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Verstecktes Leben im Abseits - Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball

Kapitel 9 - Verlängerung der Lügen

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Informationen

 

Nach außen hin hatte sich nichts verändert. Ich hielt Miriams Hand, wenn wir irgendwo hin gingen, und ich nickte Mathew auf dem Spielfeld genauso zu wie alle anderen auch. Auch er ging mit mir weiterhin so professionell um wie zuvor, ließ keinen zu langen Blickkontakt entstehen. Er war genauso darauf bedacht, nichts zu verraten, wie ich, denn natürlich würde es auch für ihn ernsthafte Folgen haben, käme die Wahrheit heraus. Er würde ebenso seinen Job verlieren, seinen Ruf. Zwar würde er weniger tief fallen als ich und weniger Menschen wären an der Sache interessiert oder beteiligt, aber das hieß nicht, dass es für ihn einfacher wäre. Er liebte seinen Job, das wusste ich. Man sah es ihm an und er hatte mir einmal erzählt, weshalb er genau das hier machen wollte. Trotzdem war ich mir nach kurzer Zeit sicher, dass er vor allem wegen mir so darauf achtete, dass uns nichts verraten würde.

Der einzige Unterschied, den ich in Mathews Verhalten wahrnahm, war Miriam gegenüber. Sie bemerkte es nicht, doch er war im Umgang mit ihr etwas distanzierter. Ohnehin fragte ich mich, wie es für ihn sein musste, mit ihr ganz normal zu reden. Er wusste doch, dass ich in jener Nacht sie verlassen hatte, um ihn zu finden. So sehr sie vielleicht in der kurzen Zeit eine Art Freundin für ihn geworden war, so sehr war sie auch seine Konkurrentin – andererseits war ich mir sicher, dass er ebenso wenig in diese ernste Richtung dachte wie ich. Er kannte meine Situation, ohne dass wir darüber reden mussten. Er wusste, was ich zu verlieren hatte und dass ich es nicht einfach so hergeben würde. Ich würde wirklich alles verlieren.

Aus diesem Grund dachte ich nicht ernsthaft daran, irgendetwas zu unternehmen. Schließlich hatten wir einander bisher noch nicht einmal geküsst. Vielleicht waren diese Gefühle auch nur ein Abenteuer, das ganz schnell vorbei sein würde. Nein, ich glaubte nicht wirklich daran, aber an diesem Haken hielt ich mich fest, um nicht durchzudrehen. Denn es war so schwierig. Beide achteten wir auf jedes Wort in der Öffentlichkeit, auf jede Berührung und jeden Kontakt. Wir beide kontrollierten uns und doch sahen wir in den Augen des anderen, wie sehr wir uns nacheinander sehnten. Wären wir einfach nur zwei unbedeutende Männer gewesen, hätten wir schon längst unsere Hände nacheinander ausgestreckt, doch auf diese Weise war jede noch so kleine, vertraute Berührung ein nicht zu erahnendes Risiko.

Ungeachtet meiner Gefühle machte ich mir zunehmend Gedanken darum, wie meine Zukunft aussehen würde. Immer wieder fiel mir dabei der Ring auf, den Thomas am Finger trug, und ich fragte mich, ob ich wirklich auch einen solchen tragen konnte. Mehr denn je war ich mir der Sache unsicher geworden. Wie konnte ich Miriam so sehr belügen? Und wie mich selbst?

Nach dem Sieg im Achtelfinale erzählte ich Thomas von meinen Plänen, Miriam vielleicht zu heiraten. Ich musste einfach mit jemandem darüber reden und ich erhoffte mir Zuspruch von meinem besten Freund, damit es mir leichter fallen würde, die Entscheidung zu treffen. Natürlich bekam ich ihn. Thomas war begeistert. Schon immer hatte er gesagt, wie froh ich mich schätzen konnte, eine Frau wie Miriam an meiner Seite zu haben. Man merke so deutlich, wie sehr wir einander liebten, das hatte er schon oft gesagt, und auch dieses Mal wiederholte er es, während er mich beglückwünschte und an sich presste. Mir wurde schlecht dabei, denn ich wusste, dass ich wohlmöglich einen Schritt gehen würde, den ich mein Leben lang bereuen könnte. Und der Zuspruch half kein bisschen, mich weiter dem Jawort entgegen zu bringen, im Gegenteil.

Aus diesem Grund sprach ich auch mit Mathew darüber. Dazu muss man sagen, dass wir zwar ab und an alleine waren, allerdings dabei nie heikle Themen besprachen. Kein Wort war über die Nacht auf dem Balkon gefallen, über unsere Gefühle erst recht nicht. Wir konnten nicht darüber reden, denn es hätte weh getan und letztendlich doch nichts verändert. Stattdessen sprachen wir immer nur über allgemeine Dinge, unwichtige Kleinigkeiten. Doch das war genug, zumindest für mich. Alleine dass ich ihm nahe sein konnte, tat mir gut. Ich spürte, dass ich anders atmete, wenn er bei mir war; ruhiger, ausgeglichener. Ich konnte freier lächeln und ihm ohne Angst in die Augen schauen. Er musste alles darin sehen wie ich auch alles in seinen sah. Nie zuvor hätte ich geglaubt, dass man alleine mit Blicken die Welt erklären könnte.

Die Hochzeitspläne waren somit das erste wirklich ernste Thema für uns. Freilich hatte ich es nicht einfach so angesprochen, sondern darüber nachgedacht, was ich mir davon erhoffte. Doch ehrlich gesagt wusste ich es noch immer nicht, dennoch wollte ich einfach, dass er davon wusste. Ich wollte seine Reaktion sehen, seine Meinung hören. Zum ersten Mal brachte ich also etwas viel zu Privates mit in den Fitnessraum.

Ich sagte es eher nebenbei. Ich sah ihn dabei nicht an, denn ich wäre auf keinen Blick vorbereitet gewesen, der mich treffen konnte. Doch noch weniger als das war ich darauf vorbereitet, dass er fast noch positiver als Thomas reagieren würde. Es sei eine gute Idee, waren seine Worte. Miriam und ich würden gut zusammenpassen und wären perfekt füreinander. Er redete weiter und weiter, auch als ich die Hantel fallen ließ und in einem Impuls zu ihm herum fuhr, seinen Arm grob packte und ihn näher zog. Seit jener Nacht auf dem Balkon waren wir uns nicht mehr so nah gewesen und mir blieb jegliches Wort im Halse stecken. Ich konnte ihn nur anstarren, den Schmerz in seinen Augen wahrnehmen, während er nochmals sagte, dass es eine sehr gute Idee wäre.

„Du weißt, dass ich…“ Ich beendete den Satz nicht, denn ich wusste nicht, was ich sagen wollte.

Stattdessen ließ ich ihn los und drehte mich um. Ich verließ den Raum und er hielt mich nicht auf. Anschließend führte mich mein Weg zum Meer und ich tauchte im salzigen Wasser so tief, dass ich einen Moment lang glaubte, vielleicht nicht mehr rechtzeitig hinauf kommen zu können.

Am nächsten Tag konnte ich Mathew nicht in die Augen schauen. Ich wusste zwar nicht, was ich von ihm erwartet hatte, doch ich war mir darüber im Klaren, dass mich seine Reaktion vollkommen enttäuscht hatte. Zwar glaubte ich, ihm angesehen zu haben, dass er nicht das spürte, was er ausgesprochen hatte, doch was, wenn ich alles falsch deutete? Was war, wenn nur ich diese tiefen Gefühle, welche ich nicht zu benennen wagte, verspürte? Was, wenn es für ihn doch nur ein Spiel war? Vielleicht mochte er mich, aber das war es dann auch schon? Vielleicht bildete ich mir alles nur ein was zwischen uns war?

Was auch immer es war, nun gab es für mich keinen Grund mehr, Miriam keinen Antrag zu machen. Trotzdem war ich noch immer nicht bereit dazu. Ich wusste doch eigentlich, dass es nicht gut sein würde, denn hatte ich tatsächlich vor, mein restliches Leben mit dieser Frau und meiner platonischen Liebe zu ihr zu verbringen? Natürlich, lange hatte ich angenommen, dass es funktionieren würde, doch da hatte ich diese Gefühle noch nicht gekannt, welche ich jetzt verspürte. Und hoffte ich denn nicht, irgendwann jemanden wie Mathew an meiner Seite zu haben? Ich beantwortete mir die Frage mit Absicht nicht.

Während ich so rastlos war und unsicher, verletzt und verliebt, merkte schließlich auch Miriam, dass irgendwas nicht stimmte. Mehrfach sprach sie mich darauf an und letztendlich erklärte ich ihr einfach, dass ich ein bisschen angeschlagen sei. Das tägliche, harte Training mache mir zu schaffen; sie habe doch mitangesehen, wie ich im letzten Spiel das ein oder andere Foul abbekommen hatte. Sie glaubte mir, natürlich, denn ich belog sie ja nie. Also pflegte sie mich wie eine gute Freundin, beinahe Verlobte, vielleicht zukünftige Frau. Und mir ging es währenddessen innerlich nur immer schlechter. Zum ersten Mal glaubte ich, von meinen eigenen Lügen zerfressen zu werden.

In den nächsten Tagen ging ich einem Alleinsein mit Mathew bewusst aus dem Weg. Ich sah ihm an, dass er mit mir sprechen wollte, doch ich war nicht bereit dazu. Wann immer ich ihn sah, wollte ich ihn an mich ziehen. Die Sehnsucht wurde immer stärker, und ich hatte Angst, von ihr überwältigt zu werden. Noch nie im Leben hatte ich ein solches Verlangen nach einem Menschen verspürt, nach seinen Lippen und seinem Körper. Ich stellte mir heimlich vor, wie es sich anfühlen würde, und wurde verrückt dabei. Ich würde es nie erfahren, ich durfte es nie erfahren!

Einen Tag vor dem Halbfinale, als er noch irgendeine Übung mit mir durchsprechen wollte, ließ ich mich schließlich doch darauf ein, mit ihm alleine im Fitnessraum zurückzubleiben. Ich wusste, dass es nur die offizielle Erklärung gewesen war, und ich fürchtete das, was wirklich kommen würde.

Zunächst passierte nichts. Vor der Tür hörten wir die anderen noch reden, weshalb wir es nicht wagten, auch nur ein Wort zu sprechen. Sehnsüchtig sahen wir uns an. Dann ließ er sich zu mir auf den Boden nieder und begann, meine Wade zu massieren. Dies war eine übliche Tätigkeit, denn ich hatte noch immer Krämpfe ab und an. Keiner würde diese Berührung als merkwürdig empfinden, sollte er uns so sehen.

Wir sprachen noch eine Weile nicht und ich wich seinen Blicken aus. Seine Finger brannten auf meiner Haut und ich musste mich zusammenreißen, um nicht nach ihnen zu greifen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie sie weiter hinauf kriechen würden, doch ich konnte kaum an etwas anderes denken.  Dementsprechend atmete ich etwas schwerer, kontrollierter und machte mir einen Fluchtweg aus. Genauso sah ich aber auch den Schlüssel im Schloss ganz deutlich. Er wäre so leicht zu erreichen.

Während ich fast irre wurde, begann Mathew leise zu sprechen. Er sagte mir, dass ich nicht erwarten durfte, dass er mich irgendwie in meinen Plänen mit Miriam aufhalten würde. So sehr er es vielleicht wollte, er hatte es nicht vor. Denn er wusste, wie sehr ich für meinen Traum gekämpft hatte und dass ich ihn nicht einfach so aufgäbe. Er konnte sich auch vorstellen, wie schwer es für mich sein musste, mein wahres Ich zu verbergen, und wie sehr es mich innerlich zerreißen musste. Doch ich hatte es auf diese Weise weit gebracht und er würde mir nicht im Wege stehen, egal welche Richtung ich ginge. Wenn ich Miriam heiraten wollte, sollte ich es tun. Wahrscheinlich wäre es die genau richtige Entscheidung. Er habe nicht vor, etwas zu sagen oder zu tun, was mich ins Schwanken brächte.

Wusste er denn nicht, dass er das schon durch seine bloße Anwesenheit tat?

Ich sprach das nicht aus und nach seinen Worten sah er mich einfach nur an. Seine Augen zeigten, wie schwer es ihm gefallen war, mir genau das zu sagen. Und ich konnte nichts darauf erwidern, außer ihm deutlich zu machen, wie schwer es für mich war, ihr einen Ring an den Finger zu stecken. Ich sprach von meinem Versteckspiel und dass ich sie liebte, auf meine ganz eigene Weise. Ich wollte ihr nicht wehtun, doch ich wusste ebenso wenig, ob ich dieses Leben für immer so weiterführen konnte. Außerdem zog es mich doch zu ihm.

Als wir beide nichts mehr zu sagen wussten, berührten wir einander einfach. Ganz sanft fuhren seine Fingerspitzen mittlerweile mein Bein hinauf und ich beobachtete sie dabei, sehnte ich mich doch mit jeder Begegnung mehr nach ihnen. Noch nie hatten einfache Berührungen mich so gefangen genommen, wie seine es taten. Egal wie heiß meine Begegnungen im Sexkino gewesen waren, hatten sie nie so viel bedeutet wie dieser Moment, in dem er mein Knie ertastete und in dem ich es endlich schaffte, meine Finger ebenso auszustrecken und sie mit seinen zu verschränken.

Mathew zuckte, doch dann lächelte er und hielt mich fest, rückte einen Millimeter näher heran und sah mir so intensiv in die Augen, dass eine Gänsehaut meinen Rücken hinunter glitt. Ich blickte auf seine Lippen und spürte ein irrsinniges Verlangen nach ihnen, während mir bewusst wurde, dass ich in meinem Leben noch nicht ein einziges Mal einen Mann geküsst hatte. Karim zählte nicht, ich hatte ihn von mir gestoßen, ehe man es wirklich einen Kuss hätte nennen können. Also fragte ich mich nun, wie es sich wohl anfühlen würde. Natürlich war es technisch kein Unterschied, doch wenn sich schon seine Hand in meiner so anders, so richtig anfühlte, wie wäre es dann erst bei seinen Lippen?

Tatsächlich beugte ich mich vor, doch ich tat es letztendlich nicht. Ich konnte es nicht, denn ich hatte Angst. Angst davor, dass es mir zu viel bedeuten und mich vollkommen aus der Bahn werfen würde.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, flüsterte ich bloß und schloss die Augen, meine Stirn an seiner.

Mathew schwieg. Was sollte er auch dazu sagen? Was sollte er tun? Er hatte eben noch deutlich gemacht, dass er mich nicht drängen würde, mich nicht aufhalten, mir nicht im Weg stehen; also durfte er jetzt rein gar nichts tun.

Wir verloren das Halbfinale. Es lag zum Glück nicht an mir und meiner zugegeben nicht gerade vorbildlichen Verfassung. Der Gegner war uns einfach klar überlegen und somit war die WM für uns an diesem Punkt vorbei. Ich sollte traurig sein deswegen, enttäuscht, doch das erste, an das ich dachte, als wir mit hängenden Schultern vom Platz gingen und mein Blick Mathew traf, war, dass ich nun nach Hause fahren würde. Und dorthin konnte er nicht mitkommen. Dritter Platz!!!

Auf der Abschlussparty am selben Abend fiel es mir schwer, zu lachen und zu lächeln. Miriam merkte das deutlich, doch vermutlich schob sie es darauf, dass wir verloren hatten. Was Mathew dachte, wusste ich nicht, obwohl er sich die meiste Zeit irgendwie in meiner Nähe aufhielt. Auch wenn wir dadurch unvorsichtig waren, berührten wir uns wann immer es ging, selbst wenn es nur die Schulter an der des anderen war. Wir wollten einander nahe sein, ohne dass wir es durften, denn wir beide hatten Gefühle entwickelt, die keine Blüten tragen würden. Diese Nacht endete es und so wollten wir zumindest die letzten Minuten miteinander verbringen können. Ab morgen würden wir getrennte Wege gehen.

Entsprechend dieses Bewusstseins war ich nicht gerade in Partylaune. Vor allem, da ich nicht damit rechnete, dass es vor meiner Abreise noch einmal einen Moment geben würde, in dem wir alleine sein könnten. Doch dann kam es dazu, weil Miriam sich mit Cheila unterhielt und sich bereits andere Grüppchen abgeseilt hatten. Plötzlich spürte ich etwas in meiner Hand und dann ging Mathew auch schon an mir vorbei. Auf dem Zettel stand, dass ich in zehn Minuten zum Fitnessraum kommen sollte.

Natürlich, ich überlegte, der eindeutigen Einladung nicht nachzugehen, doch wie hätte ich das tun können? Alles in mir verlangte nach diesem Mann, nach weiteren Minuten mit ihm. Wie hätte ich dieser Chance widerstehen können? Also sagte ich Miriam, dass ich mit Mathew spazieren ginge, weil es ein so schöner Abend sei. Selbstverständlich dachte sie sich nichts dabei und wir trennten uns mit einem Kuss. Anschließend schlich ich mich über Umwege zum Fitnessraum, ein paar Flanken schlagend, darauf bedacht, von niemandem gesehen zu werden. Das Herz klopfte mir bis zum Hals.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass wir sofort übereinander herfallen würden, doch dies geschah nicht. Nervös schloss ich die Tür und drehte den Schlüssel herum. Dann sah ich Mathew an, wie er vor mir stand, mit einem ruhigen Blick und so vielen Gefühlen in den Augen, dass es mich nur noch unruhiger machte. Dieser Augenblick bedeutete so viel, das spürte ich ganz genau.

Zögernd ging auf ihn zu, wollte meine Arme nach ihm ausstrecken, doch dann setzte ich mich bloß auf eine Bank, da mich meine Beine nicht so recht tragen wollten. Er tat es mir gleich und dann legte er seine Hand auf meine. Ich umklammerte sie sofort und sah ihn hilflos an.

Die andere Hand fand mein Gesicht. Sanft strich er darüber, zärtlich und sehnsüchtig, wie es noch nie jemand getan hatte. Für eine Sekunde schloss ich meine Augen und wünschte mir, dass er mich nun küsste, doch alles, was meine Lippen berührte, war sein Finger. Er strich hinüber und ich küsste ihn, öffnete die Augen wieder und sah in seinen unbändige Trauer. Ich bewegte mich vor, wollte ihn küssen, doch Mathew hielt mich zurück, umklammerte meine Hand noch fester und sagte dann, dass er mit mir reden wolle. Über uns, unser Leben, unsere Wünsche und Vorstellungen. Wir hatten nicht genug Zeit gehabt, uns kennenzulernen, nun wollte er zumindest noch ein wenig mehr von mir erfahren. Welche Geheimnisse hatte ich nie jemandem anvertrauen können? Er wollte alles von mir wissen.

Mich überraschte seine ruhige Stimme, da ich mit mehr Leidenschaft gerechnet hatte. Fast war ich einen Moment lang gar enttäuscht, wollte ich ihn doch so gerne spüren, überall berühren. Wenigstens ein einziges Mal. Doch dann drangen die ersten Sätze über unsere Lippen und schnell wurde mir klar, wie viel sie bedeuteten. Sie waren mehr wert als jeder Kuss.

Im Laufe der nächsten Stunden stellten wir einander alle möglichen Fragen, beantworteten sie so ehrlich es ging und nahmen dabei kein Blatt vor den Mund. Zum allerersten Mal sprach ich über Karim und er erzählte mir von seiner gelösten Verlobung. Wir berührten uns dabei nur durch unsere Hände und Blicke, und während die Minuten vergingen und wir uns im Innersten immer näher kamen, begriff ich langsam, was es war, das ich von ihm wollte. Nicht seinen Körper, seine Lippen, diese Hände oder eine wilde Nacht. Ich wollte mein Leben von ihm, mit ihm. Plötzlich wollte ich meine Freiheit, um sie mit ihm zu teilen.

„Ich merke, das nimmt Sie immer noch ziemlich mit.“

„Verständlich, denke ich. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich richtig verliebt. So sehr, dass ich mir wünschte, alles zuvor wäre einen anderen Weg gegangen…“

„Aber Sie sind trotzdem Ihren üblichen Weg weitergegangen.“

„Ja. Es war zu früh, davon abzukommen. Ich war zu jung und nicht mutig genug…“

„Haben Sie einander wenigstens geküsst?“

„Nein, denn Mathew sagte, er könne es nicht ertragen, mich danach gehen zu lassen…“

„Und wie ging es Ihnen?“

„Ich konnte mir bereits nicht mehr vorstellen, ohne ihn zu sein.“

„Doch das waren Sie.“

„Ja. Aber ich war nicht mehr derselbe nach jener Nacht.“

Als ich früh morgens zurück ins Hotelzimmer kam, kroch ich nicht mehr ins Bett. Ich setzte mich auf den Balkon und dachte nach, weckte Miriam bald, weil meine Gedanken mich irre machten, und wir fuhren direkt zum Flughafen. Mathew sah ich nicht mehr und auch alle anderen schliefen noch. Eigentlich hätte ich Abschied nehmen sollen von meinen Spielkameraden, doch ich hielt es nicht länger aus, dort zu bleiben. Ich musste zurück in mein Haus, um nicht verrückt zu werden, um mir zu zeigen, dass ich noch immer derselbe war. Dabei wusste ich, dass das nicht stimmte. Ich würde es nie wieder sein.

Miriam war verwirrt und bekam den ganzen Flug über kein Wort aus mir heraus. Was hätte ich auch sagen sollen? Alles wären nur weitere Lügen gewesen. Also küsste ich sie irgendwann mit flehendem Blick, schüttelte leicht den Kopf, griff ihre Hand und wandte mich dem Fenster zu. Ich starrte hinaus ohne wirklich etwas zu sehen und die Wärme ihrer Hand tat mir weh. Ich fühlte mich dreckig und allein, ich verabscheute mich und ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich zählte, vor wie vielen Tagen ich Mathew kennengelernt hatte und die Zahl kam mir viel zu klein vor. Sie war winzig, vor allem gegen die gefühlt unendlich lange Zeit, die nun vor mir lag. Wie sollte ich es bloß schaffen, ihn zu vergessen?

Als wir daheim waren, stellte ich einige Möbel um. Ich weiß nicht, weshalb ich das tat, doch irgendwie ertrug ich den Anblick meines vergangenen Lebens nicht. Ich passte hier nicht mehr rein, ich gehörte nicht mehr hierher.

Den Ring, welchen ich für Miriam gekauft hatte, vergrub ich ganz tief in meinem Schrank, in der Hoffnung, dass sie ihn nicht finden würde. Gerade war ich nicht mehr bereit, den Schritt zu gehen. Ich hatte soeben die Liebe kennengelernt und sie sofort wieder verloren, da konnte ich nicht dieser Frau meine ewige Treue schwören.

Nach diesen Handlungen wusste ich nicht, was noch zu tun war. Ich vergrub mich vor dem Fernseher oder dem Computer und es war mir egal, dass Miriam langsam ungeduldig wurde. Einige Male suchte sie das Gespräch, versuchte herauszufinden, warum mir unsere Niederlage bloß so dermaßen nahe ging, doch jedes Mal blockte ich ab. Ich wollte nicht reden, denn ich konnte ihr doch ohnehin nicht die Wahrheit sagen. Also ertrug ich ihr trauriges Gesicht still und sie musste mich irgendwie ertragen. Dabei erwartete ich das ja noch nicht mal von ihr. Hätte sie genug davon gehabt, hätte sie gehen können. Ich vermute, ich hätte sie nicht aufgehalten. Andererseits wusste ich, dass sie mich dazu viel zu sehr liebte; und vermutlich war sie davon überzeugt, dass die Zeit meine Wunden heilen würde. So ist es im Leben doch immer, nicht wahr?

Doch ich wollte gar nicht heilen. Fast schon bewusst vergrub ich mich in meiner Misere, vor allem dann, wenn ich alleine war. Immer wieder rief ich mir Mathews Bild vor Augen, immer wieder lauschte ich auf seine Stimme in meinen Erinnerungen. Wieder und wieder trieb es mir die Tränen in die Augen, wenn ich unser letztes Gespräch rekonstruierte. Erschreckenderweise vergaß ich schon sehr schnell ganz viele Einzelheiten davon.

Einige Zeit verging auf diese Weise, dann begann das Training wieder. Zum ersten Mal hatte ich überhaupt keine Lust dazu, doch als ich wieder auf dem Platz stand, gab es mir meine Lebensgeister zumindest ein wenig zurück. Also nahm ich an jedem Training und den Spielen teil, doch geistig war ich immer noch abwesend. Manche einfachen Bälle bekam ich einfach nicht mehr ins Tor und ich verlor viele Zweikämpfe. Auf die Fragen der Reporter und meiner Mitspieler, was mit mir los sei, antwortete ich nicht.

Zum ersten Mal in meinem Leben beeinflusste meine Homosexualität mein Fußballspiel in dem Maße, dass ich immer schlechter wurde. Wenn ich darüber nachdachte, war es mir peinlich, dass ich mich so gehen ließ, doch das Gefühl war nicht stark genug, als dass ich mich anders verhalten hätte. Sollten sie doch denken, was sie wollten, auch mir konnte es nicht immer gut gehen. Was verlangten sie denn auch von mir?

Wenn ich heute darüber nachdenke, ist mir bewusst, wie erbärmlich ich mich verhalten habe. Jeder Mensch erleidet in seinem Leben Verluste, doch nur wenige gehen so in ihrem Selbstmitleid auf wie ich. Und eigentlich kann ich noch nicht mal erklären, warum ich dermaßen resistent gegen gute Laune war. Ich glaube, ich hatte einfach Angst, dass ich Mathew dann vergessen würde. Ich wusste nicht genug über Liebe, um zu wissen, dass solch tiefe Gefühle auch über lange Zeit bestehen bleiben können, ohne dass man sie sich immer wieder vor Augen ruft.

Den Sprung aus dieser Misere schaffte ich mit Hilfe des Mannes, wegen dem ich überhaupt so litt. Natürlich, ich hätte mir gewünscht, die Worte von ihm direkt zu hören, doch scheinbar hatte er sich dagegen entschieden. Vielleicht hätte er sie dann nicht sprechen können.

Seit kurzer Zeit ging ich wieder ab und an mit Thomas weg, irgendwohin, etwas trinken. Er versuchte schon nicht mehr, auf mich einzureden, sondern ertrug meine schlechte Laune einfach wie ein super bester Freund. So auch an diesem einen Abend, irgendwann im Herbst, als ihm nebenbei einfiel, dass Mathew ihn angerufen hatte. Er erzählte es vollkommen nebenbei, während mich alleine bei dem Namen das Zittern ergriffen hatte. Fast wollte ich Thomas sagen, dass es mich nicht interessierte, doch dann hörte ich gespannt zu. Es war kein langes Gespräch gewesen, mit wenig besonderem Inhalt, doch darin hatte Mathew einen Gruß an mich weitergegeben, den Thomas auf ein PostIt geschrieben hatte und mir nun unter die Nase hielt.

Thomas verstand den Sinn hinter der Nachricht nicht, zuckte die Schultern und bemerkte nur, dass er sich wunderte, warum Mathew mir das nicht direkt hatte sagen können. Ich erklärte ihm daraufhin, dass wir am letzten Abend nicht gut auseinander gegangen seien und er fragte nicht weiter. Anschließend betranken wir uns und ich versuchte, meine Gefühle in Zaum zu halten. Erst später, im abgedunkelten Schlafzimmer, eine schlafende Miriam neben mir, übermannten sie mich und zum ersten Mal seit Jahren wusste ich wieder, wie gut weinen tun kann. Den Zettel hatte ich bereits auf dem Heimweg verbrannt, doch die Worte hatten mich schon erreicht:

Reiß dich zusammen! Dein Leben hättest du auch gleich an Ort und Stelle wegwerfen können. Aber das wolltest du nicht, also lebe mit deiner Entscheidung und mache sie für andere nicht noch schwerer als sie es schon ist!

So merkwürdig es erscheinen mag, so brauchte es tatsächlich nur diese Ermahnung, um mich wieder aufrecht gehen zu lassen. Ich hätte zwar nicht erklären können, wieso, doch Mathew hatte genau gewusst, was es brauchte, um mich aus meinem Loch zu holen. Und er hatte Recht. Ich hatte eine Entscheidung getroffen, welche nicht nur mich selbst betraf. Er litt ebenso unter ihr und ich machte es ihm sicher nicht leichter, wenn er negative Berichte über mich hören musste, nur weil ich es nicht schaffte, mit meiner Entscheidung zu leben. Er musste es doch auch und hatte im Gegensatz zu mir nicht mal eine Wahl gehabt. Wie konnte also gerade ich in Selbstmitleid baden, als wäre ich der bemitleidenswerteste Mensch auf der Welt?

Davon abgesehen, ich hatte so entschieden, um das, was ich mir aufgebaut hatte, nicht zu zerstören. Doch würde ich letztendlich nicht genau das tun, wenn ich so weitermachte? Nur wegen der Liebe, wegen komischen Gefühlen, die nicht für mich bestimmt waren?

Ab dem nächsten Tag fing ich wieder an zu leben. Miriam spürte die Änderung bereits, als ich sie am Frühstückstisch küsste, und war natürlich entsprechend ratlos, was so plötzlich geschehen war. Aber im Grunde war es ihr egal, solange ich nur wieder der Alte werden würde.

Das wurde ich nicht, natürlich nicht, dafür war zu viel geschehen, doch ich wurde wieder normal, wenn man es so nennen mag. Ich lachte wieder und zeigte Lebensfreude; auf das Spielfeld kehrte ich mit mehr Elan zurück. Auch gab ich wieder Interviews und kommentierte meine schlechte Phase mit einem einfachen athletischen Tief. Zwar dachte ich immer wieder nebenbei an Mathew, doch ich begann nun, diese Gedanken bewusst zu verdrängen, denn ich musste mich doch zusammenreißen.

Je mehr Zeit verging, umso einfacher wurde es, obwohl ich ihn nie ganz vergessen konnte. Dann und wann im Bett dachte ich an ihn, an seine zärtliche Hand an meiner Wange oder an seine Stimme. Dann fragte ich mich auch wieder, warum er mich nicht selbst angerufen hatte, doch eigentlich kannte ich die Antwort. Und ich fragte mich, ob ich ihn irgendwann mal wiedersehen würde. Was würde dann geschehen? Würden wir wohlmöglich irgendwann darüber lachen? Noch konnte ich mir das nicht vorstellen, aber ich wünschte mir trotzdem, ihn noch einmal zu treffen. Einfach um Danke zu sagen; ich dachte, das würde mir schon genügen.

An unserem Jahrestag machte ich Miriam den lange überfälligen Heiratsantrag. Zum Glück war sie nicht sonderlich kitschig veranlagt, weshalb ich nichts Großes planen musste. Auch war es ihr immer wichtig gewesen, unsere Beziehung aus der Presse zu halten, weshalb es mir nicht einmal in den Sinn kam, das ganze an einen öffentlichen Ort zu verlegen. Stattdessen kochte ich für sie, deckte den Tisch mit ihren gelben Lieblingsblumen und kniete schließlich vor ihr nieder. Interessant war, dass ich es in dem Moment als vollkommen richtig empfand, was ich tat. Ich fragte die einzige Frau, mit der ich mir ein Zusammensein vorstellen konnte, ob sie für immer mein sein wollte. Rein von dem Standpunkt aus war nichts falsch an meinen Gefühlen.

Natürlich sagte Miriam ja. Ich hatte auch keine Sekunde mit etwas anderem gerechnet, trotzdem tat es unheimlich gut, ihr Strahlen zu sehen, da es mir noch einmal zeigte, dass ich etwas richtig machte. Sie liebte mich, sie war glücklich mit mir und wollte bei mir bleiben. Konnte ich ihr bei all dem, was ich ihr verheimlichte, diesen Wunsch nicht einfach erfüllen?

Spätestens ab diesem Zeitpunkt war ich mir sicher, meinen Lebensweg gefunden zu haben, denn war nicht alles gut so, wie es war? Ich hatte eine wunderbare Frau an meiner Seite, war erfolgreich, hatte mein Hobby zum Beruf gemacht, übte diesen mit viel Freude aus und musste mir in meinem Leben keine Gedanken um Geld machen. Meine Eltern und meine Schwester liebten Miriam bereits, als sei sie schon immer ein Teil unserer Familie gewesen, und meine Mutter sprach schon freudig davon, irgendwann einmal Enkelkinder zu bekommen. Was hätte es da schon gegeben, das mir fehlte? War das nicht das perfekte Leben?

Natürlich war es das, zumindest konnte ich das sagen, solange ich nicht genau darüber nachdachte. Dann konnte ich ganz einfach sagen, dass es nichts gab, was mir fehlte. Nur ganz selten, mitten in regnerischen Nächten, gestand ich mir ein, dass mir etwas ganz Spezielles wohl immer fehlen würde: das Gefühl, welches ich mit Mathew im Regen gehabt hatte.

„Sie waren also nicht glücklich.“

„Das ist schwer zu beantworten, denn das besondere am Glücklichsein ist, dass man nicht in Worte fassen muss, dass man es ist…“

„Doch das taten Sie?“

„Genau. Ich sagte mir immer wieder, dass ich doch glücklich war… und vielleicht war ich das tatsächlich, in dem Rahmen, wie es mir erlaubt war, sozusagen. Es fehlte einfach nur ein winziger Teil, um mich vollständig zu machen, doch ich gab den Gedanken auf, es irgendwann zu sein…“

„Also haben Sie nicht an ein Outing gedacht?“

„Nein. Ich dachte nicht eine Sekunde lang darüber nach, dass ich mich jemals outen könnte. In dem Moment, in dem ich es täte, würde alles zusammenbrechen, was ich mir mühsam aufgebaut habe. Ich war nicht bereit, das zu riskieren.“

„Und doch sitzen Sie heute hier.“

„Ja.“

„Welcher Situation haben wir das zu verdanken?“

„Fragen Sie lieber, wem…“

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