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Verstecktes Leben im Abseits - Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball

Kapitel 7 - Flanke von außen

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Informationen

 

Als Kind erscheint einem alles noch ganz einfach. Du findest ein Hobby, vielleicht auch zwei oder drei. Du betreibst es, weil du Spaß daran hast. Es geht nicht darum, ob du gut oder schlecht bist, sondern nur darum, wie viel Freude es dir bereitet. Doch du wirst älter, besser in manchen Dingen und an anderen verlierst du das Interesse. Du entwickelst neue Hobbys, alte bleiben erhalten und wenn du Glück hast, bist du von Anfang an mit einem entsprechenden Talent gesegnet gewesen, das lediglich erkannt werden musste. Ist dies der Fall, so kannst du es mit dem richtigen Training entsprechend fördern, kannst besser werden, noch viel mehr Spaß daran haben.

Für viele geht der Weg an dieser Stelle zu Ende, doch für den Fall, dass du besonders großes Glück hast und die Sache richtig angegangen bist, dann kann dein Weg steil bergauf gehen. Natürlich musst du dafür kämpfen und vieles bleibt dabei auf der Strecke. Du lässt Freunde zurück, verlierst hier und da einen Teil deines jugendlichen Lebens, doch dafür ist aus deinem Hobby mittlerweile ein Traum geworden. Und mit jedem Schritt, den du weiter voran gehst, kommst du einem Ziel näher, von dem unendlich viele Kinder träumen, die niemals die Chance haben werden, es zu erreichen. Aber dir bietet sie sich und im rechten Moment hast du sie erkannt und ergriffen.

Ab nun, wenn alles ideal läuft, kommst du immer weiter, immer schneller voran, höher, wirst besser, immer öfter gelobt, abgeworben vom einen Verein zum nächsten, dann noch einen weiter. Irgendwann kostest du eine Million, dann zwei, dann so viele, dass du es dir nicht mehr vorstellen kannst. Und du verdienst selbst viel, viel Geld, dein Kontostand steigt, du kannst dir alles leisten, von dem du je geträumt hast. Jeder kennt dich, viele lieben dich, noch viele mehr beneiden dich … Du bist für sie ein Held, du bist ein Idol.

Außerdem hast du vielleicht noch zusätzlich Glück auf der privaten Seite. Du hast eine Frau an deiner Seite, eine wundervolle, intelligente Frau, die dich heiraten will. Sie spricht von Kindern, will mit dir eine Familie gründen und lacht mit dir darüber, wie ihr euch irgendwann im Rollstuhl Geschichten erzählen werdet. Mit ihr kannst du einen weiteren Schritt zur Vervollständigung deines Lebens gehen. Es mag dir wie ein modernes Märchen erscheinen, wie eine ideale Geschichte, wie das, was sich jeder wünschen mag, wäre da nicht dieses eine ganz kleine Geheimnis, über das du nie gesprochen hast. Es ist dieses Geheimnis, das es für dich so schwer macht, mit ihr zu lachen, wegen dem du nicht in jede Kamera einfach so lächeln kannst, und warum du dich selbst nicht als Glückspilz ansehen willst. Es lastet auf dir, erdrückt dich, obwohl du den Kopf hoch in den Wind halten möchtest.

Als Kind hast du nicht darüber nachdenken müssen, wie Probleme zu lösen sind. Mittlerweile aber bist du ein Mann geworden, auf den jeder die Augen gerichtet hat, immer, zu jeder Zeit. Die Blicke sind freundlich, bewundernd, manchmal neidisch, doch sie sind nie gehässig oder abwertend. Und alles, was du tun musst, um das Problem zu lösen; alles, was nötig ist, damit es genau so bleibt, ist, einen ganz kleinen Preis zu zahlen. Alles, was du dafür aufgeben musst, ist ein winziger Teil deiner selbst. Er ist für andere unsichtbar, keiner kennt ihn und mit ihm wirst du dich noch viel länger verstecken müssen. Diesen Teil zu verlieren, das Geheimnis zu vergraben, welches ohnehin so schwer auf dir lastet, ist das nicht ein kleiner Preis, im Vergleich zu all dem, was du bereits bekommen hast?

Es ist komisch, wenn man die Dinge auf diese allgemeine Weise betrachtet, wenn man nicht weiß, wie die Gefühle sind, die mit der Sache einher gehen. Dann erscheint der Preis sicherlich nicht besonders groß. Man hat doch schon lange so gelebt, da wird man es doch auch weiter tun können, vielleicht ein Leben lang?

Auch ich habe lange genauso gedacht, habe angenommen, dass es funktioniert, auf diese Weise zufrieden, gar glücklich zu werden. Ich habe doch so vieles bekommen, kann ich dann dieses kleine Geheimnis nicht einfach vergessen?

Es erscheint tatsächlich so einfach, doch in der Realität reicht die Erfüllung eines Kindheitstraumes nur selten aus, um wirklich glücklich zu werden. Doch diese Erkenntnis ist nicht offensichtlich und man findet zu ihr wohlmöglich zu spät, bemerkt erst langsam, dass einen alles Geld der Welt nicht glücklich machen kann. Es bereichert dich, aber es erfüllt dich nicht. Auch die Frau an deiner Seite ist nicht das, was du dir wirklich wünschst. Du magst ihre Nähe und liebst es, mit ihr zu reden, doch sie ist nicht genug. Und selbst auf dem Feld vergisst du irgendwann nicht mehr alles um dich herum, selbst wenn du mittlerweile auf der Weltbühne spielst, jeder Fußballfan und noch viele mehr dich kennen und du auf den berühmtesten Plätzen den Ball ins Tor bringen darfst.

All das reicht dir nicht. All das kann dich nicht so glücklich machen, dass es dir diesen winzigen Teil deiner selbst zurückgibt, den du vor langer Zeit irgendwo auf dem Weg verloren hast. Es erfüllt dich nicht, hilft dir nicht, nachts einzuschlafen, wenn du Gedanken hast, die du nicht haben darfst. Es hilft dir nicht, wenn du dich im Spiegel betrachtest und dafür hasst, wie du lebst. Es hilft dir nicht, dein Leben zu lieben, geschweige denn dich selbst.

Das Gegenteil ist der Fall. Eigentlich machen all die Sachen, die du erreicht hast und die du wie selbstverständlich bekommst, alles nur noch viel schlimmer. Denn du weißt: Wärest du damals nicht zum Sportverein gegangen oder hättest dir einmal eine Sehne ganz böse gerissen, dann wäre es anders gekommen; dann wärest du jetzt vielleicht bei der Sportzeitung tätig oder als Handwerker. Hättest du den Mund aufgemacht, und allen gesagt, wer du wirklich bist, dann hättest du keine Millionen, vielleicht noch nicht mal ein paar Zehntausend auf dem Konto. Die hübsche Freundin hättest du nie kennengelernt und mit deinen jungen Jahren hättest du gerade mal zwei oder drei fremde Länder bereist. Doch dafür könntest du du sein – du wärest frei.

Es ist schwierig, zu dieser Erkenntnis zu kommen, zumindest war es das für mich. Es war kein plötzlicher Prozess, da die Gedanken lange in mir gewachsen sind. Doch wirklich sehen wollte ich sie nicht, bis sie eines Tages so präsent in mir waren, dass ich sie nicht mehr verleugnen konnte.

Es war nicht, wie man vielleicht annehmen mag, Dennis, der mich dies hat realisieren lassen. Es lag nicht an dem Telefongespräch mit ihm oder dass ich ihn sonderlich arg vermisste. Etwas in mir zerbrach bereits, als ich erfuhr, dass ich schon in der übernächsten Woche mein erstes Training in der Nationalelf haben könnte. Allerdings realisierte ich es erst in dem Moment, in dem ich mit Dennis telefoniert und dann ganz plötzlich aufgelegt hatte.

Mit einem Mal wusste ich, dass ich kein Kind mehr war. Probleme lösen sich nicht von alleine und es ist auch nicht möglich, einen Teil von sich selbst auf ewig wegzuschließen. Das macht einen krank und kaputt. Doch vor allem macht es unglücklich. Und ich merkte ganz plötzlich, dass ein Teil von mir tatsächlich unglücklich war.

Da saß ich im Wohnzimmer und fühlte mich leer. Das war verrückt, denn eigentlich hatte sich soeben mein vermeintlich größter Traum erfüllt. Ich würde in die Nationalelf kommen, würde einer der ganz großen werden und im nächsten Jahr, wenn ich mich gut machte, unser Team zum Weltmeistertitel begleiten. Trotzdem fühlte ich mich unbeschreiblich leer, denn es gab keinen Menschen für mich, nach dem ich mich in diesem Augenblick sehnte.

Natürlich, ich freute mich darauf, es meinen Eltern zu sagen, Sophie und Miriam. Doch das war ein anderes Gefühl; es füllte die Leere nicht. Und auch Dennis war bei weitem nicht diese Person. Ihn hatte ich nur angerufen, weil wir uns einmal versprochen hatten, dass wir einander als erstes Bescheid geben würden, wenn wir entweder richtig berühmt oder Vater werden würden. Ich hatte das Versprechen gehalten, doch ich wusste auch, hätte es einen Menschen in meinem Leben gegeben, der mir wichtiger war als jeder andere, dann hätte er an erster Stelle gestanden. Doch diesen Menschen gab es nicht.

Vielleicht hätte es damals Karim werden können. Ich erinnerte mich plötzlich daran, wie ich vor Jahren in einer ähnlichen, wenn auch viel kleineren Situation zuerst an ihn gedacht hatte, doch die Zeit war längst vorbei. Mittlerweile empfand ich nur noch Reue ihm gegenüber, schon längst keine Liebe mehr. Und es gab tatsächlich niemanden sonst, den ich so sehr liebte, dass er mein erster Anruf werden würde; mein mir wichtigster Mensch.

Natürlich wusste ich bestens, welche Entscheidungen in meinem Leben dafür verantwortlich waren. Und deshalb  suhlte ich mich eine ganze Weile in Selbstmitleid.

Endlich, irgendwann, schaffte ich es aber, mich aufzuraffen. Ich riss mich zusammen und rief Miriam an. Was hatte ich für eine andere Wahl? Wollte ich jetzt, so kurz vor dem Ziel, alles hinwerfen und aufgeben, wofür ich so lange gekämpft hatte? Wollte ich so einfach aufgeben? Gab es denn nicht noch eine andere Möglichkeit für mich, glücklich zu werden; einen anderen Weg? Konnte ich denn nicht weiter machen wie bisher?

Bereits als ich mit Miriam telefonierte, begann ich wieder, mir selbst meine Gefühle zu verleugnen. Ich sagte mir, dass sie es sicher schaffen würde, mich aufzumuntern, doch das Gefühl durchströmte mich nicht vollends. Doch darum ging es nicht; darum sollte es jetzt nicht gehen. Also rief ich anschließend meine Familie an. Meine Mutter brach in Freudentränen aus und ich weinte auch, noch Minuten, nachdem sie aufgelegt hatte. Dann war es mit einem Mal wieder ganz still in meiner Wohnung. Viel zu still, sodass es mich fast auffraß, weshalb ich die Jungs aus meiner Mannschaft zusammentrommelte. Mit ihnen wollte ich feiern und mit Thomas könnte ich direkt taktische Pläne für meine Rolle in der Nationalelf schmieden, denn er war selbst im letzten Jahr dazugestoßen. Ablenkung, die suchte und die ich jetzt brauchte.

Ein paar Tage später rief ich Dennis erneut an. Er hätte mich seinerseits nicht erreichen können, da meine Nummer nirgends öffentlich zu finden war, und bei meinen Eltern hatte er nicht nachgefragt. Umso mehr freute er sich, als ich mich wieder bei ihm meldete. Sofort entschuldigte ich mich dafür, so plötzlich aufgelegt zu haben, doch weiter erklärte ich ihm meine Aussage nicht, denn ich hätte keine plausible Ausrede gewusst.

Zum Glück fragte Dennis nicht nach; vielleicht war er der Ansicht, dass ich schon darüber reden würde, wenn ich es wollte, oder er begriff, dass die Distanz zwischen uns mit den Jahren zu groß geworden war, als dass er einfach fragen konnte. Also telefonierten wir einfach ganz normal miteinander, immerhin ganze drei Stunden lang. Wir hatten viel aufzuholen, viel zu erzählen. Es war schön, mit ihm zu reden, machte Spaß und tat sehr gut. Ich erinnerte mich wieder daran, warum ich damals so gut mit ihm befreundet gewesen war, und es war schön, zu sehen, dass man sich nicht zu sehr verändert hatte, um diesen Draht wieder aufzunehmen. Anschließend versprachen wir einander, dass wir ab jetzt öfter telefonieren würden.

Das nächste Mal war dann auch schon zwei Monate später, da seine Freundin schwanger war.

„Hat sich für Sie etwas geändert?“

„Nachdem ich in die Elf gekommen bin?“

„Indirekt … eher, nachdem Sie zu der Erkenntnis über sich gekommen sind.“

„Erstmal nicht wirklich, schließlich hatte ich das erreicht, wovon ich geträumt hatte. Ich wusste nun zwar, dass mir etwas Entscheidendes fehlte, doch gleichzeitig hätte, es zu suchen, bedeutet, meinen Traum platzen zu lassen, ihn aufzugeben … und dazu war ich nicht bereit.“

„Also haben Sie weitergemacht?“

„Genau. Ich verdrängte es erneut.“

„Und das funktionierte?“

„Zum Teil. Manchmal lag ich nachts wach und konnte nicht aufhören, über meine Situation nachzudenken … Dann fragte ich mich, wie es weitergehen würde, doch ich änderte nichts.“

„Hat Miriam etwas bemerkt?“

„Nein. Vor ihr und vor allen anderen war ich ganz der alte. Sie bekamen nicht mit, dass mir etwas fehlte. Manchmal fragte ich mich dann, ob ich vielleicht einfach zu viel verlangte …“

„Inwiefern?“

„Naja … Ich wurde schnell erfolgreich in der Nationalelf, Miriam und ich zogen zusammen. Eigentlich war es ein perfektes Leben, wieso also war es mir nicht genug? Wieso verspürte ich in mir drin dieses sonderbare Gefühl einer ganz speziellen Einsamkeit?“

Zum Glück hatte ich nur wenig Zeit, um viel darüber nachzudenken, dass mir etwas fehlte. Ich spielte noch immer bei meinem festen Verein und zusätzlich war ich nun auch noch einer der besten Spieler unseres Landes, und als solcher bei zunächst vielen, dann bei fast jedem Länderspiel gewünscht. Außerdem rückte die WM merklich näher und die Aufregung in diese Richtung stieg. Würden wir es vielleicht schaffen, dieses Jahr endlich wieder den Titel zu holen?

Nebenbei kauften Miriam und ich uns ein Haus und richteten es nach unseren Träumen ein. Zwar wussten wir nicht, wie lange ich an Ort und Stelle verbleiben konnte, doch das war uns mittlerweile gleich. Ich hatte so viel Geld, dass man sich um Umzug und ein neues Zuhause nie Gedanken machen müsste – wieso das also nicht einfach mal genießen? Außerdem tat es mir gut, Miriam jetzt immer bei mir zu wissen, wenn ich in unser gemeinsames Heim kam. So konnte ich auch dort nicht viel nachdenken oder mich einsam fühlen.

Mit meinen Kameraden der Nationalelf verstand ich mich bestens. Wir verbrachten, wenn es uns möglich war, außerhalb der Spiele viel Zeit miteinander. Thomas wurde bald mein neuer bester Freund, der erste Mann, den ich seit langer Zeit mal wieder an mich heran ließ. Er lag genau auf meiner Wellenlänge, wir unternahmen eine Menge Mist zusammen und hatten viel Spaß. Ein bisschen passierte auch das, was ich befürchtet hatte, wenn ich wieder eine so enge Bindung einginge: Ich verguckte mich in ihn. Allerdings nicht allzu stark, vor allem, weil ich ja wusste, dass er in einer glücklichen Heterobeziehung steckte. Dennoch träumte ich dann und wann von ihm und fühlte mich anschließend fürchterlich dreckig.

In dieser Zeit, wenn wir in fremden Ländern und Städten waren, begann ich auch wieder, in Sexkinos zu gehen, welche ich im letzten Jahr eher gemieden hatte. Ich war vorsichtiger denn je, nicht erkannt zu werden, aber ich brauchte es auch mehr denn je. Miriam konnte ich, wenn ich wieder Zuhause war, allerdings nur schwer in die Augen schauen.

Kurz vor dem ersten Spiel der WM heirateten Thomas und Cheila. Die beiden waren seit drei Jahren ein Paar und liebten sich abgöttisch, das sah man ihnen an. Ich fragte mich manchmal, ob Miriam wohl auch den Punkt ausmachen konnte, der die beiden von uns so dermaßen unterschied. Da sie allerdings nie etwas sagte und mir unheimlich glücklich erschien, dachte ich mir, dass ich es mir vielleicht auch nur einbildete, weil ich wusste, dass uns etwas Entscheidendes fehlte; etwas, das ich nicht in unsere Beziehung geben konnte.

Bei der Hochzeit selbst war ich Trauzeuge; eine Ehre, mit der ich nicht gerechnet hatte, immerhin hatte Thomas andere langjährigere Freunde. Doch er sagte mir kurz vorher, dass er niemandem so sehr vertraue wir mir. Er glaubte, dass wir einander alles sagen konnten und immer ehrlich zueinander waren. In dem Moment war ich kurz davor, ihm aus Schuldgefühlen die Wahrheit an den Kopf zu werfen, doch weil er mich so innig umarmte, konnte ich es einfach nicht. Ich konnte ihm doch seinen wichtigsten Tag nicht kaputt machen! Also stand ich während der Trauung ganz in der Nähe des glücklichen Paares und fragte mich, wann ich wohl diesen Schritt gehen würde.

Schon lange, da war ich mir sicher, wartete Miriam auf einen Antrag, doch bisher hatte ich mich einfach nicht dazu durchringen können. Konnte ich sie wirklich derartig belügen und ihr mit einem Ring sagen, dass es niemanden auf der Welt gab, mit dem ich lieber den Rest meines Lebens verbringen wollte? Noch war ich dazu nicht im Stande, denn irgendwo in meinem Herzen hätte ich damit den Funken Hoffnung erstickt, der mir sagte, dass diese Leere, welche ich noch immer empfand, irgendwann mit irgendwem vergehen würde.

Wie heißt es so schön? Die Liebe klopft meist dann an die Tür, wenn man sie am wenigsten gebrauchen kann. Sie besucht einen in den schwersten Minuten oder dann, wenn man gerade ganz andere Pläne hat. Und im schlimmsten Fall hat sie nicht vor, jemals wieder zu verschwinden.

Auch mich traf sie in einer nicht gerade günstigen Lage, doch zunächst erkannte ich sie gar nicht, so wie einen alten Freund, dessen Gesicht man zwar kennt, aber bei dem man einfach nicht ausmachen kann, weshalb es einem so bekannt erscheint. Ähnlich war es mit meinen Gefühlen; ich hatte einfach verlernt, sie zu deuten. Oder vielleicht hatte ich es auch nie wirklich erlernt.

Ich fand Mathew schon gutaussehend, aber im Grunde war er nicht mein Typ. Ich mochte dunkle Haare, dunkle Augen, große, muskulöse Körper. Mathew war fast das Gegenteil. Er war blond, hatte grüne Augen, war geschätzte acht Zentimeter kleiner als ich und vom Körperbau durchschnittlich bis vollkommen normal. Er war ein Durchschnittsmann; sein gesamtes Aussehen mache ihn zu nichts Besonderem, weshalb ich auch nicht weiter in dieser Beziehung auf ihn achtete, als er uns am ersten Tag des WM-Trainingscamps als einer der neuen Physiotherapeuten vorgestellt wurde. Er war zuständig für Massagen, Verletzungen, Fitnesstraining. Wenn es rein um den ersten Eindruck ginge, wären einige der anderen Männer sicherlich interessanter gewesen.

Zunächst gab ich mich nicht weiter mit ihm ab, was meine Freizeit anging. Es mag oberflächlich klingen, aber irgendwie hatte ich mich noch nie richtig mit den ganzen, nennen wir sie mal Helfern beschäftigt. Ich unterhielt mich teilweise ganz gerne mit ihnen, hatte sportliches Vertrauen ihnen gegenüber, was meinen Körper anging, aber wirklich freundschaftlich waren die Verhältnisse nicht.

Genauso distanziert ging ich also zunächst auch mit Mathew um. Die ersten Tage beachtete ich ihn wenig, wechselte kaum ein Wort mit ihm und hätte nicht einmal sagen können, welchen Farbton genau seine Augen hatten, doch irgendwann fiel mir dennoch ihr Strahlen auf, das kleine Glitzern, wenn das Licht hinein schien. Vermutlich glichen sie hiermit immer noch fast allen anderen Augen auf der Welt, und dennoch brannte sich irgendetwas daran in meinen Verstand ein und wenn ich die Augen schloss, sah ich seine vor mir. Natürlich beschloss ich sofort, es nicht weiter zu beachten und ignorierte es gar. Erst einmal klappte dies sehr gut, denn mittlerweile war ich ja mehr als geübt darin, meine innersten Gelüste zu unterdrücken, doch es hinderte mich nicht daran, das Bedürfnis zu entwickeln, mit ihm ein kleines bisschen mehr Zeit zu verbringen als mit jedem anderen Fitnesscoach zuvor. Auch hielt es mich nie davon ab, ihm doch wieder so gerne in die Augen zu sehen. Und leider bemerkte ich so mit der Zeit immer mehr Kleinigkeiten an ihm, die mir ausgesprochen gut gefielen.

Wenn man für gewisse Zeit sehr eng zusammen arbeitet und lebt, kommt es schnell, dass man sich auch private Dinge anvertraut – zunächst natürlich erst einmal solche, die nicht besonders wichtig sind. Zum Beispiel erfuhr ich von Mathew, dass er bereits 26 Jahre alt war und somit fünf Jahre älter als ich. Auch wusste ich bald, dass er seit drei Jahren keine Beziehung mehr gehabt hatte, doch damals war er sogar verlobt gewesen. Weiterhin sprach er viel von seiner Familie, die ihm sehr wichtig war, und er schwärmte von seinem Hobby, der Fotografie.

Ich merkte eigentlich relativ schnell, dass ich an seinen Lippen hing, wenn er erzählte. Sie waren nicht außergewöhnlich schön, aber ich mochte es, wie er sie bewegte. Und noch viel mehr mochte ich, wie er seine Hände benutzte. Er hatte lange, schlanke Finger, fast schon etwas knochig, und eine sehr gepflegte Haut, obwohl er sich ab und an eine Zigarette gönnte. Trotz dieser Angewohnheit roch er nie nach Rauch, im Gegenteil, ich mochte seinen Geruch sehr gerne. Und wie gesagt, ich liebte es, seine Hände zu beobachten. Irgendwie bewegte er sie äußerst elegant, bedächtig gar, nie überstürzt. Er war nie grob und berührte alles mit einer Art der ihm eigenen Zärtlichkeit, auch wenn es nur der Geldschein war, den er aus seinem Portmonee nahm. Auch mochte ich es, wie er mit anderen Menschen sprach; wie freundlich er sie anlächelte, seien sie noch so unwichtig, oder wie offen er lachen konnte.

Alles in allem kann man sagen, dass ich sehr schnell meine Augen nicht mehr von ihm nehmen konnte, obwohl er, rein objektiv betrachtet, gar nichts Besonderes an sich hatte. Dennoch war ich froh, wann immer ich einen harmlosen Grund hatte, ihn anzusehen. Und ich konnte einfach nicht anders, als zu lachen, wenn er es tat. Ich musste es gar, denn noch nie hatte ich es als so ansteckend empfunden.

Trotz all dieser sehr eindeutigen Indizien hätte ich nie im Leben zugegeben, dass ich dabei war, Gefühle für Mathew zu entwickeln. Das war ausgeschlossen, unmöglich. Ich würde mich nicht hier und jetzt in einen Mann verlieben, erst recht nicht in einen, der etwas mit meiner Arbeit zu tun hatte. Es würde keinen so schwerwiegenderen Fehler in meinem Leben geben!

Also war ich immer mehr darauf bedacht, nicht aufzufallen. Ich versuchte zwar, viel Zeit mit Mathew zu verbringen, aber auf keinen Fall so viel, dass es irgendwie auffallen könnte. Daher passte es mir eigentlich ganz gut, dass er schnell zu einem der beliebtesten Physiotherapeuten bei uns geworden war und sich viele gerne mit ihm abgaben. Auf diese Weise fiel ich weniger unter ihnen auf und konnte oft Zeit mit ihm verbringen. Was ich mir dabei nicht eingestand, war die Eifersucht, die ich schnell zu empfinden begann, wann immer Mathew mit jemand anderem zusammen war.

Ein paar Tage vor Beginn der WM reiste Miriam an. Sie hatte sich frei genommen, was kein großes Problem dargestellt hatte. Sie arbeitete ohnehin nicht für das Geld, sondern weil sie Spaß daran hatte. Das große Turnier wollte sie nun aber auf keinen Fall verpassen, sondern dabei an meiner Seite stehen.

Als sie mir ein paar Tage zuvor gesagt hatte, dass sie kommen würde, hatte ich mich noch sehr darüber gefreut. Wie gesagt, ich hatte sie gerne an meiner Seite; sie tat mir gut. Außerdem, da war ich mir sicher, würde ich mit ihr meine Gefühle sicher wieder etwas besser ordnen können. Bereits seit Thomas’ Hochzeit spielte ich hin und wieder mit dem Gedanken, ihr nach Ende der WM einen Heiratsantrag zu machen. Wieso also nicht auch einfach zwischendurch, nach irgendeinem unserer Siege? Das würde mich sicher wieder auf den richtigen Weg führen.

Ja, ich setzte große Hoffnung in ihr Auftauchen, weil ich glaubte, mein Innerstes dadurch wieder ordnen zu können, als sie dann aber vor mir stand und mich in die Arme schloss, schaffte ich es mit einem mal nicht mehr, mich wirklich aufrichtig über ihr Kommen zu freuen.

Stattdessen quälten mich noch mehr Gedanken als zuvor. Eine mögliche Heirat erschien mir plötzlich noch absurder, vor allem immer dann, wenn ich nun Mathew ansah und wusste, dass meine Freundin ganz in der Nähe war. Mehr denn je fragte ich mich, ob ich sie wirklich auf diese Weise hintergehen könnte, mehr denn je war ich mir meiner unsicher.

Ich versuchte also mal wieder, Gedanken zu verdrängen und das Beste aus der Situation zu machen. Ich stellte die beiden einander vor. Und ich war mir nicht sicher, ob ich mich freuen oder ärgern sollte, als ich merkte, dass sich die beiden von der ersten Sekunde an unheimlich gut verstanden.

„Dann begann aber ja erstmal die WM …“

„Genau. Unser erstes Spiel war am dritten Spieltag und ich konnte es kaum erwarten. Wie lange hatte ich genau darauf gewartet!“

„Das muss ein atemberaubendes Gefühl gewesen sein.“

„Das war es in der Tat. Und auch wenn ich kein Tor schoss, sondern zudem noch diesen blöden Elfmeter in den Sand setzte, war es wirklich einer der besten Tage meines Lebens …“

„Weil Sie es endlich so weit geschafft haben?“

„Ich kann mir denken, worauf sie hinaus wollen. Nein, natürlich lag es nicht nur daran. Es lag zu einem großen Teil auch an Mathew, obwohl ich mir dessen nicht bewusst war.“

„Wirklich nicht?“

„Ich verdrängte es. Natürlich merkte ich auch, dass ich immer wieder zur Trainerbank hinüber schaute und mich freute, wenn seine Augen auf mir lagen, doch ich zwang mich, nicht darüber nachzudenken.“

„Und sonst bemerkte es keiner? Miriam? Thomas?“

„Nein, keiner bemerkte es. Bis auf Mathew.“

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