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Verstecktes Leben im Abseits - Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball

Kapitel 2 - Der erste Fehlpass

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Informationen

 

Was genau „schwul“ wirklich bedeutet, fand ich mit Dreizehn heraus, als ich aus skurriler Neugierde heraus den Begriff in eine Suchmaschine tippte und dabei auf eine Seite stieß, die sich ausschließlich mit dem Thema befasste. Mein erster Impuls, als ich sah, dass es hier um Homosexualität ging, sagte mir, die Seite sofort zu schließen, doch ich konnte meine Augen nicht von zwei nackten Männerkörpern lassen, welche einander umschlangen. Ihre Haut glänzte und mir wurde heiß und kalt, während ich das Bild anstarrte. Ohne zu merken, was ich tat, griff ich mir in die Hose und holte mir einen runter. Erst als mein Sperma an meiner Hand klebte, erwachte ich aus meiner Starre und sprang angeekelt auf. Fast panisch schaute ich mich nach Beobachtern um, schloss sofort die Internetseite und rannte ins Bad, um zu duschen und mich gründlicher zu waschen als je zuvor. Mein Herz raste dabei schmerzhaft und ich begriff, ohne wirklich darüber nachzudenken, dass ich etwas Verbotenes getan hatte. Ich verdrängte jegliche Gedanken daran und schwor mir, nie wieder nach diesem Begriff im Internet zu suchen.

Dieses „nie wieder“ hielt fast genau eine Woche, dann schloss ich mich eines Abends in meinem Zimmer ein, ließ den Rollladen herunter und saß zögernd vor der Tastatur. Ich tippte die Buchstaben langsam und brauchte lange, um die Suchanfrage zu bestätigen. Ich hatte in den gesamten letzten Tagen immer wieder das Bild vor Augen gehabt. Es hatte mich verfolgt, mich nicht loslassen wollen, selbst wenn ich noch so versuchte, an etwas anderes zu denken. Schließlich gab ich meiner Neugierde nach.

Der erste Treffer führte zur gleichen Seite wie Tage zuvor und wieder sah ich das Bild, welches mich verfolgt hatte, sah die beiden Männer. Dieses Mal zwang ich mich, meinen Blick von ihnen zu nehmen und stattdessen den Text zu lesen, welcher daneben stand. Ich könnte ihn jetzt nicht mehr wiedergeben, doch er sprach davon, dass Schwulsein etwas ganz Natürliches sei, nichts, weshalb man sich schämen müsse. Heute weiß ich, dass ich vor mir diesen typischen Coming-out-Kram sah, doch damals war mir jedes einzelne Wort davon neu.

Schnell verschlang ich die wenigen Zeilen, klickte mich durch die Navigation und landete irgendwann auf einer Art Selbsttest: „Bin ich schwul?“. Ich las zwei Fragen, dann, als ich sie beide mit „Ja“ beantworten konnte, klickte ich schnell auf den Home-Button, denn plötzlich bekam ich Angst. Ich schob die Tastatur von mir und wollte den Rechner ausschalten, als auch dieses Mal mein Blick an den beiden umschlungenen Männern hängen blieb.

War ich so?

Aber ich war doch mit Karo zusammen.

Der Gedanke half mir, den Rechner tatsächlich herunterzufahren. Dann holte ich mir das Telefon aus der Küche und rief meine Freundin an. Wir telefonierten lange und redeten dabei über Schule, Hausaufgaben, ihre Lieblingsfernsehserie, über mein Training … und als wir auflegten, ging es mir wieder besser.

Nein, ich war nicht schwul. Wie gesagt, ich hatte doch eine Freundin!

Man kann sich denken, dass mich das Thema nicht mehr so einfach losließ. Ich sträubte mich dagegen und doch dachte ich immer wieder daran. Vielleicht, weil ich bisher nichts damit zu tun gehabt hatte, weil es neu war, auf komische Weise faszinierend. Tatsächlich dachte ich sogar einmal daran, mit Dennis darüber zu reden, doch ich entschied mich sofort wieder dagegen. Eigentlich wollte ich dem Ganzen gar nicht so viel Bedeutung beimessen und es einfach schnell wieder aus meinen Gedanken verbannen, wäre da nicht dieser Sport gewesen, bei dem immer wieder entsprechende Begrifflichkeiten durch die Gegend flogen. Den Zusammenhang dabei begriff ich einfach nicht, denn was hatte unser Sport mit der Liebe zwischen zwei Männern zu tun?

Abseits von dem Thema wurde ich indes zum besten Jungspieler erklärt, den unser Verein hatte. Ich war Dreizehn und wechselte nun in die Mannschaft der Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen. So sehr ich mich freute, so stolz ich doch auf mich war, so traurig machte es mich auch, mich von meinem besten Freund trennen zu müssen. Doch er trug es mir nicht nach, er freute sich gar für mich und schwor mir, dass ich sicher bald das ganze große Geld machen würde. Wir lachten darüber, ohne es ernst zu nehmen. Die einzigen, die es ernst nahmen, waren die Erwachsenen. Hinter meinem Rücken liefen bereits seit einiger Zeit Gespräche mit einem größeren Verein. Es bestand durchaus Interesse, doch zunächst wollte man schauen, wie ich mich unter den Älteren machen würde, ob ich mich noch weiter steigern konnte, wie hoch mein Zukunftspotential noch war oder ob ich es bereits ausgeschöpft hatte.

Im selben Jahr fand wieder die Fußballweltmeisterschaft statt. Aufgrund der Zeitverschiebung durfte ich nicht jedes Spiel anschauen, doch ich verfolgte das Turnier dennoch so detailliert es ging. Nach jedem Spiel las ich mir die Analysen und Prognosen durch, schaute mir Ausschnitte wieder und wieder an. Ich diskutierte viel mit meinen Mannschaftskameraden und mit Dennis, und weil ich kaum etwas anderes im Kopf hatte, machte Karo mit mir Schluss.

Eigentlich hatten wir vor einiger Zeit darüber gesprochen, ob wir nicht mal miteinander schlafen sollten. Zwar fühlten wir uns beide noch zu jung dafür, doch gleichzeitig waren wir auch neugierig auf das, wovon meine älteren Mannschaftskameraden andauernd sprachen. Karo hatte es ab und an mitbekommen, denn sie schaute mir manchmal beim Training zu und hatte dort auch mit den Freundinnen der älteren Jungs zu tun.

Sex war für uns ein großes Mysterium. Wir wussten oder verstanden nicht, dass es nicht mit Fahrradfahren gleichzusetzen war, auch wenn man bei beidem einen Schutz tragen sollte. Wir dachten uns, dass man Sex doch einfach mal ausprobieren könnte. Dabei küssten wir noch nicht einmal oft. Und wenn wir es taten, ging es meist von ihr aus, denn ich verspürte nie große Lust danach. Petting – den Begriff lernte sie durch die älteren Mädchen kennen – praktizierten wir ebenso wenig. Dass wir also vielleicht erst einmal die normale Reihenfolge gehen sollten, beginnend damit, Spaß am Küssen zu haben, darüber waren wir uns nicht im Klaren. Wir wollten diese Sache einfach mal ausprobieren, von der wir hörten, sie würde das beste Gefühl der Welt vermitteln.

Wie gesagt, es kam nicht dazu, denn aufgrund der WM nahm ich mir für Karo kaum noch Zeit. Sie war genervt und sauer, worauf ich nicht einging und weshalb ich von ihr verlassen wurde. Sie weinte dabei, doch ich konnte nichts tun, um sie aufzuhalten. Ich wusste auch nicht, was ich hätte tun sollen, denn eigentlich empfand ich es nicht als allzu schlimm, nicht mehr mit ihr zusammen zu sein. Im Gegenteil, nun hatte ich noch mehr Zeit für meinen Sport.

Das einzige Problem, das mit der Trennung einherging, war mein eigenes Selbstwertgefühl. Seit diesem einen Abend war ich nicht mehr im Internet auf der Suche nach Informationen zur Homosexualität gewesen, obwohl es mir immer mal wieder im Kopf herum spukte. Aber ich hatte mir doch selbst versichert, dass ich damit nichts zu tun hatte, also gab ich dem Drängen in mir nicht nach. Es war nicht nötig gewesen, ich hatte ja eine Freundin. Doch nun, nach der Trennung, galt diese Ausrede nicht mehr und irgendwie drängten die Gedanken stärker, die Neugierde, welche eigentlich schon die ganze Zeit da gewesen war, die ich aber unterdrückt hatte.

Wenn die Jungen aus meiner Mannschaft nun über Sex sprachen, musste ich unweigerlich daran denken, was ich an diesem einen Tag auf der Internetseite gelesen hatte. Es war nicht viel gewesen, aber nun verstand ich, was damit gemeint gewesen war: auch zwei Jungen konnten Sex miteinander haben. Unweigerlich musste ich mich davor zurück halten, zu starke Neugierde in diese Richtung zu entwickeln, wenn ich abends in meinem Bett lag. Stattdessen brütete ich über Mannschaftsplänen der WM, Analysen der Spiele und einem Sammelstickeralbum, welches ich fast vervollständigt hatte. Dabei fiel mir nicht auf, wie ich mir unterbewusst aus jeder Mannschaft den Hübschesten heraussuchte, und ich realisierte auch nicht, dass drei davon überdurchschnittlich oft in meinen Träumen vorkamen.

Im Grunde ignorierte ich die kleine Stimme in meinem Kopf, die einfach nicht weggehen wollte.

„Aber irgendwann müssen Sie es doch bemerkt haben.“

„Natürlich. Aber ich habe es einfach nicht wahrhaben wollen.“

„Warum nicht?“

„Ich weiß nicht … Man mag meinen, uns wurde schon früh eingetrichtert, man dürfe nicht schwul sein, aber eigentlich stimmt das gar nicht. Das Thema kommt einfach gar nicht auf den Tisch und dadurch, dass immer nur von Frau und Mann die Rede ist, und davon, wie männlich unser Sport doch ist, bekommt man gleichzeitig unterbewusst vermittelt, dass es falsch ist, so zu sein …“

„Verstehe.“

„Außerdem … ob nun Fußballer oder nicht, erstmal sträubt sich wahrscheinlich jeder Junge dagegen, schwul zu sein … Man ist dann anders, auf eine Weise, die man nicht kennt, weil man normalerweise nicht damit in Berührung kommt …“

„Hätten Sie nicht mit Ihren Eltern darüber reden können?“

„Auf keinen Fall.“

Mein Vater war ein netter, beliebter Mann. Er hatte viele Bekannte, eine Menge Kontakte in unserer Stadt und eine unheimlich gute Beziehung zu meinem Trainer. Gemeinsam brüteten sie darüber, wie sie mich zu einem Profifußballer machen könnten, sie entwarfen neue Trainingspläne für mich und führten das ein oder andere wichtige Gespräch.

Oft schaute mein Vater, wenn es seine Arbeit zuließ, beim Training zu, und als ich die Bedeutung entsprechender Worte erst einmal gelernt hatte, bemerkte ich auch, dass er sie fast häufiger nutzte als der Trainer selbst. Er wand sie dabei aber nie gegen mich an. Vermutlich, da ich sein Sohn war und er keinen Fluch über mich legen wollte. Dafür bezeichnete er viele unserer Spielzüge als „schwul“ und als Felix sich mitten im Spiel den Knöchel brach und anfing, lauthals vor Schmerzen zu heulen, meinte mein Vater kühl, dass er sich nicht wie eine „Tunte“ benehmen sollte. Auch das Wort kannte ich mittlerweile und entsprechende Äußerungen brannten in mir mehr als ich mir eingestehen wollte.

Meine Mutter kam fast nie zum Training, nur ab und an schaute sie bei einem Freundschaftsspiel zu. Sie äußerte sich nie mit derartigen Ausdrücken, doch ich begriff schnell, dass dies auch eher den Männern vorbehalten war. Allerdings störte sie sich auch nicht weiter daran, wenn mein Vater mit den Begriffen um sich warf.

Ich wollte nicht darüber nachdenken, warum mir das Ganze so nahe ging oder weshalb es mir jedes Mal einen Stich versetzte, wenn die entsprechenden Worte als Schimpfworte verwendet wurden. Ich verdrängte das flaue Gefühl in meinem Magen und das Hämmern in meinem Kopf. Das funktionierte ganz gut, zumindest so lange ich Ablenkung hatte.

Doch natürlich war die WM irgendwann vorbei und ich verlor nicht nur diesen Zeitvertreib, sondern hatte zudem auch keine Freundin mehr, mit der ich mich beschäftigen oder treffen konnte. Dennis hingegen hatte eine Freundin, weshalb ich auch nicht immer auf ihn zurückgreifen konnte, und auf meine anderen Freunde hatte ich einfach oftmals keine Lust.

So kam es, dass ich immer öfter alleine war und einfach nichts mit mir anzufangen wusste. Ab und an schnappte ich mir dann den Ball und kickte noch ein bisschen draußen herum, doch dies war viel weniger Ablenkung als viel mehr ein Zeitvertreib, bei dem eine Menge Zeit zum Nachdenken blieb. Und dann kam eines Abends dieser Bericht im Fernsehen, der meine Neugierde vollständig für sich ergriff.

Es war ein Abend wie jeder andere. Ich kam vom Sport heim und noch war keiner Zuhause. Meine Mutter musste heute länger arbeiten, mein Vater traf sich noch mit einem Kollegen und Sophie schlief bereits seit einer Woche jede Nacht bei ihrer besten Freundin. Also pflanzte ich mich wie so oft vor den Fernseher und schaltete durch die Programme. Erst schaute ich die letzten Minuten irgendeiner Soap, dann die ersten eines Spielfilms. Hier kam bald Werbung und ich schaltete weiter.

Hängen blieb ich drei Sender später an einer Dokumentation. Das erste, was ich sah, waren zwei Männer, die zusammen auf einem Sofa saßen und ein Interview gaben. Es wäre nichts weiter dabei gewesen, wäre mir nicht sofort aufgefallen, dass die Hand des einen Mannes auf dem Oberschenkel des anderen lag. Außerdem war ein Abstand zwischen den beiden förmlich nicht vorhanden.

Schnell schaltete ich weiter, weil mich erschreckte, was ich sah und weil ich sofort Herzklopfen bekam, doch der Tierfilm im nächsten Programm reizte mich verständlicherweise überhaupt nicht. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte ich bereits wieder zurück geschaltet.

Ich schluckte schwer, meine Hand klammerte sich um die Fernbedienung und mit den Augen hing ich an der Hand auf dem Bein. Ich hörte erst einmal gar nicht, worum es eigentlich ging, denn das Schlagen meines Herzens schien jeden Ton zu überstrahlen. Dann wechselte die Szene. Man sah eine Einkaufspassage und die beiden Männer, die hindurch liefen. Sie berührten sich dabei nicht, doch irgendwas war besonders daran, wie sie liefen, aussahen, zueinander gehörten … Langsam wurden auch meine Ohren aufmerksam und ich hörte gebannt der Stimme des Berichterstatters zu. Natürlich, es ging um Homosexualität, ums Coming-Out, darum, wie das Thema in der Gesellschaft mittlerweile gehandhabt wurde.

Bei dem Mann, zu dem die Hand gehört hatte, handelte es sich um einen Frisör, der selbst im Interview lachend gestand, wie klischeehaft sein Beruf sei. Sein Partner war gelernter Elektrofachmann und erzählte, wie er sich vor einem halben Jahr geoutet hatte. Ich hing an seinen Lippen, besonders als er die Frage gestellt bekam, wie er denn bemerkt habe, schwul zu sein.

Die Antwort auf diese Frage erfuhr ich nie, denn ehe er antworten konnte, wobei er lächelnd seinen Partner anblickte, wurde mir die Fernbedienung entrissen. Dann wurde der Bildschirm schwarz und in der nächsten Sekunde begann mein Vater mich anzuschreien. Ich hielt mir die Ohren zu und war total erschüttert. Ich kann nicht mehr wirklich wiedergeben, was er damals geschrien hat. Es waren eine Menge abfällige Bemerkungen, bei denen er immer wieder auf den schwarzen Bildschirm zeigte und den Kopf schüttelte.

„Verstehst du?“, zischte er dann und packte mich bei den Schultern. „So was ist dreckig, verstanden? Dreckig!“

Ich nickte und bemerkte nicht, dass ich angefangen hatte, zu weinen. Das realisierte ich erst, als mein Vater mich von sich stieß, mir ein Päckchen Taschentücher in die Hand drückte und meinte, ich solle bloß aufhören zu heulen, immerhin sei ich nicht so eine Schwuchtel wie die.

Vielleicht war es jener Moment, in dem mein Herz auf Jahre seine Wärme verlor.

„Wie alt waren Sie damals?“

„Gerade noch dreizehn.“

„Und da haben Sie gemerkt, dass Sie schwul sind?“

„Das kann man so nicht direkt sagen … Zwar lag ich die Nacht wach, da mir irgendwie innerlich bewusst geworden war, dass irgendwo in mir etwas wie diese Männer im Fernsehen tickte, doch ich suchte immer wieder nach Gründen, die dagegen sprachen …“

„Sie gestanden es sich also nicht ein?“

„Nein. Ich verbat es mir. Ich verschloss den Gedanken in mir. Ich entschied, dass ich nicht so sein würde … gleich morgen würde ich mir wieder eine Freundin suchen.“

„Und das taten Sie?“

„Ja.“

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