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Bring mir dein Lachen bei
Akt 9 - Quick-Changes
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Informationen
- Story: Bring mir dein Lachen bei
- Autor: Kida Takahama
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama
Überrascht stellen wir fest, dass es ein ziemlich großer Flohmarkt ist. Er befindet sich in einem alten, abgelegenen Fabrikgebäude, in dem nun Stand an Stand gereiht ist. Überall stehen alte Möbelstücke herum oder hängen ungewöhnliche Kleider an den Stangen. Dort glitzert es golden, hier ist alles in antikes Braun gehüllt.
„Wahnsinn!“, staunt Mel und sieht mich an. „Wo fangen wir an?“
Ohne dass es irgendwie groß gesagt wurde, scheint es beschlossene Sache zu sein, dass wir uns aufteilen. Jeanette und Marcel verschwinden direkt bei dem ersten, großen Stand mit Möbelstücken, während Mel auf einen mit Kleidung und Stoffen zusteuert. Ich folge ihm ganz automatisch.
Die nächsten zwei Stunden vergehen damit, dass ich Mel beobachte. Ich tue es nicht besonders auffällig, zumindest glaube ich das, doch immer wenn er sich etwas anschaut, etwas begutachtet, so tue ich dies bei ihm. Die Worte, welche er gestern zu mir sagte, geistern mir noch immer im Kopf herum. Ich muss unentwegt daran denken, frage mich, ob er wirklich das meinte, was ich glaube… Doch ich frage ihn nicht, natürlich nicht. Es würde wie eine Anmache klingen, wenn ich fragen würde, zumindest rede ich mir das ein. Und dabei wüsste ich es gerne, wüsste gerne, ob Mel tatsächlich schwul ist… und wenn er es ist, weshalb hat Marcel das nie erwähnt? Zum Beispiel in dem Moment, als ich noch dachte, es sei ihm vielleicht unangenehm, dass ich schwul bin…
Wieso ich so gerne Gewissheit hätte, verstehe ich nicht. Ich kenne mehrere Schwule, alleine schon durch die Beziehung mit Tobias, und nie hat einer mehr oder weniger einen Unterschied für mich gemacht, nie hat mich einer interessiert oder ich wollte mit ihm über das Thema sprechen. Warum ist es hier so anders? Warum versuche ich in seinem Verhalten, wenn er zum Beispiel mit einem der Verkäufer spricht, kleine Anzeichen zu deuten? Was ist mit mir los?
„Wie findest du die?“, werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als Mel plötzlich direkt vor mir steht.
In seinen Händen liegen Knöpfe und Manschettenknöpfe, wild verziert mit irgendwelchen Kringeln und Steinen. Ich greife nach einem Stück und habe für Sekunden das Bedürfnis, nach seiner gesamten Hand zu greifen.
„Die sind hübsch“, nicke ich, als er mich erwartungsvoll ansieht. Ich drehe den Knopf in meinen Fingern.
„Meinst du, die würden mir stehen?“
„Dir?“
„Für so ne alte Uniform, die ich wahrscheinlich tragen werde… Also?“
„Es sind nur Knöpfe.“
„Nate!“ Es werden die Augen gerollt, der Knopf wird mir aus den Fingern genommen. „Natürlich sind es nur Knöpfe, aber es soll doch alles passen. Außerdem versuche ich, Konversation zu treiben. Du bist so schweigsam.“ Er kreuzt die Arme vor der Brust und sieht mich ernst an.
„Bin ich das?“
„Ja, schon die ganze Zeit. Macht es dir keinen Spaß hier zu sein?“
„Doch.“ Ich lächle und strecke meine Hand aus. Ehe ich mich versehe, habe ich einige seiner Haarsträhnen zwischen den Fingern. „Doch, mit dir macht es mir Spaß.“
Und dann steht die Welt still. Wohl, weil mir die Sekunde bewusst wird, weil mir klar wird, was ich hier tue… und weil Mels Augen sich so merkwürdig weiten. Von einer Sekunde auf die andere habe ich das Gefühl, im Erdboden versinken zu wollen.
Was ist los mit mir?
Schnell trete ich einen Schritt zurück, nehme meine Hand herunter, sehe Mel nicht mehr an.
„Kauf sie“, sage ich und drehe mich dem Stand zu. Der Blick des Mannes dahinter ist mir genauestens bewusst. „Sie sind schön, sie passen zu dir.“
Und dann gehe ich weiter, da mir zu heiß wird und da ich nicht länger stehenbleiben kann. Am liebsten würde ich rennen… weit, weit weg rennen.
Der restliche Aufenthalt auf dem Flohmarkt vergeht gesprächiger als die Zeit davor. Mel stellt mir andauernd irgendwelche Fragen, allgemeine oder auf den aktuellen Ort beziehend, oder er erzählt mir etwas, lässt mich erzählen. Ich denke, er tut dies, damit wir nicht schweigend nebeneinander herlaufen und darüber nachdenken, was soeben geschehen ist.
Doch was ist geschehen? Noch immer bin ich mir nicht im Klaren darüber… und vielleicht will ich das auch gar nicht sein.
Dankbar nehme ich also sein Verhalten an, gehe drauf ein, finde es sogar angenehm, mit ihm über unwichtige Dinge zu sprechen, mit ihm zu lachen. Bei alledem versuche ich aber, meine Augen nur Sekunden auf ihm weilen zu lassen.
Wieso spüre ich so ein deutliches Gefühl der Zufriedenheit in mir?
Als wir am kleinen Kaffee ankommen, welches direkt am Eingang des Fabrikgebäudes aufgebaut ist, sehen wir Marcel und Jeanette dort schon auf uns warten. Vor ihnen stehen einige Tüten. Mel stürzt sich sofort neugierig darauf, während ich mich neben Marcel niederlasse.
„Und? Hattest du Spaß?“, werde ich hier gefragt, als Jeanette ihre Aufmerksamkeit auch den Tüten und dem neugierigen Mel schenkt.
„Ja.“ Ich atme bewusst tief aus.
„Das sieht man.“
„Hast du mich beobachtet?“
„Nicht wirklich, aber ab und zu gesehen. Du siehst zufrieden aus, finde ich.“
„Ja…“ Ich schiele zu Mel hinüber. „Es war eine gute Idee, herzukommen.“
„Lass mich raten… so was hast du noch nie gemacht.“
„Nein, noch nie“, bestätige ich. „Ich weiß nicht, ich dachte immer, so etwas ist nichts für mich…“ Noch immer ruht mein Blick auf Mel, es ist mir deutlich bewusst.
„So etwas?“
„Einfach sinnlos über einen Flohmarkt zu wandern und zu gucken, was andere Menschen loswerden wollen… Dabei macht es Spaß.“
„Das freut mich.“ Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er einen Blick auf die Uhr wirft. „So Leute, wir müssen los.“
„Warum so plötzlich?“, wendet Mel sich von der Betrachtung einer kleinen Figur ab. Diese starre dafür nun ich an.
„Er wurde angerufen…“ Jeanette winkt die Kellnerin herbei.
„Ich soll arbeiten“, erklärt Marcel weiter.
Ich wende meinen Blick ab, als Mel die Figur wieder in der Tüte verstaut hat. Er steht auf, ich tue es ihm gleich.
„Und was machen wir noch schönes?“, zieht er meinen Blick wieder auf sich.
„Ich glaube…“ Ich zögere, weil mir heiß und kalt ist. „…Ich sollte langsam nach Hause.“
Nur ein Nicken ist die Antwort… und ich wende mich ab. Marcel tritt in mein Blickfeld.
„Soll ich dich auf dem Weg zur Taxizentrale beim Bahnhof vorbeibringen?“
Ich bejahe und setze mich in Bewegung. Den anderen voraus trete ich ins Freie, ziehe die kühle Luft in mich hinein. Mein Kopf dreht sich, irgendwas stimmt hier nicht so ganz. Ich sollte wirklich langsam heim… wieder zur Ruhe kommen.
Die Zugfahrt vergeht meiner Meinung nach an diesem Tag viel zu schnell. Ich weiß nicht wieso, aber das Bedürfnis, nach Hause zu kommen, besteht trotz allem heute so gar nicht in mir. Ich habe keine Lust auf Tobias, will kein Eifersuchtsszenario präsentiert bekommen… vor allem nicht jetzt, nachdem ich weiß, dass Mel vielleicht auch schwul ist. Das kann ich Tobias niemals erzählen. Und außerdem muss ich das doch auch nicht, oder? Es ändert schließlich überhaupt nichts.
Auf das schlimmste gefasst, betrete ich also einige Zeit später meine Wohnung. Musik begrüßt mich aus der Küche.
„Hallo“, trete ich in den Türrahmen, nachdem ich die zwei Tüten mit Dingen, die Mel mir angedreht hat, im Flur abgestellt habe.
Sofort wird sich an der Küchenzeile herumgedreht. Sein Gesicht strahlt.
„Hallo Schatz!“, kommt er auf mich zu, streckt die Arme nach mir aus und küsst mich. „Da bist du ja schon!“
Verwundert lasse ich die Umarmung zu.
Schon?
„Wie war’s?“
„Schön“, sage ich skeptisch, als er sich wieder etwas von mir entfernt. „Was machst du?“
„Ich backe. Ich hatte nichts zu tun, und da dachte ich, du würdest dich vielleicht freuen…“
Ich erspare mir die Erwiderung, welche in meinem Kopf herumschwirrt und aussagen würde, dass ich nun wirklich kein Kuchenfan bin und er das eigentlich wissen müsste. „Was gibt es denn?“, frage ich stattdessen.
„Mohnkuchen.“ Er dreht sich wieder seinen Schüsseln zu. „Setz dich doch zu mir und erzähl, was ihr so gemacht habt. Ich bin gleich fertig.“
Ich gehe der Aufforderung nach, noch immer mit dem Gefühl, dass hier irgendwas zu harmonisch abläuft. Außerdem habe ich keinen Schimmer, was ich erzählen soll.
Der Tag zieht sich genauso harmonisch in den Abend hinein und auch als wir ins Bett gehen, stehen die Sterne noch immer gut. Ich weiß nicht wieso, aber ich rechne jede Sekunde mit einem Ausbruch, damit, dass Tobias doch irgendwelche eifersüchtigen Worte von sich gibt… doch dem ist nicht so… er küsst mich bloß, berührt mich, lässt sich berühren… es ist normal und dennoch unnormal, vor allem, da meine Gedanken nicht bei der Sache sind, da sie herumschwirren zwischen einem Streit, den ich erwarte, und Mel, wie er auf der Bühne gesungen hat. Ich weiß nicht wieso, aber in dieser Nacht kann ich meine Gedanken nicht kontrollieren.
Als ich am Montagmorgen aufwache, glaube ich ernsthaft, dass es so harmonisch weitergehen kann. Zwar liege ich alleine im Bett, aber bei der Uhrzeit, die mir mein Wecker verrät, ist dies vollkommen normal. Also bleibe ich liegen und warte darauf, dass Tobias kommt, um sich zu verabschieden. Es wird alles ablaufen wie immer… Ich glaube wirklich daran.
Erst als um zwanzig nach sechs die Tür aufgerissen wird, glaube ich nicht mehr daran. Ich sehe den wütenden Blick sofort.
„Was ist das?“, faucht er, die zwei Papiertüten in den Händen.
„Das siehst du doch“, erkenne ich den Unterton sofort.
„Natürlich! Aber wieso hast du so was?“
„Das sind nur Kleinigkeiten…“
Er zieht eine hölzerne Figur heraus. Eigentlich ist sie ziemlich hässlich, doch in dieser Hässlichkeit hat sie mir gefallen.
„Nur Kleinigkeiten?“ Er faucht und sinkt aufs Bett nieder. „DU hasst es doch, wenn ich so was anschleppe! Du hasst es, wenn ich solchen Krimskrams mitbringe, du-“
„Ja und? Was ist da jetzt so schlimm dran?“ Ich fahre hoch, funkle ihn an. „Kann ich meine Meinung nicht mehr ändern?“
„Deine Meinung? Weißt du eigentlich, was sich alles verändert? Es ist nicht nur deine Meinung! Alles, alles ist anders, seit du die kennst!“
„Komm, jetzt übertreib nicht!“
„Ich übertreibe nicht!“ Die Figur wird aufs Bett geschleudert. „Merkst du es denn nicht? Es sind nur Kleinigkeiten, aber du veränderst dich! Du sprichst mit mir über Dinge, die du sonst als unwichtig empfunden hast, und du-“ Er springt auf. „Ach verdammt! Nate, du wirst ein ganz anderer Mensch!“
Der Streit währt ungefähr zwanzig Minuten, dann befördere ich Tobias nach draußen, mit den Worten, dass er jetzt zur Arbeit müsse und erstmal wieder runterkommen solle. Danach gehe ich duschen und etwas frühstücken… und dann stehe ich im Flur vorm Spiegel und starre mich selbst an.
Ich merke ja auch, dass ich anders denke als sonst, dass meine Gedanken weniger geordnet sind… aber ich hasse es, wenn jemand versucht, an mir herumzuanalysieren… oder sagen wir, ich hasse es, wenn Tobias das versucht. Seit wir uns kennen, hat er mich immer wieder kritisiert, mir sagen wollen, was ich besser oder anders machen kann oder wie ich mich verändern soll… und nun, da ich mich scheinbar wirklich ein klein wenig verändere, nun kritisiert er wieder… das kann es doch echt nicht sein, oder?
Ich bleibe nicht lange bei der Arbeit an diesem Tag, sondern mache mich auf den Heimweg, sobald ich kann. Ich wünsche mir ein bisschen Ruhe für mich alleine in meiner Wohnung, will nicht direkt wieder mit Tobias konfrontiert werden.
Zuhause angekommen, blinkt das Telefon und meldet einen unbeantworteten Anruf. Mit dem Hörer in der Hand verschwinde ich ins Schlafzimmer und ziehe mich erst einmal um. Dann überprüfe ich die Nummer… Es ist die der Zwillinge. Überrascht darüber trage ich den Hörer weiter mit mir in die Küche und zusammen mit einem Glas Wasser ins Wohnzimmer. Hier nun sitzend frage ich mich, ob ich zurückrufen soll.
Ich tue es nach etwa zehn Minuten. Zwar sage ich mir davor ein paar Mal, dass derjenige schon wieder anrufen wird, wenn es wichtig war, aber irgendwie lässt mich die Neugierde nicht los. Also wähle ich und halte den Hörer gespannt ans Ohr.
„Ja?“, wird sich auch ziemlich schnell gemeldet.
„Hi!“ Ich trinke mein Glas leer. „Du hast angerufen?“
„Hab ich das? Wann?“
„Heute.“
„Nein, das muss Mel gewesen sein. Ich bin grade erst von der Arbeit zurück. Musste heute privaten Chauffeur für zwei Mädels machen, die ihre Einkaufsrunde drehten…“ Fast höre ich das grinsende Augenrollen. „Soll ich ihn dir geben?“
„Weißt du, was er wollte?“, frage ich unsinnigerweise nach.
„Nö. Warte kurz.“
Ich höre das Öffnen einer Tür, gedämpfte Stimmen. Dann meldet sich eine sehr ähnliche zu der, welche zuvor am Apparat war.
„Hey.“
Im Hintergrund fällt die Tür wieder ins Schloss. Warum ich mich ausgerechnet in diesem Moment frage, wie sein Zimmer eigentlich im hellen Zustand aussieht, weiß ich nicht.
„Hey. Du hast versucht, mich anzurufen?“
„Äh… ja, das habe ich…“, kommt es zögernd.
„Wegen etwas Bestimmtem?“
„Nein. Einfach so.“
„Einfach so?“, bin ich zugegeben etwas verwundert.
„Ja… ich meine… ich hatte nur grade nichts zu tun… und mir war langweilig… und da dachte ich… naja… ich meine…“
Seine offensichtliche Nervosität lässt mich schmunzeln.
„Worüber wolltest du reden?“, frage ich, um das Gestotter zu unterbrechen.
„Über irgendwas?“
„Okay.“ Ich lächle. „Fang an.“
„Aber…“
„Was? Hast du nun keine Langeweile mehr?“
„Nein, das ist es nicht…“
„Was dann?“
„Naja… du hast doch bestimmt was zu tun… und ich will dich nicht stören… deshalb-“
„Mel?“
„Mhm?“
„Ich rede gerne mit dir.“
Ich erhalte keine Antwort auf meine Worte, zumindest nicht in den nächsten Sekunden, in denen ich tiefer in die Sofapolster hinein sinke und mich frage, was ich da soeben gesagt habe.
Aber es stimmt, wird mir dann bewusst. Aus irgendeinem Grund haben mir die sinnlosen, lockeren Gespräche, die ich mit Mel bisher geführt habe, sehr gut gefallen.
Nachdem der Moment der peinlichen Stille überschritten ist, beginnt tatsächlich ein Gespräch. Es startet damit, was ich heute bei der Arbeit gemacht habe, geht über Mels Unialltag weiter zu Hobbys. Mel reagiert darauf, dass ich ihm sage, dass ich keine wirklichen Hobbys habe, weniger schockiert als Marcel. Dafür erzählt er mir, dass er neben der Musik sehr gerne liest, weshalb wir nun zu Büchern kommen, feststellen, dass wir hier einen vollkommen anderen Geschmack haben…
Gerade als ich Mel sagen will, dass ich ihm demnächst mal ein Buch mitbringen werde, dass er unbedingt lesen sollte, höre ich den Schlüssel im Schloss.
„Mel?“, unterbreche ich ihn.
„Ja?“
„Ich muss auflegen.“
„So plötzlich? Was ist-“
„Tschüss.“
Ohne noch eine Antwort abzuwarten, lege ich auf. Das Telefon lasse ich bei Zeitschriften liegen, von denen ich mir eine schnappe. Dann lausche ich zum Flur hin.
„Hier bin ich“, lasse ich ihn wissen, als ich das Klopfen an meiner Arbeitszimmertür vernehme.
Schweigend folgt er meinen Worten ins Wohnzimmer, lässt hier seine Tasche zu Boden und kommt zu mir hinüber. Ohne ein Wort sinkt er aufs Sofa hinab und bettet seinen Kopf auf meinem Schoß, als ich seine Absicht dazu erkannt und die Zeitschrift angehoben habe. Mehr passiert nicht, kein Ausbruch, kein Streit und auch keine versöhnenden Worte. In der nächsten Stunde bleibe wir einfach nur genau so sitzen… und ich bin froh, dass ich aufgelegt habe, auch wenn ich immer mal wieder zu dem Telefon schiele und ein schlechtes Gewissen verspüre, Mel so abgewürgt zu haben. Innerlich schwöre ich mir, ihn morgen wieder anzurufen.
Tatsächlich mache ich am Dienstag noch etwas früher bei der Arbeit Schluss. Meine Kollegin sieht mich daraufhin verwirrt an, lässt den Kommentar los, dass sie so was gar nicht von mir kenne, und ist wohl noch überraschter, als ich ihr daraufhin zulächle und einen schönen Abend wünsche. Selbst mir wird an dieser Stelle bewusst, dass das nicht meine Art ist. Nein, ich bin kein unfreundlicher Mensch… aber wirklich der umgänglichste bin ich auch nicht. Marcel hatte schon recht… in gewisser Weise bin ich zwischenmenschlich wohl tatsächlich eine Niete.
Dass ich so bereits um kurz mach vier Uhr zuhause bin, nur um Mel in Ruhe anrufen zu können, ist mir durchaus bewusst. Dennoch ziehe ich es vor, mir darüber keine Gedanken zu machen.
Ohne lange Umschweife wähle ich die Nummer… und dieses Mal ist es sofort Mel, der den Anruf entgegen nimmt.
„Hey“, lächle ich in den Hörer und ehe Mel noch irgendwie reagieren kann, beginne ich sofort mit meiner Entschuldigung: „Es tut mir leid, dass ich gestern so schnell aufgelegt habe, es war nur wegen Tobias. Er ist im Moment so gereizt und wir streiten viel, deshalb… Naja, es tut mir leid.“
„Ist schon okay“, kommt es nach einigen Sekunden. „Ich war nur überrascht. Es ist schön, dass du wieder anrufst.“
„Ja. Ich dachte, das sollte ich, damit du weißt, was los war. Es hatte überhaupt nichts mit dir zu tun.“ Im selben Moment wird mir bewusst, dass das eigentlich gar nicht stimmt. Hätte ich mit jemand anderem telefoniert, hätte ich das Gespräch wahrscheinlich ganz normal beendet… aber dann hätte ich auch nicht mit einer Diskussion rechnen müssen.
„Schon okay, wirklich!“
„Gut.“ Ich lächle und lasse mich richtig aufs Sofa sinken. Gegen die Decke starrend, verspüre ich das Gefühl, Mel gerade eine Menge erzählen zu wollen.
„Wieso streitet ihr im Moment so viel?“, kommt er mir mit seiner Frage jedoch zuvor. „Natürlich nur, wenn ich-“
„Du darfst!“, unterbreche ich ihn und dann überlege ich, wie ich das ganze am besten erkläre. „Er sagt, dass ich mich verändere… und irgendwie mag er das nicht.“
„Inwieweit veränderst du dich?“
„Ich weiß nicht. Schon dass ich dich anrufe, nur um irgendwelchen Scheiß zu reden, bin eigentlich nicht ich…“
„Wirklich? Aber das ist doch eigentlich etwas völlig Normales.“
„Für mich nicht.“
„Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung…“
„Da hast du wohl recht…“ Ich kratze mit dem Finger am Telefonrücken entlang, lasse meine Augen kreisen. „Weißt du, ich tue mir schwer, grundlos Gespräche zu führen“, sage ich dann.
„Wirklich? Den Eindruck hatte ich gar nicht. Ich kann mich mit dir gut unterhalten…“
Einen Moment weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll. Irgendwie bringt mich diese Eröffnung zum Lächeln… und dazu, mich zu freuen. Wieso mag ich es, wenn er so etwas sagt? Nur, weil ich es nicht gewohnt bin, so etwas zu hören?
„Danke“, sage ich schließlich und versuche dann, aus dieser engen Gasse der schweren Worte wegzukommen. „Aber ich denke, dass das die Veränderung ist, die er meint. Einfach weil ich euch noch nicht so gut kenne, und dennoch viel mit euch mache… Er ist eifersüchtig, obwohl ich ihm gesagt habe, dass er das nicht muss, immerhin habt ihr ja Freundinnen…“
Mir werden meine Worte in dem Moment bewusst, in dem ich sie sage. Innerlich fluche ich zu mir selbst, und dann nehme ich die Gelegenheit wahr, weiterzusprechen, bevor Mel etwas sagen kann.
„Ich meine, das hab ich zumindest gesagt, als ich noch dachte, dass du mit Carolin zusammen bist…“
„Aber das bin ich nicht.“
„Ja, ich weiß.“ Ich atme tief durch, nicht sicher, ob ich es an dieser Stelle fragen darf. „Mel?“
„Ja?“
„Ich weiß, ich hab das vielleicht falsch verstanden… aber, sag mal… bist du auch… schwul?“
„Ja“, kommt es schlicht.
Und dann herrscht Stille. Ich nehme den Hörer von meinem Ohr und greife mir an die Stirn, obwohl es mein Herz ist, das ziemlich fest schlägt. Was soll ich denn jetzt sagen?
„Das überrascht mich“, sage ich, als ich den Hörer wieder zurückgeführt habe.
„Wirklich? Wieso?“
„Ich weiß nicht. Weil Marcel nichts gesagt hat vielleicht… keine Ahnung…“
„Warum sollte er das sagen?“
„Weil ich schwul bin… und weil ich am Anfang dachte, er könne damit nicht umgehen… darum vielleicht… oder weil-“
„Ich habe ihn mal gebeten, die Sache nicht in der Welt herumzutragen“, unterbricht Mel mich. „Zwar wissen die meisten, die mich kennen, dass ich homosexuell bin, aber ich ziehe eigentlich vor, es ihnen selbst zu sagen. Ich krieg die Reaktion lieber direkt selbst mit, damit ich weiß, woran ich bin…“
Fast bin ich versucht, ihn zu fragen, weshalb er es mir dann nicht früher selbst gesagt hat… aber ich frage nicht, da mir bewusst wird, was für ein quatsch das ist. Wir kennen uns doch eigentlich kaum.
„Wissen bei dir alle, wer du bist?“, fragt Mel, als ich auf seine Worte nicht reagiere.
„Kaum“, gestehe ich. „Aber ich habe auch nicht viele, denen ich es sagen könnte. Mein Arbeitskollegen wissen es nicht, aber mit denen habe ich auch privat nichts zu tun… und meine Familie, naja, sie wissen es jetzt halt seit kurzem… und ansonsten wissen es halt die Leute von Tobias…“
„Und deine Freunde?“
„Ich habe keine Freunde.“
„Du hast…?“ Er verstummt. „Das… das tut mir leid, ich meine…“
„Kein Problem. Es stört mich nicht. Obwohl es schon schön ist…“ Ich zögere, bevor ich den Satz beendet. „… euch als Freunde zu haben.“
„Das-“
„Ich meine natürlich nur, wenn ihr das auch so seht. Also-“
„Ja! Ja, Nate!“, unterbricht er meinen Ausweichversuch. „Ich mag dich. Ich meine… wir mögen dich… und…“ Es wird wieder still in der Leitung.
Die Augen mittlerweile geschlossen, lächle ich in mich hinein, während ich mir vorstelle, wie der Rotschimmer auf seinen Wangen liegt.
„Das ist schön“, sage ich, mir langsam bewusst, wo dieses Gespräch hinführen könnte. „Aber wie wäre es, wenn wir über etwas anderes reden? Etwas weniger Peinliches vielleicht…“
Lachend stimmt er mir zu und ich bin froh, diesen Ausgang gefunden zu haben.
Nachdem der Moment des irgendwie intim angehauchten Gespräches verklungen ist, telefonieren wir noch fast eine Stunde lang. Es sind nur Kleinigkeiten, über die wir reden, nichts besonderes, und doch fühle ich mich wohl dabei, mag es, mit ihm am Telefon zu lachen.
Als ich auflege, habe ich das Gefühl, dass ich es nicht hätte tun sollen. Am liebsten hätte ich noch weiter mit ihm geredet, die Zeit noch länger so schnell verrinnen gesehen… Wann jemals hatte ich das Gefühl, dass eine Stunde nur einem Augenaufschlag glich?
Noch eine Weile bleibe ich auf dem Sofa liegen. Ich denke darüber nach, was Mel gesagt hat… über das Schwulsein, dass er es den Leuten gerne selbst sagt…
Ich habe über diesen Punkt nie so wirklich nachgedacht. Ich habe mich nie gefragt, ob es wichtig ist, bestimmten Personen zu erzählen, dass ich schwul bin. Die einzigen Personen, an die ich hierbei dachte, waren meine Eltern, mein Vater im Speziellen… Aber ansonsten… Wenn ich Leute kennengelernt habe, dann war es durch irgendwelche Schwulenbars, und da ich mit meinen Kollegen nie freundschaftliche Kontakte pflegte, kam es mir gar nicht in den Sinn, es ihnen zu erzählen. Es ist noch nicht mal so, dass ich es verheimlicht hätte… Ich habe darüber nur nie nachgedacht. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, wissen zu wollen, was eine andere Person von mir denkt, wenn sie es weiß… andere Menschen haben mich einfach noch nie beschäftigt. Nie… nur jetzt, auf einmal… und in diesem Fall ist es auch nicht das Schwulsein, um das es geht, sondern um mehr…
„Ich mag dich.“
Er hat es gesagt und es hat mich gefreut…
Ob es schlimm ist, dass es mich sogar sehr gefreut hat?
ENDE Akt 9
Quick-Changes:
Gemeint sind beim Musical die schnellen Kostümwechsel während der Vorstellung.
Im Part meine ich damit die schnellen Veränderungen, die bisher in Nathanael vorgegangen sind und welche Tobias anspricht.
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