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Engel leben Rückwärts
Teil 1
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Informationen
- Story: Engel leben Rückwärts
- Autor: ko-airin
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Abenteuer, Diverses
Prolog
Der erste Gedanke
Er war genauso anders, wie alle anderen auch. Aber hätten sie einmal hingeschaut, dann hätten sie gemerkt, was sie verbindet.
Doch wer schaute heute noch genau hin? Kaum einer hatte überhaupt noch Zeit, auf andere zu achten.
Die Zeit war so schnelllebig geworden. Zeit war so kostbar geworden, Zeit war ein Luxusgut.
Und da niemand freie Zeit hatte, hatte niemand die Zeit, um auf andere zu achten – und so wurde der, der ein anderer unter anderen war, der Andere.
Sein Leben war ein unstetes, einsames Leben. Er lebte allein, mit einer Unmenge an Zeit, die ihn zu ersticken drohte.
Nichts, das in sein Leben getreten war, schien dauerhaft zu bleiben. Mal kam etwas, mal ging etwas, die einzige Konstante in seinem Leben schien seine eigene Existenz zu sein.
Denn niemand schaute hin.
Und doch hatte er ein Ziel.
Das andere Ende. 2005
Meine erste Begegnung mit ihm fand vor sehr vielen Jahren statt und obgleich es schon so lange her ist, kann ich mich noch daran erinnern, als wäre es erst gestern gewesen.
Aber irgendwie ist es auch erst gestern gewesen, wenn ich einen größeren Rahmen anlege. Was sind schon neunzig Jahre für eine Welt von Milliarden von Jahren? Was sind schon neunzig Jahre für eine Menschheit von hunderten Millionen von Jahren? Was sind schon neunzig Jahre für eine über zweitausend Jahre alte Gemeinschaft?
Wenig, fast nichts.
Aber neunzig Jahre sind für ein Kind sehr viel, es ist fast schon unvorstellbar und so sind unsere erste und unsere letzte Zusammenkunft doch ein Treffen der Gegensätze, die doch mehr verbindet als es den Anschein hat.
Damals war ich ganze sieben Jahre alt, damals, im Jahre 2005, als der Papst starb. Denn mit ihm starb nicht nur ein Mann von Welt, sondern auch meine Mutter, die mich allein aufgezogen hatte, mit Gianna, ihrer Mutter.
Es war die Nacht, in der der Papst starb. Es regnete und stürmte und gewitterte und die Blitze und insbesondere der Donner machten mir Angst. Ich kroch zu meiner Mutter ins Bett und konnte beruhigt einschlafen, denn bei ihr war ich sicher; sie würde mich immer beschützen.
Den nächsten Morgen erlebte sie nicht mehr. Als ich wach wurde, lag neben mir eine eiskalte Gestalt, die wie meine Mutter aussah und ihr Lächeln trug. Aber sie rührte sich nicht, als ich sie versuchte zu wecken. Als Oma kam, weil sie mit uns zur Kirche gehen wollte, nahm sie mich bei der Hand und setzte mich ins Wohnzimmer, in Opas großen, hellen Ohrensessel, denn sie wusste, dass ich dort am liebsten saß.
Es dauerte, bis Oma wieder zu mir kam und mich vorsichtig weckte. Ich war im Sessel eingeschlafen.
Ich blickte Oma an, ihre blauen Augen waren gerötet und Tränen liefen über ihre faltigen Wangen.
„Oma, warum bist du traurig?“, fragte ich sie. Sie brachte keinen Ton heraus, nur die Tränen flossen in Strömen ihre Wangen herab. Erst wurde ihr Auge feucht, ihr linkes Auge, es schien zu zucken und dann verließ eine Träne das Auge, rann langsam, aber wie ein Fluss, der sich noch seinen Weg zu bahnen hatte, über ihre linke Wange, vorbei an der Narbe aus dem Krieg; und schließlich am Kinn vereinte sich auch diese Träne mit einer anderen zu einem Tropfen, der dann vom Kinn fiel und einen kleinen nassen Fleck auf meiner Schlafanzughose hinterließ.
„Marie“, seufzte sie, nachdem sie sich mit ihrem zerknitterten Taschentuch geschnäuzt hatte. „Marie, deine Mutter ist eingeschlafen.“
„Und wann steht sie auf?“
Oma schwieg und drückte mich ganz fest an ihre Brust.
„Nie mehr“, schluchzte sie. „Mama ist für immer eingeschlafen.“
Der Tag der Beerdigung war gekommen und tief dort unten in der Holzkiste lag meine Mutter nun. Nie wieder würde ich sie sehen, nie wieder würde ich ihr Lachen hören, nie wieder würde ich mit ihr „Mensch ärgere dich nicht“ spielen können, nie wieder würde ich mit meiner Mutter kuscheln können, nie, nie wieder. Denn sie lag tief dort unten in der Holzkiste.
Oma und ich standen noch am offenen Grab, Abschied nehmen, wie sie es nannte.
Ich blickte mich um. Weites Grün um mich herum, es schien alles so friedlich und schön, ich sah Blumen, bunte Blumen in kleinen Beeten, wo immer mein Blick auch hinfiel, hinter den Blumen stand immer ein großer Stein mit Zeichen darauf, die ich nicht lesen konnte, und er nahm den Blumen das wenige Licht zum Leben, das noch durch den dichten Frühjahrsnebel drang. Der Nebel lag schwer über der Weite, wie ein grauer Wattebausch legte er sich über den Friedhof, nur in meiner Augenhöhe war noch annähernd freie Sicht, als wolle jemand, dass ich diese ruhige, schöne, aber doch so tote und irgendwie auch kalte Stimmung sehen sollte.
Ich schlich mal wieder über den Friedhof, durch den Nebel, sah die Grablichter glimmen. Neben mir schlurfte er auf dem Schotterpfad, sein Schritt war müde und alt geworden und die Schottersteinchen spritzten umher. Seine graue Hose war ihm längst zu weit geworden, auf dem trockenen Boden rieb sie sich den Saum kaputt, mit zitteriger Hand stützte er seinen Gehstock auf den Boden und bewegte sich nur langsam vorwärts.
So sehr ich ihn auch vorsichtig musterte, ich wusste nicht, wie alt er war, denn sein Gesicht wirkte aus einem Blickwinkel jung und wettergegerbt, aus dem anderen aber alt und faltig. Sein dünnes, schlohweißes Haar gab vielleicht den Ausschlag dafür, dass ich ihn auf etwa einhundert Jahre schätzte. Und für das Alter hielt er sich erstaunlich gut, so weit ich das beurteilen konnte – aber was wusste ich schon von alten Menschen, so jung, wie ich war.
Er seufzte und sein Atem ging keuchend, als er neben dem Loch in der Erde stehen blieb.
„Schau hinauf“, krächzte er leise. „Dort oben wird sie sitzen und bei dir sein.“
Ich blickte den alten Mann verwundert an, der plötzlich neben mir stand und sich über seinen Stock beugte, während Oma ihn wohl entsetzt angeblickt haben musste, denn er wandte sich scheu ab, seine Augen ließen eine Entschuldigung erkennen.
„Bleib hier“, rief ich ihm nach, als er langsam, auf seinen Stock gestützt, seinen Weg machte. Oma wollte mich mit einem Blick verstummen lassen, aber er stoppte in seiner Bewegung und drehte sich um. Ein Lächeln fuhr über sein Antlitz.
Dann blickte er wieder seines Weges und schlurfte von dannen.
„Was ist mit dem Mann?“, fragte ich Oma, doch ihre Gedanken blieben mir verborgen hinter einer ganz und gar ungroßmütterlichen Maske. Ich versuchte, in ihrem Gesicht etwas zu erkennen, doch da war nichts. Weg war die Kälte, die den Greis zum Gehen bewegt hatte, weg war die Trauer, die die Angehörigen noch vor wenigen Minuten bewegt hatte, weg war aber auch die Wärme, die mich bewegt hatte, mit Oma noch am Grab zu verweilen.
Denn ihre Wärme, die Wärme, die sie allein durch ihr Antlitz auszustrahlen vermochte, war es gewesen, die mich nicht dazu verleitete, mit Opa zum Leichenschmaus zu gehen, sondern noch ein wenig zu verweilen.
Leichenschmaus. Welch komische Bezeichnungen es für so unkomische Ereignisse doch gibt. Irgendwie erinnert es mich an eine fröhliche, vergnügliche Veranstaltung, ein „Schmaus“ eben. Aber eine Leiche? Genießt die Tote das Mahl – oder wird sie vernascht? Nein, es ist ein Schmaus zu Ehren der verstorbenen Person – die nun als Leiche in dunklem Humus auf die Zersetzung durch die Würmer wartet. Aber ein Schmaus ist doch etwas Fröhliches, Ausgelassenes. Und davon war auf diesem Leichenschmaus nicht viel zu spüren.
Wie unter einer Käseglocke schien die gute Laune verborgen zu sein, war nur mehr Schein als Sein, denn ihr feiner Duft, ihr Aroma konnte sich nicht verbreiten; wie ein fein gesponnener, nahezu vollkommen durchsichtiger Teppich legte sich die Trauer über die Käseglocke und hielt sie fest, verhinderte, dass etwas wie Stimmung auch nur entweichen konnte.
Dieser Leichenschmaus war verbrannte Erde für das, was er einst gewesen war.
„Weißt du noch, wie Susanna ihren Mann kennen gelernt hatte?“, fragte die junge Frau den ebenso jungen Mann, der neben ihr saß.
Er lachte kurz auf, als er sich erinnerte. „Sie wollte einkaufen. Als sie durch die Drehtür gehen wollte, hatte es Michael – den sie da noch nicht kannte – besonders eilig und überholte sie.“ Er grinste.
„Und prompt lief er in die falsche Richtung und zerbröselte beinahe die Drehtür“, prustete die Frau.
Beide lachten herzlich und zogen so die Missgunst der Trauergemeinschaft auf sich – denn das war die versammelte, der Wollust frönende Meute wahrlich; sie trauerte, und das nicht zu knapp … oder auch nicht, jedenfalls flossen die Tränen hollywoodreif … aber wie viele der Tränen echt waren, wussten nur die Trauernden.
„Das war damals ein Bild für die Götter: sie, erstarrt zur Salzsäule, kann sich vor Lachen nicht mehr halten – und er sitzt auf dem Hosenboden in der sich weiterhin drehenden Tür und schüttelt verwundert den Kopf.“
„Jaaaa“, seufzte die Cousine der Verstorbenen. „Es war Liebe auf den ersten Blick. … Zwölf Wochen Liebe, doch endlich sind die beiden wieder vereint, nach fast acht Jahren.“
Eine Träne lief über ihre Wange, aber sie lächelte – und sie freute sich ehrlich und aufrichtig, das spürte ich.
Mein weißhaariger Begleiter stand draußen am Fenster und blickte hinein in den festlich gestalteten Raum. Er schüttelte den Kopf und zwinkerte, dann schüttelte er betrübt den Kopf und schlurfte fort.
Auch ich musste raus, mir war diese falsche Atmosphäre zuwider, die Luft war stickig von all dem schwülstigen Parfüm, mit dem alles Wahre übertüncht wurde.
Ich folgte ihm.
Es war nur wenige Wochen später. Ich ging wieder zur Schule. Gerade erst hatte es zur ersten Hofpause geklingelt und ich stand einsam wie immer ganz allein am Rande des Schulhofes. Links von mir Gebüsch, rechts von mir ein noch nicht blühender Magnolienbaum, lehnte ich mich an den Zaun und betrachtete traurig, wie die anderen Kinder so unbeschwert umher rannten, spielten, tobten, lachten und sich freuten.
Sie waren so ausgelassen, sie schienen mir so frei.
Hinter mir zwitscherte ein Vogel. Ich drehte mich um, wollte ihn sehen, ihn, den unbeschwerten, wahrlich freien Vogel, der tun und lassen konnte, was er wollte.
Ja, wenn ich groß sein würde, wollte ich Vogel sein; frei und ohne Last, ohne Zwänge, auf mich gestellt, aber von keinem gezwungen, etwas zu tun, was ich nicht mochte.
Ich mochte Schule nicht, es war so einfach. So banal. Und alle waren so fröhlich.
Außer mir!
Was ich hinter mir erblickte, war kein Vogel. Nur ein alter Kauz. Ich kannte sein Gesicht, hatte ihn erst vor wenigen Wochen gesehen.
Auf der Beerdigung meiner Mutter war er es gewesen, der als letzter gekommen war, als nur noch Oma und ich dort standen.
„Wer bist du?“
Meine Frage verhallte in den Gehörgängen des Mannes, er schien wirklich über meine Frage nachzudenken, als hätte ich eine philosophische These in den Raum gestellt, die es nun gründlich zu überdenken galt – und im Hintergrund zwitscherte wirklich ein Vogel.
Er rückte ein wenig näher an den Zaun.
Dort standen wir, er auf der einen Seite, auf der anderen Seite des Zaunes ich, so nah und doch ge-trennt. Und dann hauchte er die Worte, die ich am wenigsten erwartet hätte, er flüsterte sie nur.
„Ich bin … alt.“
Gut. Das hätte jetzt jeder sehen können, der nur Augen im Kopf hätte.
Aber was mich faszinierte, war, dass er ehrlich war und sonst nichts – irgendwie schien ich zu spüren, dass er mir nicht antworten würde, also fragte ich nicht weiter nach.
Ich musterte ihn.
Nichts an ihm war auffällig, nichts war wirklich faszinierend, so rein optisch betrachtet.
Dennoch aber war es mir nicht einmal möglich, sein Alter zu schätzen, hätte ihn mal für 60, mal für 90 Lenze alt gehalten.
In der Ferne nahm ich das Klingeln zum Pausenende wahr. Eigentlich sollte ich jetzt in meine Klasse zurückkehren. Aber gerade jetzt wollte ich nicht gehen, ich wollte verweilen, wollte bei dem bleiben, der mein Leben endlich wieder … lebenswert … gemacht hatte.
Damals war es nur ein schönes Gefühl; dass er mein Leben wieder lebenswert gemacht hatte, kam mir erst später in den Sinn.
Er blickte mich nur mild an.
„Geh nur, geh nur. Geh zu den Kindern und lerne. Was kann ich alter Mann dir schon beibringen?“
Ich war enttäuscht, hatte gehofft, er würde mich jetzt mitnehmen und umherführen, mir aus seinem Leben erzählen. Dass er mich stattdessen dorthin schickte, wo ich nie wieder hin wollte, empfand ich als Verrat.
Ich durchdrang ihn mit dem bösesten Blick, der mir möglich war, doch er lächelte nur leicht und ich glaubte, ein amüsiertes Flackern in seinen Augen erkannt zu haben, nur für einen Sekundenbruchteil.
Er hatte gewonnen. Langsam ging auch ich in meine Klasse, winkte ihm ein letztes Mal zu, bevor ich das alte Schulgebäude betrat.
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