzfamilie als Sohn »adoptiert« und somit mit erzogen. Unsere Eltern hatten ähnliche Ansichten und wurden ebenfalls gute Freunde - das Wichtigste war jedoch, sie vertrauten sich gegenseitig und waren sich, leider zu unserem Missfallen, zu oft einig. Da bei uns Beiden die Eltern jeweils berufstätig waren, wechselten sie sich in der Betreuung ab. Diese Art Aufsicht war natürlich in den letzten Jahren immer weniger geworden, tat aber dem Verhältnis zu meinen Ersatzeltern keinen Abbruch.

Deshalb war es mir auch nicht peinlich, als mir in ihrer Gegenwart die Tränen über die Wange rollten. Margrit hatte mich schon früher oft getröstet - denn wir beiden Twins waren sehr dickköpfig und da flogen schon mal die Fetzen! Ungewöhnlich war vielmehr, dass sie sich so aufgelöst mir gegenüber zeigte. Sie musste sich wirklich arge Sorgen um Tim gemacht haben.

»Willst Du ...?«, wieder brach sie mitten im Satz ab und sah mich weiter prüfend an.

»... nein, keine gute Idee!«, schloss sie selbst ihre Überlegung ab.

»Wir sind gerade beim Aufarbeiten und davon gibt es Einiges!«, versuchte ich ihr zu erklären.

»Ja meine Kleinen werden langsam erwachsen!«, murmelte sie und als sie meine verdutzte Miene sah, lächelte sie leicht.

»Klein!?!« Diesen Protestruf konnte ich ihr nicht ersparen. Sie erhob schmunzelnd ihren Finger und wedelte damit in meine Richtung.

»Jawoll, Jean Neumann, Du und mein kleiner zarter Tim werdet immer meine Kleinen bleiben!!« Dabei kam sie Schritt für Schritt auf mich zu - wir grinsten uns beide an.

»Und nimm endlich was zu Trinken aus den Kühlschrank!« Na wer konnte solcher liebevollen Aufforderung widerstehen? Mit zwei Gläsern bewaffnet und einer Flasche Wasser unter dem Arm ging ich wieder zur Tür.

»Jean??«, hörte ich sie in meinem Rücken.

»Yeb!« Dabei drehte ich mich leicht zur Seite, um sie anzuschauen.

»Wenn Ihr schon beim Aufarbeiten seid, dann kümmere Dich bitte darum, dass SIE hier nicht mehr auftaucht!«, kam es ziemlich giftig von ihr. Mein kleines fieses Grinsen zeigte ihr, dass ich sehr wohl verstanden hatte, wen sie meinte. Etwas verlegen wegen ihres impulsiven Ausbruches hob sie entschuldigend die Schulter.

»Ich möchte Tim seine Freundin nicht vorschreiben und habe auch noch nichts gesagt, aber dieses Mädel ist Gift für ihn!«, seufzte sie.

»Ja, ich weiß, aber erst einmal müssen wir wieder miteinander ins Reine kommen!«, antwortete ich ihr, schob aber noch hinterher. »Wobei diese Person einen nicht unerheblichen Anteil an unserem Dilemma hat!«

»Los zwitscher endlich ab!«, forderte sie mich auf, und ich hörte eine gewisse Erleichterung aus ihrer Stimme heraus.

Oben erwartete mich schon Tim und nach seinem Besuch im Badezimmer sah er einigermaßen manierlich aus.

,Einigermaßen manierlich?? - untertreib mal nicht Jean Neumann. Es fehlte nur noch sein spitzbübisches Grinsen und die eine oder andere Handbewegung, dann war es um mich wieder geschehen!!', durchfuhr es mich. Ich stellte schnell die Gläser und die Flasche ab und verschwand zügig ins Bad. Dort setzte ich mich erst einmal auf das Klo und fing an, an meinen Fingern zu knabbern. Das ist ein untrügliches Zeichen, dass ich hypernervös oder tief in Gedanken versunken war. Diesmal war ich beides! Trotzig schüttelte ich den Kopf über meine Wankelmütigkeit.

,Wie konnte ich unsere Freundschaft nur immer wieder aufs Spiel setzen??? Ich war hier, um mich mit ihm auszusprechen und zu akzeptieren, dass Tim nicht schwul ist!'

,Aber vielleicht ist er...???' Da war sie wieder - diese unheimliche Stimme, die mir immer im ungünstigsten Augenblick einen Rat geben wollte.

»Nein, nichts mit vielleicht oder eventuell. Jetzt ist Schluss damit!!« Überrascht zuckte ich zusammen, denn ich hatte die Worte laut ausgesprochen. Innerlich straffte ich mich und schlenderte zum Waschbecken hinüber. Dort fiel mein Blick unweigerlich in den großen Spiegel.

Was konnte ich sehen?

Ein verheultes Gesicht, aber ich sah vielmehr - ich erblickte einen Jungen, geplagt von Selbstzweifel, Unsicherheit, welcher mir verlegen zulächelte. Wieder einmal war ich an dem Punkt angekommen, an dem ich mich fragte...

... warum musste mein Leben nur so kompliziert sein? Was verlangte ich denn von dieser Welt, das es so unerfüllbar erschien? Warum konnte...

... verdammt!

Ich hielt meinen Kopf eine Minute unter eiskaltes Wasser und die Kälte, die wie mit kleinen Nadeln auf mich einstach, vertrieb ein wenig meine trüben Gedanken. So erfrischt und um einiges munterer aussehend enterte ich Tims Zimmer.

Da saß mein Zwilling auf der Couch. Das Licht war ausgeschaltet, dafür hatte er die Rollläden aufgezogen, so dass das Sonnenlicht in das Zimmer schien. Die Gläser hatte er mit Wasser gefüllt und vor sich auf den Couchtisch gestellt. Nun befand ich mich in der Zwickmühle, wo sollte ich mich hinsetzen. Tim hatte wie selbstverständlich neben sich Platz gelassen.

Nein, das wäre dann doch des Guten zuviel für heute gewesen. Schnell nahm ich ein Glas und setzte mich auf seinen Bürostuhl, der Tisch stand als eine Art Schutz zwischen uns. Mein Zwilling hob etwas verwundert seine Augenbrauen, aber ging zum Glück nicht darauf ein. Die erste Hürde hatte ich gut umschifft, aber wie jetzt weiter? Ich hatte keine Ahnung, wie ich anfangen sollte.

»Hm..., also..., Deine Story..., ich fand sie gut!«, brach Tim unser Schweigen.

»Wirklich?«, fragte ich ihn erstaunt, war aber froh, dass er irgendwie einen Anfang gefunden hatte.

»Echt! Ich hab sie bestimmt in der kurzen Zeit viermal gelesen«, stieß er überhastet hervor, als wäre ihm das doch irgendwie peinlich, darüber zu reden.

»Wenn Dir das unangenehm ist, darüber zu reden, können wir es auch lassen.«, versuchte ich ihm eine Brücke zu bauen. Tim war bei seinen Worten nämlich auch noch ziemlich rot angelaufen.

»Nein, nein, das ist nicht unangenehm, nur ungewohnt.«, murmelte er. Da ich nicht weiter darauf einging, fragte er nach einigen Augenblicken: »Wie bist Du eigentlich auf diesen Gedanken gekommen?«

»Svenja!«, fiel mir als Antwort nur ein.

»Aha!«

»Ach Jean komm, lass Dir nicht alles aus der Nase ziehen!«, forderte mein Zwilling mich auf.

Wie konnte ich mich solch liebreizender Bitte widersetzen? Stockend fing ich an zu erzählen. Von meinem Outing Svenja gegenüber, dass sie mir sehr geholfen hatte in der Zeit, über unsere Gespräche und über meine Zeit, als ich all die Stories im Netz gelesen hatte. Wie sie mich ermunterte auch eine zu schreiben und wie ich in meine Traumwelt abgedriftet bin - nur um meinen schönsten Traum zu leben. Tim wurde immer stiller. Am Anfang unterbrach er mich noch ab und zu, aber zum Schluss hin verstummte er völlig. Als ich gerade anfangen wollte, ihm von der Veröffentlichung zu erzählen, da hörte ich ein ziemlich lautes

»Fuck!!« Überrascht hielt ich in meinem Monolog inne - diese Reaktion hatte ich nun gar nicht erwartet.

»He?«, war auch meine entsprechende Reaktion.

»Entschuldige bitte, aber ich meinte mich!«, antwortete er mir.

»Ähm, da steht mir irgendjemand auf der Leitung.« Ich verstand kein Wort von dem, was er vor sich hin brummte.

»Na ja, Dir ging es in der Zeit wirklich nicht berauschend und ich amüsier mich.«, murmelte er.

»Ich glaube unser größter Fehler war, dass wir nicht miteinander geredet haben!« Zweifelnd sah er mich nach meinen Worten an.

»Aus welchen Gründen auch immer.«, schob ich noch hinterher.

»Ein paar Sachen sind mir aber unklar«, sagte ich in seine Richtung.

»Ja?!?«

»Warum haben unsere Eltern nicht eingegriffen? Sie waren sich doch früher immer einig und haben auch jetzt noch sehr oft Kontakt miteinander!«, legte ich ihm einen meiner Gedanken laut dar.

»Ähm, warte mal, da kann ich Dir vielleicht helfen.«, kam Tims Antwort.

»Ziemlich am Anfang, als die Freundschaft mit Corinna noch frisch war und Du krank zu Hause herumlagst, waren Deine Eltern bei uns und ich habe etwas mitbekommen!«

»Großer Elternrat in Eurer Küche???«, hakte ich noch einmal nach.

»Yeb und Dein Vater meinte, dass wir das untereinander klären sollen. Wortwörtlich sagte er ,Unsere Jungs sind alt genug, um sich die Wahrheit zu sagen. Wenn wir ihnen das als Eltern vorschreiben, werden sie aus jugendlichem Trotz gar nicht darauf reagieren. Das macht es dann nur noch schlimmer.' Damals wusste ich nicht genau, was er meinte, aber lange hat es nicht gedauert, dass ich was geschnallt habe ...«, antwortete er mir, seine Stimme wurde zum Schluss sehr leise.

»Wann hast Du was gemerkt?«, fragte ich ihn atemlos. ,Sollte er etwa alles geahnt haben??'

»Als ich bei Dir zum Krankenbesuch war, warst Du so komisch.«

»Komisch?«

»Jean, Du hattest total verheulte Augen, warst sehr kurz angebunden und hast mich zum Schluss fast rausgeworfen. Das ist mir aber erst auf dem Nachhauseweg aufgefallen, denn ich war so im Hochgefühl, dass ich Dich an meinem Glück dran teilhaben lassen wollte. Ich Trottel!!«

»Aber ein liebenswerter!«, versuchte ich einen kleinen Scherz.

»Nein im Ernst, ich habe ziemlich schnell, nachdem ich diesen kleinen Schubser bekommen hatte, geschnallt, dass etwas nicht stimmte. Leider bin ich nicht darauf gekommen, was es war. Dass es zwischen Corinna und Dir nicht funktionierte, war nicht zu übersehen, aber das konnte nicht alles sein!«

Innerlich atmete ich auf, als ich hörte, dass er sich auf mein Verhalten keinen Reim machen konnte - bloß warum war ich erleichtert? Es spielte doch jetzt keine Rolle mehr!

»Am Anfang hat sie mich auch erfolgreich immer wieder davon abgehalten, einfach mal bei Dir aufzutauchen. Tja und dann...«, plötzlich brach er in seinen Überlegungen ab und grinste mich schief an.

»Was dann...?«, ging ich auf seine Unterbrechung ein.

»Dann hattest Du Svenja und in meinen Augen beneidete ich Dich um diese Freundin!«, antwortete er.

»Aber warum, Du schienst doch mit Deiner Freundin glücklich?«, fragte ich ihn, zugegebenermaßen etwas süffisant.

»Ach Jean, sie hat mich total überfahren und am Anfang war es auch mehr als interessant. Aber dann wurde sie immer unangenehmer. Sie wollte sich überall einmischen, kam mit Mum überhaupt nicht klar. Stänkerte ständig gegen Dich und Deine Flamme...« Wieder unterbrach er sich und strich sich verzweifelt durch das Haar. Mir schien, als würde ihm jetzt erst klar werden, was ihm in der letzten Zeit so widerfahren war.

»... und wenn ich dann endlich etwas Mut zusammen gekratzt hatte, um mit Dir zu reden, hast Du mich ziemlich abgebürstet. Je mehr Zeit ins Land verging, desto weniger fand ich den Willen, mich unserer Auseinandersetzung zu stellen. Jean, ich wusste echt nicht mehr weiter!« Traurig sah er mich an.

»Na ja und mein letzter Versuch ging dann voll in die Hosen. Mir wurde heiß und kalt, als ich Deine Story gelesen hatte...«, setzte er seine Erklärungen fort und mein Zwilling lief leicht rötlich an.

»Ähm..., also..., und zu Hause konnte ich dann keine Ruhe finden«, fast verhaspelte er sich, so schnell versuchte er weiterzukommen.

»Was mir da so alles durch den Kopf ging, habe ich Dir vorhin schon gesagt, aber von dem großen Knall am Donnerstag muss ich Dir noch berichten. Gegen Mittag tauchte dann meine Freundin hier auf und war ganz aufgeregt. Ich wollte sie überhaupt nicht sehen, aber das interessierte sie einen Dreck. Sie hatte solche geheimen tollen Nachrichten, die sie mir nicht vorenthalten wollte. Sie meinte, dass sie hundertprozentig wüsste, dass Du schwul seiest. Ich war geplättet und ging gar nicht darauf ein. Corinna war in ihrer Euphorie nicht mehr zu bremsen und redete immer wieder davon, dass sie Dich jetzt fertig macht. Und da hat es ,Peng' bei mir gemacht und ich wusste, dass ich Dich nicht verlieren wollte!« Genau dieses schüchterne Lächeln, welches ich jetzt in seinem Gesicht sehen konnte, konnte bei mir verheerenden Schaden anrichten. Schnell schaute ich auf meine Hände und fummelte nervös an meinem Shirt.

»Jedenfalls flogen dann die Fetzen und ich habe sie sehr unsanft vor die Tür gesetzt. Sie keifte nur noch, dass sie die Bombe morgen platzen lassen würde und ich dann schon wieder zu ihr angekrochen kommen würde! Ich habe den ganzen Nachmittag und Abend mit mir gekämpft, Dich anzurufen...«

»... ich konnte es nicht. Heute Morgen hat mich Dad dann rausgeschmissen und gemeint, mit dem Versteckspielen sei es jetzt vorbei und ich solle in die Schule gehen. Diese Entscheidung hatte ich ja schon selbst getroffen, denn ich wollte wenigstens in Deiner Nähe sein, wenn die Bombe platzt. Auch wenn Du mich für den Verräter halten musstest!« Die letzten Worte flüsterte er sehr leise. Ich musste ihn wieder anschauen. Seine Augen erflehten eine Reaktion von mir.

»Ja, das dachte ich wirklich von Dir...«, murmelte ich vor mich hin, seine Augen weiteten sich ein wenig.

»Ich habe es sogar noch angenommen, als ich vorhin zu Dir gekommen bin. Leider hatte ich kein Vertrauen mehr zu Dir, verzeih mir...?!«

Tim zuckte verlegen mit seinen Schultern. »Ich glaube, wir haben uns beide ziemlich kindisch benommen!« Dabei rieb er sich seine Wange und diese Geste entlockte mir ein Kieksen. Verwundert schaute er mich an.

»Ich war wohl nicht der Einzige, der dachte, dass Du der Verräter warst!«

»He??«

»Nun ja, die Ohrfeige war nicht von schlechten Eltern, oder??« grinste ich ihn an. Tim lief rot an und seine Augen blitzten.

»Und ob die nicht von schlechten Eltern war. Lach Du nur, aber geh in Deckung, wenn sie das bei Dir vorhat!«, kam seine Antwort und wir grinsten uns beide an.

»Weißt Du, wer Corinna verraten hat, dass ich schwul bin?« Ein kurzer Schatten flog über sein Gesicht.

»Sie laberte irgendetwas von einem Bruder einer ihrer vielen Freundinnen. Der ist auch so eine Tucke...«, mein gar nicht vornehmes Knurren ließ ihn im Satz abbrechen. Dann als der Sinn seines Satzes zu seinem »erbsengroßen« Gehirn vorgedrungen war, sah er mich zerknirscht an.

»Ich muss wohl meinen Umgangston überdenken, bzw. meine Ausdrucksweise den Schwulen gegenüber!«, hörte ich ihn sagen, ein kleines Grinsen konnte er sich jedoch nicht verkneifen.

»Was möchtest Du über diesen liebenswerten Schwulen erzählen??«, blitzte ich ihn an.

»Okay, okay, also dieser Bruder hatte Dich in einer Disco mit anderen Schwulen gesehen... Du warst echt in einer Gay-Disco?«, fragte er neugierig.

»Yeb!«

»Mit wem?« Tim platzte jetzt fast vor Neugier. Aber ich ging nicht darauf ein, irgendetwas hielt mich ab, von Felix zu erzählen.

»Und weiter?!«

»Na ja, sie erzählte, dass der Bruder die Typen kannte, mit denen Du da warst und Eure Handlungen so eindeutig waren, dass Dein Schwulsein eindeutig war!«

»Kennst Du seinen Namen??« fragte ich.

»Patrick oder so...!« Weiter kam Tim nicht, denn ich gackerte lauthals los. Ungläubig schaute er mich an und konnte sich meine Heiterkeit nicht erklären. Irgendwie steigerte ich mich in einen Rausch, die ganze Anspannung löste sich und ich konnte nicht aufhören zu lachen - er sah auch zu köstlich aus.

»Jean, was hast Du denn?«, seine Stimme hörte sich ein wenig sorgenvoll an.

»Tucke..., ja das... hihi...«, mehr bekam ich beim besten Willen nicht heraus. Ich musste mir sogar die Seite halten, denn das Lachen wurde langsam schmerzhaft. Sogar Tränen kullerten über mein Gesicht und ich musste nach Luft japsen. Mein Heiterkeitsausbruch steigerte sich noch ein wenig, als ich Tims Gesicht sah. Mein Krach lockte jedoch auch andere Familienmitglieder an. Nach einem leisen Klopfen, auf das wir beide nicht reagierten, öffnete sich zögerlich die Tür. So allmählich beruhigte ich mich etwas. Unsere Köpfe wanderten zur Tür, seine Eltern standen dort etwas unentschlossen im Türrahmen herum.

»Die Töne waren wir ja gar nicht mehr gewohnt!«, hörte ich Tims Vater überrascht sagen, wobei ein kleines Lächeln seine Lippen umspielte. Auch seiner Mutter war die Erleichterung anzusehen. Tim schaute eher unwirsch zu seinen Eltern, aber ich wollte hier gleich reinen Tisch machen.

»Kommt ruhig rein, ich hab Euch was zu sagen!«, japste ich in ihre Richtung, denn so richtig zu Atem war ich immer noch nicht gekommen. Ich konnte Tims verwunderten Blick spüren, aber seine Eltern nahmen die Einladung gerne an.

»Ihr fragt Euch bestimmt, was mit uns los war?«, fragte ich sie offen.

»Ja!«

»Nein!«

,Ups zwei Eltern, zwei unterschiedliche Antworten?', wunderte ich mich. Margrit hatte ,Ja' gesagt, Klaus hatte die gegenteilige Antwort gegeben.

»Was denn nun?«, hörte ich Tim genervt. Ihm war das nicht so recht, dass sie gerade jetzt störten.

»Timmy, sie haben sich Sorgen gemacht, da dürfen sie auch die Wahrheit hören!«, wandte ich mich an meinen Zwilling und mit den nächsten Worten drehte ich mich wieder zu ihnen um.

»Aber nur, wenn sie es auch wissen wollen??« Tims Vater wollte gerade wieder antworten, aber ich sah genau, dass ihm Margrit kräftig auf den Fuß latschte. Aus meinen Augenwinkeln konnte ich Tim grinsen sehen.

»Also ich habe Euch was mitzuteilen. Für mich war die Freundschaft zu Tim immer was Besonderes und..., na ja in letzter Zeit..., eigentlich...«, so fließend der Anfang auch war, jetzt stotterte ich nur noch wirres Zeug.

»Ja, Jean?« Tim Mutter war mit Abstand die Neugierigste hier im Raum. Ich schluckte.

,Warum fiel mir das nur so schwer? Bei meinen Eltern hatte ich mich doch auch schon geoutet!'

»Moment mal!«, mischte sich Klaus wieder ein. Seine Frau fuhr mit funkelnden Augen zu ihm herum. Beruhigend legte er seine Hand auf ihren Arm.

»Nein mein Schatz, wir wollen Jean nichts entlocken. Ich freue mich schon so, dass ich meinen Sohn mal wieder lachen sehe!« Margrit hatte etwas ganz anderes im Sinn, aber fügte sich ihrem Mann.

»Gut Jungs, dann macht mal weiter und in einer Stunde gibt es Abendbrot!«, verabschiedete sich Tims Vater von uns.

»Ich bin schwul!« Jetzt war es raus.

»Na endlich!«, hörte ich Tims Mutter sagen und sein Vater wandte sich an meinen Zwilling.

»Und mein Sohn?«, fragte er ihn. Täuschte ich mich oder hörte ich einen grollenden Unterton heraus. Also wer bisher nicht geglaubt hatte, dass wir gleich tickten, ähm fast gleich, der musste jetzt davon restlos überzeugt sein. Uns klappte beiden die Kinnlade herunter und wir sahen uns fassungslos an.

»Stop!«

»Halt!« Gleichzeitig riefen wir das entsprechende aus und wandten uns wieder seinen Eltern zu.

»Ihr habt es gewusst? Wer hat Euch...?«

»Haben meine Eltern Euch...?«, redeten wir zusammen auf sie ein. Klaus lächelte und Margrit nahm ihren Mann am Arm.

»Komm, wir lassen die Jugend wieder alleine«, meinte sie noch im Hinausgehen.

»Muuuuuuuummmm!!«, rief Tim entrüstet hinterher.

»Ach jetzt sind wir erwünscht?« Sie blieben kurz vor der Tür stehen.

»Woher wisst Ihr das?«, fragte ich sie und kam meinem Zwilling einen Moment mit meiner Frage zuvor.

»Von Euch!«, kam die prompte Antwort. Meine verständnislose Miene war wohl Antwort genug.

»Jean, Deine Eltern haben uns nichts verraten und ich bin stolz, dass Du uns ins Vertrauen ziehst, aber...«, fing Klaus an zu erzählen.

»... so wie Du mit unserem Sohn in den letzten Jahren umgegangen bist, war uns beiden ziemlich schnell klar, dass da mehr als nur Freundschaft war!«, schloss Margrit die Ausführungen ihres Mannes.

»Ihr habt es gewusst und mir nichts gesagt?«, fragte Tim seine Eltern fassungslos.

»Nein Tim, wir haben es nicht gewusst, aber geahnt. In der letzten Zeit war ich paar Mal kurz davor, Dir die Hammelbeine lang zu ziehen, jedoch durften wir uns da nicht einmischen!«, erklärte Klaus seinem Sohn. Dann wandte er sich an mich.

»Jean, Du warst und bleibst unser zweiter Sohn. Du hattest immer schon den Hang, alles etwas komplizierter anzugehen, aber wir wünschen Dir viel Erfolg!«, hörte ich ihn und dann kam es noch sehr ernst.

»Und wir haben überhaupt kein Problem damit, dass Du schwul bist!«

»Danke!« Dieses Outing ging mir genauso nah, wie bei meinen Eltern und ich spürte, dass Tims Eltern voll hinter mir standen. Margrit ließ den Blick von Tim zu mir und zurück wandern.

»Ist es nicht ein schönes Paar!«, sagte sie in unsere Richtung und schmiegte sich an ihren Mann. Mein Zwilling lief rot an und ich musste leise in mich reinkichern.

»Ähm..., Mum..., also ich..., na ja...«, stotterte Tim verlegen vor sich hin.

»Ja mein Sohn??«, fragte sie ihn und wenn ich es nicht besser wissen würde, könnte ich denken, sie weidete sich an seiner Verlegenheit. So sprang ich für ihn in die Bresche.

»Wenn es doch so einfach wäre!«, seufzte ich.

»Nein, Tim und ich sind nur normale Freunde, ne eher Brüder, aber ein Paar sind wir nicht!«, schloss ich, konnte aber nicht alle Traurigkeit aus meiner Stimme bannen. Klaus musterte mich mit einem langen intensiven Blick.

»Tim, ich hoffe, Du hilfst Deinem Bruder, wo Du kannst!«, redete er eindringlich auf seinen Sohn ein.

»Ja, Dad!«, antwortete er, senkte jedoch verlegen seinen Blick.

»So, nun komm, ich glaub unsere Söhne waren noch nicht ganz fertig!«, sagte er abschließend und verschwand endgültig mit seiner Frau im Schlepptau. Die Stille senkte sich über uns und wir musterten uns. Tim fing an zu lächeln.

»Was musstest Du denn vorhin so lachen?«, fragte er mich grinsend. Und ich fing schon wieder an zu gackern.

»Na ja..., hihi, diesen Patrick darfst Du ruhig Tucke nennen, haha...«, lachte ich vor mich hin. Dann gab ich ihm eine Beschreibung dieser Person und wir lachten beide gemeinsam.

»Und wie ist Deine Story so angekommen?«, hörte ich ihn, nachdem wir uns etwas beruhigt hatten. Damit nahm er meine eigentlichen Erklärungen wieder auf. Meine Augen fingen an zu leuchten und ich erzählte ihm von meinen Erlebnissen. Mein Zwilling hakte immer mal nach und so schilderte ich nicht nur, was passiert war, sondern auch was ich dabei gefühlt hatte. Meine schlechten Erfahrungen mit Chris, aber auch meine Mailbekanntschaft mit Raphael. Über das missglückte Treffen, aber auch von der Entwicklung danach. Ich war mir nicht sicher, ob ich meine Empfindungen gut rüber gebracht hatte. Mein Zwilling reagierte auf jeden Fall nicht so, wie von mir erwartet.

»Mann Jean, das ist doch sonnenklar!«, stieß Tim triumphierend hervor, so als hätte er DEN Gedankenblitz gehabt. Entgeistert sah ich ihn an.

»Würden Sie mich auch erleuchten, Eure Hoheit!!«, grummelte ich vor mich hin, konnte mir aber ein Grinsen doch nicht verkneifen, denn das war genau unser Umgangston, das war mein Zwilling!

»Okay, okay, Du bist...«, fing er an, um dann eine dramatische Pause zu machen - das entlockte mir nun wirklich nur ein Augenverdrehen.

»Jaaaaa...?«, warf ich ein - was tat man nicht alles für einen Freund!

»Du bist verknallt in den Typen!!« Hätte mein Zwilling keine Ohren, würde er jetzt im Kreis lachen.

»Quatsch!!!!!!!!!«, warf ich ihm an den Kopf. Mir war es ernst mit meiner Antwort, nur sein Grinsen wurde noch breiter.

»Außerdem geht das doch gar nicht, ich bin...«, rechtzeitig unterbrach ich mich. Irgendwie wollte ich Tim nichts von Felix erzählen.

»... hörst Du mir eigentlich nicht zu. Ich hab mich mit IHM schon getroffen und er ist überhaupt nicht mein Typ. Das Kribbeln war wie weggeblasen, als ich IHN sah!«

Wenn Tim das beim ersten Mal nicht verstanden hatte, musste er es noch einmal hören - hoffentlich hatte er nicht mein kleines Zögern mitbekommen.

»He hab ich Alz oder was?? Ich habe Dich durchaus schon beim ersten Mal verstanden!«, kam seine Antwort. Manchmal ist mir der Typ unheimlich - was suchte er in meinen Gedanken??!!

»Aber mein kleiner schwuler Twin...«, wieder so eine dramatische Pause, der Kerl sollte zum Theater gehen und außerdem, was hieß hier klein, ich war größer!! Okay, nur nen halben Zentimeter und das auch nur morgens, aber immerhin.

»KLEIN!!«, plusterte ich mich auf.

»Der halbe Zenti und dann nur kurz nach dem Aufstehen!!!«, verächtlich winkte mein Zwilling ab. Da sag ich's nicht - ,RAUS aus MEINEM KOPF!'.

»Lenk nicht ab!«, grinste mir Tim entgegen.

»Ja Süßer!«, hauchte ich ihm zu. Er wollte einen schwulen Twin, also bitteschön.

Das Gesicht war etwas für die Götter. Seine Augen wurden riesengroß, der Mund stand offen und all sein verfügbares Blut sammelte sich im Kopf.

»Ähm..., also..., Jean...«, herrlich wie er stotterte.

»ähm..., ich steh immer noch nicht auf Jungs!«, man sah ihm an, dass der Satz ihm mehr als peinlich war. Nur war ich gerade ein wenig in Fahrt und wollte ihn nicht so schnell vom Haken lassen.

»Bist Du Dir sicher???«, widersprach ich ihm und versuchte meine Stimme verführerisch klingen zu lassen. Jedoch Tim hatte sich wieder gefangen, leider.

»Jeeeeeeeeeaaaaannnnnn!«, kam es flehend von ihm.

»Okay, also wieso bin ich in meinen Mailpartner verknallt?«, kam ich wieder zum Hauptthema zurück.

»Na ja, Du hast gesagt, beim Treffen sei das Kribbeln verflogen oder es kam erst gar nicht auf! Wie ist es denn jetzt, wenn Du ihm eine Mail schreibst??«, fragte er. Ich brauchte nicht zu antworten, meine Miene sagte genug.

»Siehste!«

»Man, ich weiß doch auch nicht, was das ist. Schon die Erwartung von Post macht mich ganz kirre und seine Zeilen sind einfach so... Als würde er ganz genau wissen, wie es in mir ausschaut...!«, sprach ich mehr zu mir. Als ob Tim wusste, dass das noch nicht alles war - er schwieg einfach.

»Aber dieses Treffen, das war einfach nur...«, ich suchte nach dem passenden Wort »nett?!?«. Was Besseres fiel mir einfach nicht ein.

»NETT???«, Tim kannte mich viel zu gut, als sich damit abspeisen zu lassen.

»Okay, es war eine Katastrophe!!!«, stieß ich frustriert hervor. Entgegen des Inhalts meiner Aussage, grinste Tim über beide Backen!

»Zufrieden???«, brubbelte ich.

»Mann oh Mann, Jean, wo hast Du nur Deinen Kopf!!« Und sein Grinsen wurde breiter. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was er eigentlich von mir wollte.

»Willst Du nicht endgültig feststellen, ob Dein Kribbeln nicht doch berechtigt ist?« Oh je, der Junge konnte vielleicht Fragen stellen!!

»Ich weiß nicht so richtig. Was soll ich denn machen?? Außerdem reicht es mir, dass mein großer Traum schon geplatzt ist und ich will mir wenigstens meinen kleinen erhalten!«, murmelte ich leise vor mich hin. Tim antwortete nicht, er wusste genau, wann er mich in Ruhe lassen musste.

»Wie stellst Du Dir das eigentlich vor?? Soll ich mich in den Zug setzen und einfach zu ihm hinfahren??«, fragte ich ihn etwas angefressen.

Mein Zwilling grinste und grinste, nur den Mund machte er nicht auf. Ich hatte keinen Schimmer, was in seinem hübschen Köpfchen so vorging.

»Du kommst nicht drauf, was?«

»Nun sag schon!«, presste ich nun doch genervt hervor.

»Wo sind wir denn in ca. vier Wochen??«, hörte ich ihn feixend fragen und mir war, als würden sämtliche Lichter in meinem überforderten Hirn angehen.

»Mainz«, hauchte ich verstehend.

»Yeb, und wenn ich im Unterricht richtig aufgepasst habe, liegt es in unmittelbarer Nähe von Frankfurt!«

»Ich weiß nicht recht.«, versuchte ich meine Zweifel in Worte zu fassen.

»Blödsinn, wie lange willst Du Dich noch damit quälen, ob Raphael nicht doch der Typ ist. Du suchst ihn auf und dann wirst Du es ja sehen. Und wenn Du es nicht alleine machst, dann schleife ich Dich persönlich da hin!« Tim klang mehr als entschlossen. Genau das Gegenteil von mir. Ich wusste wirklich nicht, ob ich eine endgültige Entscheidung herbeiführen wollte. Vor allem, wie sollte ich den Überfall Raphael erklären?

»Und Deinem Mailfreund sagen wir nix - versuch es einfach auf gut Glück, und wenn es nicht klappt, dann ist die Enttäuschung nicht so groß!«

»Mann, ich weiß doch nicht mal, ob er überhaupt direkt in Frankfurt wohnt!«, versuchte ich mich herauszureden.

»Du hast einen Namen, der ist sogar etwas ungewöhnlich und somit stehen die Chancen gar nicht so schlecht. Und nun kein weiteres wenn und aber oder willst Du keinen Freund?«, fragte mich mein Zwilling und ein kleines hinterhältiges Lächeln zierte sein Gesicht.

»Ähm..., na ja..., Klar!« Oh je, meine Zunge holperte nur so durch die Gegend.

»Oder hast Du schon einen??« Jetzt wurde ich definitiv rot und sagte lieber nichts mehr, meine Stimme hätte mich hundertprozentig verraten.

»Glaubst Du echt, ich hätte Deinen kleinen Aussetzer vorhin nicht gemerkt? Aber das kriege ich auch noch raus! Jetzt sorge ich erst einmal dafür, dass Du zu einem Date mit Raphael kommst. Du hast doch Dad gehört - ich soll mich um Dich kümmern!«

,Na schönen Dank auch, das konnte ja was werden mit einem Zwilling an meiner Seite, der versuchen würde mich auf Teufel komm raus zu verkuppeln und das würde passieren, so gut kannte ich ihn!!', fuhr es mir durch den Kopf, aber ich hielt verbissen meinen Mund, denn sonst würde ich alles ausplaudern. Irgendetwas hielt mich nach wie vor davon ab, Tim etwas von Felix zu verraten. Bei mir setzte sich ein ziemlich blöder Gedanke fest. Ich war so froh, dass ich meinen Tim wieder hatte und bildete mir ein, dass er auf Felix vielleicht eifersüchtig sein könnte.

»Gut, dann ist das also beschlossen. Nun müssen wir noch einen Plan machen, wie wir das angehen! Ein bisschen Zeit haben wir ja noch.«, schloss Tim das Thema erst einmal ab.

»So und nun komm mein Süßer - wir gehen Essen!«

»Süüüüüßßßeeeeer???« Flugs stürzte ich mich auf Tim und Sekunden später kugelten wir uns auf dem Boden herum. Man wie hatte ich das vermisst!

Der Abend war dann echt lustig und wir gingen so gelöst wie lange schon nicht mehr miteinander um. Ich blieb sogar über Nacht, wobei wir fast nicht schliefen sondern nur Blödsinn im Kopf hatten. Ob wir beide schon das akzeptierten, was wir wirklich waren - da war ich mir nicht so sicher.

Die folgenden vier Wochen vergingen wie im Flug. Gemeinsam mit Svenja schmiedeten wir einen Plan. Dabei trafen wir uns immer bei mir, ich fand einfach jedes Mal eine Ausrede, um unsere Treffen von Svenjas Zuhause fernzuhalten. Ich sollte mich am Samstag von der Klasse entfernen und die Adressen abklappern, die wir herausgefunden hatten. Auch Svenja redete so lange auf mich ein, bis ich meine Zweifel ganz nach hinten schob. Sie waren beide so felsenfest von der Idee überzeugt, dass ich nicht den Spielverderber mimen wollte. Eine Sache sprach ich aber nach wie vor nicht an.

Felix!

Auch wenn ich viel Zeit mit Tim verbrachte, denn die hatte er nach seiner Trennung mit Corinna wieder reichlich, meine Auszeit für Felix nahm ich mir. Wir verbrachten herrliche Stunden miteinander - nur mehr als Kuscheln und Küssen passierte nicht. Ob Felix mehr wollte, ich hatte keine Ahnung. Mir reichte es vollkommen und er drängte mich nicht zu mehr.

Tja und in der Schule ließ man mich meistens zufrieden - mir war es auch echt egal, denn wir waren wieder die Zwillinge. Mit Svenja bildeten wir jetzt ein Dreieck, das sich sehr wohl zu wehren wusste. Eigentlich hatte sich das Verhalten meiner Mitschüler nicht geändert, die Einzige, die Stress machte war Corinna - nur außer ihren ein, zwei Freundinnen in der Schule hörte niemand auf sie.

Und Raphael? Mir juckte es in den Fingern, ihm von unserem Plan zu erzählen. Seine Mails wurden wieder intensiver, so wie meine Gefühle ihm gegenüber auch. Ich verstand es nicht. Was wollte ich von diesem Jungen? Es war diese Diskrepanz zwischen seinen Zeilen und seinem persönlichen Auftreten beim Treffen.

Was passte da nicht?

****

Zwei Tage waren es nur noch zu unserem Schulausflug in die Nähe von Frankfurt. Nun war ich auf dem Weg zu Svenja, denn wir wollten noch ein paar Sachen besprechen. Tim wollte auch kommen. Diesmal konnte ich mich nicht mehr herausreden und somit sollte mein Zwilling endlich meinen Boyfriend kennen lernen - ich war verdammt nervös. Die Tür wurde von ihrer Mutter geöffnet und Franka stürzte sich sofort auf mich. Sekunden später suhlte ich mich mit ihr auf dem Boden herum und die Hündin war hellauf begeistert. Da hörte ich ein helles Lachen vor mir - dieses Lachen hatte ich viel zu lange vermisst. In der Tür zu Svenjas Zimmer stand ein grinsender Tim.

»Seit wann kommst Du denn mit Hunden klar, Jean?!«, gluckste er.

»Tja mein Kleiner, da hat sich so einiges geändert!«, neckte ich zurück.

»Kleiner, vergiss den halben Zenti!«, rief er verblüfft und stürzte sich auf mich. Dann kugelten wir über die Boden, das hatte ich noch viel mehr vermisst. Ich genoss seine Nähe, jedoch das erste Mal seit Jahren ohne einen Hintergedanken. Der Hündin war das wohl nicht geheuer, zwei Kerle, die über den Boden purzelten.

»Ihr verschreckt ja ganz den Hund!«, hörten wir jemanden von der Tür mit ernster Stimme, nur konnte diese Person das Lachen nicht ganz unterdrücken. Mühsam rappelten wir uns auf, nicht ohne uns noch gegenseitig einen Knuff zu verpassen.

»Ne jetzt mal im Ernst. Magst Du jetzt etwa Hunde??«, fragte mich Tim auf dem Weg in Svenjas Zimmer.

»Na ja, alle wohl nicht, aber Franka ist eine ganz Liebe und der erste Hund, der mich nicht zuerst angeknurrt hat.«

»Los setzt Euch und was wollt Ihr trinken?«, unterbrach uns Svenja. Immer noch grinsend setzten wir uns auf ihre Couch, da durchfuhr es mich wie ein Blitz.

Bis jetzt war Felix noch nicht aufgetaucht, vielleicht war er ja auch gar nicht da! Ich hatte mein Kommen jedenfalls nicht angekündigt.

Prompt klopfte es an der Tür und ein brauner Wuschelkopf lugte um die Ecke. Mir verschlug es die Sprache - Mann, dem Kerl stand aber auch jede Haarfarbe. Seine Augen blitzten belustigt auf, als er mich mit Tim auf der Couch erspähte.

»Hey mein Kleiner«, säuselte er und mir wurde sofort wieder schummrig. Anderseits war ich auch nervös, denn ich spürte sofort die Neugierde von Tim.

»Kleiner???«, hörte ich meinen Zwilling flüstern und in dem Wort waren so viele Fragezeichen.

,Okay, dann halt Augen zu und durch.', murmelte ich zu mir und ging Felix entgegen. Dieser schob sich jetzt vollständig ins Zimmer und egal was er auch anhatte, er zog mich wie immer in seinen Bann. Langsam kamen wir uns näher und Felix klärte die Umstände sofort...

... er zog mich an sich und unsere Lippen verschmolzen miteinander. Der Kuss war mehr als leidenschaftlich. Wie machte er das nur immer, dass ich mich so fallen lassen konnte bei ihm!!

»Ähmmm«, hörten wir es hinter uns und trennten uns widerwillig. Dort stand eine kopfschüttelnde Svenja und scheuchte uns aus der Tür. Vorsichtig suchte ich den Blick von Tim. Was würde er davon halten? Tims Blick ruhte prüfend auf Felix, so als wolle er ihn bis aufs Mark durchleuchten.

»Tim, darf ich Dir Felix vorstellen!«, leise wählte ich die Worte mit Bedacht - nur die Wörter »mein Freund« wollten mir nicht so recht über die Lippen.

»Wow, das nenn ich eine Begrüßung.«, grinste er uns entgegen, aber er schien keine Probleme damit zu haben, dass ein Boy seinen Zwilling abknutschte. Eher schein er belustigt zu sein, dass wir diese Art der Vorstellung gewählt hatten. Mir war immer noch nicht wohl, aber Tim stand auf und streckte Felix seine Hand entgegen.

»Schön Dich kennen zu lernen. Ich bin Tim und so was wie die zweite Hälfte von Jean. Man behauptet auch, wir wären unzertrennlich und machen alles zusammen!«, sagte er zu Felix, erst das breite Grinsen von Felix ließ bei ihm den Groschen fallen. Tim lief rot an und stotterte.

»Ähm..., ne..., fast..., fast alles!«

»Schade, und ich hatte jetzt schon gehofft, mal zwei solche Schnuckels im Bett zu vernaschen!«, murmelte Felix lüstern in Tims Richtung. Der lief noch mehr an und schluckte. Ich gab Felix einen Rippenstoß, der sich gewaschen hatte.

»Au!«

Als Rache kniff er mir in meinen Allerwertesten, aber das geschah dann doch eher sanft. Dann ließen wir uns alle irgendwo nieder, wobei Felix, Tim und ich die Couch in Beschlag nahmen und Svenja nur der Bürostuhl blieb. Tim musterte uns immer mal wieder, aber sein Blick war eine Mischung von Neugierde und Belustigung - es war keine Feindseligkeit gegenüber Felix zu erkennen. Dieser hatte mich an sich gezogen, so dass ich mit dem Rücken an seiner Brust ruhte, seine Hände waren um meinen Oberkörper geschlungen und ich spürte seine Wärme. Ganz genau konnte ich meine Gefühle nicht einordnen. Einerseits fühlte ich mich geborgen, anderseits verspürte ich aber auch so was wie Scham, mich hier so vor Tim zu zeigen. Jedoch dauerte es nicht lange und ein lockeres Gespräch war im Gange.

Dann kamen wir auf meine Suche zu sprechen - der Suche nach Raphael. Ich merkte sofort, dass Felix sich etwas versteifte, ihm schien diese Sache nicht zu passen. Er hörte sich alles an und gab keinen Kommentar dazu ab. Natürlich wusste er von meiner Mailfreundschaft, aber so richtig darüber gesprochen hatten wir noch nicht. Zu der Suche gab es nicht soviel zu sagen, denn außer dem Nachnamen »van Dahlen« hatte ich ja nichts. Dabei wusste ich noch nicht einmal, wie dieser geschrieben wurde. Es konnte ja auch »Vandalen« heißen! Jedenfalls gab es laut Internet und Telefonbüchern nur drei Adressen, die Ähnlichkeit mit diesen Namen hatten. Wir diskutierten noch ein wenig, wie wir es am besten anstellen sollten, aber im Grunde wollte ich keine Hilfe. Ich würde einfach die drei Adressen abklappern und schauen was passierte - wie er aussah, wusste ich ja nach unserem Treffen schon, aber irgendwas zwang mich dazu, mit ihm noch einmal persönlich reden zu wollen.

Dann musste Tim nach Hause und ich begleitete ihn noch kurz nach unten. Eine gewisse Unruhe hatte mich immer noch bemächtigt und somit stand ich ihm nervös gegenüber. Auch Tim schien nicht frei davon zu sein. Dann huschte ein scheues Lächeln über seine Lippen und seine Augen leuchteten spitzbübisch auf.

»Viel Spaß noch, mein Kleiner!!«, hörte ich ihn sagen.

»Entsetzt?«, fragte ich ihn mit einem Zittern in der Stimme, auf seine Anspielung ging ich gar nicht ein, dafür war ich viel zu nervös.

»Nein, wirklich nicht!«, antwortete er und seine Stimme klang aufrichtig. »Nur ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber richtig süüüüüß anzuschauen!«

»Blödmann«, brummte ich zurück, aber mir fiel ein Stein vom Herzen. Tim beließ es aber nicht nur bei seinen Worten. Er zog mich einfach in seine Arme und drückte mich fest an sich.

»Jean, ich wünsche Dir viel Glück. Er scheint ein guter Kerl zu sein!«, flüsterte er mir in mein Ohr. So schnell wie er mich umarmt hatte, ließ er mich auch wieder los. Er lächelte ein wenig verlegen und ich war viel zu perplex, um etwa zu sagen. Diese Art von Freundschaftsbekundungen waren sehr selten zwischen uns.

Dann nickte er mir zum Abschied noch einmal zu und Sekunden später war er um die Hausecke verschwunden. Etwas anderes fuhr mir im Kopf hin und her, deshalb stand ich noch eine Weile wie verloren in der Gegend herum - hatte er eben »süß« gesagt??

,Ach komm, Jean, bilde Dir nicht schon wieder was ein!!', versuchte ich mir die aufkeimende Hoffnung aus den Kopf zu schlagen. Oben fand ich nur Svenja und die Hündin in ihrem Zimmer vor. Mit dem Kopf wies sie auf Felix Zimmer und schon klopfte ich an seine Tür.

Kein Herein oder irgendein anderer Laut - trotzdem öffnete ich die Tür und schlüpfte in sein Zimmer. Felix stand am Fenster und schien gedankenverloren in die Ferne zu blicken. Ich schlich mich zu ihm und schmiegte mich an seinen Rücken. Meinen Kopf legte ich auf seine Schulter und schaute auch aus dem Fenster. Von hier hatte er mich und Tim beobachten können. So standen wir eine Weile am Fenster ohne ein Wort zu sagen. Sanft löste sich Felix von mir und drehte sich um. In seinen Augen, in denen ich so oft nur den Schalk blitzen sah, stand so viel Traurigkeit, dass mir mein Herz sehr eng wurde. Er nahm meine Hände und zog mich zu seinem Bett. Dort setzten wir uns.

»Jean, wir müssen reden!«, murmelte Felix. Nein, ich wollte nicht mit ihm reden - bestimmt nicht über das, was jetzt wohl kommen würde. Unfähig etwas zu sagen, starrte ich ihn nur an.

Seine Finger strichen über meine Wange und eine einzelne Träne löste sich von seinen Wimpern und rollte über sein Gesicht.

»Ich kann Dir nicht Tim ersetzen und ich will es auch nicht!«, seine Stimme war nur ein leises Flüstern, aber die Worte hallten wie Donnerschläge in meinem Kopf.

»Felix..., was... warum...«, schluchzte ich als Antwort. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Da fand ich meine Freundschaft zu Tim wieder, stellte meinen Boyfriend meinem besten Freund auch vor und was macht er?? Er schien hier gerade mit mir Schluss zu machen!!

»Schscht mein Kleiner«, hörte ich seine Stimme, die wohl beruhigend klingen sollte, aber auch kurz vor dem Umkippen stand.

»Mir ist heute ziemlich klar geworden, dass Du immer auf der Suche sein wirst...« Felix unterbrach sich selbst und musste hart schlucken.

»... ja, auf der Suche nach Deinem Tim!«

»Tim ist nicht schwul!«, kam meine trotzige Antwort.

»Ja ich weiß, aber jeder und alles muss sich mit ihm messen! Und Jean...«, wieder unterbrach er sich »mit Deinem Tim kann ich nicht mithalten!«. Ich wollte sofort dagegen aufbegehren, aber irgendetwas ließ mich stumm bleiben. In meinem Herzen spürte ich sofort, dass Felix es verdammt ernst und ehrlich meinte.

Aber ich verstand auch, dass er kapitulierte. Er wollte nicht gegen solch einen mächtigen Gegner kämpfen.

»Jean, ich hab mich wahnsinnig in Dich verliebt, aber nur meine Liebe reicht nicht. Sie ist nicht genug, damit wir Beide glücklich sind!«

Jetzt war es nicht nur eine einzelne Träne, die über seine Wange lief. Ich war unfähig, darauf zu reagieren. Ich konnte es einfach nicht fassen. Gerade fing alles an, einen normalen Weg zu nehmen und schon tat sich ein Abgrund vor mir auf. Ich mochte Felix doch - warum stieß er mich von sich. Okay, die große Liebe war es für mich noch nicht, aber ich musste mich doch auch erst daran gewöhnen.

»Warum??«, heulte ich jetzt ebenfalls.

»Versteh doch mein...«

»Nein, ich versteh es nicht!«, wollte ich ihn anschreien, aber es war mehr ein ersticktes Schluchzen.

»Ich auch nicht!«, hörte ich leise seine Antwort. Diese drei Worte brachten mich zur Besinnung. Jetzt sah ich die Qual, die in Felix Gesicht geschrieben war. Ihm fiel das noch viel schwerer als mir. Ich horchte in mich hinein - nein, ich war nicht wütend auf ihn. Nein, ich war wütend auf mich, wie konnte ich so egoistisch die Liebe eines lieben Menschen ausnutzen. Sanft nahm ich sein Gesicht in meine Hände und sah ihm in seine schönen Augen.

»Womit hab ich Dich verdient?«, hauchte ich ihm tränenerstickt entgegen.

»Nein Jean, Du hast mir die Augen geöffnet. Bisher hatte ich nur flüchtige Abenteuer, wollte keine feste Beziehung, aber Du hast mir gezeigt, was ich bisher weggeworfen habe!«

»Aber wir kennen uns doch erst ein paar Tage und haben über so was nie gesprochen«, antwortete ich nun doch etwas verwundert.

»Nein, aber ich hab von Anfang an gemerkt, dass Du mich nicht liebst, eher von mir fasziniert warst. Ich wollte jedoch Deine Liebe und hab mir eingeredet, mit ein wenig Anstrengung meinerseits wäre alles möglich. Aber als ich heute gesehen habe, wie Du mit Tim umgehst, habe ich mir so sehr gewünscht, an seiner Stelle zu sein - gleichzeitig habe ich jedoch auch verstanden, dass das nie passieren wird« Große Traurigkeit übermannte mich wieder bei seinen Worten und ich senkte meinen Blick.

»He, Kleiner, Du wirst immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben, aber glaube mir, es ist besser so. Ich wünsche Dir viel Glück bei Deiner Suche nach dem richtigen Tim!«, nach diesen Worten küsste er mich noch leicht, dann zog er sich von mir zurück. Ich merkte, dass er alleine sein wollte und auch ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Leise verließ ich ihn, einen letzten Blick auf Felix geworfen - zusammengesunken saß er traurig auf seinem Bett. Wie in Trance taumelte ich nach Hause.

,Würde ich immer über die Hürde »Tim« stolpern? Waren meine Ansprüche wirklich zu hoch????'

****

Am nächsten Morgen wachte ich mit starken Kopfschmerzen auf - ich war total durch den Wind. So sehr ich Felix auch verstand bzw. ihm Recht geben musste, begreifen konnte ich es trotzdem nicht so richtig! Er hatte mir in meiner kleinen Welt einen großen Halt gegeben, aber ich hatte den Schmerz in seinem Gesicht gestern gesehen. Ihm fiel es bedeutend schwerer, mich loszulassen.

Mist, warum musste diese besch... Welt immer ein ständiges Auf und Ab sein?? Hatte ich wirklich solch abwegige Vorstellungen vom glücklichen Leben? Die da draußen konnten mir alle gestohlen bleiben - ich würde mich wieder in meinem Zimmer eingraben!!

Kling Klong! Kling Klong! Kling Klooooooooooooong!

An unserer Haustür klingelte jemand Sturm - mir egal, ich war nicht da. Wie um in eine andere Welt abzutauchen, zog ich mir die Bettdecke über den Kopf!

Mit einem großen Knall flog meine Tür auf. Erschrocken lugte ich unter meiner Decke hervor. In der Tür stand eine Furie, blitzende Augen - ernstes Gesicht und legte gerade los.

»Wie kannst Du...?« Da schien Blut doch dicker als Wasser zu sein, denn die Furie war Svenja und sie wollte mich wohl gerade lynchen. Traurig sah ich ihr entgegen.

»Oh...«, entfuhr es ihr jetzt, nachdem sie ihre wütende Frage selbst unterbrochen hatte. Ihre Augen nahmen einen nachdenklichen Ausdruck an.

,Sah ich so schlecht aus, dass allein mein Aussehen sie besänftigt hatte?', grübelte ich.

»Also weißt Du es schon?«, fragte ich sie. Nein, ich stellte es eher fest!

»Mein Bruder sieht aus wie der Tod auf Latschen, aber erzählt hat er nix. Ich konnte mir jedoch eins und eins zusammen reimen und nachdem er mir unmissverständlich gesagt hatte, das mich das nichts angeht - war für mich kein Halten mehr!«

»Kennst Du mich sooo schlecht?«, stellte ich ihr die Frage und konnte den vorwurfsvollen Unterton nicht unterdrücken.

»Entschuldige, aber ich hatte Dir gesagt, dass ich meinen Bruder liebe!«, kam ihre ausweichende Antwort und sie schlug die Augen nieder.

»Okay, aber das macht es mir auch nicht gerade leichter. Würdest Du bitte gehen, mir geht es nicht so besonders!«, forderte ich sie etwas ungehalten auf. Als ob ich nicht schon genug mit mir zu kämpfen hatte, da konnte ich solche Vorwürfe jetzt echt gebrauchen!

»Jean, es tut mir leid. Können wir darüber...«, murmelte sie leise vor sich hin.

»Nein, können wir nicht!«, unterbrach ich sie und schob noch hinterher.

»Und Dein Bruder hat Recht - es geht Dich nix an!« Und schwups war ich wieder unter meiner Decke verschwunden - Verdammt, ich wollte alleine mit meinem Schmerz sein!

»Jean...«, versuchte sie es noch einmal bittend, aber als keine Reaktion von mir erfolgte, hörte ich die Tür ins Schloss schlagen.

Ja, endlich Ruhe. Da lag ich nun stumpf vor mich hinbrütend unter meiner Decke. Vielleicht fand ich ja meine Träume wieder?!?!

Diese bekloppte Klassenfahrt konnte mir auch gestohlen bleiben!

Und Raphael?

Da war sie wieder, die unangenehme, weil fragende Stimme.

,Was ist mit ihm?', brubbelte ich zurück.

Du wolltest Dich überzeugen, ob Dein Kribbeln bei jeder Mail eventuell doch berechtigt ist!

,Blödsinn!!!'

Irgendetwas stimmte nicht. Es war nicht die nun ruhig gestellte Stimme meines Gewissens, nein es war was anderes.

Mist, was war es nur???

Da, ich hatte es - ich war nicht mehr allein! Vorsichtig schaute ich unter meiner Decke hervor. Mein Zwilling saß auf meinen Bürostuhl und musterte mich nachdenklich. Na ja er starrte eher auf meinen Kokon.

Im Gegensatz zu Svenja war mir Tims Anwesenheit nicht lästig. Ich war schon immer der Typ, der in seinem körperlichen oder seelischen Schmerz am liebsten alleine war. Nur eine Person duldete ich dann in meiner Nähe - meinen Zwilling. Er drang nie in mich, versuchte nicht, krampfhaft Trost zu spenden - er war einfach nur da, so wie jetzt auch.

Ich kroch unter meiner Decke hervor. Schweigend schauten wir uns an. Viele Gedanken schwirrten in meinem Schädel herum, aber nur einer beherrschte mich richtig.

Da saß meine große Liebe und sie war unerreichbar für mich!

Es war nicht mehr so wie früher die große Sehnsucht in meinen Überlegungen. Nein es war einfach eine Feststellung von mir. Tim unterbrach unsere schweigende Zwiesprache.

»Ich war schuld, stimmt's??!!«, hörte ich ihn traurig fragen. Diese Worte bewiesen mir wieder einmal, wie gut wir uns kannten. Und ich konnte ihn nicht anlügen.

»Ja.«

»Verdammt, hör auf mich zu lieben. Zerstöre nicht weiter Dein Leben!«, brach es aus ihm heraus.

»Ich kann nicht!«, schluchzte ich.

»Ich will Dir nicht immer wieder wehtun!«, flüsterte er leise. Ich sah, wie nahe ihm die ganze Sache ging.

»Gib Dir nicht die Schuld für meine Gefühle. Ich bin froh, dass ich Dich wieder habe und Du bei mir bist.« Wieder schwiegen wir minutenlang. Ich überlegte gerade, wie ich ihn von meiner Absage der Klassenfahrt begeistern könnte, da hörte ich ihn unwirsch murmeln.

»Das kannst Du Dir aus dem Kopf schlagen, Jean Neumann! Und wenn ich Dich morgen persönlich zum Zug schleife - Du wirst mitkommen!« Da war er wieder in meinem Hirn und wütete herum. Resignierend sackte ich in mich zusammen.

»Wenn Du meinst!« Gegenrede war zwecklos, wenn Tim einen solchen Ton an den Tag legte.

»Und damit Du hier nicht versauerst, kommst Du jetzt mit zu mir und wir vertreiben uns die Zeit bis morgen zusammen!«

»Sachen packen?«, entgegnete ich. Ein wenig Widerstand wird ja wohl erlaubt sein.

»Dann los raus aus den Federn, das erledigen wir beide jetzt!« Soviel zu meinem glorreichen Aufbegehren!

Mit Tims Hilfe war dieser Teil sehr schnell erledigt und eine halbe Stunde später fand ich mich mit ihm in unserem Hobbyraum wieder. Nicht lange danach waren wir in die Playstation vertieft und Tim hatte es geschafft, mich aus meinem Trübsinn zu reißen - wenigstens vorübergehend.

Über die Fahrt in den Westen gab es nicht viel zu berichten. Ich ging Svenja nach wie vor aus dem Weg, obwohl sie ein bis zwei Versuche machte, mit mir zu sprechen. Tim sorgte dafür, dass ich kaum alleine war und somit nicht wieder ins Grübeln verfiel.

Unsere Jugendherberge war nicht direkt in Mainz, eher in den Weinbergen am Main. Die Gegend gefiel mir sofort. Wir hatten Anfang Juni und der Frühsommer war ausgebrochen. Jetzt am frühen Abend war es nicht mehr so heiß und ich schlenderte alleine etwas durch die Weinreben. Ich hatte meinen Zwilling überlistet, bzw. er hatte eine Wette verloren und musste sich um unsere Betten kümmern! An einem Baum mitten auf dem Hang lag ein großer Findling. Übermütig erklomm ich ihn und ließ mich dann auf ihm nieder. Mein Blick glitt über die sehr schöne Landschaft. Der Weinberg fiel sacht zum Main ab. Der gegenüberliegende Hügel erstrahlte in einem tiefen Abendrot - es war irgendwie melancholisch anzusehen.

Tja morgen war es soweit. Ich würde mich auf die Suche nach Raphael begeben. Aber suchte ich IHN denn auch oder jagte ich nur wieder einem Traum nach? Da morgen Samstag war, bestand eine sehr große Chance, dass ich ihn auch antreffen würde. Allein der Gedanke, ihm morgen gegenüber zu stehen, überzog meinen Oberkörper mit einer Gänsehaut. Ich versuchte mir sein Bild vor Augen zu führen, aber es gelang mir nicht richtig. Ich hatte mir sein Bild nie wieder angesehen - sozusagen von meiner körperlichen Festplatte gelöscht!

Aus meinem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung war. Da stand am Baum ein grinsender Tim.

,Vor dem Bengel war ich aber auch gar nicht sicher!', lächelte ich lautlos in mich rein.

»Du entkommst mir nicht!«

Und schwups saß er dicht neben mir auf dem Stein. Gemeinsam saßen wir bestimmt eine Stunde schweigend nebeneinander, jeder von uns in seinen Gedanken versunken.

»Hoffentlich klappt es morgen auch - ich wünsche Dir viel Glück!« Aus seinen Worten sprach soviel Ehrlichkeit. Eine Antwort war einfach nicht nötig.

*****

Und nun stand ich hier unweit der ersten Adresse an der Bushaltestelle. Das Abseilen von der Klasse hatte besser geklappt, als wir angenommen hatten. Allerdings wurde ich das dumme Gefühl nicht los, dass Herr Müller, unser Mathelehrer, genau mitbekommen hatte, was da vorging. Große Probleme sollte es aber nicht geben, denn wir waren geschlossen nach Frankfurt gefahren und hatten fast den ganzen Tag zur freien Verfügung.

,Hm, wo war denn nur die Nummer 12!', murmelte ich vor mich hin. Die Gegend war auf jeden Fall piekfein - die Villen reihten sich aneinander. Ob ich hier richtig war?

Also nun war ich schon das dritte Mal an der Nummer 11 vorbeigelaufen und da hinten kam die Nummer 13, nur an diesem beschissenen Tor stand keine Nummer. Ich entschied für mich, dass das die richtige Nummer war. Vorsichtig trat ich in die große Einfahrt und ließ meinen Blick durch das schmiedeeiserne Tor wandern. Ein langer Kiesweg wand sich durch kurz geschnittenen Rasen zu einer Villa.

Oh Mann das war ja schon keine Villa mehr, das war ein Schloss. Irgendwie schien das Anwesen aber verlassen zu sein. Ich durchforschte mein Hirn, ob Raphael etwas über wohlhabende Familie oder so geschrieben hatte?? Seine persönlichen Angaben hielten sich nach wie vor in Grenzen. Wir wussten zwar sofort, was der andere fühlte, aber ich hatte keinen Schimmer wie er wohnte. Wenn ich mir das aber hier so ansah, verwarf ich den Gedanken, dass er hier wohnen könnte. So zuckte ich mit meinen Schultern und machte den Abflug.

Also ab zur nächsten Adresse!

Mit dem Bus musste ich nur zweimal umsteigen und dann stand ich auch schon davor. Als ich das Schild am Eingang las, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Seniorenstift Himmlische Ruh

Hier würde ich einen 17jährigen Teenager bestimmt nicht finden. Aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Der Empfangsbereich wirkte nobel - nur die Empfangsdame sah aus wie ein Drachen.

»Sie wünschen?«, brummte sie und sie war eindeutig der Meinung, dass ich nichts zu wünschen hatte.

»Ich würde gern jemanden besuchen!«, warf ich sämtliche Höflichkeit in die Waagschale, die ich bei diesem griesgrämigen Gesicht aufbringen konnte.

»Könnte ich auch erfahren, WEN?«

,Na viel Besuch kam hier am feuerspuckenden Wächter nicht vorbei!', grinste ich in mich hinein.

»Van Dahlen!«, warf ich ihr an den Kopf. Ihre Miene verfinsterte sich noch mehr.

»Der alte Griesgram bekommt doch nie Besuch!«, stieß sie hervor und musterte mich lange.

,Jetzt nur nicht nervös werden!', redete ich mir ein und zuckte nicht mal mit meinem Augenlid.

»Schwester Gertrud!!!!«, brüllte sie auf einmal los.

Huch, wachsen hier die Schwestern aus dem Boden, denn auf einmal stand vor mir eine junge hübsche Schwester.

»Bringen Sie diesen unverschämten Jungen zu van Dahlen und lassen Sie ihn keinen Augenblick aus den Augen!« Ja, ja, wenn Blicke töten könnten! Sie brannten den ganzen langen Flur noch in meinem Rücken!

Als wir um die Ecke bogen, seufzte ich erleichtert auf. Verwundert sah mich die Schwester an und schüttelte amüsiert den Kopf. Hoffentlich kam jetzt nicht so etwas, wie ,Sie ist die gute...'

»Entschuldige das Auftreten von Schwester Irmgard, aber das ist nur der erste Eindruck, ansonsten ist sie die gute Seele des Seniorenheims!« Und schon prustete ich los. Nur mühsam konnte ich das Lachen unterdrücken und gluckste noch eine ganze Weile in mich hinein. Die freundliche Miene hatte sich in eine neutrale gewandelt. Dann führte sie mich auf eine Terrasse hinaus. Unter Sonnenschirmen standen ein paar Liegestühle und etwa die Hälfte war belegt. Sie brachte mich zu einem einzelnen Stuhl, in dem ein rüstiger älterer Mann saß. Seine Augen hatte er geschlossen. Die Haut war nicht faltig, sein Gesicht eher schmal mit hohen Wangenknochen.

»Herr Senator?«, hörte ich die Krankenschwester laut fragen. Keine Reaktion! Sanft legte sie die Hand auf seine Schulter und stieß ihn sanft an. Unwillig öffnete er seine Augen.

Wow - was für Augen! Sie waren grün. Ich war geplättet von dieser intensiven Farbe.

»Warum stören Sie mich?«, hörte ich einen angenehmen Bariton fragen.

»Sie haben Besuch!«

»Ich will kein Buch!«, grummelte er.

He, Buch?? Ich verstand nur Bahnhof. Die Krankenschwester zeigte auf mich und schrie ihn fast an.

»Herr Senator, Sie haben Besuch!« War es mir nur so, oder konnte ich ein kleines Grinsen über sein Gesicht huschen sehen?

»Guten Tag!«, wandte ich mich höflich in normaler Lautstärke an Herr van Dahlen. Er reagierte nicht und musterte mich mit den herrlichen Augen.

»Ich suche einen Raphael van Dahlen!«, eröffnete ich ihn mein Anliegen. Da, was war das? Hatten seine Augen kurz aufgeblitzt? Nein, das musste eine Sinnestäuschung gewesen sein, denn sein Gesicht war genauso unbewegt wie vorher.

»Nein, ich komm nicht mit Baden«, brummte er mich an. Die Schwester schüttelte entnervt den Kopf und eröffnete mir nun missmutig: »Du musst lauter reden. Der Alte ist schwerhörig und einfach zu faul, sein Hörgerät anzuschalten!«

Also wenn dieser Senator schwerhörig war, dann war ich keine Schwuppe! Seine Augen hatten sich bei dem Spruch von der ehrenwerten Schwester Gertrud definitiv verengt, auch wenn sein Gesicht jetzt wieder keiner Regung zu entlocken war.

»Ich glaube, ich werde mich mit ihm schon verständigen können!«, antwortete ich ihr und setzte mich entschlossen auf einen der Stühle die hier herumstanden. Zuerst stand sie noch unentschlossen herum, so als wüsste sie nicht, wie sie die Anweisung von der Empfangsdame befolgen sollte. Dann trollte sie sich aber doch und ließ mich mit dem Senator alleine. Als sie aus unserer Hörweite war, wandte ich mich an ihn.

»Herr Senator, mir ist sehr wohl bewusst, dass Sie nicht schwerhörig sind!«, spielte ich sofort mit offenen Karten. Seine Miene blieb unbewegt und sein Blick musterte mich kühl. Ich war schon versucht aufzustehen und zu gehen. Dieser Mann strahlte eine Aura aus, das war unglaublich - leider war sie gerade sehr eisig! Innerhalb von Bruchteilen von Sekunden war ein schönes Lächeln in sein Gesicht gezaubert und seine Augen schauten mich warm an.

»So, so, Du hast mich also durchschaut!«, hörte ich ihn sagen.

»Sie haben die ja voll verars..., oh Entschuldigung, da bin ich wohl ein wenig über das Ziel hinausgeschossen, Herr Senator!«, platzte ich heraus, um umso leiser den Satz verlegen zu beschließen.

»Ab und an gestatte ich mir ein paar Schrullen. Hier passiert halt nicht so viel, da muss man selbst für Abwechslung sorgen. Du scheinst ein aufgeweckter Junge zu sein. Nenn mich Maximilian, der Senator ist nur was für die Schreihälse!«, beruhigte er mich und zwinkerte er mir zu.

»Was führt Dich nun zu mir? Herr ...?«, fragte er mich. Sein Lächeln wurde so spitzbübisch, das mir mit Schrecken einfiel, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt hatte.

»Oh, ich heiße Jean Neumann.«, holte ich das Versäumte postwendend nach.

»Und ich bin auf der Suche nach einem Raphael van Dahlen«, gab ich ihm noch einmal mein Anliegen preis. Diesmal war keine Reaktion zu entdecken.

»Na ja, mein Vorname ist Maximilian, das wirst Du Dir ja schon alleine zusammengereimt haben und einen Raphael kenne ich nicht, leider!«

Tja, damit war diese Spur eine Sackgasse. Trotzdem blieb ich über Mittag und genoss die Gesellschaft von dem älteren Herrn. Ich war fasziniert von dieser Persönlichkeit. In seinen grünen Augen blitzte der Schalk und er ließ das Personal nur so springen. Die Schrulle der Schwerhörigkeit war nicht die Einzige, auch mit dem Laufen hatte er es nicht so. Dabei konnte ich mit eigenen Augen sehen, dass er mehr als rüstig war. So nebenbei bekam ich mit, dass das nicht ein Altersheim im üblichen Sinne war. Es war eher ein nobler Club für wohlhabende, na ja eher sehr reiche Personen mit Wohnmöglichkeiten und ärztlicher Betreuung.

Am frühen Nachmittag wollte ich dann weiter, so sehr ich den Senator und seine Geschichten genoss. Etwas traurig erschien er mir, als er hörte, dass ich nicht aus Frankfurt war und dieser Besuch wohl eine Einmaligkeit bleiben würde. Ich war gerade im Begriff mich zu verabschieden, da kam mit rüstigem Schritt ein weiterer Bewohner dieses Seniorenstiftes auf uns zu marschiert.

»Senatorchen, wollen wir eine Runde Schach spielen?«, brüllte dieser uns auf den letzten Metern entgegen.

»Herr Konsul, ich hab Dir schon so oft gesagt, dass ich mir nichts aus Bach mache!!«, brüllte er genauso laut zurück und zwinkerte mir zu. Dann stand der Konsul bei uns am Tisch.

»Dein Enkel?«, kam seine Frage in normaler Lautstärke. Ein kurzer Schatten flog über das Gesicht von Maximilian.

»Nein, leider nicht. Nur ein junger Mann auf der Suche!«, gab er als Antwort. Dann sah er mich an.

»Und nun mach Dich in die Spur und suche weiter. Viel Erfolg und vielleicht findest Du Dein Glück!«, sagte er ernst und etwas feierlich zu mir. Da hatte jemand wieder mehr in mir lesen können, als ich preisgegeben wollte. Ich verabschiedete mich von den beiden Herren und versprach dem Senator, ihm von meiner Suche telefonisch zu berichten. Verdutzt war ich, als er mir seine Mailaddy zusteckte - der Mann war wirklich für jede Überraschung gut. Mit einem Grinsen trollte ich mich.

Nun musste ich quer durch die Stadt zu der dritten Adresse. Die Sonne knallte heute schon mit voller sommerlicher Stärke auf mich nieder. Und ich musste über eine Stunde in öffentlichen Verkehrsmitteln herumgondeln. Ziel war eine Wohnsiedlung mit Hochhäusern. Oh je, wie sollte ich hier jemanden finden. Zum Glück waren an den Eingängen Namenschilder an den Klingelknöpfen angebracht. Pech war nur, die meisten waren abgekratzt, überklebt oder einfach verschwunden. Den richtigen Eingang hatte ich gefunden, aber der Name war natürlich nicht zu finden.

Was nun? Vor mir schwang die Tür auf einmal auf und eine Horde Kinder stürmte heraus. Trotz meiner Überraschung war ich so geistesgegenwärtig, dass ich mit einer Hand die Tür offen hielt. So schlüpfte ich in den Hauseingang und meine mühsame Suche begann. Auf jedem Stock waren links vier und rechts fünf Wohnungen. Hier waren die Namensschilder reichlicher gesät. So arbeitete ich mich Stock für Stock nach oben. Ich fand alle möglichen und unaussprechlichen Namen, nur ein »van Dahlen« war nicht dabei.

Wie sollte es anderes sein! Im vorletzten Stock, die letzte Wohnung auf der linken Seite war es. Groß prangte an der Wohnungstür der Name.

Und nun?

Zögerlich klopfte ich an die Tür. Nichts geschah. Okay, dann klingelte ich halt - dasselbe Ergebnis. Nach einer Weile versuchte ich es noch einmal, aber die Tür blieb zu. Jetzt blieben mir zwei Möglichkeiten. Unverrichteterdinge abzwitschern oder hier bleiben und warten. Ich entschied mich für das Letztere. Ich hockte mich auf den Fenstersims. Von hier konnte ich den Flur und auch die Tür gut beobachten. Tim schickte ich eine SMS mit dem Ergebnis von der ersten Adresse. Umgehend bekam ich eine Antwort, als ob mein Zwilling nur auf ein Lebenszeichen von mir gewartet hätte. Vor lauter Langeweile fing ich an, auf meinem Handy ein Spiel zu laden und rumzudaddeln.

Im Hintergrund hörte ich die Fahrstuhltür und Stimmen, die immer lauter wurden. Ein älteres Ehepaar musterte mich, ging aber an mir vorüber ohne etwas zu sagen. Sie schauten so grimmig, dass ich mir jede Frage verkniff und verbissen auf mein Handy starrte. Minuten später ging der Fahrstuhl wieder auf und ein Mädchen im Alter von ca. 10 Jahren hüpfte auf den Flur. Singend kam sie näher, als sie mich sah, blieb sie stehen und musterte mich neugierig.

»Wer bischt denn Du?«, fragte sie mich.

»Jean und Du?«, antwortete ich brav.

»Ich darf nicht mit Fremden reden!«, kam energisch von ihr zurück.

»Okay!« Sie blieb aber neugierig vor mir stehen und beobachte mich weiter. Ich tat so, als würde ich sie nicht mehr bemerken und spielte weiter.

»Mein Bruder hat auch so nen Handy.«, teilte sie mir nach einer Weile mit.

,Bruder? Sollte sich hier etwa ein Anhaltspunkt ergeben?', durchfuhr es mich. Ich ging aber erst einmal auf die Kleine gar nicht ein und zockte weiter.

»Ich heiße Carmen. Was machst Du denn hier?«, fragte sie weiter. Frauen waren also auch schon in diesem Alter neugierig, musste doch in den Genen liegen.

»Ich warte auf jemanden!«

»Auf wen?«

»Hm...«

»Los, sag schon!«, forderte sich mich ungehalten auf.

»Eigentlich suche ich jemanden!«, offenbarte ich ihr im verschwörerischen Ton.

»Aha!« Na wie lange würde das Aha anhalten. Sekunden später.

»Und wen?« Prompt grinste ich in mich hinein.

»Lachst Du über mich?«, hörte ich sie entrüstet.

»Nö.«

»Los, sag schon, vielleicht kann ich Dir ja helfen!«

»Kennst Du die Familie van Dahlen?«, gab ich ein wenig mehr preis.

»Oh?!« Das war nicht unbedingt die Reaktion, die ich erwartet hatte.

»Und was willst Du von uns?«

»Oh!« Diese Frage kam nun doch für mich überraschend.

»Du hast doch einen Bruder?«

»Ja??!!«, kam ihre zögerliche Antwort. Ich konnte nichts dagegen machen, aber das Kribbeln war mit einmal wieder da.

»Und ist der so alt wie ich?«, versuchte ich sie weiter auszufragen. Mein Anliegen war aber sogar für eine 10jährige zu offensichtlich.

»He, willst Du mich aushorchen?«

»Nein möchte ich nicht - ich muss nur etwas wissen!«, antwortete ich ihr ehrlich. Sie sah mich von unten nachdenklich an.

»Er ist 17!«, sagte sie und mein Kribbeln nahm zu.

»Und wie heißt er?«

»Das weißt Du nicht?« Sie wurde wieder misstrauischer. Man ich konnte einfach nicht mit Frauen verhandeln.

»Gut, ich gebe mich geschlagen. Ich suche einen Raphael van Dahlen!«, machte ich einen letzten Versuch. Auf einmal grinste sie mich an.

»Da haschte aber Pech. Mein Bruder heißt Frank!«, rief sie schadenfroh und mein Kribbeln war verschwunden. Ich wusste fast sofort, dass ich hier nicht fündig werden würde.

»Danke«, gab ich noch von mir und steckte mein Handy ein. Missmutig erhob ich mich von der Fensterbank und wollte zum Fahrstuhl gehen.

»Und wat machste nun?«

»Weitersuchen!«

Unten stand ich ein paar Minuten unentschlossen vor dem Block herum. Die Uhr ging nun schon auf den frühen Abend zu. So langsam gestand ich mir ein, dass das eine absolute Schnapsidee gewesen war. Alle drei Adressen hatten sich als ein Schuss in den Ofen herausgestellt.

,Na ja, nicht alle, mein Freundchen. Die Erste hast Du ja nicht richtig abgecheckt!', grummelte ich vor mich hin. Ich war mir unschlüssig, ob ich es dort noch einmal versuchen sollte, denn die Adresse lag am anderen Ende der Stadt. In meinen Gedanken hörte ich meinen Zwilling ,Feigling!' rufen und damit hatte er auch nicht so ganz unrecht. Die pompöse Bonzenvilla hatte mir schon einen gehörigen Respekt eingeflößt.

,Okay, noch einen Versuch. Jetzt war ich schon mal hier und wollte wenigstens Gewissheit haben, dass ich dort Raphael auch nicht fand!'

Während der mühsamen Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fragte ich mich immer mehr, was ich eigentlich hier machte. So groß meine Euphorie auch am Morgen war - jetzt war rein gar nichts mehr davon vorhanden. Zwei Gedanken machten mir am meisten zu schaffen.

1. Was würde Raphael sagen, wenn er mich hier sah und wie würde er mein Rumschnüffeln bewerten?

2. Was erwartete ich eigentlich von dieser Aktion?

Das war noch am einfachsten zu beantworten. Nach der Trennung von Felix suchte ich mehr denn je einen Freund und in Raphael hatte ich mich verliebt, das hatte ich mir mittlerweile eingestanden, aber...

... nur in den Boy, der mir diese unglaublichen Mails schrieb und nicht den Typen, den ich in Hannover erleben durfte!

»Scheiße, was mache ich denn hier!!??«, rief ich laut. Überrascht zuckte ich zusammen.

Nein, ich war nicht erschrocken über meinen lauten Spruch, ich befand mich an meinem Ziel. Da stand ich vor dem großen schmiedeeisernen Tor und suchte einen Zugang zu dem Objekt. Rechter Hand sah ich so etwas wie eine Gegensprechanlage und trat näher.

,Ja und nun? Kein Knopf zu sehen. Sollte ich es mal mit ,Sesam öffne Dich!' versuchen?' murmelte ich verwundert mit einem Grinsen im Gesicht.

»Sie wünschen bitte?«, erschall auf einmal eine freundliche Männerstimme aus dem Lautsprecher.

,Und was nun?' überlegte ich. Wie sollte ich diese Hürde überwinden?

»Guten Tag, ich habe einen Termin mit Raphael van Dahlen!«, versuchte ich es einfach mal rotzfrech. Ja, dieser Spruch wirkte wie mein persönliches ,Sesam öffne Dich!', denn das Gittertor schwang auf.

»Bitte klingeln Sie am Haupteingang!«, forderte mich die Stimme aus dem Off höflich auf. Ich war zu verblüfft, um irgendetwas zu antworten. Zumindest schien es hier einen Raphael zu geben.

... meinen Raphael??? Mit langsamen Schritten ging ich sehr zögerlich den Kiesweg in Richtung Gebäude. Und ein wohlbekanntes Gefühl breitete sich wieder in meiner Magengegend aus - das Kribbeln war wieder da!

Verwundert schüttelte ich den Kopf. Was sollte der Blödsinn? Gleich würde ich dem Jungen aus Hannover gegenüberstehen und sämtliche Mystik war wieder verflogen. Jedoch nützte alles Wundern nichts, das Kribbeln nahm zu und ich bekam vor Nervosität feuchte Hände. Zu allem Überfluss nahm der Weg einfach kein Ende.

Eine breite, jedoch kurze Treppe führte zum Eingang hinauf. Dem schloss sich bis zur Tür noch einmal eine kleine Plattform an, aber dann half kein Zögern mehr. Entschlossen drückte ich den Klingelknopf an der rechten Seite.

Von drinnen hörte ich leise eine helle Stimme. »Ich mach schon auf!« und dann öffnete sich die Tür recht langsam. Durch den Spalt kam ein schwarzes Knäuel herausgeschossen und versuchte schlitternd vor mir Halt zu finden. Ich war so überrascht, dass ich einen Schritt nach hinten machen wollte, mich aber mit meinen Beinen verhedderte und sehr unsanft auf den Allerwertesten fiel.

»Au!!« rief ich erschrocken aus und rieb mir meinen schmerzenden Hintern.

»Wuff!« Es war kein Bellen eher ein Grollen - das war kein Knäuel, das war nicht mal mehr ein Hund. Das war ein schwarzes Monster. Alle Lerneinheiten mit Franka waren verflogen und ich versuchte rückwärts kriechend noch etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Zum Glück blieb ES an Ort und Stelle sitzen und ich betrachtete es etwas genauer. Es war ein großer schwarzer Schäferhund und er machte keinen feindseligen Eindruck. Mitten in meine Betrachtungen hörte ich eine helle Jungenstimme.

»Hallo!« Man war mir das peinlich. Mühsam versuchte ich mich aufzurichten und ließ meinen Blick zu der Stimme wandern.

,Wums!' Ich saß wieder und diesmal hatte ich nicht mal mehr den Gedanken aufzustehen. Meine Augen waren riesengroß und ich starrte fassungslos mein Gegenüber an. Vor mir stand eine Fata Morgana, benommen schüttelte ich den Kopf.

Konnte das sein? Ich sah einen Jungen, etwa in meinem Alter, schlanke sportliche Gestalt - vielleicht etwas kleiner als ich, aber wie konnte ich das aus sitzender Position beurteilen? Bekleidet war er mit einer knielangen dunkelblauen Sporthose, blauem T-Shirt, darüber ein langes Basketballtrikot der Mavericks. Aber das ließ mich nicht mehrmals trocken schlucken, nein das was ich über dem Trikot sah, war einfach...

... ein schmales längliches Gesicht, hoch stehende Wangenknochen, volle geschwungene Lippen, eine kleine Nase, die Augen wurden leider von einer sehr dunklen Sonnenbrille verdeckt und verstrubbeltes, leicht gelocktes, pechschwarzes Haar zierte seinen Kopf. Sein Teint war eher sehr hell, nur jetzt gerade leuchtete sein Gesicht leicht rötlich auf, als würde er gerade vom Sport kommen.

Kurzum - da stand mein Traum! Und hunderte von Hummeln tummelten sich in meinem Magen, das war schon lange kein leichtes Kribbeln mehr.

»Ja bitte?«, hörte ich ihn wieder fragen.

»Ähm..., ja..., Entschuldigung, ich wollte gerne Raphael sprechen?«, stotterte ich sehr verdattert in seine Richtung. Während meiner Worte richtete ich mich nun doch auf und musste feststellen, dass ich mich nicht getäuscht hatte - er war einen halben Kopf kleiner als ich.

»Und Sie wünschen?«

,Hm, redete ich chinesisch??' Hübsch war er ja, aber helle??

»Könnte Sie bitte sagen, dass Jean ihn sprechen möchte?«, versuchte ich es noch einmal höflich aber frontal. Mein Name schien Zauberwirkung zu entfalten, aber eine sehr negative.

Zuerst schrak der Junge etwas zusammen, dann entwich sämtliche Farbe seinem Gesicht. Seine Hände wurden unruhig, sein ganzes Verhalten sehr unsicher. Augenblicklich reagierte der Hund und erhob sich. Er schob sich zwischen uns und nahm eine Abwehrhaltung ein. Seine Lefzen wanderten nach oben und er knurrte leicht. Sicherheitshalber machte ich noch einen großen Schritt nach hinten.

»Jean???!!«, flüsterte er atemlos - in meinem Namen war so viel Sehnsucht! Jetzt war ich es, dem sämtliche Gesichtszüge entglitten.

»Du bist Raphael?«, keuchte ich auf.

»Wuff, Wuff!« Der Hund machte mit jedem Laut einen Schritt auf mich zu. Ich war jedoch viel zu perplex, um Angst zu haben. Entsetzt starte ich ihn an. All mein Flehen war erhört. Raphael war ein absoluter Traumboy, aber...

»Nein..., das kann..., DU ARSCH!« Die letzten Worte schrie ich ihm ins Gesicht. WIE konnte er es wagen??? Zu allem Überfluss wurde der Köter jetzt echt aggressiv und kläffte mich an.

»Hondo, aus!« hörte ich Raphael tonlos sagen und der Hund gehorchte sofort.

»Jean, bitte...«, wandte er sich flehend an mich. Aber ich konnte es nicht hören. In mir kroch ganz langsam ein sehr unangenehmes Gefühl herauf - ich fühlte mich verraten. Da stand ich meinem lang gehegten Traum einfach so gegenüber, all meine Wünsche wurden in ihm vereint, meine geheimsten Hoffnungen hatten sich gerade erfüllt und mir wich sämtliche Kraft aus dem Körper. Meine Beine fingen an zu zittern, mein Magen rebellierte - ich fühlte mich verraten und verkauft. Wie in Zeitlupe drehte ich mich um und ging langsam in Richtung Tor. Meine Schritte wurden immer schneller und meine Sicht trübte sich zusehends. Im Rücken hörte ich sein Rufen, sein Flehen

»Jean...!«

... Fortsetzung folgt

Nachwort

... oh je das wird ja immer verzwickter oder glaubt ihr nicht?? Und wieder so ein bescheuerter Cliffhanger *grr*, wenn ich den Autor in die Finger bekomme *fg*. Also müssen wir uns alle etwas in Geduld üben und schauen, ob wenigstens ein oder zwei Fragen im nächsten Teil gelöst werden.

Bis die Tage Euer

jR

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