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Verstecktes Leben im Abseits - Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball
Kapitel 10.00 - Wer die Regeln macht
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Informationen
- Story: Verstecktes Leben im Abseits - Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball
- Autor: Kida Takahama
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Diverses
„Eine Umfrage? Worum geht es denn?“
„Letzte Woche ist bei uns ein Artikel über den schwulen Fußballer-“
„Ach, den hab ich gelesen! Und was wollen Sie jetzt von mir?“
„Wir sammeln Stimmen aus der Bevölkerung… Von Fans oder auch Leuten, die sich gar nicht für Fußball interessieren… Wir möchten wissen, wie die Allgemeinheit auf das Outing reagiert.“
„Sie wollen also wissen, was ich dazu sage?“
„Richtig.“
„Na schön. Ich hab mich schon vor Jahren mit Freunden über das Thema unterhalten, was eigentlich mit Homosexuellen im Fußball passiert. Die meisten waren davon überzeugt, dass es sie nicht gibt… aber ich dachte mir, dass sie falsch liegen. Nur hätte ich es ausgerechnet von ihm nie erwartet!“
„Weshalb nicht?“
„Er und Miriam waren doch ein tolles Paar.. Nein, ich hab es wirklich nicht erwartet..“
Ich war ziemlich überrascht, als mir mein Chef sagte, was für ein Artikel geplant ist. Ein schwuler Fußballspieler aus unserer Nationalmannschaft? Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, um wen es dabei gehen sollte. Doch er sagte es mir auch nicht. Außerdem verlangte er von mir, bis zum Interview vollkommenes Stillschweigen über die Sache zu erhalten. Dies war eine riesige Sache für unsere Zeitung und zudem hatte er dem Spieler zugesichert, dass bis zur Artikelerscheinung nichts an die Außenwelt dringen würde.
Ich sprach nicht einmal mit meiner Frau über die Sache. Zwar sagte ich ihr, dass ich in zwei Wochen ein ganz besonderes Interview führen würde, doch ich gab ihren Fragen nicht nach. Natürlich vertraue ich ihr, doch manchmal rutschen halt doch Sachen heraus, die man eigentlich nicht sagen will. Ich bin durch meinen Beruf dazu verpflichtet, zu schweigen, sie ist es nicht. Würde doch etwas nach draußen dringen, würde ich dafür verantwortlich gemacht werden.
Bis zu dem Interview selbst war ich, zugegeben, schon sehr neugierig. Ich mochte Fußball, auch wenn ich Basketball vorzog, also war ich selbstverständlich sehr daran interessiert, um wen es sich handelte. Denn ich konnte es mir nicht denken, ich hatte keine Idee. Weiterhin malte ich mir aus, was passieren würde, wenn unser Artikel erscheinen würde. Soweit ich wusste, hatte sich noch kein Spieler geoutet; es würde zunächst einmal ein riesiger Skandal werden. Was musste den Mann dazu bewegen, den Schritt dennoch zu gehen?
„Ich wusste es! Es war so klar!“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Man hat es ihm doch angesehen, wie er den anderen immer nachgestarrt hat!“
„Aber es scheint doch nie jemand Verdacht geschöpft zu haben.“
„Die waren alle blind, ich wusste es schon immer!“
„Keiner hat es von ihm erwartet, das ist wohl das Beste an der Sache.“
„Wieso?“
„Naja, es zeigt, dass es wirklich jeden treffen kann!“
„Ich finde, es ist an der Zeit, dass sich noch mehr Spieler outen! Er hat den ersten Schritt getan, sie sollten ihn unterstützen!“
„Glauben Sie also, dass es noch mehr gibt?“
„Natürlich! Aber die sind wohl immer noch zu feige.“
„Das zeigt mal wieder, es sind dann wohl doch genau die, von denen es man nicht denkt…“
„Wer hätte das gedacht! Ich find’s cool!“
„Man kann mir erzählen, was man will, irgendwie sind beim Fußball doch eh alle schwul… so wie die sich immer betatschen!“
„Ehrlich gesagt, ich bin wirklich erstaunt, dass man es ihm nie angemerkt hat… Ich dachte immer, man merkt das schon irgendwie… man sieht es den Schwulen an… aber bei ihm wäre ich nie auf die Idee gekommen… irgendwie faszinierend.“
„Und was halten Sie davon, dass er schwul ist?“
„Im Grunde ist es mir egal. Er ist ein klasse Spieler!“
„Also sollte er Ihrer Meinung nach weiter für die Nationalmannschaft spielen?
„Natürlich!“
„Das Mädel muss echt blind gewesen sein!“
„Miriam?“
„Ja! Man merkt, doch ob der Lover scharf auf einen ist oder nicht!“
Ein paar Tage vor dem Interview wurde ich wieder wegen der Sache zum Chef gerufen. Er sagte mir, dass er sich entschieden hatte, mich für dieses Interview als Redakteur zu nehmen, weil er meine neutralen Artikel sehr schätzte und außerdem wusste, dass ich ein sehr toleranter Mensch bin. Damit hatte er recht. Zwar war ich, was vielleicht auch meinen Beruf erklärt, neugierig, aber abseits davon war ich der Angelegenheit gegenüber eher so gestimmt, dass jeder ein Recht auf sein privates Leben haben sollte. Was ging es uns an, dass irgendein Fußballer Männer liebte?
Drei Tage vor dem Interview wurde mir gesagt, wer es führen würde. Ich hatte bereits an vielen Projekten zusammen mit diesem Kollegen gearbeitet, weshalb ich davon überzeugt war, dass wir uns auch dieses Mal wieder gut ergänzen würden. Am Nachmittag noch setzten wir uns zusammen hin, um uns Fragen zu überlegen. Er war ebenso neugierig wie ich, um wen es sich handelte. Anders als ich hatte er auch bereits zwei Spieler im Verdacht, was vielleicht daran lag, dass er sich mehr mit Fußball beschäftigte als ich. Und er hatte auch schon fast jeden Spieler der Nationalmannschaft vor seinem Mikrofon gehabt.
Das Interview würde bei uns in der Redaktion stattfinden. Erst am Morgen, drei Stunden vor Beginn, wurde uns schließlich der Name mitgeteilt. Es war keiner der beiden, die mein Kollege sich vorgestellt hatte, stattdessen traf es ihn ziemlich überraschend und er schüttelte immer wieder leicht den Kopf, während wir an unseren Computern saßen und noch ein paar Fakten zu dem Spieler heraussuchten. Hintergrundinformationen, damit das Interview flüssiger laufen würde.
Dann kam er und wir setzten uns mit ihm hin, erfuhren seine Geschichte, seine Vergangenheit und Wahrheit. Ich hatte eigentlich vor gehabt, mir Notizen zu machen, doch die meiste Zeit saß ich einfach nur da und hörte zu. Ich hatte nicht mit so einem schwierigen Leben gerechnet.
„Es ist einfach nur abartig! Ich wäre froh, wenn ich es nie erfahren hätte!“
„Die arme Frau. Es muss schlimm sein, wenn der eigene Verlobte einen nie wirklich geliebt hat…“
„Ich frage mich, was wirklich der Grund war, dass er sich jetzt outet. PR?“
„Endlich spricht mal einer aus, wie schwer es den Homosexuellen heute noch in manchen Bereichen gemacht wird! Man muss sich das mal vor Augen führen!“
„Kennen Sie sich da aus?“
„Ich habe einige schwule Freunde und kenne ihre Geschichten… von allgemeiner Toleranz sind wir in der heutigen Zeit leider noch meilenweit entfernt.“
„Ich hab überlegt, mein Autogramm von ihm zu verbrennen…“
„Haben Sie es getan?“
„Quatsch! Wer weiß, vielleicht ist es mal ganz viel wert.“
„Man muss sich mal vorstellen, wie sich die anderen seiner Mannschaft fühlen… er hat ihnen doch sicher auf den Arsch gestarrt und sich was weiß ich mit ihnen vorgestellt…“
„Er sagte, dass er seine Mannschaftskollegen wie Brüder angesehen hat.“
„Ach, das kann mir keiner erzählen! Auch bei meiner Schwester finde ich Titten geil!“
„Ist er überhaupt schwul, wenn er so lange mit einer Frau zusammen war? Er ist dann eher bi, oder nicht?“
„Wie konnte er das Miriam bloß antun?!“
„Ich komme vom Dorf. Früher wurde ich da immer schräg angesehen, wenn ich mit meinem Freund händchenhaltend durch den Park gegangen bin… Heute lebe ich in einer Großstadt. Dort interessiert es fast niemanden. Manche gucken kurz, aber das war es auch schon.“
„Wie viele Fußballer er wohl gefickt hat?"
„Glauben Sie das im Ernst?“
„Natürlich! Man muss sich diese Schwuchtel doch nur anschauen, um zu sehen, wie nötig er es hat!“
„Im Fernsehen sieht man Probleme anderer nicht.“
„Was meinen Sie?“
„Diese Sache zeigt mal wieder, wie fremd uns die sogenannten Stars eigentlich sind…“
„Wie meinen Sie das?“
„Wir glauben zu wissen, wie unsere Idole ticken… die Sportler oder Schauspieler, die wir toll finden… wir haben unsere Meinung über sie… dabei führen sie doch ihr ganz eigenes Leben, über das wir nicht urteilen können… und wir sollten es auch nicht.“
Es gibt so viele Menschen auf dieser Welt, die Sportprofi werden wollen. Sie wollen berühmt werden, indem sie einen Ball in ein Netz treten. Sie wollen damit im Fernsehen gesehen werden, wollen, dass man über sie spricht und schreibt. Doch dabei bedenken sie nicht, wie viel eigentlich dazu gehört, weltbekannt zu sein.
Denn es gibt auch diese andere Art Menschen, die selbst nicht den Wunsch verspüren, berühmt zu sein. Stattdessen aber laben sie sich am Leben anderer, saugen Nachrichten und Neuigkeiten in sich hinein, um sie mit anderen Menschen zu teilen. Dies läuft nicht immer auf einer ruhigen, freundlichen Ebene ab. Wenn es einen Skandal gibt, so wird auf den Beteiligten in Kneipen und beim Kaffeekränzchen herumgetrampelt. Es wird gelacht und es werden die Köpfe geschüttelt.
Die Menschen denken, sie können sich ein Urteil bilden, nur durch ein paar Dinge, die irgendwo geschrieben stehen. Oder durch das neuste Foto, das für Millionen an eine große Zeitung verkauft wurde. Plötzlich scheint es jeden etwas anzugehen, das Leben eines Sportprofis, welches er privat führt. Jeder meint sich ein Urteil darüber erlauben zu dürfen und nur wenige schaffen es in der heutigen Zeit noch, dabei neutral zu bleiben.
„Es hat schon seine Gründe, weshalb es noch immer ein Tabu ist!“
„Und die wären?“
„Sehen Sie, ich spiele auch Fußball, und ich könnte auch keinem aus meinem Team vertrauen, wenn er schwul wäre…“
„Weshalb nicht?“
„Dann muss ich doch Angst haben, dass er während des Spiels an meinen Schwanz denkt!“
„Ich freue mich für ihn, dass er den Mut aufgebracht hat.“
„In welche Sexkinos der wohl gegangen ist…“
„Interessiert Sie das?“
„Naja… überlegen Sie sich doch mal, was passieren würde, wenn er es sagt!“
„Was denn?“
„Na, die werden reich damit!“
„Ich finde es gut, dass er nicht mehr in dem Verein spielt… wäre ja noch schöner!“
„Aber sollte er nicht die Möglichkeit haben wie alle anderen?“
„Nein, der hat im Fußball nichts mehr zu suchen!“
„Homosexualität ist etwas vollkommen Normales… Es gibt sie ja sogar in der Tierwelt!“
„Der soll bloß machen, dass er Leine zieht!“
„Solange Schwule nicht glauben, dass sie sich alles erlauben dürfen, ist es für mich kein Problem.“
„Es ist erschreckend, wie leichtfertig heute mit dem Thema umgegangen wird. Man darf sich gar nicht ausmalen, was das noch für Konsequenzen haben wird!“
Als Redakteur einer seriösen Zeitung muss man neutral sein, darf zwar eine Meinung haben, diese aber nicht äußern. Artikel müssen objektiv geschrieben sein, die subjektive Meinung tut nichts zur Sache. Während man den Job noch nicht ausübt, kann man sich nicht vorstellen, wie schwierig diese Aufgabe manchmal sein kann. Man sucht Ausschnitte eines Interviews zusammen und möchte am liebsten nur die Teile nehmen, die einen selbst interessieren, doch dann wieder weiß man, dass man dazu verpflichtet ist, umfassend zu informieren. Man darf nichts weglassen, nur weil es einem selbst nicht gefällt. Und man darf nichts schreiben, was die Sache verschönen oder verschlimmern würde. Man muss lernen, neutral zu sein, um den Leuten, die es nicht können, genug Stoff zu bieten, sich ihre eigene Meinung daraus zusammenzusuchen. Alles was danach kommt, kann einem letztendlich egal sein.
Mit den Jahren lernt man diese Neutralität immer besser. Man schottet die eigenen Gedanken ab, sobald man an der Arbeit sitzt, versucht lediglich die Kreativität und Objektivität sprechen zu lassen. Meistens funktioniert es, doch hin und wieder kommen einem Aufgaben zu, bei denen es nicht so einfach fällt. So wie bei Umfragen zum Beispiel, bei denen man unzählige Aussagen vor sich liegen hat. Positive, wenige neutrale, viele negative, ein paar hasserfüllte. Man muss ihnen allen Platz gewähren, denn man arbeitet ja für ein neutrales, seriöses Magazin. Alle Stimmen wollen gehört werden, selbst wenn man sie selbst ausschließen will. Also muss man versuchen, seinen Job zu machen, auch wenn man weiß, dass die Menschen, die ihren Traum verwirklicht haben und Sportprofi geworden sind, eigentlich ein Recht auf ihr privates Leben haben, über das sich keiner eine Meinung fällen sollte.
„Niemand sollte das Recht haben, über die Natur eines anderen Menschen zu urteilen…“
„Mal ehrlich… ich hab kein Problem damit, wenn jemand schwul ist… aber beim Fußball? Das ist ein Männersport, da gehört so jemand nicht hin!“
„Aber er ist doch auch ein Mann.“
„Aber kein richtiger… Ich meine… Sie wissen schon, irgendwie ist er in ner gewissen Weise dann schon ne Frau…“
„Perverses Schwein… für den Betrug müsste er weggeschlossen werden!“
„Finden Sie nicht, dass das etwas zu drastisch wäre?“
„Wieso denn? Er hat es sich doch selbst ausgesucht!“
„Schwul zu sein?“
„Schwul zu leben!“
„Sind wir nicht alle ein bisschen bi?“
„Es ist widerlich, wenn ich mir überlege, irgendjemand aus meiner Mannschaft würde mir beim Duschen auf den Hintern gaffen und sich daran aufgeilen.“
„Ach, der wollte doch eh nur Aufmerksamkeit!“
„Wo kämen wir denn da hin, wenn plötzlich jeder schwul oder lesbisch wird!“
„In unser Mannschaft hat sich auch mal einer geoutet… er wurde rausgeekelt, obwohl er ein echt guter Spieler war. Allerdings weiß davon kaum einer was, wir sind nur ein kleiner Dorfverein…“
„Spielt er noch Fußball?“
„Er hat nie wieder einen Ball angerührt…“
„Wann war das?“
„Es ist jetzt sieben Jahre her.“
„Fußball ist ein Sport für Männer, nicht für Tunten!“
„Ohne diese Schwuchtel hätten wir die EM sicher gewonnen! Aber ne, er musste ja den Platz wem anders wegnehmen.“
„Es heißt, einer von elfen ist schwul. Wenn Sie mich fragen, sind zusätzlich mindestens zwei bi!“
„Also überrascht es Sie nicht?“
„Nicht im Geringsten! Ich frage mich eher, warum alle anderen nicht so mutig sind wie er!“
„Selbst bei den Politikern ist Homosexualität mittlerweile kein Problem mehr… Wieso also dann ausgerechnet in einem Sport, der die Menschen verbinden soll?“
„Er hätte sich einer Therapie unterziehen sollen, dann hätte er das Problem jetzt nicht.“
„Sie glauben, dass das etwas bringen würde?“
„Natürlich! So etwas Abartiges entsteht im Kopf… man müsste ihm nur mal zeigen, wie Unnormal das ist, dann würde er schon wieder auf den richtigen Weg zurück finden!“
Normalerweise schreiben wir eher positive Artikel. Zwar fassen wir auch ernste Themen auf, doch nur selten dreht es sich um individuellen Schmerz. Im Sport kommt so etwas einfach nicht so häufig vor und Verletzungen, so schlimm sie auch sind, haben eine andere Tragkraft als ein Outing eines Nationalspielers. Entsprechend ist es mir überraschend schwer gefallen, den Artikel so zu verfassen, dass ich selbst damit zufrieden war. Uns war so viel erzählt worden, dass ich am liebsten alles verwendet hätte, doch obwohl wir Extraseiten zugesagt bekommen hatten, reichten sie vorne und hinten nicht. Also musste ich kürzen und dazu entscheiden, was wichtig und was unwichtig war. Dabei kam mir alles wichtig vor, denn ich wollte, so neutral ich bleiben musste, dass die Leser den Schmerz verstehen würden, den ich in seinen Augen gesehen hatte. Ich hoffe, dass ich die Schwere seiner Jahre in meinen Worten transportieren können würde, und doch glaubte ich nicht wirklich daran. Letztendlich würde sich doch ohnehin jeder sein eigenes Bild basteln.
Und so ist es nun auch gekommen. Seit der Artikel bei uns erschienen ist, wird fast überall über das Thema geredet. Auch bei uns in der Redaktion. Jeder glaubt, sich eine Meinung bilden zu dürfen, jeder meint, seinen Senf dazu abgeben zu müssen. Natürlich suchen sie dabei vor allem das Gespräch mit mir und meinem Kollegen, der das Interview geführt hat. Dabei haben wir bereits in den Tagen nach dem Interview, als wir es wieder und wieder durchgegangen sind, um die besten Teile für den Artikel herauszusuchen, für uns beschlossen, nicht zu viel zusätzlich dazu sagen zu wollen. Wir haben mit ihm gesprochen und dabei sein Gesicht gesehen. Wir haben den Kummer in seinen Augen wahrnehmen können, welcher sich nicht in Worte fassen lässt. Wie sollen wir unseren Kollegen oder irgendjemandem sonst klar machen, was wirklich in dem Mann vorgegangen ist, wenn sie sich doch alle bereits ihr Urteil gebildet haben?
Auch meine Frau wollte mit mir darüber reden, als ich am Abend nach Hause kam. Sie kann Fußball normalerweise nichts abgewinnen, doch hier war sie sofort interessiert und wollte philosophieren, was mir nur wieder zeigte, wie es nun in unserem Land aussehen musste. Wir hatten keinesfalls einen Artikel veröffentlicht, der nur eine bestimmte Zielgruppe anspricht. Im Gegenteil, vermutlich haben so viele Hausfrauen unsere Zeitschrift gekauft wie nie zuvor. Die Zahlen sind bestimmt in die Höhe geschnellt und unser Verlag hat riesige Umsätze gemacht… und das alles auf die Kosten eines einzelnen Mannes, der einfach im Leben zum ersten Mal zu sich selbst stehen wollte.
„Fußball interessiert mich nicht, aber ich finde, dass jeder Homo ganz still sein sollte…“
„Inwiefern?“
„Na, von wegen Gleichberechtigung und so… Wo soll das denn hinführen, wenn bald alle nur noch mit ihrem eigenen Geschlecht poppen?“
„Im Mittelalter war es vollkommen normal, schwul zu sein. Erst in unserer ach so tollen modernen Welt ist daraus überhaupt ein Thema geworden… Sollte es nicht eigentlich anders herum sein?“
„Keiner sollte sich verstecken müssen, nur weil er jemanden liebt!“
„Meine Schwester spielt auch Fußball. In ihrer Mannschaft ist eine Spielerin lesbisch, alle anderen sind hetero… doch paradoxerweise wird es bei ihnen genau andersherum erwartet.“
„Da heißt es immer, im Fußball gibt es keine Schwulen! Ha, er hat es allen gezeigt!“
„Ich würd ihm schon zeigen, wo’s langgeht, wenn er mir über den Weg laufen würde, der Schwanzlutscher!“
„Ein Freund von mir ist schwul…“
„Lebt er offen damit?“
„Erst seit zwei Jahren… Davor war er sogar verheiratet… und er hat zwei Kinder…“
„Und wieso hat er sich geoutet?“
„Weil er es nicht mehr ausgehalten hat…“
„Was halten Sie davon?“
„Ich finde es immer noch ziemlich krass, auch wenn es wahrscheinlich die richtige Entscheidung war…“
„Und was halten Sie von der aktuellen Sache?“
„Ich denke, es war gut, dass er es jetzt gesagt hat… So ist wenigstens noch kein Kind geschädigt worden…“
„Es gibt so viele Vorurteile gegen Homos… Das kommt doch nicht von irgendwo!“
„Ich finde es einfach nur traurig.“
„Was?“
„Dass man sich als Schwuler auch heute noch rechtfertigen muss…“
„Es war richtig, dass er sich geoutet hat… sonst hätte er nur weiter die Luft im Stadion verpestet.“
„Es hat schon seine Gründe, weshalb es keine gemischten Mannschaften gibt!“
„Zum Beispiel?“
„Man ist doch immer etwas abgelenkt, wenn hübsche Frauen in der Nähe sind…“
„Meinen Sie nicht, dass man in der Situation anderes im Kopf hat?“
„Ich denke nicht. Die meisten Männer denken halt doch mit ihrem Schwanz…“
Ich habe mich selbst mit dem Thema in den letzten Tagen etwas eingehender beschäftigt. Wenn man so will, bin ich dann wohl auch nicht anders als alle anderen auch, die aktuell darüber sprechen, so gerne ich es auch wäre. Doch ich kann einfach nicht taub gegenüber den Medien sein, nicht blind, wenn ich Fernsehen schaue und das Thema in den Nachrichten behandelt wird oder in Talkshows. Somit habe ich natürlich auch die Stellungnahmen des Trainers und einiger Mannschaftskollegen gesehen und immer wieder kann ich nur den Kopf schütteln. Wie können sie so ignorant sein und dennoch sagen, dass er weiterhin ein Freund ihrer ist? Wie können sie lächeln, wenn ihre Augen Abscheu ausdrücken? Und wie können Fans sich solche schimpfen, wenn sie ihn nun am liebsten aus ihrem fußballerischen Gedächtnis streichen würden?
Bereits drei Tage nach der Erscheinung des Artikels meinte mein Chef, dass wir weitere folgen lassen sollten. Stimmen der Bevölkerung und, wenn möglich, die ein oder andere aus seinem privaten Umfeld. Ich frage mich immer noch, ob dies eine gute Idee war. Wir haben das Thema begonnen, müssen wir das Feuer dann wirklich noch weiter entfachen?
Zudem, auch wenn ich mit ihm eigentlich nichts zu tun habe, tut er mir leid. Ich kenne nun nur einen winzigen Teil von Bevölkerungsstimmen, doch wenn man ihnen lauscht, kann man sich vorstellen, was da draußen los sein muss. Sie alle zerreißen sich das Maul über ihn. Ich bin nur froh, dass nicht alle Stimmen vernichtend sind, selbst wenn es davon viel zu viel gibt.
„Schade, dass er nicht mehr in der Nationalmannschaft spielen wird, er war wirklich eine Bereicherung!“
„Also ist es Ihnen egal, dass er schwul ist?“
„Klar, das hat doch mit dem Sport nichts zu tun!“
„Ich will gar nicht darüber nachdenken!“
„Finden Sie nicht, dass er eine Strafe verdient hat?“
„Wofür?“
„Er hat alle hinters Licht geführt!“
„Er hat das richtige getan, sich zu verstecken…anders wäre er doch nie so weit gekommen, das sieht man doch! Ich verstehe nur nicht, wieso er sich jetzt outet…“
„Wahrscheinlich gibt es noch mehr Schwuchteln im Fußball und nach den Spielen werden in der Kabine Orgien gefeiert!“
„Ich hab das Gefühl, dass es zu einem Trend geworden ist, schwul oder lesbisch zu sein. Das ist wirklich erschreckend! Gibt es denn keine normalen Menschen mehr auf der Welt?“
„Der sollte sich nicht mehr auf die Straße trauen!“
„Sensibilität ist auf dem Rasen fehl am Platz!“
„Ich bin ihm dankbar.“
„Weshalb?“
„Mein Sohn ist schwul. Er hat sich vor uns geoutet, nachdem er den Artikel gelesen hat… Ohne ihn hätte er sich vielleicht noch ewig versteckt.“
„So was ist einfach nicht normal!“
„Was ist denn für Sie normal?“
„Ach, was weiß denn ich!“
„Es ist einfach nur ekelhaft!“
„Ich will gar nicht darüber nachdenken.“
„Es muss klasse für ihn gewesen sein, unter der Dusche…"
„Wenn die Gesellschaft vernünftig wäre, hätte er sich gar nicht outen müssen. Dann wäre so etwas vollkommen egal.“
Natürlich hatte ich seit dem Interview nichts mehr mit ihm zu tun. Wieso auch? Ich habe meinen Job als Redakteur gemacht, er hat uns das Interview gegeben. Alles, was ab jetzt geschieht, kann ich nur wie jeder andere auch in den Medien verfolgen. Und obwohl es mir eigentlich egal sein kann, wie es weiter geht, frage ich mich wirklich, was in den kommenden Wochen, Monaten, Jahren geschehen wird.
Homosexualität im Fußball ist tatsächlich eines der größten Tabus unserer heutigen Zeit, wird dies auch in Zukunft so bleiben? Oder werden die Menschen aus der Sache lernen, aus seinem Outing? Ich hoffe es sehr für ihn, doch ich weiß nicht, was ich glauben soll. Wir die Welt daraus lernen? Oder wird sie es ignorieren? Wird das Tabu hiernach vielleicht nur noch ausgeprägter? Ich kann es mir nicht ausmalen, ich kann ihm nur die Daumen drücken, dass zumindest für ihn alles etwas positiver verlaufen wird, als es aktuell den Anschein haben mag.
Denn hat es nicht jeder verdient, glücklich zu werden?
„Die Welt wird immer toleranten… nicht zuletzt dank solch mutiger Menschen.“
„Die Geschichte wird schneller in Vergessenheit geraten, als man denkt…“
„Meinen Sie wirklich?“
„Ja… Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie irgendwann verdrängt wird. Dann hat es ihn nie gegeben.“
„Ein solcher Artikel macht Mut, dass sich die Welt vielleicht irgendwann zum Guten ändert…“
„Na herrlich, da ist es ja nur noch eine Frage der Zeit, bis die erste Transe auf dem Feld steht!
„In der heutigen Zeit sollte das Thema nicht mehr totgeschwiegen werden.“
„Wie meinen Sie das?“
„Jeder sollte das Recht haben, zu leben, wie er es will! Man sollte sich nicht verstecken müssen, auch als Fußballer nicht!“
„Das Outing war doch nur ein Impuls! Übermorgen wird er es schon bereuen, aber dann ist es schon zu spät!“
„Irgendwann werden ihn seine Sünden einholen, da bin ich sicher!“
„Ich hoffe für ihn, dass er es nie bereuen wird.“
„Ich will gar nicht wissen, was ab jetzt im Ausland über uns berichtet wird! Das ist echt ein Skandal!“
„Vielleicht ändert sich jetzt endlich was! Er war erfolgreich, für die meisten männlichen Fußballfans ein Idol… wenn sich so jemand outet, muss sich etwas ändern!“
„Ich denke nicht, dass sich irgendwas ändern wird…“
„Sie wollen wissen, was ich davon halte?“
„Gerne, ja.“
„Da fragen Sie genau den richtigen.“
„Wieso?“
„Ich bin selbst schwul… und wissen Sie, was ich denke?“
„Was denn?“
„Ich bemitleide ihn. Die letzten Jahre müssen für ihn die Hölle gewesen sein. Aber gleichzeitig bewundere ich ihn auch, dass er es so lange versteckt gehalten hat… Ich selbst habe mich schon mit Zwölf geoutet. Wenn ich mir überlege, ich hätte mich mein Leben lang verstecken müssen… Ich wäre daran kaputt gegangen. Deshalb hoffe ich, dass er es schafft, mit sich selbst wirklich glücklich zu werden.“
Kapitel 10.00 - Ende
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