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Verstecktes Leben im Abseits - Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball

Kapitel 5 - Verteidigen und verstecken

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Kann man sich das Gefühl vorstellen, wenn man von dem Menschen, in den man verliebt ist, gesagt bekommt, dass er einen liebt? Man mag es als das glücklichste Gefühl auf der Welt beschreiben, besonders, wenn man zuvor nicht mit dem Hauch einer Chance gerechnet hat. Man mag denken, dass man den Himmel umarmen und in die ganze Welt hinaus posaunen will, dass man nun endlich zusammen sein kann. Doch wenn man es nicht erlebt hat, so weiß man nicht, wie es sich anfühlt.

Für mich war es ein vollkommen anderes Gefühl als all das, was man sich für eine derartige Situation vorstellen mag.

Zunächst einmal kam es wirklich aus heiterstem Himmel. Gerade war ein Länderspiel mit geringen Erfolgschancen gerade noch glücklich zu Ende gegangen und wir saßen auf Karims Bett und jubelten. Es war alles ganz normal. Ich hatte meine Gefühle unter Kontrolle und genoss einfach die Zeit, als sich ganz plötzlich unsere Hände berührten. Es war eine zufällige Berührung, wie sie schon mal vorkommen kann. Man denkt sich nichts dabei, zieht die Hand zurück und vergisst den Moment sofort wieder, doch hier waren wir beide eine Sekunde lang starr vor Schreck. In der nächsten dann wollte ich lachen, meine Hand zurück ziehen, vom Bett huschen und sagen, dass ich nach Hause müsse, als ich plötzlich merkte, wie seine Finger meine festhielten. Er ließ mich nicht frei und sah mich stattdessen aus großen Augen ängstlich an. Er müsse mir etwas sagen, drangen die Worte scheu an mein Ohr, und mir wurde schlecht dabei. Ich riss an meiner Hand, doch er ließ sie nicht los.

Kann man sich das Gefühl vorstellen, wenn man von dem Menschen, in den man verliebt ist, gesagt bekommt, dass er einen liebt?

Für mich war es das Schlimmste, was passieren konnte.

Sobald Karim es mir gesagt hatte, riss ich mich los. Ich sprang vom Bett, mein Herz raste und ich wusste nicht, was zu tun. Ich wollte mich übergeben und ich wollte mich freuen, ich wollte jauchzen und ich wollte schreien. Doch alles, was ich tat, war still mitten im Zimmer zu stehen. Keinen Muskel konnte ich bewegen; plötzlich tat mir alles weh.

Doch weshalb? War es nicht das, was sich ein jeder wünscht? Meine Gefühle wurden erwidert! Sollte ich mich nicht freuen?

Ich tat es nicht, im Gegenteil. Für mich war es der blanke Horror.

Karim stieg vom Bett und sagte meinen Namen. Ich schüttelte seine Hand ab und drehte mich zu ihm um. Nun sah ich reine Furcht in seinen Augen. Ob ich Natalie so angesehen hatte, als sie die Wahrheit herausbekommen hatte?

Karim bat mich, etwas zu sagen, doch ich schaffte es nicht. Meine Lippen waren wie zugenäht, ich brachte sie nicht auseinander, denn ich wusste einfach nicht, was ich dazu sagen sollte. Er war in mich verliebt, er erwiderte meine Gefühle, doch anstelle der Freude empfand auch ich pure Angst. Dies konnte mir alles zerstören. Ich konnte alles verlieren.

Letztendlich sagte ich nichts. Ich packte meine Sachen und flüchtete. Karim folgte mir bis zur Bushaltestelle und dort weinte er mittlerweile. Erst hier, als ein paar Augen uns neugierig beobachteten, fauchte ich ihn an, nannte ihn eine dreckige Schwuchtel und sagte ihm, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Dann stieg ich in den Bus und ließ meinen zu der Zeit besten Freund, der mein fester Freund, meine erste Liebe hätte werden können, einfach so stehen.

Der Bus fuhr los und ich sah nicht mehr zurück, sank stattdessen in meinen Sitz und betrachtete mich in der dreckigen Glasscheibe. Sah man mir meine Angst an? Oder wie sehr ich mich gerade hasste? Sah man, dass ich am liebsten umkehren und Karim küssen wollte? Sah man mir an, dass auch ich schwul war?

Ich schüttelte immer wieder den Kopf und sagte mir, dass ich es genau richtig machte. Selbst wenn Karim nun erzählen würde, ich sei schwul – wie auch immer er darauf kommen sollte – so würde ihm doch keiner glauben, oder? Natürlich nicht, ich war doch auf dem besten Wege, ein richtiger Mann zu werden, ein Profifußballer, und die sind ja bekanntlich nicht schwul. Nein, ihm würde niemand glauben!

Und dennoch erstellte ich in jener Nacht in meinem Bett im Geiste eine Liste, welche Möglichkeiten es für mich gab, Selbstmord zu begehen, falls meine Welt über mir zusammenstürzen würde. Mir fielen auf Anhieb 37 ein und über diese bizarre Ablenkung hinweg schlief ich endlich ein.

Natürlich habe ich die Überlegungen nie benötigt und nicht einmal weiter gedacht, denn ich hätte mich wohl niemals selbst umgebracht. Dafür hatte ich viel zu große Angst vor dem Tod und außerdem, so ganz allgemein, lebte ich doch viel zu gerne. Wenn ich nicht lebte, konnte ich auch nicht auf dem Spielfeld stehen!

Dennoch ging ich sehr ängstlich am nächsten Nachmittag zum Training. Dennis hatte mir in der Schule schon angemerkt, dass etwas nicht stimmte, doch wie hätte ich es ihm erzählen können? Das ging nicht, also hatte ich geschwiegen und war ihm fast ein bisschen aus dem Weg gegangen. Das funktionierte aber so einfach nicht beim Thema Training. Hier musste ich erscheinen, denn ich konnte nicht riskieren, dass irgendwas erzählt werden würde, das nicht der Wahrheit entsprach. Oder besser gesagt, von dem ich felsenfest behaupten würde, dass es nicht der Wahrheit entspräche.

Zunächst brauchte ich mir keine Gedanken machen, denn Karim erschien in der gesamten Woche nicht zum Training. Freilich wurde ich gefragt, was mit ihm los sei, doch ich stritt ab, jegliche Ahnung oder auch nur Idee zu haben. Außerdem brachte ich hier und da Bemerkungen an, die zeigten, dass ich nicht mehr mit Karim befreundet war. Ein wenig komisch, natürlich, immerhin waren wir in den letzten Wochen nach der längeren Krise wieder ein Herz und eine Seele gewesen.

Ich erklärte nichts, ich log nicht einmal, und ich schwor mir, dass niemand je die Wahrheit erfahren würde. Ich würde Karim einfach aus dem Weg gehen und er wäre sicher schlau genug, dasselbe mit mir zu tun. Klar, ich hätte auch weiter einen auf Freundschaft machen können, aber wie sollte das funktionieren? Er hatte Gefühle für mich, davon wusste ich nun, und ich sehnte mich genau danach. Die Gefahr war zu groß, dass ich darauf eingehen und er somit die Wahrheit erfahren würde. Niemand außer Natalie kannte sie und selbst vor ihr hatte ich es nie wirklich zugegeben. So musste es bleiben, niemand durfte es jemals wissen. Ich würde alles tun, um es zu verbergen.

Tatsächlich tat ich letztendlich alles und ging dabei sprichwörtlich über die Leiche meines besten Freundes.

Dabei war es nie meine Absicht gewesen, ihn bloßzustellen. Ich war mir sicher, dass er unter seinen Gefühlen genauso litt wie ich selbst; ich konnte nur erahnen, wie es jetzt für ihn sein musste, da er dachte, ich würde ihn hassen; ich, der Mensch, den er liebte. Ich hatte ihm das Herz gebrochen, ich wollte es nicht noch schlimmer machen.

Doch es kam schlimmer, denn Karim schaffte es nicht, die Sache zu begraben und still zu schweigen. Bereits als er nach einer Woche Abwesenheit wieder da war, sah ich in seinem Blick, dass für ihn das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Er wollte nicht akzeptieren, von mir verabscheut zu werden.

Ich setzte also alles daran, nicht mit Karim allein zu sein. An mein Handy ging ich nur, wenn ich die Nummer kannte und wusste, dass es nicht seine war. Ans Haustelefon ging ich gar nicht mehr und verbot allen, Karim zu mir weiterzuleiten. Und vor der Tür ließ ich ihn auch zwei Mal stehen. Eigentlich sollte das doch genug sein, um ihm zu zeigen, dass er mich aufgeben musste, nicht wahr?

Ich dachte es wirklich, vor allem, als er nicht mehr anrief und beim Training weniger Anstalten machte, sich in meine Nähe zu drängen. Auf die Fragen, was zwischen ihm und mir vorgefallen sei, antwortete er genauso einsilbig wie ich, und ich dachte, dass das Schlimmste bald schon überstanden sein würde. Doch dann kam es anders, denn letztendlich wollte er mich einfach nicht ohne Erklärung aufgeben.

Es war der Abend nach einem ziemlich erschöpfenden Training. Karim war heute nicht erschienen, was mir ganz recht gewesen war. Ich machte mich also in Ruhe fertig und duschte lange, ausgiebig. Ich dachte an nichts und genoss einfach das Wasser wie es über meinen Körper floss. Ein stückweit fühlte ich mich befreit und sauber. Ich war stolz auf mich, dass ich Karim so gut widerstand, und ich glaubte sogar ein bisschen daran, dass ich irgendwann ein vollständiger, wirklicher Hetero werden könnte. Dann hörte ich ein Geräusch und öffnete die Augen. Karim stand direkt vor mir. Vor Schreck wich ich zurück, rutschte aus und wurde von ihm festgehalten.

Ein Stück größer war Karim schon immer gewesen, doch noch nie hatte ich aus einer Nähe zu ihm aufgesehen wie in dem Moment, als er mich an sich presste. Er lächelte. Ich wollte schreien, ihn anbrüllen, doch alles was ich konnte, war ihn anzusehen. Denn ich liebte sein Lächeln. Es sah so wundervoll aus.

Ehe ich auch nur irgendwie reagieren konnte, tat dies auch schon mein Körper. Diese plötzliche Nähe war zu viel für mich, zumal sein Bein leicht in die entsprechende Gegend drückte. Karim spürte die Reaktion meines Körpers natürlich sofort und lächelte nur noch etwas mehr. Er habe es doch gewusst, waren seine leisen Worte, ganz nah an meinem Ohr. Und dann fuhr seine Hand hinab und packte zu. Ich konnte ein erschrockenes Stöhnen einfach nicht unterdrücken, ebenso wenig wie meine Gefühle, die über mir zusammen prallten. Ich wollte ihn küssen, ich wollte über ihn herfallen, ihn verschlingen, ficken bis zum geht nicht mehr, schreien hören und ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte … doch in dem Moment, als seine Lippen die meinen trafen, brannte bei mir eine ganz andere Sicherung durch.

Ich stieß Karim so heftig von mir, dass er trotz seiner Schuhe auf den nassen Fliesen ausrutschte und hinfiel. Dann ging ich auf ihn los.

Ich hatte noch nie einen anderen Menschen geschlagen, wusste also nicht, wie es sich anfühlte, und so schockierte mich das Gefühl seines Gesichtes, wie es gegen meine Faust traf. Doch es hielt mich nicht auf und auch das Blut schockte mich zu wenig, um von ihm abzulassen. Ich schlug so lange auf ihn ein, bis er zusammen sank, da ihm alles weh tat und sein Körper ihm nicht mehr gehorchte. Vielleicht war er auch ohnmächtig, ich wusste es nicht und ich wollte auch nicht darüber nachdenken.

Ich sprang auf und wollte flüchten, bemerkte dann, dass ich noch immer eine fast schmerzlich pochende Erektion hatte und stellte mich unter die kalte Dusche. Hier gaben mir die Beine nach, ich brach zusammen und heulte, so lange, bis plötzlich eine Hand auf meiner Schulter lag. Ich fuhr herum und schlug zu, dann wurde mein Arm gepackt und ich wurde festgehalten. Erst jetzt erkannte ich das Gesicht von Dave, einem meiner Teamkameraden. Über dem blutig geschlagenen Karim beugte Phillip. Im nächsten Moment schrie einer von ihnen nach unserem Coach.

„Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.“

„Ich weiß. Und ich bin alles andere als stolz darauf. Aber auch dieser schwarze Abschnitt gehört leider zu meinem Leben dazu …“

„Sie haben es getan, um sich zu schützen.“

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob das wirklich so einfach ist … Es war Panik, glaube ich, und Angst … Ich habe mir bis heute nicht verziehen, dass ich so ausgeflippt bin …“

„Haben Sie es denn bereut?“

„Das ist eine gute Frage, die ich gerne mit ja beantworten würde. Doch man muss bedenken… Hätte ich anders gehandelt und meinen Gefühlen nachgegeben, hätten Dave und Phillip uns wahrscheinlich erwischt. Dann wäre alles ganz anders weitergegangen …“

„Und Sie wären nie Profi geworden.“

„Richtig. Aber vielleicht wäre ich dann noch ganz.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich habe etwas von mir verloren, als ich ihn geschlagen habe, ihn, den ich eigentlich liebte … und ich habe es bis heute nicht wieder gefunden.“

Anders als man vielleicht erwarten mag, flog nicht ich aus der Mannschaft sondern Karim. Ich durfte lediglich zwei Wochen nicht am Training teilnehmen, doch das war ein kleiner Preis gegen den, den ich bereits bezahlt hatte. Ich hatte mich verleugnet, hatte meinen besten Freund verprügelt und zudem noch allen erzählt, dass er versucht hatte, mich anzugraben. Das tat ich, damit er mir ja nicht mit etwas Derartigem zuvor kommen würde. Und tatsächlich versuchte er es auch danach nicht. Nicht ein einziges Mal erwähnte er, dass ich wegen ihm einen Ständer gehabt hatte. Stattdessen erhielt ich eine letzte SMS von ihm, in der stand: Es gibt nichts Schwierigeres, als eine Lüge zu leben, denn wer seine Gefühle verleugnet, der verleugnet sich selbst.

Danach hörte ich nie wieder etwas von Karim. Keiner aus unserer Mannschaft sprach mehr über ihn oder über den Vorfall. Es wurde totgeschwiegen, denn so etwas wie Homosexualität gibt es im Fußball ja bekanntlich gar nicht. Das wusste ich mittlerweile nur zu gut und durch diese Lektion hatte es sich bei mir nur tiefer verankert.

Ein paar Monate nachdem ich wieder mit dem Training begonnen hatte, kam das Angebot für mich, erneut den Verein zu wechseln. Ein anderer, besserer Zweitligaverband war schon länger an mir interessiert und wollte mich nun abwerben. Zunächst würde ich nur am Wochenende und ab und an für eine einzelne Woche mit ihnen trainieren, damit ich die Schule beenden könnte. Dann, in einigen Monaten, nach meinem Abschluss, würde mir ein Zimmer zur Verfügung gestellt werden, denn der neue Verein lag 300 Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Alleine das war für mich ein Grund, sofort zuzustimmen. Im Augenblick konnte ich mir nichts Besseres vorstellen, als von da wegzukommen, wo mich jeder kannte.

Vielleicht würde ich so meine Vergangenheit, meine Gefühle und vor allem mein Schwulsein endlich abschütteln können.

Dennis und ich bekamen bei der Abschlussfeier aufgrund unserer Nachnamen nacheinander unsere Zeugnisse, doch wir hatten gerade die vielleicht schwierigste Phase unserer Freundschaft erreicht und beglückwünschten uns gegenseitig nur sporadisch. Es war schade und ein wenig vermisste ich ihn, doch gleichzeitig wusste ich nicht wirklich, was ich dagegen machen sollte. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich vor ihm, meinem jahrelangen Freund, viel schwerer verstecken konnte als vor allen anderen. Er wusste, dass ich sehr an Karim gehangen hatte, und wollte ein paar Mal über dessen Homosexualität sprechen, was ich immer wieder unterband. Außerdem hatte er trotz Trennung noch immer etwas mit Wiebke zu tun und darüber mit Natalie. Ich hatte Angst, dass er über sie vielleicht doch irgendwann die Wahrheit erfahren würde.

Kurz vor meinem Abschluss war ich sechzehn geworden. Keine Ahnung wieso, aber ich war sehr stolz auf dieses Alter. Ich feierte mit meinen neuen Teamkameraden und machte ein wenig mit einer sehr netten und überaus hübschen jungen Frau namens Miriam rum, die sofort ein Auge auf mich geworfen hatte. Außerdem machte sie schnell deutlich, dass sie nichts von einem One-Nights-Stand hielt, sondern mehr wollte als das. Nicht zuletzt diese Tatsache gefiel mir, denn so konnte ich wieder einmal eine Freundin vorweisen, ein Alibi, dessen war ich mir mehr bewusst denn je.

Das Zimmer, welches ich an meinem neuen Wohnort bezog, gehörte zu einer Wohngemeinschaft mit zwei weiteren Parteien, ebenfalls Fußballer und meine Teamkameraden. Ihre Namen waren Til und Lutz, und zum Glück war keiner der beiden auch nur im Entferntesten mein Typ. Das beruhigte mich sehr, denn ehrlich gesagt hatte ich Angst davor gehabt, mit zwei Männern zusammenzuleben.

Doch selbst ohne jegliches Interesse an diesen Beiden, fing ab dem Tag, als ich mein Leben zum ersten Mal abseits meiner Eltern und meiner Heimat begann, ein neuer Abschnitt für mich an. Ich ging anders mit mir selbst um und ich veränderte mich. Nach außen wurde ich, zumindest eine Zeit lang, noch mehr Macho als zuvor. Ich flirtete mit den Frauen, selbst wenn ich Miriam an meiner Seite hatte, und ich genoss es, dass sie mir zu Füßen lagen. Natürlich waren sie aufeinander eifersüchtig, doch egal wer es war, ich konnte ohne Wimpernzucken sagen, dass ich nicht mit ihnen fremdgehen würde. Ich habe an keiner anderen Frau Interesse außer an einer einzigen, an ihr, das sagte ich Miriam und sie glaubte es mir. Sie vertraute mir, denn sie merke ja, dass mein Verhalten mit den Frauen meist doch nur Spieltrieb war und sie nichts zu befürchten hatte.

Natürlich nicht, denn um mein wahres Ich wusste sie immerhin nicht. Ihr war nicht klar, dass es keine Frau auf der Welt gab, deren Körper mich erregte. Sie hatte keine Ahnung, dass ich runden, vollen Brüsten nichts abgewinnen konnte und sie schien auch nicht zu bemerken, dass ich eben diese Gegend beim Sex meistens mied. Überhaupt nahm ich sie oft von hinten, auch wenn dabei der Gedanke an Analverkehr nicht in Frage kam. Das hätte mich nur verraten können. Doch auf diese Weise sah ich ihr Gesicht nicht, sah ihr Brüste nicht und konnte mir besser vorstellen, nicht eine Frau unter mir zu haben.

Irgendwann fragte ich sie sogar, ob sie sich die langen Haare abschneiden würde. Nur bis zu den Ohren, ich würde sie so sehr mögen, Frauen mit Kurzhaarschnitt. Tatsächlich tat sie es, auch wenn sie sich zwei Monate dagegen sträubte. Anders als erwartet, half mir das bei meinen Fantasien allerdings kaum weiter. Nie konnte ich ganz vergessen, dass es eine Frau war, mit der ich es gerade trieb, was sicher auch an ihrem Stöhne lag, und daran, dass ich wusste, dass ich ein Mal den Fehler gemacht hatte, einen männlichen Namen zu nennen. Das durfte auf keinen Fall ein zweites Mal geschehen. Also hielt ich mich zurück, kontrollierte mich so gut es ging und verdrängte allzu anregende Gedanken an männliche Körper.

Eine Zeit lang glaubte ich sogar selbst, dass Miriam der Grund dafür war, dass ich Lust auf Sex verspürte. Dieser Glaube machte mich stark und ich hielt mich daran fest, denn er machte mich zu einem normalen Mann. Und das war ich doch, zumindest nach außen hin. Ich war ein ganz normaler junger Mann. Niemand ahnte auch nur im Entferntesten, dass ich irgendwann angefangen hatte, mir im Internet Pornoseiten für Schwule anzuschauen.

Wie es dazu gekommen war? Ganz langsam, ehrlich gesagt. Kurz nach meinem Einzug in die WG traute ich mich zum ersten Mal seit Jahren wieder, das Thema Homosexualität zumindest in geschriebenen Worten aufzugreifen. Ich tippte es in eine Suchmaschine, nachdem ich meine Tür abgeschlossen und die Jalousien heruntergelassen hatte. Anschließend durchforstete ich die gesamte Nacht alle möglichen Seiten nach Informationen. Ich las viele Berichte, schaute mir Bilder an, die ein oder andere Reportage – natürlich mit Kopfhörern, damit auch ja kein Wort nach draußen dringen würde.

Auch zum Thema Homosexualität im Fußball las ich mich schlau, obwohl es da kaum etwas gab, das mir nicht irgendwie auf irgendeine Weise bewusst gewesen wäre. Schwulsein war in diesem Sport ein Tabu. Erst ein einziger Profifußballer hat sich je geoutet und wurde anschließend so fertig gemacht und liegen gelassen, dass er sich selbst das Leben nahm. Das wusste ich bereits, davon hatte ich gehört, eines Abends bei irgendwelchen Saufgelagen, als die anderen sich darüber ausgelassen hatten. Erst jetzt, als ich den Bericht las, erinnerte ich mich wieder an den Blick, den Karim mir damals über sein Grinsen hinweg zugeworfen hatte. Gedanken an ihn versetzten mir noch immer tiefe Stiche.

Als ich am nächsten Morgen den Computer ausschaltete, um mich endlich ins Bett zu begeben, hatte ich zuvor jegliche Spuren gelöscht. Miriam war kein Computerfreak, sie schaute selten ins Internet, und dennoch wollte ich kein Risiko eingehen, dass sie irgendwie darauf kommen könnte, wonach ich irgendwann mal gesucht hatte.

Mit der Zeit wurde ich Profi darin. Und ich fand immer neue Seiten im Internet, deren Informationen ich in mich aufsaugte. Zwar wollte ich einerseits nicht darüber nachdenken, was für eine widerlicher Sexualität ich hatte, doch andererseits tat es mir dann und wann gut, von Leuten zu lesen, denen es ähnlich ging. Wobei es sich in all den Foren und Beiträgen und Berichten so gut wie nie um Fußball drehte. Selbst hier sprach man kaum darüber, selbst hier war es ein kaum gebrochenes Tabu.

Doch darum ging es nicht. Ich brauchte niemanden, dem es genauso ging wie mir, ich brauchte nur etwas, das mir zeigte, dass ich nicht ganz alleine in dieser Gefühlswelt war. Alles, was mir noch ähnlicher gewesen wäre, hätte mich wieder abgeschreckt, denn jeglicher Verbindung wäre eine Gefahr gewesen, jegliche Überlegung zu einer Kontaktaufnahme eine Schwäche. Ich wollte lediglich ab und an andere schwule Gesichter sehen. Und letztendlich begann ich auch mit ihnen, dann, wenn ich ganz alleine war, meine wahre Natur in meinen Fantasien auszuleben.

„Aber macht es das nicht eigentlich noch schwerer?“

„Auf gewisse Weise, schon, ja … Aber wenn man sich nie mit dem Thema beschäftigt, dann hat man irgendwann das Gefühl, dass einem der Kopf platzt … zumindest war es in meinem Fall so. Nach einem jahrelangen Versteckspiel in meinem Elternhaus wollte ich zumindest in meinem eigenen kleinen Zimmer ab und an ich selbst sein können und sehen, dass ich nicht der einzige auf der Welt bin, der auf Männer steht …“

„Haben Sie im Internet mit irgendjemandem darüber geredet?“

„Niemals. Das verbot ich mir selbst, weil jegliche Information, die irgendwie nach draußen dringt, eine Gefahr darstellen könnte. Außerdem wäre ich dann vielleicht irgendwann in Gefahr gelaufen, mit dem Thema zu locker umzugehen. Das konnte ich nicht riskieren, denn selbst wenn ich versuchte, mir selbst zu zeigen, dass ich nicht unnormal war, so musste ich nach Außen die typische Normalität darstellen. Sobald der Computer aus war, war ich wieder der erfolgreiche Jungfußballer, der Hetero …“

„Und das funktionierte?“

„Besser als Sie glauben.“

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