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Kann Sehnsucht krank machen?
Siebter Teil
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Informationen
- Story: Kann Sehnsucht krank machen?
- Autor: JR
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Lovestory
Vorwort
Liebe Leser!
Wie versprochen, möchte ich Euch nun den 7. Teil meiner Geschichte servieren. Auch auf diesem Wege noch einmal recht lieben Dank an die Feedbacks, die mir gezeigt haben, dass meine Story nicht vergessen war und ist.
Mit diesem Teil werden sich ein paar Rätsel lösen und eventuell Neue dazu kommen ;-). Auf jeden Fall wünsche ich Euch recht viel Spaß beim Lesen.
Liebe Grüße
jR
Das musste ein Alptraum sein!
‚Was haben sie Dir angetan, mein Engel?‘
Vor mir saß Raphael und auch nicht.
Die Haare, die ich sehen konnte, waren stumpf und verfilzt. Seine herrlichen Augen waren mal nicht von der unsäglichen Brille verdeckt, aber diesmal wäre mir das tausend Male lieber gewesen. Trübe und teilnahmslos stierte er vor sich hin. Seine Finger hatten sich an den Lehnen festgekrallt und sein ganzer Körper kauerte verkrampft in dem Rollstuhl – zu all dem sah er noch fürchterlich blass aus, eine kränkliche Blässe. Benommen sank ich vor ihm nieder und legte meine Hand auf seinen Unterarm. Langsam und behutsam näherte ich mich ihm und flüsterte liebevoll seinen Namen. Er wandte mir sein rechtes Ohr zu, so, als ob er mich besser hören wollte. Vorsichtig nahm ich seine rechte Hand zwischen meine. Sie war schweißnass und eiskalt, und das bei den hochsommerlichen Temperaturen an diesem Tage. Raphael zog kurz seine niedliche Nase kraus und schnüffelte in meine Richtung. Erst eroberte Unglauben sein Gesicht und dann die Erkenntnis.
„Jean“, hauchte er mir so sehnsüchtig entgegen, dass mir sofort die Tränen kamen.
„Ja, mein Kleiner“, murmelte ich. Ein wenig Farbe stieg in seine bleichen Wangen und die Andeutung eines Lächelns stahl sich in sein Gesicht.
Nur Sekunden später verzerrte sich dasselbe zu einer hasserfüllten Maske, er entzog mir seine Hand und schrie:
„Ihr Schweine, Ihr gaukelt mir nur was vor!“ Und eine Hasstirade ergoss sich über unsere Köpfe. Er war wie von Sinnen. Zum Schluss brach er schluchzend zusammen.
„Ich will nicht mehr träumen, ich will nicht mehr…“, flüsterte er mit heiserer und gebrochener Stimme. Ich war wie paralysiert und zu keiner Handlung fähig. Was hatten sie mit meinem Kleinen alles angestellt?
War ich zu spät gekommen?
Die Situation hatte der Pfleger genutzt und war am Hund vorbei zu Raphael geschlichen. Ich sah etwas neben mir aufblitzen. Der Pfleger beugte sich über meinen Kleinen, die einsatzbereite Spritze in der Hand. Das Sehen und Erkennen war eins.
„Wagen Sie es nicht!“, brüllte ich ihn an und stieß ihn heftig von uns fort. Nun ja, ich wollte ihn stoßen, aber hätte mir gleich meine Hand an einem Felsblock aufschlagen können. Dieser Fleischberg von Person grinste nur höhnisch und wollte sein Werk beenden.
Tja, er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht und der hieß in diesem Moment Hondo. Dieser hatte den Befehl „Fass“ gerade wörtlich genommen und der Pfleger schreckte laut heulend hoch. Nach dem ersten Biss in den Allerwertesten kümmerte er sich danach um den Arm mit der Spritze und legte sich den Pfleger auf dem Boden zurecht. Das Maul war bedrohlich in Richtung Hals gesenkt und der Pfleger lag einfach nur starr da. Doch was interessierte mich der Idiot. Hier ging es um meinen Kleinen. Vorsichtig zog ich ihn aus dem Rollstuhl und an mich heran.
„Raphael, es ist kein Traum, ich bin es“, redete ich leise und beruhigend auf ihn ein. Von innerer Ruhe war eigentlich überhaupt nicht zu sprechen, eher stand meine Stimme kurz vor dem Kippen. Meine Bemühungen hatten unterschiedlichen Erfolg. Zuerst ließ er sich an meine Brust sinken und schien sich seinem Schicksal zu ergeben. Dann jedoch versteifte er sich wieder und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Mit diesen trommelte er auf mich ein. Dazwischen heulte er fast unmenschlich und schrie mich an. Es waren nur einzelne Wörter zu verstehen, wobei sich „Schweine“ und „Alpträume“ im steten Wechsel wiederholten. Trotz allem ließ ich ihn nicht los und zog ihn noch enger an mich. Entweder seine Kräfte erlahmten oder er fügte sich einfach dem Unausweichlichen. Seine Stimme erstarb und ein neues Geräusch gesellte sich zu den kleinen Schluchzern, die ab und an seine Lippen verließen. Er schnüffelte wieder. Leicht hob er seinen Kopf, der mittlerweile an meiner Schulter geruht hatte und „sah“ mich an.
„Du bist es wirklich“, murmelte er verstört und Tränen flossen über seine Wangen. Er war nicht der Einzige, der heulte „Ja mein Kleiner, ich bin es“, murmelte ich bewegt. Dies schien nun ein endgültiges Erkennen zu sein.
Derweil hatten die Anderen zu uns aufgeschlossen und ich ließ meinen tränenverschleierten Blick über die Gruppe schweifen. Dominik starrte entsetzt auf seinen Bruder. Tims Gesicht drückte nur große Traurigkeit aus. Ich schloss meine Augen und zog Raphael noch enger an mich. Endlich nach einer ewigen Suche hielt ich ihn in meinen Armen und gab mich nur seiner reinen Anwesenheit hin. Ein Gedanke glomm in meinem strapazierten Hirn auf.
‚War es das, was ich suchte?‘
‚Nein, war es DER Junge, den ich schon ewig suchte??‘
Ich konnte mir diese Frage nicht beantworten, aber eins spürte ich sehr wohl. Es fühlte sich richtig an, was hier geschah und dieser Kerl in meinen Armen jagte mir einen Gefühlsschauer nach dem anderen durch meinen Körper.
„Lasst uns gehen“, kam etwas später die Aufforderung. Ich wollte mich sachte von Raphael lösen, aber er klammerte sich umso mehr an mich.
„Kleiner, keine Angst, ich werd Dich nie wieder loslassen“, versprach ich ihm. Ein Schauer ging durch seinen Körper und seine Augen blickten wieder teilnahmslos. Fast apathisch ließ er sich in den Rollstuhl setzen, nur meine Hand wollte er nicht mehr hergeben. Hondo trottete freudig neben dem Stuhl her und leckte unentwegt Raphaels Finger. All das schien mein Kleiner nicht wahrzunehmen, vielmehr war es mir, als würden Fieberschauer seinen Körper schütteln. Fragend sah ich Maximilian an.
„Mikael, Du fährst mit allen zu dem kleinen Hotel, wo Sven und Arnold eine Unterkunft besorgen sollten. Dort wartet auch ein Arzt auf Euch, der meinen Urenkel untersuchen soll. Ich will ALLES wissen, hörst Du?“
„Und Sie, Sir?“, fragte dieser nach einem bestätigenden Nicken.
„Frank bleibt bei mir und ich werde mich zusammen mit dem Konsul noch einmal diesem Direktor widmen. Mit ein wenig Glück werde ich die Krankenakte ausgehändigt bekommen, so dass wir zu den Untersuchungsergebnissen auch die medikamentöse Behandlung einsehen können.“
„In Ordnung.“ Minuten später waren fast alle im Van verstaut. Raphael war nicht dazu zu bewegen, mich loszulassen und so gestaltete sich das Einsteigen etwas problematisch, aber auch diese Klippe wurde erfolgreich genommen. Die Fahrt zu dem Hotel führte uns wieder in die kleine Stadt zurück. Es stand unauffällig zwischen ein paar Geschäften, der Parkplatz war auf dem Hof. Anscheinend wurden wir schon erwartet, denn ein Angestellter wartete auf dem Parkplatz. Er nahm uns einen Teil unseres spärlichen Gepäcks ab und zeigte uns höflich den Weg. Mit steigendem Entsetzen musste ich feststellen, dass mein Kleiner nicht einmal alleine laufen konnte und so verfrachteten wir ihn wieder in den Rollstuhl. Zum Glück war das Hotel behindertengerecht gebaut.
In einem geräumigen Doppelzimmer wartete ein älterer Herr auf uns und lächelte leicht wissend.
„Gestatten, ich bin Dr. Franzius und würde mir gern den jungen Mann mal genauer anschauen. Dürfte ich Sie bitten, dass Zimmer zu verlassen, damit ich Herrn van Dahlen gründlich untersuchen kann“, wandte er sich mit einer angenehmen Stimme an uns.
„Ich möchte meinen Bruder auf gar keinen Fall alleine lassen“, kam es entschlossen von Dominik.
„Und ich glaube, dass mich der Patient nicht loslassen wird“, murmelte ich. Der Arzt ließ seinen Blick über uns schweifen und schien die Situation sehr schnell zu erkennen oder zu erahnen.
„In Ordnung, dann möchte ich jedoch die restlichen Herrschaften bitten, das Zimmer zu verlassen“, bat er uns und schob noch erklärend hinterher, als Tim aufbrausen wollte, „ein wenig Privatsphäre werden Sie dem Patienten doch wohl zugestehen.“ Murrend verließen Tim und Mikael nun das Zimmer. Hondo war natürlich durch nichts zu bewegen, das Zimmer zu verlassen. Mit vereinten Kräften legten wir Raphael auf das große Doppelbett. Mit routinierten Bewegungen wurde mein Schatz nun untersucht, abgetastet, abgehorcht, abgeklopft, die Pupillen untersucht und so einiges mehr. Sogar Blut entnahm der Arzt und eine Haarsträhne wurde abgeschnitten. Uns trug er auf, beim nächsten Toilettengang etwas Urin abzuzweigen.
„Und?“, konnte ich nicht an mich halten, als der Arzt seine Handschuhe auszog. Nachdenklich sah er mich an.
„Ein genaue Diagnose ist noch nicht möglich, aber ich würde sagen, um es mal umgangssprachlich auszudrücken, Ihr Freund ist auf Droge“, eröffnete er mir. Dominik sog scharf die Luft ein und auch ich musste schwer schlucken.
„Der junge Mann hier wurde so vollgepumpt, dass er seine Umgebung kaum wahrnimmt, desto mehr verwundert mich diese Verbindung, die hier körperlich zwischen Ihnen herrscht“, fuhr er fort und wies dabei auf unsere ineinander verschlungenen Finger. „Das ist medizinisch nicht erklärbar, denn er ist geistig vollkommen weggetreten, zumal er wegen seiner Blindheit auch nichts visuell aufnehmen kann“, seufzte der Arzt, dann straffte er sich und sah mich aufmunternd an.
„All das ist nichts, was wir mit dem Ausschwitzen der Drogen nicht wieder hinbekommen. Wie es allerdings in seinem hübschen Köpfchen bestellt ist, müssen wir sehen, aber da er sich so an Sie klammert, können Sie ihm dabei sehr helfen. Seien Sie in den nächsten Tagen einfach da, lassen Sie ihn Ihre Anwesenheit spüren. Die genauen Untersuchungsergebnisse habe ich spätestens heute Nacht und dann werden wir sehen, ob Medikamente notwendig sind. Jetzt gebe ich ihm erst mal keine, aber ich muss Sie auch warnen. Der Entzug, denn nichts anderes wird die nächsten Tage passieren, von dem Zeug wird eine Herausforderung an Sie.“
Entsetzt sah ich ihn an. Hatte ich das eben richtig verstanden, dass mein Raphael von den Medikamenten schon abhängig war?
„Kopf hoch, junger Mann, mit Liebe ist vieles möglich“, sagte er zum Abschied und war verschwunden. Auf dem Nachttisch hatte er seine Visitenkarte hinterlassen, mit dem Hinweis, wir könnten ihn Tag und Nacht anrufen. Nachdenklich sah ich Raphael an und strich ihm eine schwarze Locke aus seinem Gesicht. Er sah so blass aus, so verletzlich. Ich merkte, wie sich jemand neben mich setzte und sah auf. Dominik starrte auf seinen Bruder.
„Was haben sie nur mit Dir gemacht, Raph?“, hörte ich ihn heiser flüstern.
„Was konntest DU ihnen denn tun?“, wurde er lauter.
„Bisher waren mir ihre Sticheleien, ihre Demütigungen, ihr versteckter Hass scheißegal – ich hatte ja Dich! Ich bin nicht so stark wie Du, mein kleiner Bruder, aber ich bin ein van Dahlen und das…“, redete er sich immer mehr in Rage und sein Blick wanderte zu mir, seine Augen blitzten zornig.
„…und das, Jean, werden SIE mir büßen, und zwar alle!“ Nach den Worten hauchte er einen Kuss auf die Stirn seines Bruders und stiefelte entschlossen aus dem Zimmer. Nun war ich mit meinem Kleinen alleine. Das erste Mal fast in dieser Endgültigkeit. Es gab so einen ähnlichen Augenblick, der mir nun Jahrzehnte entfernt schien. Es war der Moment, als ich zum ersten Mal seine Augen sehen durfte. So in unseren wenigen gemeinsamen Erinnerungen versunken, blieb ich an seinem Bett sitzen und prägte mir jede Einzelheit von ihm ein.
Die nächsten Stunden waren der blanke Wahnsinn. Ich ließ Raphael keine Minute aus den Augen, konnte ihm aber nicht wirklich helfen. Er zitterte am ganzen Körper, fror und schwitzte gleichzeitig, trinken wollte er nicht, seine Lippen wurden rissig und zu allem kamen dann noch Krämpfe und seine Schreie – es war die Hölle auf Erden. Wie gerne hätte ich ihm einen Teil seiner Qual abgenommen. Der Arzt kam jetzt alle 2-3 Stunden, aber außer mir zu versichern, dass alles NORMAL verlief, konnte er auch nichts machen. Dominik und Tim wechselten sich bei mir ab, aber außer mich und Hondo schien Raphael keinen weiter in seiner Nähe zu dulden. Auch wenn er in seinem Delirium anscheinend nichts mitbekam, reagierte er auf jede noch so kleine Veränderung sehr aggressiv. Aus den Stunden wurden Tage und der Schlafmangel zerrte an meinen Nerven. Mittlerweile hatte ich mir die fürchterlichsten Tode für seine Großmutter ausgedacht. Am frühen Morgen des fünften Tages war ich dann erschöpft eingeschlafen, zumal Raphael die letzten Stunden spürbar ruhiger geworden war.
Eine federleichte Berührung holte mich sanft aus dem Schlaf. Erschrocken hob ich meinen Kopf, den ich zum Schlafen auf sein Bett gelegt hatte. Seine Hand hatte sich aus der meinen gestohlen und seine Finger waren durch mein Haar gewandert.
„Hey mein Großer“, hörte ich ihn heiser flüstern. Sein Mund verzog sich mehr zu einer Grimasse als zu einem Lächeln, aber es war eindeutig zu sehen, dass er seine Umgebung das erste Mal wieder richtig bewusst wahrnahm.
„Raphael“, murmelte ich fassungslos. In meiner Stimme lag wohl all das Entsetzen, was ich die letzten Tage erlebt hatte.
„War es so schlimm?“, fragte er vorsichtig und eine Träne löste sich aus seinen geschlossenen Augen.
„Egal, nur Du zählst“, flüsterte ich.
„Wirklich? Ist Dir das wirklich alles egal, was Du über mich nun gehört hast, was Du erleben musstest ohne mit mir darüber reden zu können?“, fragte er sehr leise und ziemlich nervös. Darauf gab es nur eine Antwort. Ich beugte mich zu ihm hinunter und küsste die einzelne Träne von seiner Wange.
„Für mich zählt nur Raphael, ob er nun van Dahlen, Schmitt oder Rockefeller mit Nachnamen heißt – ich weiß, was ich gefunden habe!“
„Sollte ich wirklich einmal im Leben Glück haben?“, hauchte mein Kleiner fassungslos.
„Das weiß ich nicht, aber lass es uns beide zusammen rausfinden“, schlug ich ihm bewegt vor.
„Ja.“
„Und nun, mein Kleiner, zeig mir Deine herrlichen Augen“, versuchte ich ihn ein wenig aufzumuntern. Aus seinem schmerzlichen Gesichtsausdruck konnte ich aber entnehmen, dass mein Aufmunterungsversuch sprichwörtlich nach hinten losgegangen war. So konnte ich das aber nicht stehen lassen und beugte mich zu ihm hinunter. Ganz dicht ging ich mit meinen Lippen an sein linkes Ohr.
„Mein kleiner Dark, an Dir ist für mich nichts unnütz und ich liebe Deine herrlichen grünen Augen. So wie ich alles an Dir liebe“, hauchte ich ihm zu.
„Alles?“, murmelte der Schlingel und eine leichte Röte eroberte seine Wangen.
„Hast Du etwa was gesehen, was Du noch gar nicht hättest sehen sollen???“, grinste er mir frech entgegen, aber trotz allem erfüllte er mir meinen Wunsch und öffnete seine Augen. Die Wirkung war einfach phänomenal und haute mich schlicht um. Sie strahlten in einem so satten, herrlichen Grün, dass von einem verliebten Glitzern noch verstärkt wurde. Zum Glück konnte er nicht sehen, wie ich gerade knallrot anlief. Jedoch hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
„So schnell kann ich Dich aus der Fassung bringen“, murmelte er erstaunt.
„Oh ja Raphael“, gab ich leise zu.
„Ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen soll. Du machst mich einfach immer wieder sprachlos. Sonst bin ich selten um ein Wort verlegen, aber bei Dir fehlen sie mir einfach. Und zu allem Überfluss wummert mein Herz in Höchstfrequenz und mein Magen rumort. Und an dem allen bist DU Schuld…“, gestand ich ihm weiter und schob das Wichtigste dann hinterher „Und trotz allem fühlt es sich wahnsinnig gut an!“ Raphael hatte mir atemlos zugehört und eine jetzt sehr gesunde Gesichtsfarbe rundete sein Gesamtbild ab.
„Bei mir ist es fast genauso, nur…“, fing er an und machte eine Pause, die mich nervös werden ließ.
„…machst Du mich nicht sprachlos, eher quatsche ich zuviel unsinniges Zeug“, lächelte er schüchtern in meine Richtung nach endlosen schweigenden Sekunden.
„Oller Schauspieler“, grummelte ich.
„So eine dramatische Pause, das bekommst Du wieder“, wusch ich ihm weiter den Kopf. Nur bei diesem frechen Grinsen konnte ich ihm nicht böse sein.
„Ich sag doch, ich laber nur Mist“, schob er dann auch noch hinterher.
„Jean?“, hörte ich ihn. Der komische Unterton war mir leider entgangen.
„Ja.“
„Wobei wurden wir eigentlich vor einiger Zeit unterbrochen?“, fragte er mich mit einem kleinen Grinsen und dieser spitzbübische Gesichtausdruck ließen bei mir sämtliche Alarmglocken anspringen.
„Keine Ahnung soooo lange her“, antwortete ich möglichst neutral.
„Oh je, so jung und schon Alzheimer“, grummelte er, aber ich ließ ihn weiter schwitzen. Leider konnte ich ihm überhaupt nicht ansehen, was so in seinem hübschen Köpfchen herumspukte – sein Pokerface war einfach perfekt. So überrumpelte er mich auch mit der nächsten Frage.
„Bist Du eigentlich so was wie mein persönlicher Krankenpfleger?“, hörte ich ihn, nur diesmal war mir der lauernde Unterton nicht entgangen.
„Ne, ne, das könntest Du Dir nicht leisten“, kam meine Antwort und ich konnte mir nur mit Mühe das Lachen verbeißen.
„Sie sind aber eine schwere Nuss, Herr Neumann“, hauchte er mir zu.
„Was wollen Sie denn, Herr van Dahlen?“, flötete ich zurück.
„Ein wenig persönliche Zuwendung wäre schon ein Anfang“, grinste er frech.
„Und was schwebt Ihnen da so vor, Bettpfanne, Katheder, Tee …“, feixte ich.
„Blödmann, ich …“, grummelte er los, aber weiter kam er nicht, denn ich hatte mich über ihn gebeugt. Sanft legte ich meine Lippen auf die seinen. Sie waren trocken und heiß und ich strich mit meiner Zunge vorsichtig darüber. Zögernd öffneten sie sich und seine Zunge kam mir ein wenig entgegen. Als sich die Zungenspitzen dann berührten, explodierten meine Hormone endgültig und ich gab mich nur noch diesem Kuss hin. Sachte löste ich mich nach Minuten von Raphael, seinem verklärten Gesichtsausdruck zu Folge war es genau das, was er erhofft hatte. Wobei ich wohl nicht anders aussah. Er hatte seine Finger zu seinen Lippen geführt und strich leicht über sie. Auch wenn das eigentlich gar nicht mehr ging, aber seine Augen strahlten noch mehr.
„Wow, ich hatte vergessen, wie schön das ist“, hörte ich ihn flüstern.
„Alzheimer?“, grinste ich ihn nun frech an.
„Neee, zu wenig geküsst in meinem Leben“, kam der sofortige Konter.
‚Oh je, das konnte ja noch lustig werden mit dem Bengel‘, fuhr mir durch den Kopf. Aber nichts war mir lieber.
„Nachschlag“, quengelte er. Den konnte er gerne haben. Bei dem nächsten Kuss fuhren mir seine Finger durch das Haar, aber auch ich konnte meine Hand nicht bei mir behalten und streichelte leicht sein Gesicht.
„Man, man, man die Jugend heutzutage denkt auch nur an das EINE“, hörten wir es spöttisch von der Tür. Obwohl ich Tims Stimme erkannt hatte, fuhren wir doch ertappt auseinander. Und Raphael schloss seine Augen. Verlegen wandte ich mich zur Tür.
„Raphael ist gerade aufgewacht“, wand ich mich unter seinen Blicken.
„Ja, ja“, grinste er mich an.
„Tim?“, hörte ich meinen Kleinen fragen.
„Jo, schön das Du nun wieder richtig unter uns weilst, Raph“, kam es ernst von meinem Twin.
„Danke, da gibt es wohl einiges zu erzählen“, murmelte er und ich hörte ihn noch sehr leise seufzen, „vorbei mit dem bisschen Privatsphäre“.
„Aber nur, wenn Du Dich stark genug dazu fühlst“, wandte Tim ein.
„Mal schauen, schickst Du bitte meinen Bruder rein?“, bat Raphael meinen Zwilling. Der verschwand wortlos aus dem Zimmer.
„Übernimm Dich bitte nicht, Dark“, sagte ich zu ihm. Raphael lächelte leicht und er hatte wieder seine Augen geöffnet.
„Dafür habe ich ja mein Pflegepersonal.“
„Aber keine Sorge, ich sehe vielleicht beschissen aus, aber ich fühle mich ziemlich gut mit Dir an meiner Seite“, schob er noch nach, wobei er bei den letzten Worten leicht rosa anlief. Bevor wir das vertiefen konnten, flog die Tür auf und Hondo stürmte ans Bett. Es hätte nicht viel gefehlt und das schwarze Monster hätte sich im Bett gesuhlt. Raphaels glockenhelles Lachen erfüllte den Raum und ich sah in der Tür nun einen lächelnden Dominik. Eine riesige Last war wohl von uns allen gefallen, nur aus Dominik machte sie einen ganz anderen Menschen. In den letzten Tagen war seine Miene von Tag zu Tag schmerzvoller geworden und die Augen loderten vor Hass. Jetzt bei dem Anblick seines lachenden Bruders kam seine eigene Fröhlichkeit zurück, und all seine Liebe für Raphael wurde in seinem Gesicht sichtbar. Ich verstand ihn nur zu gut und als sich unsere Blicke kreuzten, nickten wir uns wissend zu.
„Hondo aus“, befahl Raphael dann seinem Hund. Und welch Wunder, der gehorchte aufs Wort und legte seinen Kopf auf das Bett ohne sein Herrchen einen Augenblick aus den Augen zu lassen.
„Dom?“, fragte Raphael vorsichtig in die Runde
„Ja, Raph“, murmelte dieser mit leicht zittriger Stimme.
„Danke“, war das Einzige was mein Kleiner herausbekam. Dominik kam zum Bett und nahm Raphaels Hand zwischen seine.
„Keinen Dank, das hat eh alles viel zu lange gedauert“, stieß er dann hervor.
„Nein, wichtig ist, dass Ihr hier seid!“
„Aber ich war das nicht alleine, wir haben…“, fing Dominik an zu berichten, aber Raphael unterbrach ihn.
„Moment, bevor wir uns alles um die Ohren hauen, würde ich doch erst ein paar Sachen erledigen.“ Fragend sahen wir uns an.
„Ich möchte zuerst ein heißes Bad, ich fühl mich einfach eklig, danach benötige ich aber dringend etwas zu trinken und ich meine damit keinen TEE und vielleicht eine leichte Suppe zum Essen, mir knurrt der Magen“, sprudelte mein Kleiner los und eine ziemliche Geschäftstüchtigkeit ging von ihm aus.
„Das mit dem Bad ist leicht zu bewerkstelligen, denn das Zimmer hat ein Bad mit einer ziemlich großen Wanne drin“, antwortete ich ihm und bevor mir die zweifelhafte Auslegung meiner Worte bewusst wurde, sah ich meinen Zwilling sehr anzüglich grinsen. Ein anderer Ausdruck verwirrte mich aber viel mehr, mein Kleiner schaute verlegen aus seinem Bett zu mir herüber.
„Ähm, Jean …“, fing er an herumzudrucksen.
„Ja?“
„Also weißt Du, na ja, sei nicht böse, aber …“, stotterte er weiter und sein Gesicht lief leicht rötlich an.
„Jaaaa?“ Ich hatte keinen Schimmer, was er wollte.
„Mir wäre es lieber, wenn Dom mir beim Baden hilft“, murmelte er leise. Jetzt griente Tim über beide Backen.
„Oh.“ Damit hatte ich nun am allerwenigsten gerechnet. Raphael genierte sich vor mir und das gab mir einen kleinen Stich.
„Ja, natürlich“, antwortete ich ihm und konnte meine Enttäuschung nicht ganz aus meiner Stimme halten. Mir war noch so, als wollte Raph darauf etwas erwidern, aber da nichts kam, verließ ich ein wenig deprimiert das Zimmer. Ich kam mir in diesem Moment ausgeschlossen vor, dabei wollte ich doch nur helfen und dann so ein Scheiß.
Unten an der Rezeption gab ich den Wunsch von Raphael nach etwas zu trinken und essen weiter und stieß dabei auf Maximilian.
„Also ist mein Urenkel nun richtig erwacht“, lächelte er mir zu.
„Ja“, grummelte ich zurück.
„Und lässt sein Pflegepersonal gleich springen“, ließ sich Max nicht aus der Ruhe bringen.
„Ja, ja“, wiegelte ich ab. Ich wollte nicht darüber reden.
„Jean?“, hörte ich den Senator.
„Bitte gib mir ein paar Minuten zum Überlegen“, bat ich ihn.
„Was hat Raphael getan?“, fragte er mich trotzdem behutsam. Eigentlich wollte ich ja doch darüber reden und so brachen sich meine Gedanken die Bahn. Zuerst berichtete ich Max, dass Raphael der Alte war und wie er seine Forderungen an den Mann gebracht hat. Dann beschwerte ich mich mehr oder minder bei ihm, dass ich ja die ganze Zeit an seiner Seite gewacht hätte und nun so einfach weggeschickt wurde. Die Reaktion des Senators war nun auch keine, die mich beruhigte – er lächelte!
„Ich wusste schon, warum ich alleine sein wollte“, knurrte ich folgerichtig.
„Komm mal mit“, forderte mich Maximilian höflich aber bestimmt auf. Er ging voraus in das kleine Restaurant, welches zu dem Hotel gehörte, und setzte sich in eine kleine Nische. Zögernd ließ ich mich auf dem Platz gegenüber nieder.
„Jean, ich versteh Dich sehr gut. Du fühlst Dich nun zurückgestoßen und denkst, dass sich wieder eine Mauer zwischen Euch aufbauen wird.“ Erstaunt sah ich ihn an, denn er hatte meine Gefühle sehr gut in Worte verpackt.
„Aber ich glaube, da tust Du meinem Urenkel dieses Mal unrecht. Zugegeben hatte ich etwas mehr Zeit, mich mit einem besonderen Fakt meines Nachfolgers auseinander zu setzen als Du. Oder Du nimmst es gar nicht so wahr, was die Ideallösung wäre“, eröffnete er mir und sein Kauderwelsch verwirrte mich nun sehr.
„He?“, gab ich dann auch mehr oder weniger geistreich von mir.
„Raphaels Blindheit“, kam seine Antwort.
„Aber auch deshalb wollte ich ihm doch helfen“, rechtfertigte ich mich.
„Ja, das weiß er, aber da gibt es ein gravierendes Problem. Behinderte wollen in den meisten Fällen kein Mitleid und am wenigsten wollen sie das von Menschen, die sie lieben.“ Verzweifelt sah ich den Senator an. Für mich war das doch kein Mitleid gewesen, mein Schatz war schwach und wollte baden, Punkt aus. So deutlich machte ich es Max auch klar.
„Okay, dann kommen wir zum kleinerem Übel, was aber eine viel größere Rolle spielt“, grinste mich Max nun an. Ich gab auf und zuckte mit meinen Schultern.
„Scham.“
„Oh man“, stieß ich genervt hervor.
„Würdest Du Dich denn so einfach vor Raphael entblättern?“, fragte der Senator lauernd und ich tappte ihm prompt in die Falle.
„Aber er kann mich doch eh nicht …“, konterte ich postwendend und verschluckte den Rest.
„Verdammt.“
„Ich glaube, mein Urenkel schämt sich, sich Dir in diesem Zustand zu präsentieren. Und dazu kommt noch, dass das gegenseitige Kennenlernen rein körperlich wohl miteinander zusammen passieren sollte, mit allen daraus resultierenden Folgen“, grinste Max mich zum Schluss spitzbübisch an.
„Von allen Personen auf der Welt ist es zurzeit nur Dominik, der ihm jetzt da oben helfen darf. Diese Rolle nimmt er nun schon 15 Jahre ein, aber das heißt nicht, dass sich dieser Schwerpunkt in Zukunft nicht ändern könnte“, schob er dann noch hinterher.
„Da hab ich mich wohl zum Trottel gemacht?“, murmelte ich betroffen.
„Nein, eher Raphael gezeigt, wie sehr Du ihn magst“, hörte ich Max.
„Weißt Du, obwohl ich Raphael noch nie gesprochen habe, ihn das letzte Mal vor anderthalb Jahrzehnten in meinen Armen gehalten habe, liebe ich ihn wie einen Sohn. Das mag zum einen daran liegen, dass er meinem richtigen Sohn in so vielem gleicht, dass er ein sehr würdiger Nachfolger auf dem Familienthron wäre, aber höchstwahrscheinlich doch nur daran, dass er einfach das machen könnte, was ER will, denn er hat die nötige Kraft und vor allem eine bessere Zeit erwischt.“ Irgendwie hörte ich aus dem Ganzen eine sehr große Sehnsucht heraus und wenn ich in etwas Experte war, dann in Sehnsüchten.
„Ich glaube, Ihr werdet Euch beide sehr gut verstehen“, grinste ich Max zu.
„Nun ja, warten wir den Tag mal ab“, murmelte Max pessimistisch, aber ein bisschen Hoffnung schwang da dann doch mit. An der Tür tauchte nun Dominik auf und winkte uns zu.
„Hast Du mal wegen des Essens und Trinkens nachgehakt“, wollte er von mir wissen, als er an unseren Tisch trat.
„Ja.“
„Okay, ich frag mal in der Küche nach“, murmelte er und verschwand. Ein paar Minuten später tauchte er mit einem Tablett auf und balancierte es vor sich her. An der Tür drehte er sich um und sah mich nachdenklich an.
„Hm, Jean, möchtest Du ihm nicht lieber die Sachen bringen?“, fragte er mich.
„Wenn ich darf“, grummelte ich.
„Ach komm Jean, er hat sich so schon Vorwürfe gemacht wegen vorhin“, fuhr mir Dominik in die Parade.
„Ist in Ordnung, Max hat mir ein paar Wahrheiten beigebogen“, entschuldigte ich mich bei Dominik. Der sah den Senator fragend an und lächelte dann leicht.
„Hier nimm und verdufte zu Deinem Schatz. Und er soll DAS essen und nicht DICH“, grinste er mich an. Ich schnappte mir das Tablett und musste wirklich mit größter Vorsicht vorgehen, denn die Suppenterrine war randvoll. Fast ohne etwas überschwappen zu lassen, schaffte ich es bis zu seiner Tür und klopfte leicht.
„Herein“, kam Raphaels Aufforderung. Das Öffnen der Tür mit dem Tablett in der Hand stellte nun doch eine kleine Hürde dar, aber mit dem Ellbogen war das auch schnell erledigt. Mein Kleiner hatte sich in den Sessel am Fenster gesetzt und wandte mir sein Kopf zu.
„Grrr“, entfuhr es mir, denn er hatte wieder die bescheuerte Sonnenbrille auf. Nur dieser kleine Ausbruch hatte ihm wohl gezeigt, wer da sein Essen brachte. Ein kleines, schüchternes Lächeln flog über sein Gesicht.
„Noch böse“, fragte er vorsichtig.
„Nein“, antwortete ich ihm ehrlich.
„Ich wollte …“, fing er leise mit einer Erklärung an.
„Raphael, es hat einen Moment gedauert, aber nun versteh ich es“, unterbrach ich ihn.
„Danke“, sagte er und die Erleichterung war sehr gut herauszuhören.
„Obwohl“, feixte ich leise und mein Kleiner stellte seine Lauscher auf.
„Jaaaa?“
„Hätte ich schon gerne mit Dir zusammen gebadet“, entfuhr es mir.
„Oh“, hörte ich und nicht nur er war rot angelaufen. Ein Geräusch, was ich nicht einordnen konnte, störte unsere Zweisamkeit.
„Upps“, murmelte Raphael. Ein paar Sekunden später war es wieder da.
„Knurrt Dir etwa der Magen“, fragte ich ihn schelmisch.
„Knurren ist untertrieben – Ich schiebe Knast!“, entfuhr es ihm. Dann schnüffelte er leicht und griente.
„Entweder Du hast Dich in Hühnersuppe gewälzt oder mir was mitgebracht.“ Somit überbrückte ich die letzten Meter zu seinem Tisch mit vorsichtigen Schritten und stellte das Tablett ab. Nun war guter Rat teuer – was tun?
Ich konnte ihn doch schlecht füttern. Anderseits wollte ich auch nichts falsch machen. So stand ich unschlüssig neben ihm herum. Da kam mir ein Einfall.
„Soll ich Dominik holen?“, fragte ich leise.
„Warum?“
„Na ja“, murmelte ich. Aus dem verwunderten Gesichtsausdruck Raphaels wurde ein nachdenklicher.
„Jean, ich glaube, wir haben beide noch sehr viel zu lernen voneinander“, begann er nervös. Ich hatte das Gefühl, als ob ihm das hier nicht leicht fallen würde.
„Es gibt einen Fakt, den wir nicht leugnen können und der ist meine Blindheit! Dominik ist damit aufgewachsen und war in den letzten Jahren meine größte Stütze, denn auch wenn ich ALLES alleine machen möchte – es geht nicht!“, gestand er mir und die Überwindung, die ihn diese Worte kosteten, war sehr gut herauszuhören.
„Somit war mein Bruder mein fehlendes Augenlicht und ich vertraue ihm bedingungslos. Ich weiß nicht, was Du nun in den letzten Tagen alles über meine Familie erfahren hast, aber so schrecklich es klingt, es gibt dort keinen Menschen, dem ich nur annähernd so vertraue wie meinem Bruder …“, sagte er und seine Stimme war zu einem sehr leisen Flüstern geworden, als er noch folgendes nachschob „…nicht mal meinen Eltern.“ Schweigend saßen wir eine Weile da und dann straffte er sich spürbar.
„Deshalb möchte ich Dich nun bitten, meine Augen zu sein“, hörte ich ihn nervös sagen. Ich war baff – auch wenn ich die Bedeutung ohne seine Einführungsworte wohl geahnt hätte, jetzt war sie nur umso deutlicher. Ich bekam kein Wort heraus.
„Jean?“, hörte ich ihn nun noch nervöser fragen.
„Solch ein Vertrauen hast Du zu mir?“, flüsterte ich leise.
„Ja.“
„Danke, mein Kleiner“, murmelte ich bewegt und war trotz allem immer noch unentschlossen, was ich nun tun sollte.
„Hm“, hörte ich ihn und seine Finger wanderten vorsichtig über den Tisch.
„Warte mal Raphael. Ich habe da verdammt viel zu lernen und Du musst mir dabei helfen. Bitte sage mir einfach, was ich machen soll?“, gestand ich ihm nun meinerseits. Ein schelmisches Lächeln wanderte über sein Gesicht.
„Du liest doch auch bei NiSt, oder?“, fragte er lauernd.
„Diese Schmuddelgeschichten“, rief ich erschrocken aus, grinste aber still in mich hinein. Immerhin hatte ich da ja meine Geschichte veröffentlicht, die das Kennenlernen mit diesem hübschen Boy erst möglich gemacht hat.
„Blöder Schauspieler“, grummelte er und schob dann noch nach „Ich kann Dein Lachen zwar nicht sehen, aber sehr wohl Stimmlagen unterscheiden und jetzt lachst Du. Aber ich weiß ja nicht, ob Du nur immer wieder Deine Geschichte liest oder auch anderen Autoren eine Chance gibst.“ Zum Schluss grinste er mich frech an.
„Okay, so das eine oder andere les ich da“, gab ich geschlagen zu.
„Da wird Dir doch auch die Geschichte ‚Mit anderen Augen‘ untergekommen sein?“, fragte er mich. Mir wurde schlagartig klar, was er damit meinte.
„Also hilft es Dir, wenn ich Dir die Anordnung der Gegenstände vor Dir an Hand eines Ziffernblattes der Uhr erkläre?“
„Ja sehr, aber nur wenn es keine Digitalanzeige ist“, grinste er zurück. Das war doch mal ein Wort und schon warf ich ihm die Gegenstände mit den dazugehörenden Zahlen an den Kopf. Erleichtert griff mein Schatz den Löffel und aß vorsichtig den Ersten von der Suppe. Als er merkte, dass diese nicht mehr heiß war, fiel er regelrecht über die Suppe her. Minuten später lehnte er sich zufrieden in seinen Sessel zurück und strahlte vor sich hin.
„Eigentlich hasse ich ja Suppen, aber das war jetzt herrlich.“
„Wie ich hörte, liebst Du asiatisch“, feixte ich ihm zu, denn mir war gerade etwas eingefallen. Sein Gesicht verdüsterte sich kurz.
„Oh je, der bescheuerte Brief“, seufzte er.
„Sorry.“
„Nein, ist in Ordnung, die Zeit des Gedankenaustausches ist gekommen“, murmelte er.
„Bist Du sicher, dass Du dazu schon in der Lage bist?“, fragte ich Raphael vorsichtig.
„Lange genug geschlafen habe ich ja“, lächelte er düster.
„Außerdem bin ich doch viel zu neugierig, wie Ihr mich nun gefunden habt“, ergänzte er dann noch.
„Und wo?“
„Ich bin noch körperlich sehr angeschlagen und ein längerer Spaziergang zerrt an meinen Kräften. Nur hier im Zimmer ist es auch ungeschickt“, überlegte mein Kleiner laut.
„Zum Restaurant in diesem Hotel ist es nicht so weit und da wir die einzigen Gäste zurzeit zu sein scheinen, wären wir da auch ungestört“, erklärte ich ihm.
„Okay, dann führen Sie mich dahin, Herr Pfleger“, lächelte mich Raphael spitzbübisch an.
„Ja und wenn Sie nicht artig sind, Herr van Dahlen, gibt es heute Abend keinen Gute-Nacht-Kuss“, versuchte ich zu kontern. Oh je, nun zog der Bengel einen Flunsch und sein Gesichtsausdruck war dabei noch unwiderstehlicher als der von meinem Zwilling.
„Auch mit diesem Gesicht werden Sie keinen Erfolg haben“, knurrte ich. Und was machte der Kerl, der grinste über beide Backen, denn er wusste wohl zu gut, dass er mich im Sack hatte. Mit wackligen Beinen stand er auf und ich bot ihm gleich meinen Arm zum Einhaken an. So schlenderten wir langsam durch das Hotel. Zum Glück blieben uns die Treppen erspart, denn in dem Hotel befand sich ein Fahrstuhl. Im Restaurant waren schon Tim und Dominik und begrüßten uns überrascht. Auf der Stirn meines Lieblings hatte sich ein kleiner Schweißfilm gebildet und das verstärkte Aufstützen auf meinen Arm zeigte mir, wie sehr ihn das wirklich anstrengte. Erleichtert seufzte er leise auf, als er sich auf einen Stuhl niederließ.
„Raph, ist das nicht ein wenig zu viel heute?“, fragte Dominik seinen Bruder vorsichtig.
„Nein, nein. Jetzt sitze ich ja. Nur ein Schluck zu trinken wäre angenehm“, murmelte er. Nachdem er ein Glas in einem Zug ausgetrunken hatte, räusperte er sich.
„So dann fangt mal an.“
„Moment“, murmelte Dominik.
„Ja?“
„Wir sind noch nicht vollzählig“, erklärte sein Bruder ihm.
„Ach ja, wo ist denn Svenja?“, wandte sich dieser an Tim.
„Ähm.“
„Nein, mein Kleiner, sie meinten wir diesmal nicht“, griff ich nun in das Gespräch ein. Raphael schaute etwas verdutzt aus der Wäsche.
„Raph, es gibt jemanden, den Du kennen lernen solltest“, eröffnete Dominik und in seiner Stimme war einiges an Nervosität zu hören, so dass Raphael seine hübsche Stirn in Falten legte.
„Wen?“, stieß er lauernd hervor.
„Moment, ich hol ihn“, sagte Dominik und war verschwunden.
„Jean?“, hörte ich Raphael leise bitten.
„Nein, warte bitte einen kleinen Augenblick“, blieb ich ihm gegenüber hart. Minuten später erschien Dominik mit den beiden älteren Herrn und Mikael im Restaurant. Oh je, es war von einer Person die Rede.
„Raphael, ich möchte Dir jemanden vorstellen“, begann sein Bruder zaghaft.
„Ja.“
Nun ergriff der Senator das erste Mal das Wort.
„Hallo Raphael, schön, dass ich Dich endlich persönlich kennen lernen darf. Ich bin Maximilian van Dahlen.“ Der freundliche Ton von Max stand im krassen Gegensatz zu dem schneeweißen Gesicht meines Schatzes.
„Unser Urgroßvater“, stammelte Raphael verstört. Verwundert zog Maximilian seine Augenbrauen hoch.
„Oh, Du weißt, wer ich bin?“
„Ja“, hauchte Raphael.
„Aber…, aber…“, stotterte er weiter, um dann ganz abzubrechen. Über das Gesicht vom Senator huschte die Erkenntnis.
„Du dachtest, ich wäre tot“, stellte er ruhig fest. Raphael nickte.
„Ja, das wäre einigen Personen sehr viel lieber gewesen“, schob Max noch nach und das fiese Grinsen von ihm und Raphael ähnelte sich sehr stark.
„Aber hier ist nun unser Urgroßvater zu uns gestoßen“, hörte ich ihn feststellen.
„Nein, mein lieber Urenkel, da wären noch ein sehr treuer Freund und Kampfgefährte, Konsul Friedrich Johansen, und jemand, den Du kennst, Mikael“, stellte Maximilian seine Begleiter vor. Ich hatte ein wenig Angst vor der Explosion, wenn der Name von Mikael fiel. Zu gut hatte ich diese von Dominik noch vor Augen. Und was machte mein Kleiner? Er lächelte still in sich hinein.
„Einen schönen guten Tag, Herr Konsul“, wandte er sich dann an diesen.
„Hm, Herr van Dahlen, mir wäre es lieber, Sie würden mich Friedrich nennen“, lächelte er zurück.
„Okay, solange Du mich Raphael nennst und meinem Urururuuuuuurgroßvater klarmachst, dass er mich bitte nicht Urenkel nennen soll. Da komm ich mir so vor, als würde gleich die Hebamme kommen und mir die Windeln wechseln“, grinste Raphael zurück. Der Konsul lachte schallend über das verdutzte Gesicht von Max los und der brubbelte was von „Lauser“, konnte sich selbst aber nur mit Mühe das Lachen verkneifen.
„Also doch, Mikael“, wandte sich Raphael dann an den Dritten im Bunde.
„Was?“, hörte ich Dominik verwundert fragen.
„Manchmal können Blinde in einem Menschen viel besser lesen als die Sehenden. Ich höre mehr aus den Worten, als Du jeden Tag siehst, Dominik. Mikael war nie ein Feind in unserer menschenverachtenden Umgebung. Dafür war seine Stimme oft zu warm und die unterschwellige Botschaft war oft ‚Ich helfe Dir‘, was er ja auch offiziell mit Hondo getan hat.“
„Und Du hast mir nie etwas gesagt“, sagte Dominik fassungslos.
„Hm, es war nur eine Vermutung und warum jemandem die Rolle noch schwerer machen, die er spielen musste, als sie eh schon war?“
Sein Bruder schüttelte immer noch verwundert seinen Kopf, aber er schien Raphael nicht böse zu sein – nein, eher nahm er es einfach hin, er akzeptierte den Entschluss von seinem Bruder, ohne zu murren. Das zeigte mir nun wieder einiges, nämlich Raphael würde auf Grund der Spekulationen, die wir die letzten Tage angestellt haben, nicht der „Anführer“ werden – nein er war es schon. Und auch Maximilian bekam solch eine Aktion zwischen den Brüdern das erste Mal mit und er nickte anerkennend.
„Ich war schon immer in den Diensten Deines Urgroßvaters und die Behandlung von Euch beiden durch die restliche Familie hat mir die Arbeit manchmal verdammt schwer gemacht“, gab Mikael das erste Mal eine Erklärung ab.
„So, dann lasst mal die allgemeine Märchenstunde beginnen“, eröffnete Raphael dann den Reigen. Zuerst wollte er wissen, wie wir ihn nun gefunden hatten. Abwechselnd erzählten Tim und ich von unserer Odyssee. Irgendwann während des Berichtes hatte sich seine Hand unter dem Tisch in meine gestohlen und spielte mit meinen Fingern. Dann stieg Maximilian in unseren Beitrag mit ein und ergänzte ein paar Sachen. So hatten wir nach einer Stunde von unserer Suche berichtet und auch die kleine Vorgeschichte, wie ich Max kennen gelernt hatte, zum Besten gegeben. Überhaupt nicht eingegangen wurde auf die ganze Familiennachfolgeregelung oder einzelne Personen des Clans. Dann fing mein Kleiner stockend an zu erzählen.
Zwei Tage nach seinem Geburtstag kam es zur unausweichlichen Konfrontation zwischen ihm, seinen Eltern und seiner Großmutter. Vorher hatte sie ihm schon sämtliche Kommunikationsmöglichkeiten genommen und den Hund weggenommen. Seine Eltern versuchten ihn zwar zu beschützen, aber im Innersten war Raphael sehr enttäuscht über ihre Reaktion, denn schlussendlich ließen sie der Großmutter freie Hand. Natürlich kamen wieder die üblichen Drohungen wie Enterbung und Wahrung der Familieninteressen ins Spiel, aber meinem Schatz war das diesmal alles egal. Das machte er auch der Großmutter klar und jetzt kam eine neue Drohung dazu. Sie musste die Liebe, die er zu mir empfand, sehr gut eingeschätzt haben, denn sie eröffnete ihm schonungslos – wenn er nicht sofort jeglichen Kontakt zu mir abbrechen und sich von mir distanzieren würde, würde sie mein Leben und das meiner Familie sowie meiner Freunde zerstören. Da er seine Großmutter kannte, wusste er die ernste Bedrohung sehr gut einzuschätzen und gab nach. Das einzige Zugeständnis, welches sie ihm machte, war der Abschiedsbrief. Und Raphael fügte dieses unsinnige PS an, in der verzweifelten Hoffnung, ich würde es verstehen. Während der letzten Sätze hatten sich seine Finger fest um meine Hand geschlossen und drückten sie fast schmerzhaft.
„Ich weiß, das klingt widersprüchlich. Auf der einen Seite gebe ich Dich auf, um Dich zu schützen, aber auf der anderen Seite hoffte ich inständig, dass Du meine Botschaft entschlüsselst. Es war eine Art Kurzschlussreaktion und ich habe mir danach oft Vorwürfe gemacht“, murmelte er unsicher. Wir waren alle ziemlich geplättet von seinen Ausführungen.
„Bist Du bescheuert? Ich hätte Dich nie aufgegeben und immer weiter gesucht“, schnauzte ich ihn fast an. Raphael lächelte mich verlegen an.
„Na ja, danach ging alles ratzfatz. Großmutter erklärte mir, dass man meine ‚Krankheit‘ durchaus heilen könnte und ich in ein entsprechendes Sanatorium gebracht würde. Mir blieb nicht mal Zeit, mich von Dominik zu verabschieden und nach einem Flug und einer langen Autofahrt ließ man mich alleine und desillusioniert in einem Zimmer zurück. Mir wurden sämtliche persönlichen Sachen genommen, na ja soviel hatte ich ja nicht mehr“, fuhr er fort und seine andere Hand wanderte unbewusst zu seinem Hals.
„Und an den Rest kann ich mich nicht so recht erinnern. Am Anfang waren es langweilige Diskussionen und Gespräche mit Psychologen und irgendwann fingen dann die Medikamente an. Wie lange ich nun in dieser Einrichtung war, weiß ich nicht.“ Bedrücktes Schweigen legte sich über uns und alle versuchten das Gehörte zu verarbeiten.
„Aber nun ist es vorbei und ich muss Euch danken, dass Ihr mir den hier mitgebracht habt“, hörte ich Raph mit fester Stimme sagen und dann küsste er mich in aller Öffentlichkeit. Ich war viel zu perplex und seine Zunge so fordernd, als dass ich mich wehren konnte. Als wir uns lösten, schaute ich in fünf grinsende Gesichter.
„Und?“, hörte ich meinen Liebling leise fragen.
„Sie grinsen sich eins“, erklärte ich ihm leise.
„Ich Dämel, sie wussten es natürlich alle“, grummelte er nun vor sich hin.
„Na ja wissen und sehen, sind dann doch zwei paar Schuhe“, hörte ich Tim sagen und dann wandte er sich mir zu.
„Und das Küssen müssen wir wirklich noch üben. Du bist ja steif wie ein Brett, werd mal locker!“, feixte er.
„Finger weg von meinem Großen“, knurrte er Tim an. Die Eifersucht, die ich da aus den Worten hörte, ließ mein Herz noch schneller schlagen und meinen Zwilling verdutzt aus der Wäsche schauen.
„Na ja, wenn ich mir meinen Zwilling soooo anschaue, dann nehm ich zum Üben doch lieber Svenja“, versuchte Tim die kleine Anspannung zu lösen, die sich über uns bei den letzten Worten von Raphael gelegt hatte.
„Entschuldige Tim, aber Dein Zwilling ist jemand, den ich viel zu lange gesucht habe und nun mit allem was ich habe, verteidigen werde“, gab Raphael verlegen zu.
„Ich glaub, wir sollten uns mal unterhalten, aber nicht heute. Nur kurz zu Deiner Info, mein Verhältnis zu Jean ist so wie Deins zu Dominik“, kam es ernst von meinem Twin. Raphael merkte wohl durch meine körperliche Nähe zu ihm, dass ich nun eingreifen wollte. Zwei der liebsten Menschen, die ich hatte, sollten sich nicht streiten. Ein kurzer Händedruck genügte, um mir zu verstehen zu geben, ich solle nichts sagen.
„Nicht ganz, Tim, nicht ganz“, murmelte Raphael dann auch als Antwort. Tim stutzte kurz und wurde nachdenklich.
„So, und nun?“, fragte er dann uns.
„Was, und nun?“, erwiderte Dominik flapsig.
„Dom“, knurrte mein Kleiner schon wieder. Also diesen fordernden, bohrenden Ton hatte er perfekt drauf.
„Okay, okay. Versuche ich es mit einer Frage. Woher wusstest Du von unserem Urururuuuuuuurgroßvater?“, kam die Gegenfrage von Dominik.
„Jungs, wenn Ihr mich noch älter macht, komme ich mir noch wie der Urahn vor“, grummelte nun Maximilian.
„Mein liebes Senatorchen, Du wusstest ganz genau, was für Lausbuben Du Dir hier angelst, also schluck es mit Fassung“, mischte sich Friedrich ein.
„Von weitem waren sie erträglicher“, brummte dieser weiter, aber mit einem Lächeln im Gesicht.
„Nun ja, ich habe nichts anderes gemacht als Felix. Nur mache ich das schon seit Jahren, denn die Leidenschaft zur Geschichte habe ich mit Jean gemeinsam. Faszinierender war es, dass es auch noch unsere Geschichte war. Leider waren meine Nachforschungen nicht so erfolgreich. Am Anfang sah es immer so aus, als wäre unser Aufstieg erst mit Großmutter begründet worden…“, erzählte Raphael von seinen Anstrengungen und wurde bei der letzten Bemerkung von einem abfälligen Schnauben des Senators unterbrochen.
„…aber irgendwie hatte ich das Gefühl, unser Reichtum wäre alt. Und durch einen dummen Zufall stieß ich vor 1,5 Jahren auf Maximilian und eine sehr, sehr kurze Biographie. Ich hatte nur die Namensidentität, aber die äußere Beschreibung passte einfach zu sehr auf unsere Familie. Nur operierte dieser van Dahlen von Hamburg aus und wir waren ja schon ewig in Frankfurt. Tja und als ich diesen Aufhänger erst einmal hatte und herausfand, dass wir aus Hamburg stammen, sammelte ich jeden Schnipsel, den ich über diesen Mann finden konnte. Und, mein lieber Urgroßvater, meinen allergrößten Respekt vor Deiner Leistung. Was Du nach dem Krieg auf die Beine gestellt hast, war der pure Wahnsinn“, sprach Raphael die letzten Worte stolz und andächtig zu Maximilian. Und dieser lief leicht rosa an und schaute verlegen aus der Wäsche.
„Man, man, man, dass ich das noch erleben darf“, murmelte der Konsul bewegt.
„Stimmt das soweit?“, fragte Raphael neugierig.
„Du hast sehr gut recherchiert, außer das Du meinen Anteil ein wenig zu sehr in den Himmel lobst“, gab der Senator grummelnd zu.
„Ich weiß, was ich weiß“, ließ sich Raphael nicht beirren. In gespielter Verzweiflung reckte Maximilian die Hände in den Himmel und sah seinen Urenkel kopfschüttelnd an. Dann ergab er sich seinem Schicksal und unterwies uns noch einmal in der Familiengeschichte. Ich kannte ja schon den größten Teil und beobachtete meinen Schatz fasziniert. Sein Gesicht war Anspannung pur, seine Lippen waren leicht geöffnet und die Wangen leuchteten rosa. Dieses Mal ging der Senator mehr ins Detail und schilderte die Familiengeschichte lebendiger. So nach und nach zog er auch mich in seinen Bann und eine unglaubliche, aber vergangene Zeit breitete sich vor mir aus. Er ließ mit einfließen, dass ein paar Vorfahren auch Interesse am eigenen Geschlecht nachgesagt bzw. angedichtet wurde, nicht aber, wie es um ihn bestellt war. Des weiteren ließ er die ganze Nachfolgeregelung weg – mir fiel aber auf, dass er bewusst oder unbewusst immer wieder die Namen der Familienoberhäupter ins Spiel brachte und die waren ja ausschließlich männlich. Seine Geschichte endete dann mit dem Unfall seines Sohnes.
„Wie war Grandpa?“, überraschte uns alle die Frage von Raphael.
„Wie Du“, kam die Antwort von Max sofort.
„Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich dachte ja auch, ich wäre von Geburt an blind“, murmelte mein Kleiner verstört.
„Dieses Scheusal“, spie der Senator angewidert aus.
„Was heißt, wie ich?“
„Fangen wir mal mit dem Äußerlichen an. Mit 18 sah er Dir sehr ähnlich, fast wie ein Zwilling. Wenn ich Deine Handlungen, von denen mir berichtet wurde, mit denen von meinem Sohn vergleiche, scheint Ihr auch da sehr überein zu stimmen. Den Dickkopf hast Du von ihm. Aber auch andere Sachen wie Ausstrahlung, sogar noch mehr als er, ein feines Gespür, Durchsetzungsvermögen, und, und, und …“, zählte der Senator eins nach dem anderen auf. Raphael war das unangenehm, denn ich konnte fühlen, wie unwohl er sich fühlte.
„…aber in einer Sache unterscheidet Ihr Euch beide kolossal“, fuhr Max fort, um dann eine kleine Pause zu machen.
„Ja?“, fragte Raphael gespannt.
„Euren Geschmack für einen Partner“, lächelte Maximilian in die Runde. Und wir liefen beide rot an.
„Das betrifft das Geschlecht, das Aussehen und den Charakter – in allem schlägt Jean diese schottische Bergziege um Längen“, schloss der Senator seinen Vortrag.
„Danke“, murmelte ich verlegen.
„Wofür?? Für die Wahrheit?“, hörte ich als Antwort.
„He!“, knurrte Raphael schon wieder.
„Jetzt fängt mein Urahn auch noch mit meinem Freund an zu flirten“, brummte er hinterher. Ich grinste mir einen – na mit dem eifersüchtigen Kerl würde das ja noch spannend werden.
„Keine Sorge, lieber Ururururuuuuuuuuuurenkel, er steht nicht auf mich. Was ja nicht an meinem Aussehen sondern nur an meinem Alter liegen kann“, konterte Maximilian. Und mein Kleiner war baff. Dominik hatte wohl seinen Bruder noch nicht oft sprachlos gesehen, denn er gackerte auf einmal los.
„Menno“, brubbelte Raphael.
„Komm mal her, mein Dark“, flüsterte ich ihm zu und knutschte ihn dann richtig ab. Atemlos lösten wir uns ein Weilchen später.
„Na, nun wäre das ja geklärt“, lächelte der Konsul in die Runde.
„So, ich glaube, das reicht für heute“, eröffnete ich den anderen.
„Was?“, wandte sich Raphael an mich.
„Kleiner, wir wollen es nicht übertreiben. Ein wenig erholsamer Schlaf würde Dir sehr gut tun“, erklärte ich ihm.
„Hm“, grummelte er und war die „Begeisterung“ pur.
„Jean hat Recht. Das läuft uns ja nicht weg und wir können uns morgen weiter unterhalten“, stimmte Maximilian meinem Vorschlag zu.
„Moment“, unterbrach Raphael die allgemeine Aufbruchsstimmung.
„Ja?“
„Ich gehe nicht, bevor ich nicht das eigentlich Wichtigste weiß“, stellte er klar.
„Und?“
„Welche Rolle spielen mein Bruder und ich in diesem Spiel“, wandte sich Raphael an Max.
„Wie meinst Du das?“, versuchte dieser auszuweichen.
„Pff, mein lieber Urgroßvater möchte spielen, okay. Bei Deinem Familienbericht war vorhin ausschließlich von männlichen Oberhäuptern die Rede. Du bist aber überhaupt nicht auf die Erbfolge eingegangen. Des Weiteren führten immer leibliche Verwandte, keine angeheirateten die van Dahlens an!“, fing er an seine Überlegungen vor uns auszubreiten. Der Senator sah ihn gebannt an, nein eigentlich taten wir das alle.
„Und in diesen traditionellen Ablauf passt die Machtergreifung meiner Großmutter nicht rein. Okay mein Grandpa ist plötzlich verstorben, aber wenn er nur halbwegs so wie ich gewesen sein soll, war die Nachfolgeregelung klar. Logisch wäre unsere Mutter gewesen, aber sie ist weiblich. Kann es sein, dass wir beide schon als kleine Kinder in das Spiel der Macht hineingezogen wurden? Ist der einzige Antrieb meiner Großmutter die Erhaltung ihrer Position? Versucht sie uns deshalb immer wieder klar zu machen, wie unfähig wir beide sind?“ Die Stimme von Raphael wurde immer zorniger.
„Und war das Entdecken meiner Homosexualität an meinem 18. Geburtstag nur der passende sowie lang gesuchte Grund, um mich aus dem Verkehr zu ziehen?“
Fassungslos sah ich meinen Kleinen an. Nein, ich war nicht so sehr von den Socken über die Schlussfolgerungen, die er gezogen hatte, und die wie die Faust aufs Auge passten. Was mich schockte, war der Raphael, den ich jetzt sah. Zum ersten Mal zeigte sich mir wohl das so genannte van Dahlen-Gen. Selbstsicher, fast arrogant, entschlossen und vor allem sehr zornig präsentierte er mir eine Ausstrahlung, die mehr als einschüchternd war. Ein Blick in die Gesichter der anderen, zeigte mir die unterschiedlichsten Reaktionen. Mein Zwilling war genauso erschlagen wie ich. Dominik lächelte leise wissend in sich hinein. Und der Senator strahlte – all seine Vermutungen schienen sich jetzt zu bestätigen.
„Da gibt es nicht viel zu ergänzen“, antwortete der Senator bewegt.
„Verdammt, ich will und werde nicht der Spielball dieser Frau sein“, stellte Raphael wütend fest.
„Und da gibt es jetzt doch was zu sagen“, eröffnete Max seinem Urenkel. Und in ein paar Sätzen schilderte er ihm die rechtliche Ausgangslage sowie die Stellung der Stiftung, die sein Sohn gegründet hatte. Nach seinen Ausführungen saßen wir schweigend da, Raphael hatte seine Stirn in sehr tiefe Falten gelegt. Auf einmal stand er auf.
„Dominik kommst Du bitte mit“, forderte er seinen Bruder so auf, dass der gar nicht nein sagen konnte. Dann beugte er sich zu mir hinunter.
„Entschuldige Jean, aber ich möchte etwas mit meinem Bruder klären und werde danach todmüde ins Bett fallen“, murmelte er mir ins Ohr und gab mir noch einen Abschiedskuss. Verträumt sah ich ihm hinterher, wie er, eingehakt bei Dominik, langsam verschwand.
„Was war das?“, murmelte Tim leise.
„Jetzt wird da oben gerade Familiengeschichte gemacht und dem armen Dominik wird der Kopf danach rauchen“, äußerte der Senator leise und sehr nachdenklich.
„Das heißt?“, gab mein Zwilling nicht auf.
„Tja, das ist eine gute Frage, eine verdammt gute sogar, auf die Antwort darauf müssen wir uns wohl bis morgen gedulden!“
Da kein rechtes Gespräch mehr aufkommen wollte, schnappte ich mir Tim und Hondo und wir machten einen langen Spaziergang. Während des ausführlichen Ausfluges fiel kein Wort zwischen uns. Seit langem hatte ich mal keine düsteren Gedanken, war nicht auf der Suche nach irgendwas oder irgendjemandem, nein, ich war zufrieden und genoss einfach nur den Spätnachmittag und die Anwesenheit meines Twins. Als wir wieder in den Hotelvorraum traten, wandte sich Tim mir zu und grinste mich schelmisch an.
„Das kann noch verdammt lustig werden. Dein Freund ist unglaublich!“
„Mal sehen, aber eigentlich ist mir das egal, wichtig ist nur, dass ich meinen Kleinen wieder habe und den Rest werden wir auch noch meistern“, kleidete ich mein Glück, welches ich gerade empfand, in Worte. Im Restaurant saß immer noch der Senator und war mit Telefonieren beschäftigt. Ich wollte mich nur für den Tag verabschieden, als mir noch was einfiel bzw. eine Handbewegung von Raphael vor meinem inneren Auge auftauchte. So blieb ich wartend in der Nähe von Max stehen.
„Jean, komm ruhig her“, murmelte er mir zwischen seinen Antworten ins Telefon zu. Ich setzte mich zu ihm.
„So, was kann ich für Dich tun?“, fragte er mich, als er sein Telefonat beendet hatte.
„Hast Du eigentlich mit dem Direktor dieser Anstalt noch einmal gesprochen?“
„Ja, mehrmals sogar“
„Und hast Du auch mal nach den persönlichen Sachen von Raphael gefragt?“
„Oh, Mist, das habe ich verschwitzt. An was denkst Du denn?“
„An unser Kleeblatt.“
„Kleeblatt“, hörte ich ihn verwundert. Davon schien er nichts zu wissen und so erzählte ich ihm in ein paar Sätzen, was es damit auf sich hatte.
„Ich kümmere mich drum. Wenn es unter seinen Sachen ist, hast Du es morgen, okay?“
„Sehr schön.“
„Ich werd mal auch ins Bett gehen. Die letzten Tage machen sich nun bemerkbar“, sagte ich und verabschiedete mich von Maximilian. Minuten später lag ich in meinem Bett und mit einem Blick auf das Bild von Raphael auf dem Nachttisch war ich sofort eingeschlafen.
Die Strahlen der Sonne weckten mich. Mein Blick wanderte zum Radiowecker und blieb bei einem kleinen glitzernden Gegenstand hängen. Auf meinem Nachtisch lag zwischen dem Bild von Raphael und dem Radio sein Kleeblatt. Meine Augen blieben verträumt daran hängen. Für mich war es damals eigentlich nur ein Versuch gewesen, unserer Freundschaft eine neue Chance zu geben. Für meinen Kleinen musste es ein unglaublicher Talisman sein. Er konnte sich eigentlich alles finanziell leisten, aber er trug dieses Kleeblatt um seinen Hals.
Welchen Weg würden wir gehen?
Dies hing natürlich in viel größerem Maße von Raphael ab als von mir. Aber war er nicht viel zu jung, um das Oberhaupt dieser Familie zu sein? Er hatte doch bis jetzt schon viel zu wenig von seiner Jugend gehabt – wir waren beide gerade mal 18 Jahre alt. Sollten wir nicht zuerst einmal LEBEN, endlich das sein, was wir bisher noch nicht sein durften – verliebte Teenager.
‚Man, man so ein schöner Morgen und Dir schwirrt nur so was im Kopf herum‘, schalt ich mich in Gedanken. Mein Blick wanderte zur Uhr und ich stöhnte innerlich auf. Es war gerade mal kurz nach 7 Uhr. Somit warf ich mich noch einmal herum und vergrub meinen Kopf in das weiche Kissen, aber die Gedanken kreisten und kreisten. An Schlaf war nicht mehr zu denken und nach einer halben Stunde sinnlosen Herumwälzens im Bett, stand ich dann doch auf. Eine Weile saß ich einfach noch so auf dem Bett herum und schaute mir sein Bild an. Dieser Junge lag nur ein paar Zimmer weiter in seinem Bett und war mein Freund.
‚Mein Freund‘ – das hörte sich einfach fantastisch an. Hatte ich so einen hübschen und intelligenten Kerl überhaupt verdient? Anscheinend wohl ja, jedenfalls war er dieser Meinung. Mit einem lustigen Pfeifen ging ich dann endlich ins Bad und ich war so gut drauf, dass ich sogar kalt duschte.
Was für eine bescheuerte Idee! Auch wenn ich nun so richtig wach war, verführte mich mein geistig „verwirrter“ Zustand zu Dingen, die früher nicht einmal im Ansatz in Betracht gekommen wären. Trotz meiner Selbstgeißelung im körperlichen und auch geistigen Sinne ging mir das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Minuten später war ich dann komplett angezogen und schnappte mir den Anhänger.
‚Na da wollen wir meinen Kleinen mal aus den Schlaf holen‘, murmelte ich zu mir und zu meinem Lachen gesellte sich eine kleine fiese Note. An seiner Hotelzimmertür blieb ich stehen. Soviel zum Thema Überraschung, die Tür war abgeschlossen und die nötige Keycard hatte ich nicht.
„Möchtest Du zu Raphael?“, hörte ich es leise hinter mir. Ertappt drehte ich mich um und sah einen lächelnden Mikael vor mir.
„Der Senator hat ein paar Vorsichtsmaßnahmen getroffen zum Schutz von Dominik und Raphael und ich war ja schon immer so eine Art Leibwächter für die beiden“, erklärte er mir auf meinen erstaunten Gesichtsausdruck hin.
„Aber bei Dir kann ich ja wohl eine Ausnahme machen“, schob er breit grinsend hinterher und öffnete mir die Tür. Leise schob ich sie auf, konnte aber nur ein zerwühltes Bett sehen.
„Ach, Raphael ist ein Frühaufsteher. Wusstest Du das nicht?“, hörte ich Mikael hinter mir feixen.
‚Oh nein, Ade herrliches Ausschlafen. Das heute war ja die absolute Ausnahme, dass ich an einem freien Tag vor 10 Uhr aus dem Bett war.‘
Meine Augen schweiften durch das Zimmer, als ich die Tür hinter mir schloss. Nirgends war mein Schatz zu sehen, dafür hörte ich jetzt die Dusche rauschen.
‚War er dazu heute schon kräftig genug?‘, machte ich mir gleich Sorgen. In diesen Moment verstummte die Dusche. Unabhängig meiner Sorgen wurde ich nun nervös. Wie würde er sich mir gleich präsentieren? Und ein wenig nagte das schlechte Gewissen an mir. Sollte er jetzt da nackt aus dem Bad spaziert kommen, war ich in seine Privatsphäre geplatzt ohne ihn vorzuwarnen.
Als die Tür dann aufschwang, gewann meine Neugierde doch Oberhand und ich schaute gebannt in die Richtung.
‚Pff‘, grummelte ich mit mir. Aus dem Bad kam zwar Raphael, aber eingepackt in einen Bademantel. Kein Handtuch um die Hüften oder vielleicht doch nackt, nein in einen langen Bademantel verpackt. Er tastete sich vorwärts, machte aber einen recht guten körperlichen Eindruck. Der Schlaf musste wohl geholfen haben. Jetzt zog er seine Stupsnase kraus und fing an zu lächeln.
„Hm, ich bin wohl nicht mehr so ganz alleine“, grinste er in meine Richtung. Ich hatte nichts gesagt, mich nicht bewegt, sogar nur ganz flach geatmet.
„Man, wie bekommst Du das nur immer so schnell heraus?“, kleidete ich meine Verwunderung dann auch in Worte.
„Na ja, zuerst ist da mein Geruchssinn. Du hast einen unverwechselbaren Duft, den ich einfach mag und dann weiß ich es einfach irgendwie, dass Du in meiner Nähe bist“, versuchte er mir es zu erklären.
„Aber erst einmal Guten Morgen, meine liebe Jeanny“, grinste er mich spitzbübisch an.
„Argh“, knurrte ich und überbrückte die zwei Meter zwischen uns.
„Guten Morgen, mein Kleiner“, hauchte ich ihm zu und verschloss seine Lippen mit den meinen, damit da nicht noch mehr unnützes Zeug herauskam. Raphael umschlang mich mit seinen Armen und zog mich ganz dicht an sich. Sanft löste ich mich von seinen Lippen und beobachtete sein Gesicht. Seine Lippen waren kirschrot und leicht geöffnet, seine Zungenspitze huschte dazwischen hin und her, die Wangen leicht gerötet und dann öffnete er für mich seine Augen, die er die ganze Zeit geschlossen gehalten hatte. Allein wegen dieser Augen könnte ich alles um mich herum vergessen. Zwischen herrlich langen, schwarzen Wimpern lagen zwei grüne Sterne, die alles in mir schmelzen ließen.
„Weißt Du eigentlich, was Du gerade mit mir anstellst … wie schön Du bist?“, murmelte ich.
„Schönheit, was ist das?“, flüsterte er.
„Für mich haben Äußerlichkeiten keinen Wert und trotz allem bist Du für mich der Schönste, weil wichtigste Mensch in meinen Leben. Dein Herz und Deine Gefühle sind für mich Deine Schönheit“, gestand er mir leise.
„Der Wichtigste?“, hauchte ich fassungslos. Wir kannten uns doch kaum, waren gerade dabei uns näher zu kommen.
„Ja, auch wenn Dir gerade im Kopf herumgeht, dass wir uns kaum kennen. Nicht so sehr, weil Du mich wochenlang gesucht und nun auch gefunden hast, nein vielmehr, weil Du meine Mauern eingerissen hast und mir zeigst, dass wir unser Leben leben können!“
„Unser Leben?“
„Ja, denkst Du denn, ich gebe Dich so einfach wieder her und treibe Dich doch noch in die Arme Deines Zwillings“, knurrte er den Rest des Satzes.
„Eifersüchtiger süßer Kerl“, lächelte ich und küsste seine Nase.
„Nicht die Nase“, grinste er. Okay, wenn er es so wollte – küsste ich seine Stirn.
„Blödmann“, grummelte Raphael und eroberte nun selbst meine Lippen. Einen weiteren Kuss später musste ich dann doch meinem Unmut Luft machen.
„Warum könnt Ihr alle in mir lesen wie in einem Buch, zuerst Tim, teilweise Svenja und nun auch noch Du?“ Mein Kleiner zog die Stirn kraus.
„Ich glaube, dass das nicht ganz so ist. Wir können nicht in Dir lesen, sondern da wir uns verbunden fühlen, merken wir, was mit Dir los ist. Tim kennt Dich halt schon Dein ganzes Leben lang und ich glaube, ihr werdet auch nicht umsonst die Zwillinge genannt. Svenja ist nicht gerade auf den Kopf gefallen und liebt Dich. Tja und ich…“, brach er seine Überlegungen ab und schien jetzt echt verlegen.
„..mag Dich auch sehr. Zudem ticken wir in etwa gleich und die komplizierten Gedankengänge nennen wir gemeinsam unser eigen“, murmelte er. Trotz der einleuchtenden Erklärung war mir so, als ob er mir nicht alles sagte. Das Gefühl war jedoch so vage, dass ich keinen weiteren Gedanken darüber verschwendete.
„So kann ich nun endlich das machen, wozu ich Dich eigentlich aus dem Bett treiben wollte?“
„Aus oder durch das Bett“, grinste er. Dass der Kerl auch auf alles eine Antwort wusste, verdammt.
„Lustmolch.“
Dann löste ich mich aber von ihm und drehte ihn in meinen Armen um. Mit meiner linken Hand angelte ich nach dem Kleeblatt und meine Rechte strich seine Haare aus dem Nacken. Ich schob sie weiter nach vorne und öffnete leicht seinen Bademantel um seinen Hals. Dann legte ich ihm die Kette um den Hals und verschloss sie im Nacken.
„Sicherheitshalber habe ich Dir mal wieder unser Glück umgelegt“, hauchte ich ihm in sein linkes Ohr, nicht ohne noch ein bisschen dran zu knabbern. Seine Hand schoss nach oben und die schlanken Finger umschlossen etwas zittrig den Anhänger.
„Danke“, murmelte er bewegt.
„Und zum zweiten Mal machst Du mir so ein unglaubliches Geschenk.“
„Es ist doch dasselbe“, sagte ich verwundert.
„Ja und nein. Beide Male stellt es einen Wendepunkt in unserer Freundschaft dar. Damals haben wir damit wohl endgültig zueinander gefunden und jetzt müssen wir zusammen unseren Weg finden“, erklärte er leise. Während seiner Worte hatte ich meine Nase in seinen Haaren vergraben und machte mal das, was ihn sonst auszeichnete – ich schnüffelte. Das Shampoo und sein eigener Duft vermischten sich zu etwas, was mich unheimlich betörte. Meine Finger der rechten Hand wanderten über seinen Hals in den Ausschnitt des Bademantels. Sacht streichelte ich die glatte Haut und ließ sie über seine Brust wandern. Raphael lehnte sich an mich und fing leise an zu schnurren. Sanft umkreisten meine Fingerspitzen seine Vorhöfe und innerhalb von Sekunden waren seine Brustwarzen hart. Auch bei mir kochten die Hormone langsam und ich presste mich noch enger an ihn. Automatisch rieb ich meine Lenden an seinen knackigen Hintern. Ich wurde mutiger und meine Finger krochen auf seinem Oberkörper langsam aber sicher tiefer. Unter ihnen vibrierten seine Bauchmuskeln. Dann blieb ich hängen, denn der blöde Bademantelgürtel behinderte ein weiteres Wandern meiner Hand. Diese Störung riss uns wohl in die Wirklichkeit zurück. Raphael drehte sich mir wieder zu, wobei meine Hand von seinem Körper verschwand. Seine Wangen waren stark gerötet und seine Augen glänzten.
„Jean, ich hab noch …“, äußerte er sich mit einem schüchternen Lächeln. Das hier hatte ich auch noch nicht getan. Ich begehrte diesen Jungen mit Haut und Haaren – bei Felix war es trotz allem nur pure Geilheit.
„Ich auch nicht“, murmelte ich. Meine Finger zeichneten seine Nase nach und glitten über seine Lippen.
„Mein Kleiner, ich glaube, ich habe mich hoffnungslos in Dich verliebt“, gestand ich ihm heiser.
„Hoffnungslos?“, hauchte er.
„Ja, ich bin Dir total verfallen, mein Dark.“
„Warum sollte es Dir anders gehen als mir?“, lächelte er mich schüchtern an.
„Und was machen wir nun?“, fragte ich ihn.
„Was ich mit Dir gerne machen würde, zeigen Dir gewisse Körperteile sehr wohl, aber ich weiß nicht, ob ich dafür schon bereit bin“, hörte ich ihn leise. Dieses gewisse Körperteil war nur durch den Bademantel und meiner dünnen kurzen Short von meiner pochenden Erregung getrennt. Aber auch ich scheute vor diesem Schritt.
„Wir sind vielleicht ein paar Pappnasen“, grinste Raphael mich auf einmal frech an.
„He?“
„Wir wollen es beide und trauen uns nicht“, schob er süffisant hinterher.
„Einigen wir uns darauf, dass wir noch den richtigen Augenblick suchen“, neckte ich ihn.
„Küssen ist aber erlaubt, oder“, fragte er lauernd. Konnte ich einer so lieben Aufforderung widerstehen. Und so versanken wir in der körperlichen Zuneigung, zu der wir uns beide trauten. Aber auch die waren sehr berauschend. Minuten später lösten wir uns wieder atemlos.
„Einfach, hmmmmmmmmm“, seufzte mein Kleiner. Dabei strichen seine Finger leicht wie eine Feder über mein Gesicht.
„Ah, mein Großer scheint auch sehr zufrieden“, murmelte er.
„Bist Du enttäuscht“, fragte er mich dann doch vorsichtig.
„Von Dir, oh nein, Du bist einfach unglaublich. Und den Rest holen wir irgendwann nach, dann wenn wir BEIDE mutiger sind.“
„Okay, jetzt muss ich mich aber anziehen. Wir haben einen langen Tag vor uns“, hörte ich ihn entschlossen, aber er blieb in meinen Armen liegen und seine Finger erkundeten weiter mein Gesicht. So ganz konnte ich meine Hände jedoch auch nicht bei mir halten. Sie waren über seinen Rücken zu seinem knackigen Hintern gewandert. Sanft knetete ich ihn, zu groß war der Reiz.
„Lustmolch“, schnurrte Raphael.
„So, es hilft nix, ich muss“, unterbrach er unsere Aktionen nun endgültig und wand sich aus meinen Armen. Er drehte sich etwas nach rechts und ging zielsicher auf einen Stuhl zu.
Dieser Junge sollte blind sein?
Auf dem Stuhl lagen schon ein paar Sachen, die ihm wohl jemand herausgesucht hatte.
„Wie machst Du das nur?“, konnte ich dann doch meine Frage nicht zurückhalten.
„Was?“
„Na ja, Du bewegst Dich nicht anders und so sicher, als wenn Du alles sehen könntest“, erklärte ich mit einer Spur Nervosität. Wir hatten über seine Blindheit noch nie richtig gesprochen und ich wollte hier nichts Falsches machen.
„Ach so, eigentlich hasse ich eine fremde Umgebung, fühle mich nur richtig wohl in einem Umfeld, dass ich bis ins Kleinste kenne. Da ich hier ja vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, habe ich versucht, mir meine unmittelbare Umgebung so gut als möglich einzuprägen. Das bezieht sich aber nur auf das Hotelzimmer mit dem Bad, außerhalb bin ich auf meinen Stock, Hund und Dich angewiesen“, sagte er. Dann wandte er sich mir noch mal mit einem kleinen schelmischen Lächeln zu.
„Machen wir mal einen Versuch.“
„Ja?“
„Schließ mal bitte Deine Augen“, forderte er mich auf. Natürlich folgte ich der Bitte meines Schatzes.
„Und nun?“
„Erzähl mir, was Du vor Deinem inneren Auge siehst. Versuch es von Deiner Position darzustellen und sage, wie weit Du davon entfernt bist“, hörte ich ihn. Leise zählte ich gewisse Gegenstände auf und schätzte mehr schlecht als recht die Entfernungen. Je mehr ich mich versuchte zu erinnern, desto unsicherer wurde ich. Nach einer Weile gab ich auf und hörte Raphaels glockenhelles Lachen.
„Oh je, Du hättest sehr viele blaue Flecken, mein Großer“, rief er aus. Ich beendete das Experiment und öffnete die Augen. Die Enttäuschung ließ mich seufzen und diese war doppelt so groß ,als ich nun Raphael sah. Der Schlingel hatte meine Beschreibungsphase genutzt und sich komplett angezogen. Natürlich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihm genüsslich beim Anziehen, nun ja eher beim Ausziehen des Bademantels zuzuschauen.
„Okay ich hab da nun auch schon jahrelange Übung drin und meine blauen Flecken sind ungezählt. Außerdem konnte ich mich so in Ruhe anziehen“, grinste er mich frech an und zeigte mir mal wieder, wie gut er mich schon kannte.
„Und was machen wir jetzt?“
„Frühstücken und danach ein paar Sachen klären. Ich habe mit Dominik gestern noch so einiges durchdacht und wir haben einen Entschluss gefällt. Bedingung für mich ist natürlich, dass Du damit leben kannst, deshalb bitte ich Dich, nachher ganz offen und ehrlich zu sein“, hörte ich ihn ernst sagen.
„Raphael, das ist Deine Familie und Deine Zukunft, da kann ich doch nicht mitreden“, murmelte ich.
„Falsch, das ist unser Leben. Meine Familie hat mir bisher gezeigt, was ich ihr wert bin. Jetzt nehme ich mein Leben in die Hand und Du bist ein sehr wichtiger Bestandteil davon“, schmetterte er meinen Einwand ab. Bei den Worten war er auf mich zu gegangen und stand nun ganz dicht vor mir.
„Jean, ich brauch Dich und möchte nicht mit einem Kompromiss leben. Nur wenn Du auch damit einverstanden bist, werden wir es so machen, ok?“ Ich nickte ihm zustimmend zu und hauchte noch ein „Ja“ hinterher, als mir die Sinnlosigkeit meines Nickens bewusst wurde. So ganz wohl war mir nicht dabei, nun in das Spiel um Macht und Geld hineingezogen zu werden, denn nichts anderes war das hier. Aber seit wann war mein Leben einfach?
„Dann lass uns gehen und die hier sind nur für meinen Jean“, flüsterte er mir zu und bedeckte seine herrlichen Augen mit seiner sehr dunklen Sonnenbrille. Dann gab er mir noch einen Kuss und hakte sich bei mir unter. So schlenderten wir aus dem Zimmer. Mikael nickte mir vor dem Zimmer zu.
Zum Frühstück wurden wir schon vom Senator empfangen. Maximilian schien nie zu schlafen und sah auch noch munter aus.
„Na Ihr beiden, auch schon auf?“, begrüßte er uns schmunzelnd.
„Bei mir eine Ausnahme, bei dem hier scheint das ja Gewohnheit zu sein“, antwortete ich und fing mir bei „dem hier“ einen kleinen Knuff ein.
„War mein Bruder schon hier?“, fragte er dann Max.
„Ja, er kommt gleich wieder. Wollte noch irgendetwas aus dem Zimmer holen“, erklärte der Senator.
„Oh je, Tim bekommen wir um diese Zeit noch nicht aus dem Bett“, seufzte ich.
„Hm, Jean“, druckste mein Kleiner mit einem Male herum.
„Ja?“
„Sei mir nicht böse, aber die ersten Sachen hätte ich gerne erst einmal im Rahmen der Familie geklärt“, murmelte Raphael nervös.
„Oh“, entfuhr es mir und ich spürte schon wieder einen kleinen Stich.
„Na gut, dann werde ich mir Hondo schnappen und eine Runde durch die Stadt gehen“, versuchte ich so gelassen wie möglich zu sagen.
„Moment“, unterbrach mich Raphael.
„Du bist sehr wohl für mich meine Familie und bleibst bitte hier, aber Tim wird immer nur ein guter Freund bleiben. Ich möchte ihm ja auch nicht unsere Entscheidung vorenthalten, nur halt erst die Sache mit Maximilian klären“, schob er noch sanft aber bestimmt hinterher.
„In Ordnung“, murmelte ich mein Einverständnis, wobei ich mich nicht wohl fühlte damit. Ich hatte vor Tim noch nie Geheimnisse gehabt, na ja okay, diese eine kleine Sache, aber ansonsten waren wir ja eine Seele. Dieser schwarzhaarige, grünäugige Kerl hatte meine Prioritäten kräftig durcheinander gewirbelt. Hoffentlich müsste ich mich nie endgültig zwischen ihnen entscheiden – ich wollte meinen Zwilling nicht missen.
„Guten Morgen“, hörte ich dann Dominik und er unterbrach meine Überlegungen. Mit einem Grinsen setzte er sich zu uns an den Tisch.
„Und Raph, was möchtest Du haben?“, fragte er seinen Bruder.
„Kaffee, ein Glas Saft, ansonsten was leichtes, Müsli oder so und Obst“, gab er seine Bestellung auf und schon wollte Dominik abzwitschern.
„Dominik?“, ließ ich von mir hören.
„Ja?“, drehte er sich fragend zu mir um.
„Für mich dasselbe bitte“, grinste ich ihn frech an.
„Nur statt Müsli nehm ich Rühreier und zwei Brötchen dazu“, schob ich noch hinterher. Raphael gackerte neben mir los und auch Maximilian konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Die Eier haste wohl nach dem Weckdienst bei meinem kleinen Bruder nötig, was?“, fragte Dominik nun süffisant. Nun bekam mein Kleiner zum Lachen noch einen roten Kopf und ich konnte mich auch nicht mehr zurück halten.
„Ach erwischt?“, sah mich Dominik fragend an. Mein Kopf unterschied sich in der Färbung nur in Nuancen von Raphaels.
„Klar, hab Deinen Bruder so doll gepoppt, dass er kaum noch sitzen kann“, rutschte mir doch glatt heraus und Dominik verschlug es die Sprache. Dafür bekam ich unter den Tisch einen nicht geraden sanften Tritt gegen mein Schienbein.
„Ach komm, dafür seid Ihr beide doch viel zu schüchtern“, mutmaßte Dominik, als er die Sprache wiedergefunden hatte.
„Pff.“
„Gmpf“, gaben wir beide zu verstehen, wie nahe er der Wirklichkeit gekommen war und er schlenderte grinsend zum Frühstücksbüffet. Ich schloss mich ihm an. Als wir zum Tisch zurückkamen, waren Raphael und Maximilian in eine Diskussion vertieft. Mein Kleiner wollte wissen, was der Senator zur Zeit so trieb und wo er wohnte. Als er erfuhr, dass Max zusammen mit dem Konsul in einem Seniorenstift in Frankfurt untergebracht war, machte sich in seinem Gesicht Unglauben breit.
„Du warst die ganzen Jahre in unserer Nähe?“
„Ja!“
„Und SIE hat nichts dagegen unternommen?“
„Ja und nein. Die erste Zeit wusste sie gar nicht, wo ich mich herumtrieb und vor allem was ich so machte. Dann stellte ich mit Friedrich so einiges auf die Beine und wilderte vor allem in dem Geschäftsbereich der Familie van Dahlen. Ich machte es Deinen Eltern nicht einfach im Geschäftsleben, aber sie wussten sich gut zu wehren. Vor ca. sechs oder sieben Jahren hatten wir dann keine Lust mehr und setzten einen Geschäftsführer ein, der freie Hand bekam. Zu allem Überfluss bewiesen wir mit unserer Wahl noch Weitblick, denn der Mann ist gut und mehrt unser kleines Einkommen stetig. Friedrich überredete mich dann, nach Frankfurt zu gehen und der Lady auf die Finger zu schauen und ab und an auch mal drauf zu klopfen. Damit kehrte ich in das Leben der Familie van Dahlen zurück!“
„Wieso zurück?“
„Eure Großmutter erkannte schnell, wie der Hase lief, und fing an mit aller Kraft gegen mich vorzugehen. Leider ist sie nicht gerade die Schlaueste. Sie konnte sich schon immer gut verkaufen, das ist unbestritten, aber komplizierte Zusammenhänge durchschaute sie nicht. Das ist eigentlich auch noch kein Fehler, aber sie umgab sich mit Speichelleckern und Parasiten, die ihre Dummheit nicht ausglichen, sondern diese noch in den Himmel hoben“, erklärte Max und lächelte dabei gehässig.
„Das versteh ich nicht ganz. Du bist doch nach wie vor nicht an Raphael und Dominik herangekommen“, äußerte ich meine Zweifel.
„Auch wieder ein Ja und ein Nein. Ich hatte vor einer gewissen Zeit schon Mikael bei Euch eingeschmuggelt und wusste über vieles Bescheid. Es gab auch ein paar Sachen, bei denen er in meinem Interesse eingegriffen hat. Wozu ich mich lange nicht durchringen konnte, war die direkte Kontaktaufnahme zu Euch beiden. Und vor ungefähr vier Jahren gab sie es auf, mich zu ignorieren und wurde direkt aktiv. Sie installierte in dem Seniorenstift eine Art Überwachungssystem. Und sie drohte mir unverhohlen. Da bei diesen Drohungen immer unterschwellig die Botschaft ausgesandt wurde, dass sie die Familie fest im Griff hatte und somit tun und lassen könne, wie es ihr gefällt, habe ich mich in Geduld geübt und nur auf den einen Tag hingearbeitet.“
„Meinen 18. Geburtstag“, murmelte Raphael leise.
„Ja. Leider ist sie dann zu einem Zeitpunkt aktiv geworden, als Mikael mir gerade Bericht erstattete und seinen freien Tag hatte. Und sie ließ Dich verschwinden und ich habe wirklich eine ziemliche Zeit gebraucht, überhaupt den Hauch einer Spur zu finden. Zudem war Dein Freund auch sehr aktiv und räumte einen Felsbrocken nach dem anderen weg. Kurz und knapp, es wurde allgemein gefährlich.“
„Gefährlich?“, sah ich ihn verwirrt an.
„Ja Jean. Ich glaube, Du ahnst nicht einmal, welche Macht diese Frau ausüben kann. Ein kleiner Vorgeschmack war Dein Aufenthalt auf dem Polizeirevier, und wenn ich nicht eingegriffen hätte, wärst Du dort einige Zeit geblieben.“
„Oh, Du warst das also.“
„Tja und dann fing sie an, ihren Einfluss zu überschätzen. Sie kam zu mir und drohte mir offen. Das war einen Tag, nachdem Du bei mir warst, Jean. Bis dahin hatte ich nur versteckt meine Fühler ausgestreckt und versucht, Raphael zu finden. Danach gab ich meine Isolation auf und wurde aktiv.“
„Aber Du standest noch immer unter ihrer Überwachung?“, hakte mein Kleiner ein.
„Friedrich?“, wandte sich Maximilian an den Konsul, der sich mittlerweile zu uns gesellt hatte.
„Man soll alte Männer nicht unterschätzen, vor allem keinen van Dahlen“, grinste dieser in die Runde.
„Das Seniorenstift ist eine kleine Investition unserer Firmengruppe und gehört uns zu 100%. Die Überwachungskräfte befanden sich einen Tag nach dem Erscheinen ihrer Chefin auf der Straße und wir schotteten einen Bereich, den es auch schon vorher gegeben hatte, nun ganz für uns ab. Von dort stifteten wir dann ein wenig Unruhe in der oberen Gesellschaft Frankfurts und Frau van Dahlen musste viele Veranstaltungen besuchen und geben, um ihren Ruf aufrecht zu erhalten. Das waren aber alles nur Ablenkungsmanöver auf unserer Suche und vor ca. zwei Wochen hat Max dann beschlossen, dass wir alle zusammen nach seinem Urenkel suchen sollten. Den Rest kennt Ihr ja“, gab uns der Konsul eine kurze Erklärung.
Schweigend widmete sich Raphael seinem Frühstück. Soweit kannte ich ihn schon, dass ich die Zahnräder in seinem Kopf rotieren sah. Aber ich war nicht der Einzige, der seine Augen auf ihn gerichtet hatte – eigentlich starrten ihn alle an. Nein nicht alle, einer löffelte ebenfalls seelenruhig sein Müsli, Dominik. Als er meinen Blick spürte, schaute er kurz auf und lächelte leicht. Raphael nahm einen großen Schluck von dem Saft und lehnte sich zufrieden zurück.
„Und was machen wir nun?“, fragte er in die Runde. Soviel zum Thema, wir hätten hier was zu klären. Im Moment wurde ich nicht schlau aus meinem Kleinen und sein kleines, vergnügliches Grinsen passte auch nicht so recht zu seiner Frage.
„Die Frage ist vielmehr ‚Was willst DU machen?!‘“, hörte ich den Senator sagen. Dessen Blick schien Raphael regelrecht zu durchbohren und dann stahl sich auch ein kleines Lächeln in sein Gesicht.
„Fast wäre ich dem nächsten van Dahlen auf den Leim gegangen“, grummelte der Konsul, der mir schräg gegenüber saß. Ich verstand zurzeit nur Bahnhof.
„Raph, spuck es schon aus. Der Einzige, der hier ziemlich belämmert aus der Wäsche schaut, ist Dein Freund“, griente Dominik mich an.
„Oh, das muss ich umgehend wieder gut machen“, murmelte er und beugte sich zu mir herüber. Ich bekam einen Kuss, der so liebevoll, aber auch stürmisch war, dass mir Hören und Sehen verging. Kaum löste er sich von meinen Lippen, lief ich auch schon knallrot an, denn diese öffentlichen Zuneigungen war ich noch nicht gewöhnt, und ich schämte mich ein wenig. Trotz allem ließ ich meine Zunge verträumt über meine heißen Lippen streichen.
„Gut, Dominik und ich hatten gestern noch eine ziemlich rege Diskussion“, fing Raphael leise an und tat so, als wäre das eben die normalste Sache der Welt gewesen. Und dann fühlte ich, wie sich seine linke Hand in meine rechte stahl und sich unsere Finger ineinander verschlangen.
„Danach habe ich die halbe Nacht wach gelegen und ein paar persönliche Entscheidungen gefällt“, fuhr er fort, um nach diesem Satz eine kleine Pause zu machen.
„Mein Entschluss steht jetzt fest. Ich werde mir von dieser Familie, die wohl meine sein sollte, nicht mein Leben bestimmen lassen und ab sofort so leben, wie ich es will!“ Seine Stimme hatte einen entschlossenen Klang angenommen und seine Finger umschlossen meine sehr fest. Ich hatte den Senator beobachtet, aber in seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Mehr schien Raphael nicht zu sagen zu haben, denn nach dieser Aussage schwieg er.
„Und?“, fragte Maximilian nach einer Weile vorsichtig.
„Was und?“, entgegnete Raphael. Mir war so, als würde ein Schatten der Enttäuschung über das Gesicht seines Urgroßvaters huschen.
„Aaaach, Du möchtest wissen, wie ich dieses Leben in der Zukunft gestalte?“, schob er dann noch hinterher und ein wahrhaft diabolisches Lächeln zierte seine Lippen.
„Raphael, spiel nicht mit mir“, knurrte der Senator und sein Blick lag lauernd auf seinem Urenkel. Mit einem Male durchfuhr es mich.
‚Hier ging es nicht nur um Raphael und mich. Nein, es ging um den Fortbestand dieser Familie!‘ Ein kurzes Zittern überfiel mich und meine Finger wurden kalt, eiskalt. Raphael wollte gerade ansetzen zu einer Erklärung, aber er spürte meine Reaktion. Beruhigend strich sein Daumen über meinen Handrücken und er rutschte noch näher zu mir heran.
„Ja mein lieber Urgroßvater, meine Entscheidung bringt der Familie und ihrer glorreichen Tradition einen riesigen Rückschlag, wenn nicht sogar das Aus!“, hörte ich meinen Kleinen. Sehr zu überraschen schien den Senator diese Ankündigung nicht.
„Stellen wir einfach mal nur Fakten fest. Dominik möchte die Familiengeschäfte nicht führen. Er hält das für eine zu große Belastung und ich werde seine Entscheidung nicht in Frage stellen. Nein, eher werde ich ihn mit allen Mitteln dabei unterstützen. Ich habe mich lange genug verstellt, um die Last einer falschen Entscheidung zu verstehen. Ich selbst hätte eventuell die nötigen Qualitäten, die von einem so genannten Familienoberhaupt erwartet werden, aber…“, erklärte Raphael den Anwesenden und machte dann eine dramatische Pause.
„…ich bin blind! Dieser Umstand verschafft mir einen nicht wieder auszugleichenden Nachteil in der Geschäftswelt und für mich jedoch aber viel entscheidender, ich bin schwul!“
Die Augen von Maximilian weiteten sich kurz, so als wenn er das Ausmaß der Erklärung von Raphael jetzt erst im vollen Umfang verstand.
„Das hast Du also mit ‚So leben, wie Du es willst‘ gemeint“, murmelte er dann und ein Hauch Resignation war zu hören.
„Ich werde nie irgendwelche eigenen Nachkommen haben, Maximilian. Somit befinden wir uns in der Sackgasse!“
„Ich habe irgendwie das dumme Gefühl, Dein Urenkel ist noch nicht fertig, Max“, hörte ich dann den Konsul sagen. Verwundert sah dieser Raphael an, die Enttäuschung, die ich in seinen Augen sah, tat mir weh.
„Nein, bin ich wirklich nicht. Eigentlich hatte ich ehrlich vor, mit dieser Familie endgültig zu brechen, als ich in einem lichten Moment hier begriff, was und vor allem warum man mir das antat. Aber Maximilian, Du hast mir die letzten Tage eine Welt gezeigt, die ich so noch nicht kennengelernt habe. Deshalb haben Dom und ich gestern einen vagen Plan geschmiedet, der uns vielleicht einen Weg aus dieser Sackgasse zeigt“, antwortete Raphael auf die versteckte Frage Friedrichs. Max Augen nahmen etwas Glanz an und schauten erwartungsvoll erst zu Dominik und dann zu Raphael.
„Wir müssen über kurz oder lang diese Traditionen der Familie brechen, aber zuerst möchte ich eigentlich nur das Testament meines Großvaters befolgen…“, lächelte Raphael bei den Worten geheimnisvoll. Die Spannung war fast unerträglich.
„Na ja, die Rede war doch davon, dass ‚Nach der Vollendung des 18. Lebensjahres beider Anspruchberechtigten, in diesem Falle Dominik Jonathan van Dahlen und Raphael Maximilian van Dahlen, handeln beide gleichberechtigt und führen zu gleichen Teilen alle geschäftlichen Bereiche. ‘“, zitierte mein Kleiner den Passus aus seinem Gedächtnis.
„Man bin ich verbohrt“, grummelte der Senator mürrisch, aber seine Augen sprachen eine andere Sprache.
„Na ja, eigentlich war ich es ja auch“, gab Raphael zu. Verwundert schaute Max ihn an.
„Aber als Dom gestern Abend sagte, er würde die Firma nie alleine führen wollen, fiel der Groschen bei mir. Wir haben uns immer schon gut ergänzt, also könnte man es auch in diesem Bereich mal probieren und vielleicht wäre dann auch irgendwann das Problem mit dem Nachwuchs aus der Welt“, folgte die Erklärung von Raphael.
„Gott sei Dank“, entfuhr es Maximilian erleichtert.
„Moment.“
„Ja?“, kam es von Max vorsichtig.
„An diese Entscheidung sind Bedingungen geknüpft!“
„Und die wären?“
„Jetzt kommst Du ins Spiel. Wir beide sind noch nicht einmal annähernd darauf vorbereitet, was uns geschäftlich, gesellschaftlich und familiär erwartet. Deshalb möchten wir, dass Du das in die Hand nimmst.“
„Ich soll Eure Erziehung übernehmen?“, fragte Maximilian verdutzt.
„Ja“, kam es einstimmig von den beiden Brüdern.
„Da ist Hopfen und Malz verloren“, knurrte Maximilian, aber seine Augen blitzen vergnügt. Leider nahm mein Kleiner das nicht so locker auf, und seine Finger verkrampften sich. Ich beugte mich zu ihm hinüber und flüsterte ihm zu.
„Er revanchiert sich für Deine theatralische Aufführung von vorhin“, beruhigte ich ihn.
„Spielverderber“, grummelte der Senator.
„Aber da wäre noch was…“, fuhr Raphael fort und zögerte kurz.
„Wir möchten Dich bitten, die Geschäfte erst einmal zu übernehmen, damit wir uns in Ruhe auf die Aufgabe vorbereiten können und…“, wieder brach er ab.
„…ich zu mir selbst finde“, hörte ich ihn ganz leise ergänzen. Maximilians Blick ruhte auf seinem Urenkel und ich habe selten solche Zuneigung gesehen.
„Keine Sorge, Raphael, Du bist auf dem richtigen Weg.“
„Man, Ihr versucht, mir wirklich eine große Bürde aufzuladen. Aber ich wäre bescheuert, wenn ich diese Aufgabe nicht annehmen würde“, kam dann die Antwort auf Raphaels Vorschlag. Dominiks Hand hatte die andere Hand Raphaels ergriffen und er drückte sie kurz.
„Spontan hätte ich da aber den einen oder anderen Verbesserungsvorschlag“, fuhr Max dann fort.
„Zuerst einmal kümmern wir uns darum, dass diese schottische Bergziege von der Spitze der Familie verschwindet. Weiterhin würde ich die Führung der Firma schon gerne in den Händen Eurer Eltern lassen, denn vor allem Eure Mutter hat das Zeug dazu. Wenn sie nicht mehr gegängelt werden und sich frei entfalten können, läuft die Sache. Ich werde natürlich in Eurem Interesse ein Auge darauf halten, wobei Ihr aber Eure ersten Schritte in meinen Unternehmen gehen werdet, nicht bei Euren Eltern. Und schlussendlich wäre es mir am liebsten, wenn Ihr beide bei den folgenden Auseinandersetzungen aus der direkten Schusslinie wärt. Die nächsten Wochen könnten sehr anstrengend und unschön werden, deshalb lassen wir das lieber die Anwälte machen.“
„Darüber muss ich nachdenken“, murmelte Raphael. Plötzlich stand er auf und pfiff leise nach Hondo. Dominik kannte seinen Bruder sehr gut, denn er hatte das Hundegeschirr für den Hund schon bereit gelegt. Nachdem er es Hondo angelegt hatte, setzte er sich jedoch wieder auf seinen Platz und auf meinen fragenden Blick zuckte er nur kurz mit den Schultern. Raphael griff nach dem Geschirr und schlenderte langsam los. An der Tür hielt er kurz inne und fragte tief in Gedanken.
„Jean, würdest Du mich bitte begleiten?“ Da ich nicht sofort reagierte, drehte er sich uns ganz zu.
„Jean?“, kam es nervös von Raphael.
„Ja, ich komme“, antwortete ich ihm schnell und sprang von meinem Platz auf. Natürlich war das da mein Freund, mehr oder weniger, aber dass dieser Jemand mich bat, ihm bei solch wichtigen Sachen nahe zu sein, war für mich doch sehr neu. Tim war etwas ganz anderes, überhaupt nicht mit dem hier zu vergleichen. Tim war mein zweites Ich, da wusste ich, wann ich was wie machen musste – instinktiv, aber Raphael? Sein Ansprechpartner war bisher immer Dominik, er war seine Art Tim.
So verwirrt schlenderte ich schweigend neben ihm her. Ich wusste ja nicht einmal, wie ich ein Gespräch in Gang bringen sollte.
„Bring mich bitte an einen ruhigen Ort“, hörte ich Raphael abwesend murmeln.
„Okay.“
Die Stadt hatte einen schönen Stadtpark, an dem wir schon ein paar Mal vorbeigefahren waren. Zum Glück lag dieser in der Nähe und ich führte uns dahin. Gemächlich schlenderten wir einmal quer durch ihn hindurch.
„Können wir uns irgendwo hinsetzen? Ich bin wohl noch nicht ganz so fit“, flüsterte er. Seine Worte veranlassten mich, ihn mir genauer anzuschauen. Kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und eine ungesunde Blässe zierte sein Gesicht.
„Raphael, wir sollten sofort zurück“, antwortete ich ihm und war ärgerlich mit mir selbst, dass ich es nicht eher gesehen hatte.
„Nein, bitte noch nicht, lass uns nur irgendwo Platz nehmen“, bat er mich. Mir gefiel auf Anhieb ein einzeln stehender Baum. Mein Kleiner setzte sich auf den Rasen und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen den Stamm. Er ließ Hondo frei, aber der spürte wohl, dass es seinem Herrchen nicht so besonders ging, und legte sich in unserer unmittelbaren Nähe hin. Keine Bewegung ließ er sich entgehen. Ich setzte mich Raphael gegenüber und hatte meinen Blick auch sorgenvoll auf ihn gerichtet.
„Keine Sorge, mir geht es gut. Mit Dir an meiner Seite sogar sehr gut“, lächelte er mir schwach zu. Da war es wieder.
‚Mit mir an seiner Seite.‘ Verdammt, wie sollte ich damit umgehen bzw. was sollte ich ihm raten. Raphael fing leise an zu lachen.
„Du fühlst Dich unwohl, nicht?“ Die Frage war keine.
„Ja“, gestand ich ihm.
„Kannst Du mir einen Gefallen tun?“, hörte ich ihn wispern.
„Welchen?“
„Leg Dein Kopf bitte in meinen Schoss“, bat er mich nervös. Ich hatte die Frage nach dem Warum schon auf den Lippen, zögerte aber dann. Irgendetwas sagte mir, dass ich es einfach machen sollte. So rutschte ich zu ihm und wurde mit jedem Zentimeter, den ich ihm näher kam, nervöser. Es war für mich nach wie vor etwas Außergewöhnliches, diesem Jungen so nahe zu sein. Sachte legte ich meinen Kopf auf seine Oberschenkel und schaute zu ihm hoch. Ein leichtes Lächeln stahl sich in sein Gesicht.
„Du fragst nicht nach dem Warum?“, murmelte er erstaunt.
„Mir erschien es einfach richtig“, gab ich unumwunden zu. Seine Finger wanderten leicht wie eine Feder über mein Gesicht. Diese Berührung ließ Schauer über meinen Körper wandern.
„Aber ich möchte es Dir erklären. Du hast es eben beim Frühstück auch erlebt. Für mich ist Schweigen meines Gesprächspartners das Schlimmste was es geben kann. Ich habe nur mein Gehör, um die Reaktionen meines Gegenübers einzuschätzen. Zugegebenermaßen habe ich all die Jahre gelernt, mehr als andere Menschen da herauszuhören. Aber mit Grimassen, Blinzeln und anderen Spielereien dieser Art kann ich nichts anfangen. Deshalb möchte ich gerne mit meinen Fingern Deine Reaktionen erfühlen, wenn ich darf und es Dir nicht unangenehm ist“, beantwortete er jetzt meine stumme Frage.
„Nein, es ist nicht unangenehm, eher das Gegenteil“, antwortete ich und ein nervöses Lächeln zierte mein Gesicht, welches er spüren konnte.
„Danke und glaub mir, es geht mir ähnlich“, murmelte er und ich sah eine sachte Röte auf seinen Wangen. Schweigen breitete sich über uns und seine Finger wanderten über jede Einzelheit meines Gesichtes. Die Schauer jagten in immer kürzeren Rhythmen über meinen Körper, mein Magen grummelte und mein Herz pochte mit jeder verstrichenen Minute schneller.
„Weißt Du, ich fühle es regelrecht, wie Du mich manchmal mit Deinen Augen verschlingst. Auch wenn ich das Wort Schönheit visuell nicht einordnen kann, weiß ich durch meinen Bruder und Reaktionen von Bekannten, dass ich recht gut aussehen muss. Bloß, was ist schwarz, was ist blond, was sind grüne Augen, was ist helle Haut – das hat alles keinen Sinn für mich. Nur was meine Finger hier erfühlen, ist für mich mein Traum. Eine schlanke kleine Nase, volle Lippen, zwei ganz kleine Grübchen, wenn Du lachst, lange weiche Wimpern, ein zarte reine Haut, seidenes volles Haar und…“, unterbrach er seinen Vortrag und grinste schelmisch.
„…und?“
„Zur Zeit gerade eine ziemlich gute Durchblutung“, feixte er. Und das war ja auch kein Wunder, denn bei seiner Beschreibung war mit das Blut in den Kopf gestiegen. Was nun aber auch wieder gut war, so konnte es an anderer Stelle kein Unheil anrichten.
„Und das ist ja nur der Anfang oder das oberste Stück von meiner Jeanny, was ich bisher kennen lernen durfte“, schob er noch süffisant hinterher. Für diese Bemerkung rächte ich mich, in dem ich sacht in seine Finger biss, als sie mal wieder über meinen Mund wanderten.
„He“, entfuhr es ihm entrüstet.
„Jean, bitte versprich mir, mich nie anzuschweigen. Wenn Dir etwas nicht gefällt, sag es mir oder mach Dich auf andere Weise bemerkbar, aber bitte nutze meine Blindheit nicht aus.“
„Das schwöre ich Dir. Und da es mir noch ungewohnt ist, erinnere mich dran, wenn es Dir doch so vorkommt“, antwortete ich ihm.
„Danke und wir bekommen das schon gemeinsam hin“, kam es von ihm und er lehnte seinen Kopf an den Stamm. Von unten konnte ich sein Profil betrachten – ich sah nichts, was mir nicht gefiel. Raphael schien in tiefen Grübeleien versunken.
„Jean?“
„Ja?“
„Sind wir ein Paar?“ Die Frage kam so unerwartet und wie aus dem Nichts, dass ich zusammenzuckte.
„Sorry“, hörte ich ihn leise.
„Nein, warte…“, hauchte ich und versuchte meine Gedanken zu sammeln.
„Raphael, was ist ein Paar? Ich war noch nie mit jemand so richtig zusammen. Ich weiß nicht, wie das ist, wenn man morgens neben einer anderen Person aufwacht, wenn man alles teilt oder sich streitet und dann wieder verzeiht. Von all dem habe ich nur gehört und gelesen“, fuhr ich fort.
„Aber wenn es bedeutet, ein Paar zu sein, weil ich mich nach Dir verzehre, Deine Finger immer auf meiner Haut spüren will, in Deine herrlichen Augen versinken möchte, oder einfach nur in Deiner Nähe sein will – ja, dann sind wir in meinen Augen ein Paar, wenn es Dir auch so geht“, schloss ich meine Überlegungen.
„Meine Gedanken“, murmelte er fassungslos.
„Mein Kleiner, für mich ist das alles neu. Angefangen von Deiner Familie, Deinem Umfeld bis zu meiner Unsicherheit und Sprachlosigkeit, die mich immer mal wieder befällt, wenn ich mit Dir zusammen bin. Und wir hatten nun wer weiß keinen einfachen Start“, erinnerte ich mich und lachte kurz hart auf.
„Aber eins habe ich mittlerweile gelernt in all den Wochen. Ich genieße den Augenblick und freue mich, jetzt hier mit Dir zusammen zu sein. Und ich werde Dich nicht so schnell wieder hergeben, wenn Du mich denn willst“, spann ich den Faden weiter, aber während des letzten Satzes war die Spannung in mir stetig gewachsen.
„Wie kannst Du so etwas fragen?“, entfuhr es ihm entrüstet.
„Ich schwitze ständig wie die Hölle. Hab Angst, dass ich was Falsches sage und mein Magen grummelt wie ein Vulkan. Aber ich werd traurig, wenn ich Dich nicht mehr rieche und fühle mich verlassen, wenn ich Dich nicht mehr spüre. Du bist schon längst ein Bestandteil meines Lebens und dieser kann ruhig noch größer werden“, gestand er mir.
„Und was denkst Du von meiner Entscheidung?“, hörte ich ihn dann.
„Die Firma mit Deinen Bruder zu führen?“, fragte ich noch einmal nach.
„Ja, aber eher, dass wir um unser Erbe kämpfen wollen.“
„Hm“
„Moment bevor Du antwortest, will ich auch so fair sein und Dir die andere Seite zeigen. Wenn ich mich entschließen würde, mich von dieser ganzen Familiengeschichte loszusagen, hätte ich trotzdem mehr Geld, als wir beide und unsere Nachkommen, die wir nie haben werden, ausgeben könnten. Wir könnten hingehen, wohin wir wollen und ein sorgenfreies Leben führen.“
Das erste Mal bereitete mir der Gedanke an seinen Reichtum Unbehagen. Bisher hatte mich das nur am Rande betroffen, aber so langsam wurde ich hier in diese Welt aufgesogen. Ich hatte bisher noch keine Zeit, mich mit diesem Umstand so richtig zu beschäftigen, so dass mich seine Äußerung unvorbereitet traf.
„Jean?“, hörte ich ihn alarmierend.
„Wie reich bist Du?“, fragte ich zögernd.
„Unanständig reich“, murmelte er und mir kam es so vor, als ob er sich dessen schämte.
„Schämst Du Dich dessen?“, wollte ich dann auch wissen.
„Hm, eigentlich nicht. Es war einfach immer da. Ich weiß nicht, wie ich Dir das erklären soll. Geld bedeutet mir nichts. Ich renn aber auch nicht herum und schmeiß mit 500-Euronoten herum. Es ist vielmehr so, dass, wenn ich früher ein Anliegen hatte, wurde dieses erfüllt. Du hast ja mitbekommen, dass wir nichts zum Geburtstag geschenkt bekommen oder zu Weihnachten, das liegt nicht nur an der Gefühlskälte meiner Familie sondern auch daran, das es einfach nichts zu schenken gab. Ich kenne durchaus den Wert von Gegenständen und was das Leben so kostet, aber wenn man sich im Endeffekt doch alles leisten kann, was nützt mir dann das Wissen darüber?“
„Krass“, entfuhr es mir.
„Was ist das Teuerste, was Du Dir je geleistet hast?“, wollte Raphael wissen.
„Mein Computer“, kam es postwendend von mir.
„Ich habe über ein Jahr dafür gespart und war auf das Ding dann auch megastolz. Leider ist es nach einem Dreivierteljahr jetzt nicht mal mehr die Hälfte wert. Ich würde mir nie wieder so einen superteuren PC kaufen, nur weil er die neueste Generation Prozessoren beinhaltet.“
„Wir kommen wirklich aus sehr verschiedenen Welten. Kommst Du mit meinem Reichtum klar? Es wird nicht ausbleiben, dass Du mehr oder weniger davon profitierst“, hörte ich ihn flüstern und die Nervosität war greifbar.
„Raphael, ich weiß es nicht, weil ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht habe. Meine Familie ist nicht arm, aber verglichen mit Euch sind wir es doch. Es gab gewisse Dinge, die konnten wir uns nicht leisten und basta. Ich möchte auch nicht, dass Du mich nun mit Geld überschüttest und verstehe mich, wenn ich öfter mal nein sage. Ich will DICH und nicht Dein Geld, okay!“
Seine Finger glitten leicht zittrig wieder über mein Gesicht, als ob er meine Antwort erhofft aber nicht unbedingt erwartet hatte.
„So werden wir das wohl gemeinsam lernen müssen“, seufzte er. Seine Antwort passte jedoch nicht so richtig zu meiner Aussage. Irgendwie schien er tief in Gedanken versunken, so als wäre er schon bei dem nächsten Gedanken.
„Was lernen?“
„Wie“, schrak er aus seinen Grübeleien.
„Du sagtest, wir müssen das gemeinsam lernen“, erinnerte ich ihn.
„Ach so, den Umgang mit dem Geld. Ich werd es mir nicht nehmen lassen, Dir Geschenke zu machen, mein Großer. Zu irgendetwas muss das Zeug ja gut sein. Ich möchte Dich nicht kaufen, aber ab und an eine Freude bereiten, das wird mir armem Kerl doch erlaubt sein, oder?“, lächelte er mich von oben schelmisch an. Seine Finger wurden frecher und seine linke Hand wanderte von meinem Kinn über den Hals in meinen Ausschnitt. Dort streichelte er sanft über meine Haut. Von seinen Fingern breitete sich eine leichte Gänsehaut über meinen Oberkörper aus. Seine Streicheleinheiten waren so zart, fast nur wie ein leichter Windhauch. Ich schloss meine Augen und gab mich seinen Händen hin.
„Jean?“
Ein wenig öffnete ich meine Lider, so dass ich durch schmale Schlitze zu ihm hoch linsen konnte. Mir war, als hätte ich ein Hauch von Nervosität herausgehört.
„Ja?“
„Ich weiß, diese Frage kommt ziemlich früh, aber…“, fing er leise an. Nun war seine Unsicherheit regelrecht fühlbar. Meine Finger glitten zu seiner Hand unter meinem T-Shirt und ich drückte sie leicht.
„Würdest…, könntest Du Dir vorstellen, mit mir zu kommen?“
„Wohin?“
„Mit zu mir, da wo ich alles kenne, wo ich nicht so hilflos bin“, murmelte er.
Dieser Ausflug entwickelte sich zu viel mehr als ich angenommen hatte. Ich wollte ihm ja nur so eine Art moralischer Unterstützung sein und nun wälzten wir grundlegende Probleme. Ich spürte, dass Raphael sehnsüchtig auf eine Antwort wartete.
„Mein Kleiner, ich kann Dir diese Frage heute nicht beantworten. Lass mir ein wenig Zeit, bitte“, antwortete ich ihm leise.
„Natürlich“, hörte ich ihn und eine Spur Enttäuschung konnte er nicht zurückhalten.
„Raphael, Du bist mir wichtig und ich würde verdammt gerne viel mehr Zeit mit Dir verbringen, aber ich habe meine Familie und Freunde in Magdeburg, an denen mir viel liegt. Deshalb kann ich Dir jetzt hier keine unüberlegte Zusage geben, bevor ich nicht mit ihnen gesprochen habe“, versuchte ich ihm zu erklären.
„Tut mir leid“, flüsterte er und zog seine Hand zurück.
Waren wir gerade dabei, wieder eine Mauer zwischen uns zu errichten?
„Okay, lass uns zurück gehen“, sagte Raphael und stand langsam auf. Hondo war sofort neben ihm und er griff sich das Geschirr. Schweigend schlenderten wir zurück und ich empfand die Stille nicht angenehm. Kurz vor dem Hotel fiel mir noch was ein.
„Raphael?“
„Hm“, murmelte er.
„Ich bin Dir noch eine Antwort schuldig, auch wenn Du nicht so direkt gefragt hast.“
„Hä?“
„Egal, wie Du Dich entscheidest und was Du machst, ich stehe zu Dir und vertraue Dir!“
Mit einem kleinen, schüchternen Lächeln wandte sich er zu mir und hauchte ein „Danke“ in meine Richtung.
„Ähm“, druckste er dann herum und man sah ihm an, dass ihn noch etwas beschäftigte.
„Ja.“
„Entschuldige meine Reaktion vorhin. Ich möchte Dich nicht bedrängen oder zu etwas zwingen“, murmelte er verlegen und schob dann noch leise hinterher, „ich möchte Dich halt bei mir haben“.
‚Konnte es einen schöneren Beweis seiner Zuneigung geben?‘, durchfuhr es mich.
„Dann lass uns mal ein wenig Verwirrung stiften“, griente er mich an und angelte nach meiner Hand. Gemeinsam betraten wir wieder den Frühstückraum, in dem sich jetzt auch mein Zwilling eingefunden hatte.
„Was, Du bist schon aus dem Nest?“, grinste er mich frech an.
„Klar, ich hatte ja einen persönlichen Weckdienst“, feixte ich zurück. Tims Blick wanderte zu meinem Kleinen und er schluckte. Dieser beugte sich zu mir und flüsterte mir zu.
„Oller Schwindler.“
„Ich hoffe, Du hast kaltes Wasser genommen, Raphael“, grummelte mein Twin.
„Och nö, ich meinte nicht Raphael sondern die Sonnenstrahlen“, grinste ich Tim an. Als Antwort konnte ich seine Zunge beobachten und Raphael gluckste vergnügt neben mir. Jetzt zog ich ihn zu mir und knabberte an seinem Ohr, dabei murmelte ich ihm zu.
„Den liebsten Sonnenstrahl halte ich gerade in meinen Armen.“ Ich sah sehr wohl die leichte Röte, die in seinen Wangen stieg, bevor ich seine Lippen eroberte.
„Na dann ist ja alles klar und ich kann endlich in Ruhe frühstücken“, hörte ich Tim in meinem Rücken sagen. Raphael löste sich von meinen Lippen.
„Ich glaube, sie erwarten meine Antwort, so gern ich das hier auch weitertreiben würde“, flüsterte er mir zu. Nach diesen Worten löste er sich von mir und ich zog ihn zu unseren gemeinsamen Tisch hin.
„Ich glaube, Du kennst meine Entscheidung schon längst, oder lieber Urgroßvater?“, wandte sich Raphael an Maximilian.
„Bei Dir bin ich mir mit gar nichts sicher“, gestand der Senator.
„Grundsätzlich bin ich mit Deinen Vorschlägen einverstanden, aber eins möchte ich klarstellen. Der direkten Konfrontation mit Großmutter gehe ich nicht aus dem Wege, irgendwann wird sie eh kommen. Aber nun habe ich erst einmal ein anderes Anliegen.“
„Ich bin ganz Ohr“, sagte Maximilian.
„Hast Du Dir meine persönlichen Sachen aus der Klinik geben lassen?“
„Nein, Jean hat mich gestern nur auf die Kette aufmerksam gemacht und die hatte ein netter Pfleger in Sicherheit gebracht. Andere Sachen haben wir noch nicht ausgehändigt bekommen. Mikael?“, wandte sich Max an diesen.
„Nein, nichts. Der Herr Direktor steht nach wie vor auf dem Standpunkt, dass er seine Anweisungen von Frau van Dahlen bekommt.“
„Hm Max, Du hast da gestern so eine Anspielung gemacht“, hörte ich Raphael sagen.
„Ja?“
„Die Klinik gehört der Familie?“
„Ja.“
„Also bestimmen Dominik und ich nun, was mit den Besitztümern der Familie geschieht?“
„Ja.“
„Okay, dann wollen wir den Laden mal hops nehmen“, hörte ich meinen Kleinen mit eisiger Stimme sagen.
„Das ist eine …“, fing Maximilian an.
„Und über meine Entscheidung werde ich nicht diskutieren und will da jetzt auch hin, um meine Sachen zu bekommen.“ Minuten später saßen wir im Van und fuhren in Richtung der Klinik. An der Rezeption schien dann Schluss zu sein, denn wir kamen keinen Schritt weiter.
„Herr Maier ist nicht zu sprechen und ich möchte Sie bitten, die Klinik wieder zu verlassen“, wurden wir höflich, aber bestimmt aufgefordert.
„Ich glaube, Sie verkennen die Situation“, antwortete der Senator ernst.
„Wenn Sie nicht gehen, bin ich gezwungen die Polizei zu rufen, meine Herren“, wurde der Herr an der Rezeption nun lauter.
„Und glauben Sie mir, damit haben wir genügend Erfahrung“, schob er noch süffisant hinterher. Raphael war bisher ruhig geblieben und hatte die Verhandlungen Maximilian überlassen. Aber jetzt konnte er sich nicht weiter zurückhalten und schob sich nach vorne.
„Mister, Sie haben jetzt genau zwei Möglichkeiten. Erstens Sie informieren Herrn Maier, dass er sich umgehend hierher bewegen soll oder zweitens, Sie packen Ihre Siebensachen und verlassen sofort das Gebäude. Dafür gebe ich Ihnen genau fünf Minuten“, hörte ich ihn mit bebender Stimme sagen. Der Mund seines Gegenübers verzog sich zu einem höhnischen Grinsen.
„Sieh an, der ehemalige Patient möchte hier Anweisungen geben.“
„Wie kann man so strohdumm sein?“, murmelte Raphael leise, aber immer noch laut genug für alle Beteiligten. Aus der höhnischen wurde eine wutverzerrte Grimasse.
„Ach und die Polizei können Sie gerne rufen. Wir warten gerne so lange“, lächelte Raphael süffisant. Soviel Sturheit schien den Herrn doch ins Grübeln zu bringen und er wandte sich seinem Telefon zu. Nach ein paar Minuten erschien ein Pfleger wie aus dem Nichts und forderte uns auf, ihm zu folgen. Er führte uns in die zweite Etage und öffnete die Tür zu einer Art Besprechungs- oder Konferenzzimmer.
„Bitte warten Sie hier, Herr Maier kommt gleich.“ Ich führte Raphael zu einem Stuhl und gemeinsam ließen wir uns nieder. Nach ein paar Minuten öffnete sich die Tür an der Stirnseite und Herr Maier betrat den Raum. Dieser hatte wohl einen großen Teil seiner Selbstsicherheit wiedergefunden und lächelte uns unverbindlich an.
„Guten Tag meine Herren!“
„Sie scheinen meine Klinik ja liebgewonnen zu haben, da Sie wieder hier erscheinen. Na ja, Sie waren ja auch noch nicht geheilt“, wandte er sich an Raphael.
„Ich möchte nur meine persönlichen Sachen in Empfang nehmen“, hörte ich ihn tonlos antworten.
„Wenn wir mit Ihrer Therapie fertig sind, können Sie gerne Ihre Sachen in Empfang nehmen“, schwadronierte er weiter. Mein Blick war auf Raphael gerichtet. Seine Lippen waren zusammengepresst und seine Kinnmuskeln arbeiteten. Bisher hatte ich meinen Freund noch nicht wütend erlebt, aber das hier waren eindeutig ganz klare Anzeichen dafür. Und der Typ da war einfach blind und schaufelte sein Grab immer tiefer. Ich wusste nicht, was Raphael vorhatte, aber der Herr Maier kam nicht unbeschadet aus der Sache heraus.
„Ich habe auch schon mit Ihrer sehr ehrenhaften Frau Großmutter gesprochen und der Wiederaufnahme der Therapie steht nichts entgegen. Übrigens war sie sehr aufgebracht über Ihr eigenmächtiges Handeln“, redete er auf meinen Kleinen ein, so als hätte er einen kleinen Jungen vor sich.
„Was genau war noch mal Inhalt der Therapie?“, fragte Raphael gefährlich leise.
„Aber das haben wir doch schon so oft miteinander besprochen. Wir wollen hier gemeinsam Ihre kleine Verhaltensstörung in den Griff bekommen“, dozierte der Typ locker flockig weiter.
„Meinen Sie mit Verhaltensstörung etwa so was?“, hörte ich Raphael, spürte dann seine Hand in meinem Genick und wie er mich zu sich hinüber zog. Seine warmen Lippen eroberten im Nu meinen Mund und wir küssten uns leidenschaftlich. Nicht weit von uns entfernt hörte ich jemanden entsetzt aufkeuchen.
„Unterlassen Sie solche Abartigkeiten in meiner Klinik!“
Doch Raphael wollte sich gar nicht lösen von mir und seine Finger krallten sich in meine Haare. Ich nahm wohl zu Recht an, dass seine Erregung nun nicht sexueller Natur war. Mein Kleiner war stinksauer!
Sanft löste ich mich von Raphael und hauchte ihm ein „Gib’s ihm“ zu. Mit einem leichten Lächeln lehnte ich mich in meinen Stuhl zurück und mein Blick streifte einen wütenden Klinikdirektor Maier.
„Herr Maier, ich äußere nun noch einmal meinen Wunsch, meine persönlichen Sachen sofort in Empfang zu nehmen“, presste Raphael mühsam heraus. Herr Maier klappte eine Mappe auf, die auf einmal vor ihm auf den Tisch lag und die er wohl mitgebracht hatte.
„Herr van Dahlen“, wandte er sich an Maximilian und schenkte Raphael keine Beachtung mehr.
„Hier haben Sie eine Fotokopie einer Vollmacht, die Frau van Dahlen als Sorgeberechtigte für einen gewissen Raphael Maximilian van Dahlen ausweist. Und dazu lege ich Ihnen gleich eine Anweisung von Frau van Dahlen, die uns das Wohlergehen Ihres Enkels in unsere Hände legt“, schob er ein Blatt nach dem anderen siegessicher zum Senator hinüber.
„Sie verhandeln mit der falschen Person“, lächelte Maximilian Herrn Maier kalt an.
„Wie bitte?“, fragte dieser verwirrt.
„Und der Schlaueste scheinen Sie auch nicht zu sein!“, entgegnete der Senator. Und der Gesichtsausdruck des Direktors unterstrich die Bemerkung noch.
„Ich habe Ihnen doch schon vor ein paar Tagen erzählt, dass mein Urenkel das 18. Lebensjahr vor knapp vier Wochen erreicht hat. Somit haben er und sein Bruder nach einem notariellen Vertrag die volle Rechtsfähigkeit in der Firma van Dahlen erreicht und was das bedeutet, werden Sie nun wohl merken“, ließ sich Max noch einmal zu einer Erklärung herab.
„Können Sie nicht lesen? Diese Bestätigung sagt doch alles“, erwiderte Herr Maier und fuchtelte mit dem einen der zwei Blätter herum.
„Ich gebe Ihnen nun noch genau noch fünf Minuten, um mir meine persönlichen Sachen herauszugeben!“, fiel ihm Raphael mit schneidender Stimme ins Wort.
„Aber…“, fing Herr Maier an zu stottern.
„Nichts aber, ich habe es langsam satt mit einem Angestellten zu diskutieren und immer wieder und wieder dasselbe durchzukauen. Sie haben noch vier Minuten, ansonsten lasse ich hier alles auf den Kopf stellen“, schnitt ihm mein Kleiner wieder das Wort ab und seine Stimme war noch eine Spur kälter geworden.
„Mit… mit einem … ANGESTELLTEN?“, murmelte der Direktor fassungslos.
„Was erlauben Sie sich?“, fuhr er dann auf und nahm seinen ganzen Mut zusammen.
„Drei Minuten“, erwiderte Raphael emotionslos.
„Das ist eine renommierte Klinik für Suchtkrankheiten unter meiner Leitung und genießt einen hervorragenden Ruf“, regte sich der liebe Herr Maier immer mehr auf.
„Zwei Minuten“
„Sie unverschämter Bengel, ich werde jetzt Ihre Großmutter anrufen und die Sache ein für allemal klären.“
„Eine Minute“
„Gustav und Herbert, kommt rein. Die Herrschaften möchten gehen“, schrie der Direktor mit hochroten Kopf. Prompt öffnete sich die Tür hinter ihm und zwei sehr stattliche Pfleger betraten den Raum.
„Stopp. Sie geben hier gar keine Befehle mehr“, erwiderte Raphael umso ruhiger.
„Mikael, würden Sie bitte den Herr Maier in sein Büro begleiten. Dort kann er unter Ihrer Aufsicht innerhalb von zehn Minuten seine persönlichen Sachen zusammenpacken und dann geben Sie ihm noch einmal fünf Minuten, um Ihnen meine Sachen herauszugeben.“
„Waaaaaaaaaaas?“, schrie der Ex-Direktor mit hoher Stimme. Seine persönlichen Pfleger machten ein dummes Gesicht, aber bewegten sich weiter auf uns zu.
„Ach Mikael, sollten Sie zur Gewalt greifen müssen, weil meine Anordnungen nicht sofort und unmissverständlich ausgeführt werden, ist das in meinem Interesse“, wandte sich Raphael an unseren Begleiter.
„Sie haben 15 Minuten, das Gelände zu verlassen. Ansonsten werden wir den Anzeigen wegen Körperverletzung, Verletzung meiner Persönlichkeitsrechte und Anmaßung auch noch Hausfriedensbruch hinzufügen.“
„Wer…, was… sind Sie?“, stotterte Herr Maier nun sehr durcheinander.
„Der rechtmäßige Eigentümer dieser Klinik, was Ihnen mein Urgroßvater ja nun schon mehrmals versucht hat zu erklären.“
„Nein, nein…, Frau van Dahlen“, stammelte er.
„Auf das falsche Pferd gesetzt, sag ich da nur. Was Sie da in den Händen halten, wurde ohne meine Zustimmung und mein Wissen erlassen. Dies wird zu weiteren Konsequenzen führen. Sie auf jeden Fall sind entlassen, die Klinik wird geschlossen und in ein Kinderheim umgewandelt. Ein Zeugnis werde ich Ihnen nicht geben und die Polizei wird unweigerlich auf Sie zukommen, denn…“, leierte Raphael fast emotionslos herunter, nur bei den letzten Worten hatte er seine Stimme erhoben und fügte dann noch schneidend hinzu.
„…ich lass mir von keinem meine Liebe austherapieren und mich in meiner Freiheit beschränken.“
„Sie können doch nicht einfach eine der renommiertesten Entzugskliniken schließen“, murmelte Herr Maier fassungslos.
„Kann ich nicht?“, fragte Raphael süffisant.
„Sie haben keine Ahnung, was ich alles kann! Sie haben mich belogen und betrogen. Sie haben mir Medikamente verabreicht, deren Auswirkungen ich manchmal immer noch spüre. Sie haben mir die schlimmsten Stunden meines Lebens bereitet. Die Schließung dieses Horrorhauses ist für mich nur eine kleine Wiedergutmachung und Sie sollten sich über Ihre persönliche Zukunft mehr Sorgen machen, als über diese Klinik hier“, zählte Raphael eins nach dem anderen ruhig auf. In meinen Augen viel zu ruhig. Besorgt warf ich einem Blick auf meinen Schatz und schon wieder zierten kleine Schweißtropfen seine Stirn.
„Ach und im Übrigen bleiben Ihnen nur noch zwölf Minuten, um das Gelände zu verlassen. Und glauben Sie mir – Ich lasse Sie rauswerfen!“
„Mikael, bring ihn endlich weg und besorg mir meine Sachen“, kam es dann noch gepresst durch seine Lippen. Dieser führte einen sehr verstörten Herrn Maier aus dem Raum und seine zwei Bluthunde trollten sich ebenfalls.
„Raphael, was ist mit Dir“, fragte ich ihn besorgt.
„Lass mich“, fauchte er mich an und seine Hand glitt über seine rechte Schläfe. Es war offensichtlich, jedenfalls für mich, dass es ihm nicht gut ging, aber ich war zu verdutzt und auch etwas verletzt von seiner Zurückweisung. Mein Blick fiel auf Dominik, der leicht seinen Kopf schüttelte. Aber mir war das egal, wenn er mich nicht an sich heran ließ, konnte das nicht funktionieren.
„Wenn Du dann Deine Sachen hast, treffen wir uns am Auto wieder“, sagte ich bewusst kühl zu Raphael und stand auf. Maximilian sah mich verwundert an und schien mit meiner Entscheidung nicht so einverstanden, aber das traf auch noch auf jemand anderen zu.
„Jean, warte“, hörte ich ihn, war aber schon durch die Tür verschwunden. Eigentlich hatte ich die Flucht angetreten, denn nichts anderes war mein Abgang, weil ich ziemlich durcheinander war. Vor ein paar Stunden wollte er noch mit mir zusammen leben und nun ließ er mich bei einer Frage abblitzen. Aber auch noch etwas anderes machte mir zu schaffen. Eben hatte ich meinen Freund als einen knallharten Eigentümer kennen gelernt und meine Eltern hatten mich mit ein paar grundlegenden sozialen Kenntnissen aufgezogen. Tja und die Schließung dieser Klinik und somit die daraus folgende Kündigung aller Angestellten gehörte bestimmt nicht dazu.
‚Nein mein Kleiner, so kommen wir nicht ins Geschäft‘, murmelte ich vor mich hin. Ich brauchte jemanden zum Reden, denn mir schwirrte der Kopf. Tim war leider nicht mitgekommen und gerade jetzt fehlte er mir. So in Gedanken versunken, schlenderte ich durch den Park. Mein Blick wanderte immer mal wieder zum Eingangsportal und so bekam ich mit, als sie die Klinik verließen. Dominik hatte einen Karton in der Hand, in dem wohl die verlangten Sachen waren. Eigentlich hatte ich nur Augen für Raphael. Er ging flott voran und schien wieder ganz auf der Höhe zu sein. Kurz sprach er mit Dominik und kam dann zielgerichtet auf mich zu. Einige Schritte vor mir blieb er stehen.
„Jean?“, fragte er vorsichtig. Ich stand mit verschränkten Armen vor ihm und schwieg.
„Du hast es versprochen“, flüsterte er traurig.
„Ach ja? Ich soll Dich nicht anschweigen und was machst Du?“, stieß ich aufgebracht hervor.
„Jean, verzeih, aber mir geht es nicht so…“, murmelte er.
„Das ist mir gar nicht aufgefallen“, stieß ich sarkastisch hervor und er zuckte zusammen. Besänftigend schob ich hinterher: „Raphael, tut mir leid, aber so funktioniert das nicht. Mein Versprechen werde ich halten, aber das darf keine Einbahnstraße sein!“ Nach diesen Worten ging ich zum Van und ließ ihn zurück. Ein paar Minuten später kam er mir nach, setzte sich wortlos neben mich und tastete schüchtern nach meiner Hand. Allein diese Geste und die kleinen Stromstöße, die seine Berührung bei mir wieder auslösten, ließen mich alles andere verzeihen. Seine Finger spielten nachdenklich mit meinen. Die Fahrt verlief schweigend.
„Bringst Du mich bitte auf mein Zimmer“, bat mich Raphael, als wir am Hotel angekommen waren.
„Ja.“
An der Zimmertür löste ich meine Hand aus der Seinen und wandte mich dann zum Gehen.
„Bist Du auf mich sehr böse?“, hörte ich ihn flüstern.
„Nein, nur durcheinander. Aber wenn das zwischen uns funktionieren soll, dann musst Du mir vertrauen und nicht alles mit Dir selbst ausmachen. Ich bin Dein Freund und nicht Deine Familie! Und so ganz kann ich Deine Entscheidung in Bezug auf die Klinik nicht verstehen“, zählte ich ihm meine Überlegungen auf.
„Jean, dieses Haus konnte so nicht weiter bestehen. Das waren für mich Wochen des Horrors“, murmelte er und seine Stimme war schon wieder von Wut gekennzeichnet.
„Dann räche Dich an den Ärzten. aber lass nicht unschuldige Menschen, wie das gesamte Personal drunter leiden“, entgegnete ich ihm aufgebracht.
„Bin ich Dir denn gar nicht wichtig“, schluchzte er.
„Raphael, was soll das? Das meinst Du doch nicht ernst?“, fragte ich ihn fassungslos. Ich schnappte ihn mir und zog ihn zu mir heran. Vorsichtig drückte ich meine Lippen auf seinen Mund. Raphael umschlang mich so fest, als hätte er Angst, dass ich mich in Luft auflösen könnte.
„Mein Kleiner, ich liebe Dich. Nur macht mich diese Liebe Dir gegenüber nicht blind. Und ich werde nicht jede Entscheidung von Dir widerspruchslos abnicken. Und dass es Dir immer noch nicht gut geht, sehe ich sehr wohl und ich lass mich nicht mit einem ‚Lass mich‘ abspeisen.“
„Das ist alles so neu“, murmelte er leise.
„Denkst Du für mich nicht?“, fragte ich ihn und löste mich wieder von ihm.
„Möchtest Du meine Hilfsmittel sehen?“, hörte ich ihn neugierig fragen.
„Hilfsmittel?“, gab ich verblüfft zurück. In meinem Kopf schwirrten so viele Gedanken, dass ich nicht gleich den richtigen zu fassen bekam.
„Die Sachen aus der Klinik“, schob er als Erklärung hinterher.
„Ne, sorry Raphael, mir schwirrt zuviel im Kopf herum“, murmelte ich entschuldigend.
„Oh“, entfuhr es ihm und die Enttäuschung war deutlich zu hören.
„Okay, bis nachher“, flüsterte er und öffnete langsam die Tür.
„Bye“, antwortete ich und schlenderte in Gedanken den Gang entlang. Eigentlich hatte ich kein Ziel, wollte in Ruhe über einiges nachdenken, anderseits brauchte ich jemanden zum Reden. Nur diesen Jemanden fand ich in ein ernstes Gespräch mit Dominik vertieft und außer einem leichten Nicken schien Tim für etwas anderes keine Zeit zu haben. So fand ich mich Minuten später in meinem Hotelzimmer auf dem Bett liegend wieder. Meine Schritte hatten mich wohl automatisch hierher gelenkt und ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass über eine Stunde, seitdem ich mich von Raphael verabschiedet hatte, vergangen war. Ein Weilchen wälzte ich noch diverse Probleme in meinem Kopf hin und her, aber zum Schluss kam ich immer wieder an den einen Punkt.
‚Raphael schien zwei sehr unterschiedliche Seiten zu haben! Und ich kannte nicht einmal eine annähernd.‘ Seufzend erhob ich mich von dem Bett. Ich musste dringend mit meinem Zwilling reden. Unten in unserer Stammecke saßen nur der Senator und Dominik.
„Wisst Ihr, wo Tim ist?“, fragte ich beide.
„Der ist bei Raphael“, antwortete mir Dominik und tippte fleißig weiter auf seinem Notebook herum.
„Was?“, entfuhr es mir überrascht. Verwundert sah Dominik auf.
„Raphael wollte ihn sprechen vor…, Moment“, unterbrach er sich und sah auf seine Uhr, „ca. einer Stunde“.
„Oh“, murmelte ich.
„Setz Dich doch so lange zu uns“, forderte mich Maximilian auf.
„Nein danke“, sagte ich und stiefelte davon.
‚Was hatte das nun wieder zu bedeuten?‘, grübelte ich. Spürte ich sogar so etwas wie Eifersucht in mir aufkommen? Und vor allem, auf wen war ich weswegen eifersüchtig? Auf Raphael, weil er meinen Zwilling vereinnahmte? Oder doch eher auf Tim, weil er bei meinem Schatz war?
„Oh je, war das eine verzwickte Situation und vor allem, sie wurde von Minute zu Minute komplizierter“, grummelte ich vor mich hin. Warum musste ich immer über jeden und alles grübeln – konnte ich nicht einfach so vor mich hin leben?
War es vielleicht nicht die Sehnsucht nach einem lieben Menschen, sondern die Sehnsucht nach einem sorgenfreien Leben, was ich so verzweifelt suchte? Jetzt, wo ich diesen Menschen scheinbar gefunden hatte, stürmten immer neue Sachen auf mich ein.
„Jean?“, hörte ich jemanden in meinem Rücken fragen. Ich drehte mich um und sah meinen Zwilling mit einer sturmumwölkten Stirn.
„Komm mit“, forderte er mich unmissverständlich auf. Dass Tim sauer war, hatte ich schon bei der Nennung meines Namens mitbekommen, aber er schien wütend auf mich zu sein. Da ich ihm wohl zu langsam war, zog er mich an seiner Zimmertür in dieses hinein und schloss die Tür energisch. Dann schubste er mich in den Stuhl und baute sich vor mir auf.
„He“, war das einzige, was ich so schnell heraus brachte.
„Du vertrottelter Zwilling. Wenn ich Dich nicht so gut kennen würde, hättest Du Dir eine Tracht Prügel verdient!“, fuhr er mich an.
„Wie bitte?“, fragte ich entgeistert.
„Man Jean, hör endlich auf zu grübeln. Du sitzt die meiste Zeit nur da, um über etwas nachzudenken und mit Dir auszumachen, anstatt das anzunehmen, was Dir gerade geboten wird!“
„Ach ne“, fuhr ich ihn an, denn als ich mit IHM reden wollte, war ER ja nicht da.
„Da oben ist ein verdammt niedlicher Kerl, der Dich anhimmelt, und was machst Du?“, schwadronierte er weiter.
‚Hatte er eben niedlich gesagt?‘, flammte bei mir ein Gedanke auf und nährte ein wenig meine Eifersucht.
„Und was mache ich?“, fragte ich ihn dann herausfordernd und ziemlich laut. Tim sah mich nun seinerseits verblüfft an und ließ seinen Blick prüfend über mein Gesicht gleiten.
„Ach was weiß ich“, seufzte er und zuckte resigniert mit den Schultern.
„Tim, was machen wir hier eigentlich“, fragte ich ihn immer noch erregt.
„Eigentlich wollte ich Dir den Kopf waschen, aber natürlich hast Du schon wieder alles ‚durchgrübelt‘“, knurrte er. Grummelnd fing er an, vor mir auf und ab zu laufen.
„Tim?“, sprach ich ihn leise an.
„Pff“, war seine ganze Antwort und seine Augen, die mich ab und an streiften, blitzten immer noch. Irgendetwas war vorgefallen in der letzten Stunde.
„Ich wollte eh mit Dir reden. Also wasch mir den Kopf und ich werde nur zuhören, versprochen“, versuchte ich es noch einmal. Tim blieb stehen und musterte mich eine Weile.
Mit einen Seufzen setzte sich Tim auf sein Bett und ich sah neben seinem Ärger etwas Neues in seinem Gesicht.
Verzweiflung?
„Ach Jean, das ist alles so verwirrend und …“, murmelte er leise und wandte seine Augen ab.
„Und was?“, bohrte ich nach.
„Irgendwie… habe ich… Angst“, flüsterte er ganz leise und seine strahlend blauen Augen schimmerten feucht, als er mich wieder ansah. Wie vom Donner gerührt saß ich auf dem Stuhl und begriff den Sinn seiner Worte nicht.
„Angst?“
„Aber warum?“, stotterte ich.
„Dich zu verlieren“, diese Worte waren nur ein Hauch.
Wumm!
Erschrocken sah ich ihn an. Seine Worte passten nicht zu seinem wütenden Gesichtsausdruck nur Minuten vorher.
„Moment, Tim. Nun mal der Reihenfolge nach“, versuchte ich meine Fassung wiederzufinden und aus meinem Zwilling ein paar sinnvolle Sätze herauszubekommen.
„Vielleicht stauchst Du mich erst einmal zusammen“, forderte ich ihn auf. Meine Worte waren nicht nur als Ablenkung für Tim gedacht, nein auch für mich sollten sie eine Art Beruhigung darstellen.
„Okay“, hörte ich ihn schniefen und mit einer grimmigen Miene wandte er sich mir wieder zu.
„Weißt Du eigentlich, wie durcheinander Raphael da oben ist?“, fragte er mich.
„Nein, aber das trifft nicht nur auf ihn zu“, gab ich zu.
„Ich hatte ein Gespräch mit Dominik und eine Aussprache mit Raphael, tja und da ist mir so einiges klar geworden“, fing Tim an und zum Schluss wandte er seinen Blick ab und knetete nervös seine Finger.
„Aussprache?“, hakte ich nach.
„Ja, er hat sich entschuldigt und klar Schiff gemacht“, murmelte Tim nervös.
„Aber bevor ich dazu komme, muss ich was von Dominik berichten“, sagte er und seine Stimme gewann wieder an Kraft.
„Dominik erkennt seinen Bruder kaum wieder und das macht ihm schwer zu schaffen.“
„Ähm“, brachte ich meine Verwunderung wortgewandt zum Ausdruck.
„Das was Dominik früher erzählt hat und auch der Senator so meinte, war nicht übertrieben, das war die pure Wahrheit. Raphael ist der harte Hund von den Brüdern und gibt immer schon den Ton an. Gefühle hat er früher ganz selten gezeigt und die einzige Schwachstelle, seine Homosexualität, wusste er ganz tief zu verbergen. Dominik hat mir Auseinandersetzungen zwischen seinem Bruder und der Großmutter geschildert, da lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Dein Schatz ist knallhart und weiß sich sehr gut durchzusetzen.“
„Aber…“, wandte ich ein. Tim hob abwehrend die Hand.
„Warte bitte. Laut Dominik begann eine Wandlung Raphaels, als er Dich kennen lernte und seit dem Wochenende, an dem er bei Dir war, wurde es auch für andere fühlbar. Seine Großmutter nutzte es sofort hemmungslos aus und ließ die beiden noch mehr spüren, wie abhängig sie vom Wohlwollen des Familienoberhauptes waren. Und seitdem wir hier sind, erkennt Dominik seinen Bruder nicht mehr wieder. Gestern bei ihrem Vier-Augen-Gespräch war er wieder ganz der Alte und kompromisslos in seinen Entscheidungen, aber sobald er mit Dir zusammen ist, ist er anders.“
„Anders?“, warf ich fragend ein. Tims Ausführungen verwirrten mich, sie waren so unlogisch – anderseits fügte sich jetzt eins ins andere.
„Er zeigt Gefühle und damit eine Art Schwäche, die er sich bisher nicht hat anmerken lassen. Dominik glaubt, dass jetzt erst der wahre Raphael so langsam aber sicher an die Oberfläche kommt. Er weiß aber nicht, ob das gut oder schlecht ist. Tja und danach wollte mich Dein Schatz selbst sprechen. Er machte einen sehr verstörten Eindruck, woran Du wohl einen ziemlich großen Anteil hast“, fuhr Tim streng fort.
„Zuerst einmal hat er sich entschuldigt, dass er heute Morgen ohne meine Anwesenheit gewisse Dinge bekannt gegeben hat. Und er hat mir…“, Tim stockte kurz und räusperte sich dann „ …seine Eifersucht auf mich gestanden.“
„Was?“, entfuhr es mir.
„Jean, ich hab selten so jemand erlebt, der so offen zu mir aber der auch so verzweifelt war. Was ist passiert?“, fragte mich mein Zwilling dann.
„Nein, Moment mal – nicht ablenken. Was hat er Dir gestanden?“, wiederholte ich meine Frage und versuchte Klarheit in meine Gedanken zu bekommen.
„Das er mich beneidet, weil ich Dich verstehe. Dass ich Dir um so viel näher bin als er und dass Du mich liebst, mir vertraust und mir immer nachtrauern wirst“, offenbarte mir Tim schonungslos. Auch wenn die Worte leise gesprochen waren, schlugen sie ohrenbetäubend laut in meinem Kopf ein. Fassungslos sah ich meinen Zwilling an.
„Das da oben in seinem Zimmer war kein knallharter Junge, sondern ein zutiefst erschütterter. Und je länger er mit mir redete, desto bewusster wurde mir, wie gut ihr beide zueinander passt…“, redete Tim weiter, um dann leise abzubrechen. Schweigend sahen wir uns an.
Raphael hatte Tim all das an den Kopf geworfen, was ich dachte, hinter mir gelassen zu haben. Stockend fing ich Tim von den Ereignissen und Gesprächen des heutigen Tages zu erzählen und vor allem von meinen Gedanken.
„Also werde ich Dich doch verlieren“, waren Tims Worte nach meinem Vortrag. Erschrocken sah ich ihn an.
„Du hast Dich doch schon entschieden, mein kleiner schwuler Twin“, lächelte er mich schief an.
„Nein, habe ich mich nicht“, widersprach ich ihm energisch.
„Jean, Dein Platz ist bei Raphael. Hilf ihm, sich selbst zu finden. Ich kenne ihn bei weitem nicht so gut wie Du, aber das, was ich kenne, lässt die Eifersucht in mir schon ein wenig brodeln, denn er bekommt das, was mir verwehrt sein wird“, gestand er mir und ich wollte ihn schon wieder energisch unterbrechen.
„Nein Jean, es ist in Ordnung so. Wir werden immer Brüder bleiben, aber die Erfüllung findest Du nur an seiner Seite. Es wird ein harter Kampf, denn ihr habt beide einen ungeheuren Dickschädel. Du musst nur ab und an über Deinen Schatten springen.“
„Nur welcher Raphael ist der Richtige“, murmelte ich niedergeschlagen.
„Das wird wohl immer eine Gratwanderung für ihn sein, denn ich glaube, dass er sich bei Dir nur so geben kann, wie er im Innersten fühlt, aber dass sein van Dahlen Gen auch sein Recht verlangt. Du musst Dich beiden Seiten stellen.“ Seine Antwort zauberte bei mir nun doch ein kleines Lächeln zu Tage.
„Was?“, brubbelte er dann auch gleich argwöhnisch.
„Ich frag mich gerade, wer hier wohl der Grübler ist“, griente ich ihn an.
„Arsch.“
„Ja, ein sehr knackiger.“
„Das flache Ding“, kam sein Konter und wir grinsten uns an.
„Danke, Tim“, murmelte ich.
„Irgendwie glaube ich, dass Du das eh schon alles gewusst bzw. geahnt hast. Du wolltest es nur noch einmal hören“, bestätigte er meine innersten Vermutungen.
„Und jetzt schwirr ab zu Deinem Kleinen und schlagt Euch die Köpfe ein“, grinste er mich aufmunternd an. Minuten später stand ich vor Raphaels Tür und klopfte leise. Ich bekam keine Antwort und Mikael, der schräg hinter mir saß, zuckte nur mit den Schultern. Leise öffnete ich mit seiner Hilfe die Tür und sah Raphael auf seinem Bett liegen. Vorsichtig schloss ich die Tür und trat an sein Bett. Mein Kleiner lag auf der Seite, eine schwarze Locke hing in sein Gesicht, sein T-Shirt hatte sich nach oben verschoben und gab ein wenig Haut preis. Lautlos setzte ich mich auf den Stuhl, auf welchem ich auch die Tage zuvor seinen Schlaf bewacht hatte, und musterte ihn. Seine Atmung ging ruhig – er schien fest zu schlafen. Und wieder stellte ich einmal fest, dass ich mich an diesem Jungen nicht satt sehen konnte. Ständig sah ich was Neues und saugte dies in mich auf.
„Verzeih mir, mein Großer“, flüsterte er mit fast unhörbarer Stimme und ich fuhr erschrocken zusammen.
„Du kleiner Schleicher“, murmelte ich gespielt böse. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schelmischen Grinsen.
„Wir haben beide einen Dickschädel und das war wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal, dass wir uns die Meinung geigen, aber Du bist mir viel zu wichtig, als dass ich Dich durch einen Streit verlieren möchte“, gestand ich ihm.
„Ich will Dich nicht verlieren, aber zur Zeit ist es nicht einfach für mich, zu mir selbst zu finden“, flüsterte er wieder ganz leise. Langsam erhob er sich und setzte sich mir gegenüber auf sein Bett. Seine Hände angelten nach meinen und seine langen Finger verschlangen sich mit den meinen.
„Jean?“
„Ja?“
„Ich würde Dich …“, fing er leise an, musste dann jedoch schlucken, als würde ein großer Kloß in seinem Hals stecken. Er öffnete seine Augen und seine grünen Augen strahlten mich an.
„…darf ich für eine Weile zu Dir kommen?“
„Zu mir“, fragte ich verwirrt.
„Wenn wir hier wegfahren, möchte ich gerne die nächste Zeit bei Dir zu Hause sein“, murmelte er schüchtern.
„Oh.“ Diese Bitte, die mich wie aus dem Nichts traf, machte mich sprachlos. Als der Sinn seiner Worte endlich bis zu meinem Hirn vorgedrungen war, schrie alles in mir „Ja“. Sein fragendes, nervöses Gesicht zeigte mir jedoch, dass er immer noch auf eine Antwort wartete und sich dieser nicht sicher war.
„Mein Kleiner, wie kannst Du so was fragen?“, flüsterte ich bewegt.
„Ich muss natürlich erst mit meinen Eltern reden, aber die hast Du ja eh um den Finger gewickelt. Das ist der Hammer, jedoch …“, zeigte ich ihm meine unbändige Freude, nur fiel mir etwas aus den letzten Stunden ein. Sein schelmisches Grinsen wegen meinen Eltern verblasste sofort wieder, als er meine Einschränkung hörte.
„Jedoch?“, fragte er vorsichtig.
„Wirst Du Dich denn bei mir wohl fühlen? Da ist alles neu für Dich, Du kennst die Umgebung nicht“, murmelte ich skeptisch. Meine Antwort schien ihn zu erleichtern, denn er lachte befreit auf.
„Dann müssen wir beide lernen. Ich will Dein Zuhause, Dein Umfeld kennenlernen und Du musst lernen, mit meiner Blindheit umzugehen.“
„Okay, ich muss sofort telefonieren“, entfuhr es mir aufgeregt. Raphael die nächste Zeit bei mir zu Hause, ich mochte mir gar nicht die Auswirkungen auf meine Gefühlswelten ausmalen. Heute früh wollte er mich noch zu sich lotsen und nun vertraute er sich mir an – Wahnsinn. Schnell hatte ich mein Handy gezückt. Meinen Vater hatte ich innerhalb von Sekunden am Ohr.
„Hey Vati.“
„Ach der verlorene Sohn meldet sich mal“, brubbelte er ins Telefon. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn ich hatte mich die letzten Tage nur einmal bei ihnen gemeldet.
„Entschuldige, aber es ging hier etwas drunter und drüber.“
„Ach.“
Ich hasste es, wenn man mich in meinem eigenen Saft schmoren ließ, und so wie es aussah, wollte mich mein Vater nicht so schnell vom Haken lassen.
„Dein Zwilling fand komischerweise Zeit, uns jeden Abend zu informieren“, schob mein Vater noch süffisant hinterher.
„Na dann seid Ihr ja bestens informiert“, konnte ich mir die Spitze nicht verkneifen.
„Jean Neumann, so sehr wir Deinen Zwilling auch lieben, aber Du bist unser Sohn und treibst Dich in der Ferne herum“, grummelte mein Vater nun los.
„Sorry“, murmelte ich niedergeschlagen. Das war kein guter Einstand für meine Bitte.
„Dann berichte mal“, forderte er mich etwas versöhnlicher gestimmt auf. Dieser Satz war der ideale Einstieg für mein Vorhaben.
„Hm, ich hab da einen besseren Vorschlag“, fing ich vorsichtig an. Meine Augen waren auf Raphael gerichtet und dieser fing an zu grinsen.
„Jaaa?“, entfuhr es meinem Vater und seine Neugierde war regelrecht greifbar.
„Wir könnten Euch das natürlich auch alles persönlich berichten“, warf ich mal in die Runde.
„Okay, wann kommt Ihr? Ich sage Tims Eltern Bescheid, dann können wir uns hier treffen“, kam seine Antwort sofort, nur das er zum Schluss leicht zögerte.
„Wen meinst Du mit ‚wir‘?“, bohrte er dann nach und zeigte mir mal wieder, wer von wem abstammte.
„Na ja“, druckste ich nun herum.
„Hab ich es doch geahnt. Raphael wird Dich also begleiten?“, fragte er sicherheitshalber noch einmal nach.
„Ja…“
„Und?“, bohrte mein Vater weiter nach, der sehr wohl gemerkt hatte, dass das Ende der Fahnestange noch nicht erreicht war. Okay, dann Augen zu und durch.
„Raphael möchte gerne ein paar Tage bei uns verbringen und ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr nichts dagegen habt“, murmelte ich nervös in mein Handy.
„Hm.“
Wie gesagt, ICH hasse es, wenn man mich schmoren lässt!
„Vaaaaaaati?“
„Wir haben schon so was geahnt und der Senator wohl auch, denn er hat vorgestern ein paar Sachen mit uns besprochen. Wir haben nichts dagegen, aber mein lieber Sohn, ich hoffe, Du weißt, was für eine Verantwortung Du für Deinen Freund trägst?“, redete mir mein Vater ins Gewissen. Meine Augen versanken in den grünen Sternen, die nur eine Armlänge von mir entfernt leuchteten.
„Oh ja“, erwiderte ich.
„Dann kommt nach Hause“, gab er uns sein Einverständnis.
„Danke. Wir beeilen uns, aber wahrscheinlich wird es erst morgen werden.“
Nach der allgemeinen Verabschiedung war die Leitung dann unterbrochen.
„Meine Eltern erwarten uns“, wandte ich mich meinem Schatz zu.
„Habe ich mitbekommen“, grinste er mich an.
„Ich würde gern so schnell als möglich von hier fort“, erklärte ich ihm.
„Wem sagst Du das …“, antwortete er und seine Gesichtszüge verfinsterten sich.
„Jean?“
„Ja.“
„Ich habe über unseren Streit nachgedacht…“
„Nein warte, wir hatten beide…“
„Moment, lass mich ausreden, ja?“, unterbrach er mich energisch.
„Grmpf.“
„Hör mir erst einmal zu und dann entscheide. Ich werde mich von der Entscheidung, diese verfluchte Klinik zuzumachen, nicht abbringen lassen. Auch wenn sie eine sprudelnde Geldquelle ist, wie mir mein Urgroßvater versichert hat. Aber auf Grund der Ansichten des leitenden Personals sowie den Behandlungsmethoden, bleibt mir gar nichts anderes übrig. Aber ich werde es in ein Kinderheim umwandeln und nach Überprüfung des Personals den größten Teil weiterbeschäftigen. Für das leitende, medizinische sowie kaufmännische Personal gibt es nur einen Weg, den in die Kündigung“, eröffnete mir Raphael seine Überlegungen.
„Und das Kinderheim wird der van Dahlen Stiftung einverleibt, über deren neue Führungskraft wir uns auch noch Gedanken machen müssen“, schloss er hämisch seine Ausführungen.
„Hm.“
Mir gefiel seine Entscheidung sehr, aber irgendwie stach mich der Hafer und ich wollte ihn ein wenig schmoren lassen.
„Ein wenig mehr könnte es ruhig sein“, murmelte er.
„Also die Stiftung hat die Hand drauf?“
„Ja.“
„Und die Stiftung bekommt eine neue Führung?“
„Ja.“ Dieses Ja hatte eindeutig eine Spur von Trotz.
„Und hat die Stiftung eigentlich immer noch die Hand über einen gewissen Raphael Maximilian van Dahlen?“, fragte ich und konnte mir das Lachen kaum verkneifen. Mir war gerade eine ziemlich blöde Idee im Kopf herumgefahren.
„Ne, das müsstest sogar Du in den letzten Tagen begriffen haben“, grinste er mich an.
„Schade.“
„Schade?“
„Na ja, ich würde mich großzügig bereit erklären, dieses schwere Amt zu übernehmen! Weil ich dann einen niedlichen kleinen schwarzhaarigen Teufel unter meinen Fittichen hätte“, lachte ich ihn breit an.
„Na warte…“, grummelte er und stürzte sich auf mich. Und mir wurde bewusst, dass man zum Kitzeln nicht unbedingt sehen musste. Sekunden später wand ich mich unter seinen flinken Fingern und bekam vor Lachen kaum noch Luft. Das Unweigerliche passierte und wir stürzten mit dem Stuhl zu Boden und Raphael trieb mir bei dem Aufprall die letzte Luft aus den Lungen.
„Auuuu“, lachte ich mit tränenden Augen.
„Soll ich pusten, mein Großer?“, grinste mich jemand hoch über mir thronend an.
„Küssen wäre eine bessere Alternative“, keuchte ich. Und schon verschlossen seine vollen Lippen meinen Mund. Unterbrochen wurden wir von einem lauten Lachen. Widerwillig lösten wir uns und mein Blick wanderte zur Zimmertür. Da standen ein gackernder Tim sowie Dominik, der still in sich hineingrinste.
„Tim, wir fahren nach Hause!“, teilte ich ihnen dann mit.
„Zeit wird es“, war sein ganzer Kommentar.
„Raph“, hörte ich Dominik ernst.
„Ich gehe erst einmal mit Jean und möchte ein paar Tage bei ihm verbringen“, erklärte dieser seinem Bruder.
„Dacht ich mir. Ich werd mich dann bei Max einquartieren, der ja nicht weit weg seine Zelte aufgeschlagen hat“, kam dessen Antwort.
„Außerdem müssen wir eh mit ihm noch so einiges klären, haben zu lernen und können uns in Ruhe vorbereiten“, fuhr er dann noch fort.
„Aber zuerst kümmer ich mich mal um unseren neuen Stiftungsvorsitzenden und das intensiv“, murmelte mir Raphael zu und seine Worte ließen Dutzende von Schauern über meinen Körper huschen.
„Neuen waaaas?“, fragte Dominik verwirrt.
„Is was Familiäres“, grinste Raphael seinen Bruder zu und steckte ihm noch die Zunge raus, um mir diese Sekunden später zwischen meine Lippen zu schieben.
„Blödmann“, griente Dominik zurück.
„Komm Tim, lassen wir das junge Glück bei den zu erwartenden Schweinereien zurück und widmen uns dem Abendbrot“, wandte er sich dann an meinen Zwilling. Prompt fuhr der Kopf meines Schatzes nach oben.
„Essen?“, fragte er lauernd und wie auf Stichwort fing mein Magen an zu knurren.
„Bist Du etwa verfressen?“, neckte ich ihn.
„Nööö“, griente er mich an.
„Man nennt ihn auch, Raphael, die neunköpfige Raupe“, hörte ich Dominik von der Tür.
„Verräter!“
„Na dann mal los, ich hab auch Hunger“, forderte ich ihn auf und zusammen folgten wir den anderen beiden.
Die Stimmung war beim Essen um einiges lockerer. Unsere Entscheidung hatten wir vor dem Essen dem Senator mitgeteilt und dieser hatte nur lächelnd genickt. Danach telefonierte er kurz und meinte nur, dass das Flugzeug morgen früh für uns bereit stehen würde. Tim gab sich nach einer Stunde geschlagen, denn Raphael und ich zogen gemeinsam über ihn her. Mein Zwilling hatte wirklich nichts zu lachen. Wer mich auch überraschte, war Dominik. Er zeigte mir so ein paar Kniffe, an die sich mein Kleiner gewöhnt hatte, und verbündete sich mit Tim gegen uns. Da Raphael seinen Bruder gut in Griff hatte und ein ziemlich loses Mundwerk dazu, half das meinem Twin nicht wirklich. Maximilian und Friedrich hielten sich heraus und grinsten sich nur einen. Am späteren Abend merkte man Raphael doch den anstrengenden Tag an und er verabschiedete sich von der Runde. Ich ließ es mir nicht nehmen, ihn auf sein Zimmer zu bringen. Jedoch außer einem kleinen Gute-Nacht-Kuss lief nichts mehr – hm, okay, einem ziemlich feuchten, langen, sinnlichen Kuss. So rechte Lust mich wieder zu den anderen zu gesellen hatte ich nun auch nicht mehr und verschwand auf mein Zimmer. Nach einer ausgiebigen Dusche befand ich mich 30 Minuten später auf meinem Bett. Meine Augen waren auf das Bild von Raphael gerichtet und ich befand mich in einer absoluten Hochstimmung.
‚Mein Kleiner wollte mit zu mir kommen‘, kreiste ein Gedanke unablässig in meinem Kopf herum. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief ich dann ein.
Die Rückfahrt bzw. der Flug war unspektakulär. Raphael schien das Fliegen gewohnt zu sein und verschlief die meiste Zeit. Das Neue und Ungewohnte für mich war jedoch – er war einfach immer präsent. Wir mussten uns nicht suchen, nein wir fanden uns einfach. Mein Kleiner suchte ständig den körperlichen Kontakt. Entweder nahm er meine Hand und ließ sich von mir bereitwillig führen oder im Flugzeug legte er einfach seinen Kopf an meine Schulter und Sekunden später war er eingeschlafen. Mit Tim hatte ich ja auch viel zusammen erlebt, aber diese Intensität war mir neu und vor allem, mir gefiel es.
Unser Weg führte uns zuerst zur Unterkunft vom Senator. Raphael ließ sich von ihm erklären, wie er untergebracht war und wo er Dominik finden konnte. Dieser blieb dann mit den beiden älteren Herren zurück und wir verabredeten uns für morgen bei uns. Dann brachten wir Tim nach Hause, der wohl den restlichen Tag bzw. Abend mit Svenja verbringen wollte. Und dann standen wir mit dem Wagen vor unserer Haustür. Ein wenig nervös wurde ich nun doch, denn jetzt war ich mit Raphael allein – nur noch wir beide. Als ich mir unsere Taschen aus dem Kofferraum griff, fiel mir zum ersten Mal auf, wie wenig Gepäck mein Kleiner hatte.
„Ist das eigentlich alles?“, fragte ich ihn verblüfft. Seine Hand strich kurz über die Tasche, die ich ihm entgegenhielt.
„Ja, mehr hab ich nicht mehr“, murmelte er heiser. Mich hatte wohl die Nervosität nicht alleine ergriffen. Bevor wir uns beide weiter da hinsteigern konnten, drückte ich ihm einen Kuss auf die Lippen, hakte ihn unter und zog ihn mit mir zur Tür.
„Welchen Wochentag haben wir eigentlich?“, fragte ich ihn. Mir war die letzten Tage irgendwie das Zeitgefühl abhanden gekommen.
„Freitag“, antwortete Raphael sofort.
„Na toll“, grummelte ich.
„Was ist denn los?“
„Unsere Zweisamkeit hat gleich wieder ein jähes Ende“, knurrte ich, denn um die Zeit waren meine Eltern schon zu Hause. Wie auf Kommando öffnete sich die Tür und mein Vater lächelte uns entgegen.
„Hallo Herr van Dahlen“, begrüßte er meinen Schatz. Raphael versteifte sich kurz.
„Ich dachte, wir wären schon beim Du angelangt“, murmelte er leise vor sich hin, straffte sich aber dann.
„Sehr geehrter Herr Neumann, darf ich Ihnen meinen Freund vorstellen?“, wandte er sich süffisant an meinen Vater. Der stutzte kurz und fing dann schallend an zu lachen.
„Ob Sie so der richtige Umgang für meinen Sohn sind, werden wir noch feststellen. Aber auf jeden Fall kann er sich bei Ihnen mal eine Lektion höfliches Benehmen abholen“, lachte er uns an.
„Paaaaa“, knurrte ich ihn an.
„Kenn ich Sie?“, schüttelte er sich nun vor Lachen. Ich spürte, wie mein selbstsicherer Freund leicht zögerte.
„Bitte“, entfuhr es mir genervt und mein Gesicht musste ihm wohl den Rest erzählen.
„Entschuldigung Raphael, willkommen bei der Familie Neumann“, begrüßte mein Vater ihn nun warmherzig.
„Danke Gerd“, murmelte dieser. In der Küche erwartete uns natürlich schon meine Ma.
„Hallo Raphael, etwas Kaffee und Kuchen?“, fragte sie meinen Begleiter, nachdem sie mich in die Arme geschlossen hatte.
„Ob da etwas reicht, bleibt noch abzuwarten“, nuschelte ich vor mir hin. Mein Kleiner hatte das sehr wohl gehört und seine Hand, die leicht auf meinem Allerwertesten ruhte, kniff mich.
„Au.“
„Selbst Schuld“, lachte er mich an.
„Und Ihr habt wirklich nichts dagegen, dass ich hier ein paar Tage bei Jean verbringe?“, wandte er sich dann an meine Eltern.
„Nein“, kam es von beiden gleichzeitig.
„Aber ich bin doch ein …“, murmelte er nervös.
„Ein Fremder?“, hakte mein Vater nach. Raphael nickte.
„Zuerst einmal ist unser Sohn fast erwachsen und entscheidet selbst, mit wem er seine Zeit verbringt. Zweitens hat sich an den Blicken mit denen Jean Dich regelrecht auffrisst seit dem ersten Mal hier in unser Küche nicht viel verändert, eher das sie noch intensiver geworden sind…“, zählte mein Vater seine Gründe auf, die mir natürlich einen entrüsteten Aufschrei entlockten und mich hochrot anlaufen ließen.
„…und zu guter Letzt haben wir Dich schon soweit kennen gelernt, um festzustellen, dass unser Sohn kaum einen besseren Freund hätte finden können“, schloss er unbeirrt seine Aufzählung.
„Danke“, murmelte Raphael und auch sein Gesicht leuchtete leicht rosa.
„Nachdem das geklärt ist, freuen wir uns, dass Du bei uns zu Gast bist und möchten Dich bitten, wenn Du einen Wunsch hast, diesen auch zu äußern“, beteiligte sich meine Ma nun an dem Gespräch. Dann setzten wir meine Eltern über die Ereignisse in Kenntnis, jeder erzählte seine Erlebnisse. Mir fiel auf, dass Raphael sich über die Zeit in der Klinik sehr schwammig ausdrückte. Mein Vater zog nur erstaunt die Augenbraue hoch. Zwischen Kaffee und Kuchen verflog die Zeit nur so. Mit einem Male stand Raphael auf.
„Raphael?“
„Ich müsste mal wohin“, murmelte er.
„Soll ich Dich hinbringen?“
„Ne, den Weg finde ich schon, letzte Tür auf der linken Seite, oder?“, fragte er in die Runde.
„Ja.“
Als er aus der Küche war, saßen wir schweigend am Tisch und mein Vater musterte mich.
„Der Klinikaufenthalt war schlimm“, stellte er einfach fest.
„Er hat die Klinik geschlossen und alles verantwortliche Personal rausgeworfen“, gab ich als ernste Antwort.
„Wie bitte?“, entfuhr es meiner Mutter.
„Die Klinik gehört seiner Familie, und Dominik und er sind ja jetzt so etwas wie die Familienführung. Glaubt mir, ich war genauso geschockt“, murmelte ich.
„Kommst Du damit klar?“, hörte ich meinen Vater. Ich sah ihn an und seine Augen bohrten sich in meine.
„Aus dem Krankenhaus wird ein Kinderheim und das nicht belastete Personal wird nach einer Überprüfung zum größten Teil übernommen.“
„Das meine ich nicht.“
„Was denn?“, seufzte ich, obwohl mir klar war, was mein Pa meinte.
„Mit seinem Reichtum, denn soviel Geld bedeutet auch zwangläufig eine gewisse Macht“, bestätigte mein Vater meine Annahme.
„Für mich zählt nur Raphael. Wir schliddern seitdem wir uns kennen von einer Katastrophe in die nächste. Wann hatten wir denn schon mal Zeit, uns ein wenig näher kennen zu lernen?“, versuchte ich mich zu wehren.
„Du wärst nicht mein Sohn, wenn Du Dir darüber noch keine Gedanken gemacht hättest“, stellte mein Vater unbarmherzig fest.
Meine Antwort war Schweigen. Ich schwieg, weil ich wirklich keine Erklärung hatte. Zu meinem Glück war auf dem Flur Raphael zu hören und so blieb ich meinem Vater die Antwort schuldig.
„Ich würde mich gerne etwas hinlegen, die letzten Tage waren doch etwas anstrengend“, hörte ich ihn dann von der Tür.
„Klar, ich bringe Dich nach oben“, antwortete ich ihm.
„Moment, mein lieber Sohn“, unterbrach mich meine Mutter. Fragend sah ich sie an.
„Raphael, wir haben Dir ein wenig das Zimmer von unserem Ersatzsohn hergerichtet. Es ist nicht das Gästezimmer, welches Du letztes Mal benutzt hast“, erklärte sie ihm. Sein fragendes Gesicht sprach Bände. Mein Vater erfasste die Situation am schnellsten.
„Du bekommst Tims Zimmer. Das hat eine Verbindungstür zu Jeans Räumlichkeiten und liegt somit unmittelbar daneben. Da die beiden ja die sprichwörtlichen siamesischen Zwillinge sind, war die erste Handlung der jeweiligen Eltern, ein zweites Kinderzimmer einzurichten“, schloss er mit einem süffisanten Grinsen.
„Und was machen wir dann mit Tim?“, fragte Raphael verlegen.
„Da mach Dir mal keine Sorgen, der findet sich schon zurecht. Wir dachten uns, dass es vielleicht ab und an angenehm ist, wenn man sich mal in seine vier Wände zurückziehen kann“, zerstreute mein Vater seine Sorgen und dann murmelte er noch ziemlich leise, jedoch laut genug, damit ich es hören konnte, „wobei ich nicht glaube, dass das Zimmer nötig gewesen wäre und vor allem das zweite Bett“. Mein Vater sprach genau meine Gedanken aus und ich zuckte ertappt zurück. Jedoch auch die knallrote Birne von Raphael zeigte mir, dass ich es nicht nur alleine gehört hatte. Nur meine Mutter schien nichts mitbekommen zu haben und forderte uns auf ihr zu folgen. Zuerst lotste sie uns zu Tims Zimmer. Mit Schwung öffnete sie die Tür.
Na ja, eigentlich hatte sich nicht viel verändert. Nur neben dem Bett stapelten sich ein paar Kissen und Decken, was Hondo wohl sofort als das erkannte, was es darstellen sollte. Langsam trottete er zu der Stelle, schnüffelte ein wenig und ließ sich mitten hinein plumpsen. Dann drehte und wendete er sich so lange, bis er eine angenehme Position gefunden hatte und hechelte uns erwartungsvoll an.
„Na, der Erste fühlt sich ja schon heimisch“, lächelte Raphael leicht.
„Jean, kannst Du mir mal die wichtigsten Gegenstände erklären sowie die Wege dazu“, forderte er mich dann auf. Meine Eltern sahen interessiert zu, wie ich ihn durch den Raum führte, die Gegenstände aufzählte und alles mit Maßangaben versah. Dann machten wir die Runde komplett, in dem ich ihn über den Flur zum Bad brachte und zum Schluss vor meinem Zimmer stehen blieb.
„Und nun noch mein Zimmer…“, erklärte ich ihm und stieß die Tür auf. Die nächsten Worte blieben mir im Halse stecken. Meine Eltern fingen auf Grund meines verblüfften Gesichtes laut an zu gackern.
„Jean?“, hörte ich meinen Kleinen leise neben mir fragen.
Aber ich war immer noch sprachlos, denn mein Zimmer hatte sich sehr wohl verändert. Eigentlich war es nur ein Gegenstand, aber der hatte es in sich.
An der Wand stand ein großes Doppelbett – so eine richtige Liegewiese.
Raphaels Finger bohrte sich in meine Rippen.
„Jeaaaaan?“, quengelte er.
„Ähm…, na…, alsooo…“, stotterte ich darauflos.
„Jaaa?“, brubbelte er.
„Weißt Du Raphael, Jean wollte Dir nur mitteilen, dass Ihr nun in seinem Bett sehr gut NEBENeinander und nicht unbedingt AUFeinander liegen könnt“, grinste mein Vater uns frech an und hatte besondere Betonung auf die kleinen Vorsilben gelegt. Das Resultat waren wieder zwei knallrote Köpfe.
„Na ja, mal schauen“, murmelte ich verlegen. Was hatten wir denn bisher voneinander gehabt? Raphaels Hand glitt in meine und er drückte sie leicht.
„Los, zeig mir mal, wo die Liegewiese steht“, forderte er mich dann auf. Meine Eltern hatten sogar zwei Kopfkissen und zwei Decken auf dem Bett platziert. Zum Glück war die Bettwäsche nicht rosa, sondern in einem dunklen Blau gehalten. Dadurch fiel mir sofort das Päckchen auf, welches auf dem vorderen Kopfkissen sehr unauffällig auffällig platziert war.
„Vati“, rief ich entrüstet, als ich das Päckchen identifiziert hatte. Auch wenn hier eine große, rosa Schleife auf der Vorderseite prangte, hatte ich die Jumbopackung Kondome sehr wohl erkannt.
„Das war nicht meine Idee! Du fällst über den Falschen her“, schob er jede Verantwortung von sich und das breite Grinsen meiner Mutter sprach Bände.
„Menno, was ist denn nun schon wieder?“, grummelte Raphael neben mir.
„Hier, find es selbst raus“, kam ich einer Erklärung meines Vaters zuvor und drückte ihm die Packung in die Hand. Raphael setzte sich auf das Bett und seine Finger strichen über die Verpackung.
„Hm, eine Schleife“, gab er von sich.
„Ja, und die ist in ROSA gehalten“, knurrte ich.
„Deine Lieblingsfarbe?“, fragte der mich doch mit einem frechen Grinsen.
„Pff.“
„Darf ich es öffnen?“
„Tu Dir keinen Zwang an, es scheint uns beiden zu gehören“, antwortete ich Raphael. Diese Bemerkung ließ ihn kurz inne halten und seine Stirn kräuselte sich. Geschickt öffnete er dann das Päckchen und fischte einen länglichen Streifen mit vier Kondomen heraus. Seine schlanken Finger huschten über diese neue Verpackung und fast schien es mir, als würde er sie fallen lassen - so, als ob er sich die Finger daran verbrannt hätte.
„Ähm…, Luftballons sollen wir daraus bestimmt nicht basteln“, feixte er dann, aber seine sehr gesunde Gesichtfarbe zeigte uns, wie peinlich ihm das wohl doch war.
„Spaß beiseite Jungs“, wurde mein Vater dann ernst.
„Raphael, wir haben nur den einen Sohn, auch wenn Bekannte seit Jahren etwas anderes behaupten. Und diesen wollen wir nicht durch eine Leichtsinnigkeit verlieren. Somit möchten wir Euch zum geschützten Sex ermutigen, solange nicht hundertprozentig fest steht, dass Ihr beide gesund seid.“
Ich war sprachlos. Mein Vater hielt uns hier gerade einen Vortrag über Safersex, wo wir beide doch noch nicht mal über zwei Zungenküsse am Stück hinausgekommen waren.
„Ähm..“, fing ich dann auch folgerichtig an, meiner Entrüstung wortreich Luft zu machen.
„Also, ich hatte meine letzte Kontrolle vor ein paar Tagen in der Klinik und es war alles in Ordnung“, flötete mein Kleiner vom Bett drauflos.
„Ähm…“, murmelte ich, denn zu mehr war ich nicht in der Lage. Das hier waren meine Eltern und wir sollten uns in deren Anwesenheit über unser nicht vorhandenes Sexleben auslassen??? Würde mal bitte einer ein Loch graben, damit ich vor Scham im Boden versinken könnte.
„Jean, Du warst doch vor ca. einem Monat beim Blutspenden?“, wollte mir meine Mutter helfen, nur wurde mein Wunsch zum Verschwinden immer größer.
„Och in einem Monat kann viel passieren“, feixte mein Vater locker drauflos.
„Na, bei mir ist nix passiert“, grinste mich mein Kleiner an.
„Man, womit bin ich nur gestraft“, fand ich so langsam meine Sprache wieder.
„Und Du fällst mir auch noch in den Rücken?“, grummelte ich mit Raphael.
„Nein, nein, wollte doch nur…, na ja das wir… ähm… noch…“, stotterte er nun verlegen herum.
„Können wir bitte das Thema wechseln“, brummte ich.
„Nachdem das geklärt ist und wir nun wissen, dass keine Gefahr besteht gerne“, gab mein Vater meinem Wunsch nach, schob dann aber noch hinterher, „wobei mir lieber wäre, Ihr würdet daraus doch keine Luftballons basteln.“
„Paaaaa.“
Mein Vater hob grinsend die Hände.
„Komm mein Frauchen, lassen wir mal das junge Glück alleine“, lachte er weiter, hakte meine Mutter unter und zog sie mit sich fort. Leise fiel die Tür ins Schloss und ich war mit Raphael alleine. Wie er da leicht errötet mit der großen Packung Kondome auf meinem Bett saß, konnte man das durchaus als eine unmissverständliche Einladung ansehen. Aber ich war viel zu verlegen und schüchtern, um diese Situation auszunutzen – dabei sah der Kerl zum Anbeißen aus. Als ob er meine Gedanken gehört hätte, legte er schnell die Packung zurück aufs Bett und stand auf.
„Entschuldige, aber ich bin wirklich ziemlich kaputt“, murmelte er jetzt ebenso verlegen.
„Kein Problem. Brauchst Du noch irgendetwas?“
„Ja, zeig mir bitte im Bad, wo ich ein Handtuch herbekommen kann und…“, hier brach er ab und schaute etwas belämmert aus seiner Wäsche.
„Und?“, hakte ich nach.
„Na ja, könntest Du mir mit ein, zwei Sachen aushelfen?“, fragte er vorsichtig. Mir fiel sofort sein minimales Gepäck ein und ich nickte sofort.
„Jean?“, hörte ich ihn nach einer Weile in meinem Rücken, denn ich wühlte schon in meinem Schrank herum.
„Ja?“
„Was machst Du da?“ Gleichzeitig mit seiner Frage fiel mir ein, dass ich ja nur genickt hatte.
„Oh entschuldige. Ich suche gerade in meinen Sachen etwas Passendes“, gab ich schnell von mir.
„He, irgendwas. Ich kann es ja eh nicht sehen“, hörte ich ihn, aber eine gewisse Traurigkeit war nicht zu überhören.
„Magst Du es eher eng oder locker?“, überspielte ich seine Aussage.
„Locker und weit.“
„Ah, dann sollte das passen. Ist zwar schon etwas älter, aber eines meiner Lieblingsshirts“, murmelte ich in mich hinein. Ich hielt ihm zwei Sachen hin, das eine war das erwähnte, das andere zum Vergleich. Seine Finger glitten über den Stoff und die Konturen. Grinsend griff er sich mein Lieblingsshirt.
„Das ist es“, behauptete er.
„Woher weißt Du das?“, murmelte ich erstaunt.
„Diesmal habe ich wirklich nur geraten“, grinste er mich frech an, aber er wirkte ziemlich zufrieden, dass er auf Anhieb das Richtige ausgewählt hatte.
„Frecher Kerl“, murmelte ich und trat noch dichter an ihn heran. Vorsichtig nahm ich seine dunkle Brille ab. Ich war viel zu vernarrt in seine herrlichen Augen, als dass ich sie durch die unsägliche Brille verdeckt haben wollte. Mein Kleiner tat mir auch den Gefallen und strahlte mich mit seinen grünen Augen an.
„Du liebst wohl nur meine Augen“, fragte er leise und lugte frech unter einer schwarzen Locke schelmisch zu mir hoch.
„An mehr lässt Du mich ja nicht ran“, kam mein prompter Konter.
„Pff.“
Und bevor ich darauf etwas erwidern konnte, legten sich seine Lippen auf die meinen.
„So das muss erst einmal reichen“, murmelte er, als er sich sacht von mir löste.
„Wie lange?“, bettelte ich.
„Bis ich ein wenig munterer bin. Mir fallen fast die Augen zu und eine Dusche würde mir auch verdammt gut tun.“
Dann organisierte ich ihm noch ein Badehandtuch und als mich Raphael grinsend darauf aufmerksam machte, dass es nur mit einem Shirt nicht getan sei, suchte ich ihm widerstrebend auch noch eine Short heraus. Als er das Ding in der Hand hatte und prüfend mit seinen Fingern erkundete, stand ihm zuerst die Verblüffung im Gesicht.
„Lüstling“, knurrte er mich dann gespielt böse an. Ich hatte ihm eine verdammt elastische und enge Short in die Hand gedrückt, die eigentlich mehr offenbarte als versteckte.
„Da kann ich ja gleich nackt gehen“, grummelte er weiter.
„Ja gerne“, entfuhr es mir.
„Ne, ne, das musst Du Dir schon alles erarbeiten“, hauchte er mir zum Schluss noch geheimnisvoll zu und verschwand im Bad. Okay, ich könnte ihm nun folgen und die nackten Tatsachen sofort schaffen, aber dazu war ich doch zu schüchtern. So schnappte ich mir Hondo, der heute auch noch nicht ausreichend Auslauf gehabt hatte. Zwangsläufig ließ der Spaziergang mit dem Hund meine Gedanken kreisen. Nun war Raphael also bei mir und …
…wie weiter?
Ich musste diesen Gedanken wohl laut geäußert haben, denn Hondo sah mich neugierig an.
„Tja, mein Lieber, wenn Du mir doch nur ein paar Tipps zu Deinem Herrchen geben könntest“, murmelte ich ihm leise zu und der Köter verzog seine Lefzen so, dass es eindeutig so aussah, als würde er mich auslachen.
„Lach nicht. Wenn das so weiter geht, sterben Raph und ich noch als alte Jungfern“, seufzte ich.
„Wuff.“
„Ja, mach Dich nur lustig“, grummelte ich weiter.
„Wuff, wuff“, war seine Antwort und nun zerrte er an der Leine. Die Richtung war eindeutig - er wollte wieder zurück. Vor unserer Haustür stand wieder die Limousine vom Senator. In der Küche fand ich dann Dominik, der gerade ein Stückchen Kuchen herunter schlang.
„Entschuldige, dass ich schon wieder hier bin, aber ich wollte Raphael noch das hier bringen“, begrüßte er mich und zeigte auf einen schwarzen Aktenkoffer. Verständnislos sah ich ihn an.
„Es gibt so ein paar Hilfsmittel, die er bestimmt nun nicht mehr missen will“, erklärte er mir, nur Licht in das Dunkel brachte er damit nicht. Als weitere Antwort grinste er nur und schob sich ein extra großes Stück Torte in den Mund. So neugierig ich nun auch war, setzte ich mich erst einmal betont ruhig an den Tisch. Nur schien man wieder sehr gut in meinem Gesicht lesen zu können, denn Dominik kaute bewusst langsam und spülte mit einem großen Schluck Kaffee nach.
„Vorhin stand mein Bruderherz noch unter der Dusche. Jetzt kann ich ja verduften, denn Du kannst ihm den Koffer ja ausliefern.“ Bei den Worten war er aufgestanden und verabschiedete sich kurz bei meinen Eltern.
„Moment“, flutschte es mir dann doch heraus.
„Erklären kann er es Dir viel besser“, bekam ich von ihm als Antwort und weg war er. Mit einem Stirnrunzeln sah ich auf das schwarze etwas klobig wirkende Ding und wollte es mir ganz locker greifen. Fast wäre der Koffer mir aus den Fingern gerutscht, denn das Ding hatte ein ziemliches Gewicht. Meine Neugierde wurde immer größer, aber ich ließ die Finger von dem Öffnungsmechanismus, denn wie ein normales Schloss sah es nicht aus. Oben vor dem Bad lauschte ich kurz, aber es war kein Rauschen mehr zu hören. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, in seinem Zimmer nachzuschauen, verwarf ihn aber sofort wieder. Raphael würde wohl schlafen und so musste ich mich in Geduld üben. Da sich bei mir auch eine gewisse Müdigkeit breit machte, blieb ich gleich oben. Somit bekam ich gleich die Chance, meinem neuen Bett ein Probeliegen zu verpassen.
Nur für mich alleine war das Bett eindeutig zu groß und ich kam mir etwas verloren vor. So stand ich noch einmal auf und kramte in meinen Reisesachen. Nach ein paar Sekunden hatte ich das Gesuchte in der Hand und stellte Raphaels Bild auf meinen Nachttisch. Mit den Gedanken daran, dass genau dieser Junge da neben mir in diesem riesigen Bett liegen könnte, schlummerte ich ein.
Irgendetwas weckte mich. Draußen war es nun dunkel, aber auch gleichzeitig recht hell. Eine Weile dauerte es, bis ich begriff, dass mir der Mond ins Gesicht schien. Durch meine neue Position beim Schlafen konnte ich nun aus dem Dachfenster sehen, aber genauso konnte der Vollmond auch bei mir hineinleuchten. So ganz wach war ich jedoch noch nicht und vergrub meinen Kopf wieder in mein Kissen.
Nur von Schlafen konnte keine Rede sein. Ab und an nickte ich noch kurz weg. Der Mond schien noch an Leuchtkraft zuzunehmen. Aber es war etwas anderes, was mich schlussendlich störte. Es war, als würde mich jemand beobachten – als wäre ich nicht mehr alleine. Das Gefühl wurde so übermächtig, dass ich meine Augen öffnete und da mein Kopf in Blickrichtung Zimmer lag, sah ich es sofort.
Nein, nicht es …
IHN
In der Verbindungstür zwischen unseren Zimmern stand ER.
Der Mond war so hell, dass ich alles ohne Probleme sehen konnte. Und ich saugte es regelrecht in mich auf.
„Raphael?“
...Fortsetzung folgt…
Nachwort
Och man, so schön bekomm ich diesen Cliffhänger nicht hin :-(. Irgendwie bin ich da eingerostet. Nun werde ich mich mal an den nächsten Teil setzen, damit ich den in ca. einen Monat wieder der Redaktion vorlegen kann. Bis dahin genießt das Leben^^.
Liebe Grüsse
jR
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