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Stolz und Fall

Teil 1

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Inhaltsverzeichnis

1

(12. September)

Idealvorstellungen rauschen immer wieder durch meinen Kopf. Traumbilder verschleiern mein inneres Auge. Geprägt von meiner Umwelt suche ich nach etwas, was meinem Leben diesen besonderen Reiz gibt. Überall werde ich mit diesem einem Wort konfrontiert; in den Medien, den Bildungsanstalten und von den Menschen in meiner Umgebung. Doch was bedeuten diese fünf lapidar aneinander gereihten Buchstaben wirklich? Darauf kenne ich keine Antwort.

Doch die Sehnsucht danach kann ich wohl auch niemals vollends unterdrücken.

Ein schrilles Läuten durchfährt meinen Körper. Ein Läuten, welches ich seit 6 Wochen nicht mehr vernehmen musste. Das Läuten des Weckers. Meine letzten Sommerferien sind vorbei.

Ich blinzle. Ich liege in meinem warmen Bett und mein Körper signalisiert mir deutlich, dass er noch nicht bereit zum Aufstehen ist. Ich blinzle noch einmal, in der Hoffnung, dass es nur ein böser Traum ist und erblicke das blaue Display des Weckers, welches mir sagt, dass ich mal wieder viel zu spät dran bin.

Durch meine weißen Vorhänge kann ich erkennen, dass die Sonne bereit ist aufzugehen und die Vögel draußen vor dem Haus um die Wette zwitschern. Ich hasse Vögel.

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und schwinge mich, mehr oder weniger gekonnt, aus der verlockenden Schlafhöhle. Die allmorgendlichen Vorbereitungen für die Schule nehmen ihren gewohnten Ablauf. Wie schon seit 3 Jahren verlasse ich das Haus ohne Frühstück und natürlich mal wieder viel zu spät. Der Weg zur Schule dauert zu Fuß ca. 20 Minuten. Es ist ein warmer Spätsommertag. Genau genommen ist es der 12. September und Schulbeginn. Planmäßig soll das mein letzter Schulbeginn sein. Aber was läuft schon nach Plan. Weiße Turnschuhe tragen mich den altbekannten Weg. Meine Gedanken schweifen ab und wieder ergreift mich dieses Gefühl der Einsamkeit.

Vor dem Schultor krame ich meinen Stundenplan aus der Tasche, den ich mir vor einer Woche aus dem Internet ausgedruckt hatte und mache mich auf den Weg zu dem Klassenzimmer, wo der Chemieleistungskurs stattfinden sollte. Die Schule ist hektisch wie immer am ersten Tag. Die 5. Klässler laufen wie eine Horde Küken wild durch das alte Schuldgebäude des St. Franziskus Gymnasiums, auf der Suche nach ihren Klassenzimmern. Auf dem Lehrerparkplatz stehen die üblichen fünf Lehrkräfte mit den chronischen Nikotinmangelerscheinungen. Fünfzig Meter weiter lungern die neuen 9. Klässler, die über die Ferien das Rauchen entdeckt hatten und nun ihre jungen Lungen mit der beruhigenden Droge füllen. Ich mag unsere Schule. Erbaut wurde sie im 17. Jahrhundert und war ursprünglich eine Bildungsanstalt für adelige Sprösslinge. Von der ehemals großen Parkanlage ist jetzt nicht mehr allzu viel übrig. Das Gelände wurde „optimal genutzt“, laut Gemeinde. Was letztendlich heißt, dass überall plumpe Betonbauten aus dem Boden geschossen sind und sich nun dicht an dicht in die Landschaft drängen.

Ich drängle mich auf den breiten Steintreppen hoch in den 3. Stock und grüße hier und da ein paar Leute. Da ich letztes Jahr zweite Schulsprecherin war, gelangte ich zu einer recht ansehnlichen Popularität. Eigentlich hatte ich es nie wirklich auf dieses Amt abgesehen, jedoch hat es sich letztes Jahr durch eine Verkettung von Ereignissen ergeben und ich lebte ganz gut damit. Insgeheim genoss ich es auch. „Zu sein, bedeutet wahrgenommen zu werden“, wie es so schön heißt.

Ich erreiche das lichtdurchflutete Klassenzimmer 6 Minuten vor Schulbeginn und hocke mich auf den Platz in der ersten Reihe ganz rechts am Fenster. Im Laufe meiner Schulkarriere war ich zu der Erkenntnis gekommen, dass fast alle Lehrer über diesen Platz hinweg sahen und man sich somit mit allerlei unterrichtsfremden Sachen beschäftigen konnte. Ich bin nicht allein in dem Raum, der durch seine hohen Decken sehr mächtig für ein Klassenzimmer wirkt.

Mathias Kerger, der Klassenprimus, sitzt schräg hinter mir und blättert gedankenversunken in einem dicken Buch. Vermutlich hat er in den Ferien wieder einmal den Stoff für dieses Schuljahr vorgelernt, um ja keinen einzigen Punkt in den bevorstehenden Klausuren zu verschenken. Hanni und Nanni, offiziell bekannt als Andrea und Agnes, die, wie die letzten 6 Jahre, die Ferien auf dem Reiterhof verbracht haben, unterhalten sich angeregt in der anderen Ecke des Raumes. Immer wieder wandern ihre Blicke zum Klassenschönling, Schmalzlocke und erstem Schulsprecher Tobias Rotenberg und seinem treu ergebenen Freund Christian.

Aus dem Augenwinkel kann ich beobachten, dass Tobias mit einem Kopfnicken auf mich zeigt und ich fange an wie wild in meiner Umhängetasche zu kramen, in der Hoffnung, dass er sein Vorhaben mich zu belagern aufgibt. Versuch fehlgeschlagen.

„Einen wunderschönen guten Morgen Claudia. Na, die Ferien gut überstanden? Man hat ja gar nichts von dir gehört.“

Ich bin schwer am überlegen ob das eine rhetorische Frage ist und muss mich schwer zu einer anständigen Antwort durchringen. Tobias ist allgemein als Schwarm aller Mädchen bekannt, deren IQ dem eines Brotes nicht ganz unähnlich ist. Auch sind die meisten der Lehrer ganz hin und weg von dem „höflichen und zuvorkommenden“ Schüler. In Wirklichkeit ist er jedoch ein egozentrisches Arschloch, das alles nimmt, was bei drei nicht auf dem Baum ist. Aber da er ein Mann ist, würde ihm nie der Ruf der Schlampe anhaften.

„Dir wünsche ich auch einen wunderschönen guten Morgen, Tobias.“

Ich bin der Meinung, dass das freundlich genug war und wende mich wieder meinem Hausaufgabenheft zu, um – was wesentlich wichtiger als Tobias ist – die Ferientage anzustreichen.

„Und, werden wir dieses Jahr wieder die Regierung der Schule übernehmen?“ Er lacht überheblich. Meine Nackenhaare stellen sich auf.

„Hört sich ja fast so an, als würdest du hier den Absolutismus anstreben. Schon vergessen wie es damals in Frankreich geendet hat?“

Sein arrogantes Grinsen weicht aus seinem symmetrischen Gesicht.

„Oh, ich sehe du bist mal wieder mit dem falschen Fuß aufgestanden. Wie jeden Morgen.“ Mit diesen Worten verabschiedet er sich recht schroff und verzieht sich in die letzte Reihe. Sein treuer Diener läuft ihm folgsam hinterher.

Nach und nach füllt sich das Klassenzimmer. Die üblichen Modepüppchen steuern auf ihren Pfennigabsätzen und in ihren Röhrenjeans herein, dicht gefolgt von Kerlen, deren Hosen bedenklich tief hängen.

Ich bin relativ normal angezogen. Jeans und lila T-Shirt und darüber ein einfacher schwarzer Wollpullover. Früher lief ich regelmäßig sehr stark szeneorientiert gekleidet in die Schule, jedoch hat sich das nach und nach so zurück entwickelt, dass ich nur noch gelegentlich die alten Hüllen wieder anlege. Gewisse Lebensstile sind einfach nicht gesellschaftstauglich. Und ich habe mittlerweile mehrere solcher Lebenseinstellungen, die man nicht offen leben sollte, wenn man Probleme vermeiden will.

Die Schulglocke läutet. Das letzte Schuljahr kann also beginnen.

Mit zwei Minuten Verspätung kommt unser Chemielehrer Herr Dünster herein gespurtet. Unter dem Arm hat er einen Stapel Blätter geklemmt.

„So, guten Morgen die Herrschaften.“, raunt er über die Köpfe der Klasse und klingt dabei als hätte er Gummibärchen zwischen Zähnen kleben, was lediglich darauf hinweist, dass sein Gebiss wohl nicht richtig sitzt. Der gute Herr Dünster ist seit fast 40 Jahren an dieser Schule und unterrichtet Physik und Chemie mit der Leidenschaft einer toten Eidechse. Er ist einen Kopf kleiner als ich, hat Vollglatze und einen Bart, der an den eines Diktators in den 40er Jahren erinnert.

Herr Dünster blickt hektisch umher und scheint wohl gerade zu versuchen, seine Gedanken zu ordnen. Chemiker.

„So, ich muss dann noch mal in das Lehrerzimmer. Und ihr bleibt derweil brav, wa?“

Ich widme mich meinem Chemiebuch und frage mich, warum ich es nicht geschafft habe, es einmal in den Ferien aus seinem dunklen Verließ heraus zu holen. Im Hinblick auf das Abitur wäre es vielleicht ratsam gewesen.

„Na Claudi, was hast du dir so für Ziele dieses Schuljahr gesetzt?“

Mathias’ Kopf ist neben mir aufgetaucht. Mathias ist vom Wesen her etwas seltsam, jedoch um einiges angenehmer als so manch andere Gestalt hier.

„Ich dachte, ich spiele Vier-Gewinnt.“, ich zwinkere ihm zu.

Mathias wurde nie damit fertig, dass ich ihn in einem Fach um einen Notenpunkt geschlagen hatte. Er ist zwar um Meilen besser und strebsamer als ich, aber in Sachen logischem Denken bin ich ihm voraus.

„Du willst danach Physik studieren, oder?“.

„Ja.“ Und seine Augen fangen an zu leuchten.

Freak.

Das Wiederhallen trippelnder Schritte im Flur kündigt die Rückkehr von Herrn Dünster an. Doch diesmal nicht allein. Ihm folgt jemand.

„So meine Lieben, darf ich Ihnen das Fräulein Klinger vorstellen. Sie wird ab heute auch in unserem Chemiekurs sein. Ach und Tobias Rotenberg, kümmern Sie sich etwas um sie … ah nein, … lieber Fräulein Manner.“ Einige Mädchen kichern. Herr Dünster hält nicht sonderlich viel auf Tobias – jedoch steht er mit dieser Ansicht im Kollegium relativ einsam da.

Ich blicke auf, um den Neuankömmling zu mustern und mein Herz macht einen Aussetzer. Feuerrote Locken, die seidig über schmale Schultern fallen, umrahmen ein engelsgleiches Gesicht in dem wachsame Augen eingebettet sind. Langsam dreht das Mädchen den Kopf in meine Richtung und blickt mich direkt mit ihren grünen Katzenaugen an. Augenblicklich wird mir völlig anders. Sie strahlt etwas aus, was ich bisher noch bei keinem anderen Menschen wahrgenommen habe. Ich könnte niemals beschreiben was es ist, nur kann ich sagen, dass es da ist. Völlig geistesabwesend starre ich dieses fremde Mädchen an.

„Fräulein Manner, alles in Ordnung mit Ihnen?“

Augenblicklich werde ich aus meiner Trance gerissen.

„Jap“, japse ich rasch und Mandy das Klassenliebchen wirft mir einen abschätzigen Blick zu.

„Gut, dann nehmen Sie die Fräulein Klinger ein wenig unter Ihre Fittiche.“

Ich nicke. Immer noch überwältigt von dem Augenblick versuche ich meinen Kopf wieder frei zu bekommen und klar zu denken. Deutlich spüre ich mein Herz in meiner Brust schlagen.

Die Neue lächelt mir unbeholfen zu. Völlig hin und her gerissen zwischen Faszination und unbändiger Aufregung zwinge mein Gesicht zu einem halbwegs freundlichen Ausdruck, wobei es wohl eher einer Grimasse ähnelt. Die Schönheit lässt sich neben mir auf dem Stuhl nieder.

„Hallo, ich bin Sandra.“

„Hi, ich bin … Claudia“, antworte ich immer noch verwirrt.

Sandra schaut mich durchdringend an, schmunzelt und dreht sich dann Richtung Tafel. Unwillkürlich beiße ich mir auf die Lippe.

Nach drei quälenden Stunden Belehrung über Schulordnung und Ablauf des Abiturs, werden wir von dem Läuten der Schulglocke erlöst.

Viel habe ich von dieser Belehrungsstunde nicht mitbekommen. Ständig habe ich dieses neue Wesen aus dem Augenwinkel beobachtet, mich aber nicht getraut, sie anzusprechen. Die Aufregung ist nicht von mir gewichen und hält mich auch jetzt immer noch fest im Griff. Ich bin völlig verwirrt und hoffe, dass sich dieser Zustand schnell wieder legt.

Falsch gedacht.

Es ist schwer, wieder normal zu denken, wenn die Ursache der eigenen Verwirrung einen auf Schritt und Tritt folgt. Klar, sie kennt hier keinen und schließlich sollte ich ja auf sie aufpassen. Also entschließe ich mich kurzer Hand sie mit in die Kollegclique einzubringen, wo die ganzen Püppchen und Neureichen sich zugehörig fühlen. Das Gefühl der Aufregung in ihrer Gegenwart hält mich nach wie vor fest im Griff, was dazu führt, dass ich es nicht schaffe mich anständig mit ihr zu unterhalten. Ist es bloße Schüchternheit, dass ich es nicht schaffe ihr gegenüber so zu sein wie ich bin? Sowas ist mir bis jetzt noch nie bei einer fremden Person passiert.

Tobias hingegen scheint da weniger Berührungsängste zu haben. Er flirtet und scherzt mit ihr. Wenn er es darauf anlegt hat er ein ziemlich einnehmendes Wesen, doch sie reagiert auf seine Annährungsversuche äußerst gelassen und scheint wenig Interesse an ihm zu haben. Wie ein Geist beobachte ich stillschweigend das Geschehen.

Der Tag vergeht ohne weitere Vorkommnisse. Einen Großteil der Kurse haben wir zusammen, in denen hat sie sich auch neben mich gesetzt und ich bin heilfroh, als ich gegen Zwei endlich nach Hause gehen kann.

Zuhause angekommen plündere ich kurz den gut gefüllten Kühlschrank und verkrieche mich in mein Zimmer, wo ich augenblicklich mein Medium zur Welt anschalte – meinen PC.

Die Sache mit Sandra lässt mich nach wie vor nicht los. Meine Nervosität hat sich zwar wieder gelegt, dennoch überhäufen sich in meinem Kopf die Fragen, was gerade mit mir passiert ist. Woher dieses untypische Verhalten von mir kommt. Ich bin völlig überfordert mit dieser Situation, obwohl man meinen sollte, dass man mit 18 Jahren schon relativ gefestigt ist.

Frustriert setze ich meine Kopfhörer auf, drehe ein wenig Death Metal auf und lasse mich berieseln. Noch heute Morgen war ich die Ruhe selbst gewesen.

2

(26. September)Mittwoch

Sandra ist nun schon seit zwei Wochen bei uns auf der Schule. Mittlerweile hab ich mich wieder unter Kontrolle bekommen, jedoch erfasst mich immer wieder eine Aufregung sobald ich in ihre Nähe komme. Eine innerliche Unruhe hat sich über mich gelegt, die sich nicht mehr abschütteln lässt.

Glücklicherweise steht die Wahl für die neuen Schulsprecher in einem Monat an, was mich auch endlich auf andere Gedanken bringt. Tobias betreibt auch schon wieder kräftig „Wahlkampf“. Was auch immer er genau darunter verstehen mag.

Sandra erzählte mir in unseren wenigen Gesprächen miteinander, dass sie mit ihrer Familie aus Köln nach Gladbach gezogen ist, weil ihre Mutter eine „Veränderung“ brauchte. Gladbach muss ihr ja wie eine Provinz vorkommen. Wir zählen knapp 50.000 Einwohner und sonst gibt es auch kaum nennenswerte Dinge zu berichten. Sie hat noch einen kleinen Bruder der Sebastian heißt und wohl auf die örtliche Realschule geht.

In den letzten zwei Wochen hat sie immer mehr Abstand zu mir genommen, ob das an meinem dämlichen Verhalten am ersten Schultag lag oder auch andere Einflüsse eine Rolle spielen, weiß ich nicht. Ich finde es schade und es versetzt mir auch immer wieder kleine Stiche, komme aber damit relativ gut zurecht. Ehrlich gesagt ist es mir so fast lieber. Zumindest habe ich mir das eingeredet.

Die Lehrer decken uns ordentlich mit Hausaufgaben ein und ich komme kaum noch mit dem Lernen hinterher. In der Pause sitze ich auf dem Schulhof und genieße die warmen Strahlen der Septembersonne. Mit Mühe versuche ich den Rechenweg einer Analysisaufgabe heraus zu finden, als ein Schatten auf mein Buch fällt. Ich blicke auf. Es ist Sandra.

„Ah, hi“ sage ich und widme mich wieder der Aufgabe.

„Was machst du eigentlich immer so am Nachmittag?“ fragt sie fast beiläufig.

Ich blicke zu ihr auf. Lässig trägt sie ihren Rucksack auf einer Schulter und hat die Hände in den Taschen ihrer schwarzen Lederjacke. Wieder einmal steigt diese Aufregung in mir auf und ich versuche das unangenehme Gefühl in meiner Magengegend zu unterdrücken. Ihre Augen fixieren einen Punkt in dem Bereich hinter mir. So privat auf einmal, bisher haben wir uns fast ausschließlich über die Schule unterhalten.

„Ich gehe die Woche dreimal zum Volleyball Training und zweimal zum Karate. Ansonsten ist nicht viel los.“ Versuch ich so lässig wie möglich zu klingen. Mein Herz schlägt schon wieder bis zum Hals. Was sie wohl über mein übermäßiges sportliches Treiben denkt?

„Sag mal, in Physik, du bist doch da nicht so schlecht. Ich habe gemerkt, dass ich bei dem Stoff recht viel nachlernen muss und da wollte ich dich fragen, ob du mir vielleicht ein bisschen Nachhilfe geben kannst. Aber natürlich nur, wenn es in deinen Zeitplan passt. Tobias hatte es mir zwar schon angeboten, aber …“. Ich fange an zu lachen. Wenn Tobias Nachhilfe anbietet, dann kann man fast sicher sein, dass es sich um Nachhilfe in den „alltäglichen Dingen des Lebens“ handelt.

Der Gedanke ihr Nachhilfe zu geben erscheint mir nicht sonderlich unangenehm, jedoch bin ich mir nicht sicher, ob ich dazu wirklich in der Lage bin, wenn ich sie so dicht neben mir sitzen habe. In meinem Kopf wiege ich pro und contra ab ohne mitzubekommen, dass Sandra immer noch vor mir steht und mir einen fragenden Blick zuwirft.

„Ähm…“, tja, zu mehr bin ich leider nicht in der Lage, weil ich anscheinend gerade einen Kurzschluss in der Rübe habe und mein Magen immer mehr rebelliert.

„Schon gut, ich frage einfach mal Mathias, der ist wahrscheinlich weniger beschäftigt. Also, wir sehen uns dann in Chemie.“

Mit diesem Satz macht sie auf dem Absatz kehrt und geht schnurstracks in Richtung Aula.

Es verstreichen einige Minuten, bis ich begreife, in welches Fettnäpfchen ich schon wieder gefallen bin. Ich beiße mir so fest auf die Lippen, dass es anfängt zu bluten und ich den eisenähnlichen Geschmack auf meiner Zunge spüre. Unmittelbar neben mir fangen ein paar Kinder an sich zu streiten. Normalerweise war das immer ein Grund für einen Auftritt von mir. Jedoch ist das jetzt Nebensache.

Gegen Ende der Pause packe ich mein Zeug zusammen, die Analysisaufgabe hatte sich auch nicht von selbst gelöst, und ich spurte hoch in den Chemiesaal, mit dem festen Vorsatz, dass ich mich umgehend bei Sandra entschuldigen muss und ihr Nachhilfe anbiete. Als ich ins Klassenzimmer gehe, sehe ich Tobias auf der Bank in der letzten Reihe sitzen und wieder irgendeine Ansprache halten, über die Verbesserung der Situation in der Schule. Seine gewöhnlichen Groupies hocken um ihn herum und lauschen gebannt seiner Propaganda. Sandra sitzt auf ihrem Platz. Neben mir. Ich lasse meinen Ordner mit einem leichten Knall auf den Tisch fallen und schwinge mich so leicht, wie es mir gewährt ist, auf den Stuhl.

Ich atme tief durch. Inhaliere die stickige Luft des Klassenzimmers förmlich.

„Du, tut mir Leid wegen vorhin. Ich war etwas durch den Wind. Aber ich könnte dir gerne Nachhilfe geben, sofern du das immer noch willst.“ So, oder ähnlich sollte jedenfalls der Satz klingen, den ich ihr jetzt vorbeten wollte, jedoch enthält der tatsächlich gesprochene einen anderen Inhalt.

„Äh… du, sorry, wegen… äh… Nachhilfe, du weißt schon… da Schulhof.“

Sandra dreht langsam ihren Kopf in meine Richtung und zieht ihre dunklen Augenbrauen hoch. Sie schaut mich mit ihren tief grünen Augen eine geschlagene Minute an und wendet dann ihren Blick wieder von mir ab. Mir wird heiß und kalt und schlecht. Abermals bricht mir der Schweiß aus.

Ich fixiere noch immer ihr Profil als sich ihre wunderschön geformten Lippen zu einem weniger schönen Satz formen.

„Pass auf, dass deine Maske nicht irgendwann zu bröckeln beginnt.“

Sie nimmt ihr Chemiebuch und blättert darin herum, als wäre nichts gewesen. Ich sitze auf meinem Stuhl, meine Handflächen füllen sich mit Körperausdünstungen, ich spüre, wie mir die Farbe aus dem Gesicht entweicht. Mein Körper ist wie gelähmt. Ich bin unfähig zu sprechen. „Maske“, „bröckeln“ schießt es mir durch den Kopf. Hat sie mich etwa durchschaut? Etwas an mir entdeckt, was ich selber nicht wahr haben will? Meine Aufregung entdeckt, die mich jedes Mal überfällt, sobald ich in ihrer Nähe bin? Das wäre fatal.

Mein Magen krampft sich sehr bedenklich zusammen. Die Magensäure steigt in meiner Speiseröhre empor. Ich muss hier raus.

Ich springe von dem alten Holzstuhl auf und sprinte in Richtung Tür. Die Hand ganz fest auf meinen Mund gepresst. Ich laufe und laufe. Schüler drehen sich nach mir um. Wie vom Teufel besessen stürze ich den langen Schulflur entlang. Ich vernehme die Geräusche, die die Schüler, an denen ich vorbei haste, machen, wie durch Watte. Mit einem Knall öffne ich die Tür zum Schulklo und erbreche mich über dem fast schon antiken Waschbecken. Schweiß läuft über mein Gesicht. Meine Knie geben nach. Ich sinke auf den dreckigen Boden des Waschraums. Die Hände noch immer fest am Waschbecken fest geklammert. In meinem Wahn murmele ich die Worte: „Sie hat mich, sie weiß es“ vor mich hin. Ich schluchze und schlage mit meinem Kopf gegen das ehemals weiße Becken. Meine Augen starr auf die schimmeligen Fließen darunter gerichtet.

Plötzlich legt sich eine weiche Hand auf meine zitternde Schulter.

„Alles in Ordnung mit dir?“

Ich zucke zusammen und blicke verängstigt auf diese. Sie ist klein und zierlich und hat Türkis lackierte Fingernägel. Ich folge mit den Augen dem Verlauf der Hand und den Arm entlang. Als ich meinen Kopf drehen muss, um auch das Gesicht der Person zu sehen, schaue ich in das Gesicht eines jungen Mädchens. Ich schätze sie auf 12 Jahre. Ich bin erleichtert.

„Ja.“ Stottere ich.

In ihrem Gesicht sehe ich, dass sie mir das nicht glaubt.

„Du bist doch die Claudia Manner, unsere 2. Schulsprecherin. Eure Sport AG war toll.“

Ich reiße mich zusammen und stelle mich wieder auf die Beine, die sich immer noch wie Pudding anfühlen.

„Schön, dass es dir gefallen hat.“ Ich betrachte mich in dem schmutzigen Spiegel. Trotz des Drecks kann ich erkennen, dass mein Gesicht immer noch leichenblass ist.

Das Mädchen steht hinter mir und starrt mich wortlos an.

„Du solltest nicht mehr in der Schulkantine essen. Ich muss dann zum Unterricht. Ich hoffe du kandidierst dieses Jahr wieder. Ich würde dich auf jeden Fall wählen.“ Ohne dass ich noch etwas erwidern kann, ist das Mädel verschwunden. Ich drehe den Wasserhahn auf und tauche mein Gesicht in das wohltuende, kalte Wasser.

Ich bin erbärmlich.

Zurück im Klassenzimmer packe ich meine Sachen und melde mich krank. Auf dem Weg nach draußen, würdigt mich Sandra keines Blickes. Ich gehe durch das eiserne Schultor und schaue in den Himmel. Er erscheint in einem kräftigen blau, klar und ungetrübt. Ich beschließe nicht gleich nach Hause zu gehen, sondern gehe in den nahe gelegenen Park. Es sind kaum Leute unterwegs. Eine frische Brise weht mir um die Nase. Auf einer morschen Bank lasse ich mich nieder und beobachte einige alte Leute, die unbekümmert Schach spielen. Ganz so als ob ihnen egal wäre, was morgen ist. Ich beneide sie.

Meine Gedanken landen wieder bei Sandra. Abermals hallen ihre Worte in meinem Ohr wieder. Ich schlage meine Hände vors Gesicht und sinke in mich zusammen. Was zum Teufel ist mit mir los? Wie kann es sein, dass ein einziger Mensch so etwas mit mir anstellen kann? Ich habe das Gefühl, dass alles um mich herum zu bröckeln beginnt. Alles was ich mir mühevoll aufgebaut habe. Mein Schutz. Wo ist er nur hin? Die Selbstsicherheit mit der ich früher durch die Schule gelaufen bin. Immer zielorientiert. Ich wusste was ich will und wie ich mit den Situationen fertig werde. Wie kann es sein, dass ich jetzt so heillos überfordert bin?

Schwer seufzend lasse ich mich auf der Bank zurück fallen und mein Blick richtet sich auf das Blätterdach über mir. Die sanften Sonnenstrahlen dringen an einigen Stellen durch das dichte Konstrukt und spenden mir eine wohltuende Wärme auf der Haut. Fast wie die Berührung einer liebevollen Hand.

27. September, Donnerstag

Am nächsten Morgen wache ich relativ früh auf. Gestern hatte ich eine ziemlich lange Zeit im Park verbracht und über allerlei Dinge nachgedacht. Ich habe beschlossen Sandra aus dem Weg zu gehen, da es mir die einfachste und schnellste Lösung für meine Probleme scheint. Ja, alles wird wieder gut solange ich sie nicht an mich heran kommen lasse.

Auf dem Weg zur Schule treffe ich in einer kleinen Seitenstraße Lissi. Lissi ist in der Schülermitverwaltung und stand mir während meiner Amtszeit oft mit Rat und Tat zur Seite. Sie ist 17 und plant schon seit knapp 4 Monaten, wie sie ihren 18. Geburtstag feiern will.

„Und wie läuft es bei dir so derzeit in der Schule?“, fragt sie mit ernsthaftem Interesse.

„Ja, noch läuft es gut. Ich bin ja mal gespannt, wie sich das dann noch im Laufe des Schuljahres entwickeln wird.“ ,scherze ich ein wenig.

„Das wirst du schon machen. Und dieses Jahr werden wir noch mal richtig durchstarten. Kurz vor Pfingsten seid ihr ja schon mit den Prüfungen dran. Ich gehe doch davon aus, dass du und Tobias wieder die Führung übernehmen werdet. Ihr wart die besten Schulsprecher seit dem Beginn meiner Schulzeit an dieser Schule.“

Genau genommen habe ich nicht vor noch einmal für dieses Amt zu kandidieren. Die derzeitige Situation nagt zu sehr an meiner Seele, als das ich mir so etwas zutrauen würde.

„Ich glaube, da muss ich dich leider enttäuschen. Ich werde dieses Jahr nicht antreten“. Um Lissis Blick zu entgehen, schaue ich äußerst interessiert auf den Boden, auf dem sich unzählige Kaugummis befinden. Ein sicheres Zeichen dafür, dass man sich unmittelbar in der Nähe einer Schule befindet.

Lissi bleibt prompt stehen und antwortet mit einem ungewohnt ernsten Ton.

„Das ist doch jetzt wohl ein schlechter Scherz.“

Ich kann nicht anders und muss mich zu ihr umdrehen.

„Das ist kein Scherz. Das ist mein letztes Jahr und ihr habt ja immer noch Tobias. Der wird das schon machen.“ Ein leichter Windstoß geht durch mein Haar. Es fröstelt mich.

„Tobias ist ein unfähiger Volltrottel, der vielleicht gut reden kann, aber sonst ist da nicht sonderlich viel dahinter.“ Ohne ein weiteres Wort, zieht sie an mir vorbei und schmettert mir noch ein „von dir hätte ich ein wenig mehr erwartet. Man sieht sich ja dann heute in der Versammlung.“ entgegen. Und weg ist sie.

Der Grund, warum wir letztes Jahr verhältnismäßig gute Arbeit gemacht haben, war der, dass unsere Vorgänger eine ziemlich ausgezeichnete Vorarbeit geleistet hatten, auf die wir nur noch aufbauen mussten. Aber anscheinend wollten die wenigsten davon etwas wissen.

In der ersten Stunde habe ich Geschichte. Glücklicherweise ein Fach, das Sandra nicht belegt. Von der monotonen Stimme der Referendarin mit den schönen langen Beinen lasse ich mich beschallen und meine Gedanken haben freien Lauf. Ich habe beschlossen, dass ich mich von Sandra weg setzen werde um weiteren Disputen leichter aus dem Weg gehen zu können.

Danach findet die SMV-Versammlung statt, was so viel heißt, dass 15 Schüler in einem stickigen Raum sitzen und über mögliche Verbesserungen diskutieren. Wir arbeiten ziemlich schnell die vorher erstellte Agenda ab und sind mittlerweile beim letzten Punkt angekommen.

Lissi schreibt Protokoll und erhebt das Wort.

„So, jetzt müssen wir nur noch besprechen, was dieses Jahr mit den Schulsprechern wird. Es gibt einige neue Kandidaten. Tobias und Claudia, wollt ihr dieses Jahr wieder zur Wahl stehen?“. Ihr stechender Blick trifft mich von der Seite und ich habe das Gefühl, abermals pfeift der Wind an mir vorbei und jagt mir einen Schauer über den Rücken.

Tobias ergreift das Wort.

„Natürlich, was wäre denn diese Schule ohne mich als Schulsprecher und Claudia wird auch wieder an meiner Seite sein.“ Tobias beschallt mit seiner überheblichen Lache den Raum. Ich räuspere mich laut.

„Oh Claudia, ich weiß schon, dass du gerne wieder das Amt an meiner Seite haben willst. Wir werden das Kind schon schaukeln, die Kiddies können gar nicht anders als uns wählen“,strahlt er euphorisch in die Runde.

Ich räuspere mich erneut. Diesmal etwas lauter.

„Tobias, da muss ich dich leider enttäuschen. Ich werde dieses Jahr nicht zur Wahl stehen.“

Abrupt herrscht Stille in dem stickigen Raum.

Tobias wirft mir einen fragenden und zugleich fassungslosen Blick zu.

„Nun, mit diesem Amt ist viel Arbeit verbunden und ich bin dieses Jahr zeitlich eingeschränkter als letztes Jahr. Ab dem 1. November werde ich nicht mehr im Amt sein.“ Damit war das Thema gegessen – zumindest für mich. Lissi und noch ein paar andere werfen mir düstere Blicke zu, die mir sagen, dass sie Tobias nicht allein als Sprecher haben wollen. Unbeholfen zucke ich mit den Schultern und leichtes Schuldgefühl keimt in mir auf.

Tobias durchbricht wie gewöhnlich die angespannte Stille.

„Nun gut, dann werde ich mir wohl einen neuen Partner suchen müssen.“ Krampfhaft lacht er in die Runde.

Die Blicke der anderen werden immer dunkler.

Nach zwanzig weiteren Minuten ist die Sitzung vorbei und ich steuere auf den Physiksaal zu. Als ich im Klassenzimmer ankomme, muss ich feststellen, dass es gar nicht mehr nötig ist, mich von Sandra weg zu setzen. Sie hat es bereits selber getan. Ich bin entsetzt.

Ich knalle meine Tasche auf den Tisch, so dass einige Mitschüler zusammen zucken und blicke Sandra direkt an. Diese scheint das nicht sonderlich zu interessieren, denn sie findet offenbar wichtiger auf ihrem Block etwas zu kritzeln.

Ich bin auf 180 und frage mich im selben Moment eigentlich warum. Ich sollte eher froh sein, dass sie es von sich aus getan hat. So kann ich mir wenigstens irgendwelche komischen Fragen von ihr sparen. Dennoch liegt mir diese Tatsache so schwer im Magen, wie das Essen einer bekannten Fast-Food-Kette. Während Physik drehe ich mich immer wieder nach ihr um, jedoch hat sie nur Augen für die Formeln, die unser Lehrer in übermenschlicher Geschwindigkeit an die uralte Tafel schmiert. Jedes Mal, wenn ich ihr nahezu perfektes Gesicht betrachte, schnürt sich meine Brust zu. Die Aufregung in ihrer Gegenwart ist nun der Traurigkeit gewichen. Resigniert drehe ich mich wieder nach vorne und versuche meine Gedanken wieder auf Physik zu konzentrieren. Mit mäßigem Erfolg.

Nach der fünften Stunde habe ich frei und mache mich auf den Heimweg. In einem Zwiespalt von Wut und Traurigkeit gehe ich die wenig befahrenen Straßen von Gladbach entlang. Hier und da kreuzen Fußgänger meinen Weg, doch das nehme ich nur wie durch eine Wolke wahr. Endlich Zuhause angekommen, begrüßt meine Mutter mich freudig. Missmutig hänge ich meine schwarze Jacke an die Garderobe und lasse meine Schuhe quer über dem Läufer liegen. Meine Mutter sieht gekonnt darüber hinweg.

„Hallo, kommst du bitte mit zum Einkaufen. Ich muss für Opas Geburtstag noch alles vorbereiten und da brauche ich deine Hilfe.“

Da ich nicht im Stande bin, meiner Mutter etwas abzuschlagen, stimme ich zu und wir machen uns auf zum örtlichen Niedriglohn-Discounter. Die Einkaufsliste meiner Mutter scheint kein Ende nehmen zu wollen und ich trotte gelangweilt hinter ihr her. Was man nicht alles für die Geburtstagsfeier eines Achtzigjährigen braucht. Ich studiere interessiert die Inhaltsstoffe einer Tütensoße, als mir ein Rotschopf ins Auge sticht. Ich muss schlucken. Es ist Sandra, die in Begleitung einer Dame um die vierzig ist. Sieht ganz so aus, als wäre das ihre Mutter. Meine Mutter kommt voll beladen von einem Regal zurück und packt noch mehr Lebensmittel in dem eh schon recht vollen Einkaufskorb, der unter dem Gewicht der Sachen zu quietschen beginnt. Sandra lasse ich nicht aus den Augen. Meine Mutter bemerkt mein Desinteresse an dem Einkauf ziemlich schnell und dreht sich in meine Blickrichtung.

„Huch Claudi, kennst du etwa die Familie Klinger?“

„Hä?“ mache ich ziemlich bescheuert und lasse beinahe das Tütchen mit der Soße fallen, das ich immer noch in der Hand halte. Schnell fange ich mich wieder und frage genauer nach.

„Wie Familie Klinger? Kennst du die etwa?“

„Ach Schatz, hör auf, ich hab dir doch von der Edith Klinger erzählt, die vor knapp einen Monat von Köln hier her gezogen ist. Wir haben uns beim Einkaufen kennen gelernt und trinken hin und wieder einen Kaffee zusammen. Jetzt komm schon, das hab ich dir doch schon öfters erzählt.“

Ein unangenehmes Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Meine Mutter erzählt ziemlich viel, wenn der Tag lang ist und ich habe es mir antrainiert, nur noch mit einem halben Ohr zuzuhören und die neuen Informationen erst gar nicht abzuspeichern, da es sich meistens nur um irgendwelche Frischhalteboxen oder andere für mich äußerst unwichtige Themen handelt. Ehe ich weiter darüber nachdenken kann, höre ich meine Mutter schon quer durch den Supermarkt rufen und wie eine Verrückte winken. Verzweifelt blicke ich mich um, ob ich mich nicht vielleicht noch in der Tiefkühltruhe verstecken könnte. Aber zu spät. Alles in mir zieht sich zusammen.

„Hallo Edith! Hier bin ich.“

Edith, das heißt, die braunhaarige Frau mit der guten Figur dreht sich zu meiner wild winkenden Mutter um und fängt ebenfalls an zu winken. Zu allem Überfluss, hat diese auch noch ihr Töchterchen am Wickel und schleift diese geradewegs samt ebenfalls gut gefüllten Einkaufswagen auf mich zu. Das Töchterchen allerdings bekommt einen ziemlich bösartigen Blick, als sie meine Gestalt erblickt. Meine Nackenhaare stellen sich auf.

Meine Mutter und Edith begrüßen sich herzlich.

„Das hier ist meine Älteste, Sandra.“, erzählt sie uns mit stolzer Miene.

Sandra stellt sich freundlich meiner Mutter vor und wirft mir einen kurzen stechenden Blick zu. Es tut weh.

„Das hier ist Claudia. Meine einzige Tochter, bis jetzt jedenfalls.“ Sie fängt an zu kichern wie ein kleines Schulmädchen und meine Augen rollen sich ganz automatisch zu der weiß gestrichenen Decke. Ich nicke Edith kurz und freundlich zu.

„Na Claudia, wo sind deine Manieren? Willst du Sandra nicht auch begrüßen.“ So sehr ich meine Mutter auch liebe, aber manchmal könnte ich ihr echt an die Gurgel springen.

„Ach, wir kennen uns bereits. Wir sind ja beide in der Kollegstufe.“, antwortet Sandra mit einer unheimlich süßlichen und zugleich überaus gekünstelten Stimme.

Ich nicke nur zustimmend und mustere nun die unschönen Fließen zu meinen Füßen.

„Ach, das ist ja wunderbar. Christiane, habt ihr denn nicht Lust einmal bei uns zum Kaffeetrinken vorbei zuschauen?“, fragt Edith mit kindlicher Stimme.

Na super. Wie ich meine Mutter kenne, wird sie als gestandene Hausfrau und Mutter nicht nein sagen können und ich werde das auch nicht können.

„Natürlich gerne. Wir würden uns freuen, euch zu besuchen. Ihr habt ja auch kräftig eingekauft. Gibt es einen besonderen Grund?“

Ich hasse es wenn meine Mutter, ohne mich zu fragen, in der „wir“-Form spricht.

„Ja, der Freund meiner Tochter kommt am Wochenende zu Besuch. Habt ihr nicht Lust am Samstag gegen 15:00 vorbei zu schauen?“. Wie ein Blitz durchfährt es mich. Sandra hat einen Freund? Mein Herz krampft sich immer mehr zusammen und ich habe das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. Völlig perplex schaue ich in ihr hübsches Gesicht. Doch Sandra schaut gelangweilt in der Gegend herum. Klar, wie hätte es denn anders sein können, als das so eine Frau keinen Freund hat. Meine Hände werden feucht und das Stechen in meiner Brust will und will einfach nicht nachlassen. Aus Angst, dass ich jeden Moment nach vorne weg kippe, halte ich mich mit meinen nassen Händen am Einkaufswagen fest.

„Natürlich gerne!“, strahlt meine Mutter. Angestrengt versuche ich den Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken. Das kann mir meine Mutter doch nicht antun! Auch in Sandras Blick erkenne ich eine gewisse Bitterkeit.

Wir bezahlen und machen uns dann auf dem Weg nach Hause. Ich darf fahren, doch ich weiß nicht mehr, wie ich den Weg bis nach Hause zurück gelegt habe.

Meine Mutter fängt an über Edith zu erzählen, dass sie es wohl in Köln so schwer gehabt hatte und dass ihr Mann vor zwei Jahren die Familie verlassen hätte und das sie hier einen vollkommenen Neuanfang machen wollen. Auch sei Sandra ein so wohlerzogenes und hübsches Mädchen.

Ich parke mehr oder weniger gekonnt den großen dunkelroten Van in der Einfahrt und wir bringen die vollen Einkaufstüten ins Haus. Mein Dackel „Satan“ schlängelt mir um die Beine und ich räume die Einkäufe in den hellbraun lackierten Küchenschrank. Meine Gedanken rasen immer noch durch meinen Kopf und können keine klare Richtung einschlagen. Was passiert nur gerade mit mir?

Meine Mutter schwärmt immer noch von der lieben Familie Klinger, als ich sie schweren Herzens unterbrechen muss.

„Du Mama, ist es irgendwie möglich, dass ich am Samstag nicht mitkomme. Ich bin der Meinung, dass Papa sicherlich gerne mitkommen würde.“

„Hast du am Samstag einen Wettkampf? Ich dachte die Volleyballturniere und die Karatewettkämpfe fangen erst wieder nächstes Jahr an?“

„Nein, das ist es nicht. Sandra und ich sind nicht gerade das, was man ein Herz und eine Seele nennen würde und wenn sie eh ihren Freund da hat, wird sie mich wohl kaum brauchen.“ Sage ich so wehleidig wie möglich. Das zieht meistens bei meiner Mutter.

„Nein. Du kommst mit.“ Ich bin baff. Meine Mutter konnte mir nur ganz selten Bitten abschlagen und wenn, dann tat sie es ziemlich behutsam. Aber das war alles andere als behutsam, sondern ziemlich gebieterisch.

„Aber…“, versuche ich zu widersprechen. Sie winkt ab, was so viel heißt, dass ich den Kampf verloren hab und jetzt das Schlachtfeld räumen muss. Wütend stampfe ich in mein Zimmer und knalle die Tür hinter mir zu. Ich schnappe mir meinen Volleyball und mache einen Aufschlag gegen die Wand. Was sich jedoch sogleich als Fehler heraus stellen sollte, da ich einen ziemlich kräftigen Schlag habe, kommt der Ball mit ziemlicher Wucht wieder auf mich zurück. Ich muss mich ducken und der Ball knallt in mein Regal, wo ein paar Porzellanfiguren stehen, die mir meine Oma vor Urzeiten geschenkt hat. Es scheppert und schon liegen viele Scherben auf dem hellen Parkett. Sogleich fliegt die Zimmertür auf und meine Mutter steht mit verschränkten Armen in der Tür.

„Ups“, bringe ich hervor und fange an die Scherben zusammen zu räumen.

„Jetzt reiß dich mal zusammen, es ist ja nicht zum aushalten mit dir.“, schnauzt mich meine Mutter an. Wie ein räudiger Hund werfe ich die Scherben in den Papierkorb und mache mich auf die Suche nach Kehrschaufel und Handbesen.

28. September, Freitag

Nachdem ich mich gestern im Karate Training richtig ausgepowert und kurzzeitig von meinen Sorgen befreit hatte, kann ich heute wieder in den Tag starten. Es ist Freitag und morgen soll ich bei Sandra zu Hause aufkreuzen. Meine Vorfreude hält sich trotz Wochenende ziemlich in Grenzen.

Im Chemieleistungskurs hat sich Sandra jetzt auch weg gesetzt und ich wurde schon von Hanni gefragt, ob wir beide Schwierigkeiten miteinander haben. Eine richtige Antwort auf diese Frage kenne ich selbst nicht und so habe ich ihr gesagt, dass ich auch nicht genau wisse, was bei ihr los sei.

Herr Dünster hält wie üblich seinen Monolog über Organik und ich versuche angestrengt bei der Sache zu bleiben und meine Augenlider offen zu halten. Nach Stundenende packe ich mein Zeug zusammen und will hinaus auf den Schulhof, wo ich Pausenaufsicht habe. Ich gehe den leeren Korridor im fünften Stock entlang um meine Schulsachen im SMV-Zimmer abzulegen. Irgendwie werde ich es schon vermissen, dieses kleine stickige Zimmer mit der alten Kaffeemaschine, aus der wir regelmäßig tote Ameisen heraus gekratzt haben.

Ich merke ziemlich schnell, dass ich auf diesem Korridor doch nicht so allein bin, wie ich glaubte. Jemand ist hinter mir. Ich krame nach meinem Schlüssel und will gerade die Tür zu der kleinen muffigen Kammer aufschließen, als eine Hand an meinem Kopf vorbei rauscht und geräuschvoll gegen die Wand klatscht. Vor Schreck lasse ich den Schlüssel fallen. An den fein säuberlich gefeilten Nägeln ist klar zu erkennen, dass es sich um eine Frau handelt. Ich drehe mich nach dieser schlanken Hand um und blicke direkt in zwei stechend grüne Augen. Sandra steht dicht hinter mir. Mein Herz macht einen Aussetzer.

„Heb den Schlüssel auf und sperr auf“, sagt sie mit einer Stimme, die mir Angst macht. Ich spüre ihren warmen Atem in meinem Gesicht.

Verwirrt, aber dennoch brav tue ich das, was von mir verlangt wird. Wir treten in den spärlich beleuchteten Raum ein. Sandra zieht die Tür hinter sich zu und legt den Riegel vor.

Was zum Geier soll das denn jetzt? Will die mich hier drin umbringen?

Ich lege meine Jacke und Tasche auf den Holztisch, drehe mich um und lehne mich gegen diesen. Abermals krampft mein Herz.

„Also, worum geht es?“, frage ich erstaunlich kühl.

Sie steht vor mir. Die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Locken liegen locker auf ihren Schultern.

„Es geht um Samstag.“

Augenblicklich muss ich an meine Mutter denken, die wahrscheinlich in der Lage wäre, mir den Kopf ab zu reißen, wenn ich da nicht mitgehen würde.

„Ich habe versucht meine Mutter davon abzubringen, dass ich da mit hin gehen muss, aber sie ist da in gewisser Hinsicht ziemlich stur.“, versuche ich mich zu entschuldigen.

„Was?“

Sandra sieht verwirrt aus.

„Nein, nein, es geht nicht darum, dass du zu mir kommst. Es gibt da nur so ein kleines Problem. Mein Freund der in dieser Zeit bei mir ist, … es könnte sein, dass er dir einige Fragen stellt. Und ich möchte dich bitten, dass du ihm nicht erzählst, dass Tobias mir ständig an den Fersen klebt und auch sonst nichts, was darauf schließen könnte, dass jemand an mir interessiert ist.“

Ich seufze. Ihr Lover ist wohl einer von der überaus eifersüchtigen Sorte. Kein Wunder, bei dieser Freundin. Ich nicke kaum merklich.

„Okey, ich werde die Klappe halten.“

Sie nickt mir zustimmend zu.

„Danke. Man sieht sich.“ Und schon ist sie zur Tür raus verschwunden.

Wieder angekommen in der Realität, fällt mir erschreckenderweise ein, dass ich Pausenaufsicht habe. Ich spurte mit Tempo die leeren Gänge entlang und komme abgehetzt auf dem Pausenhofteil an, wo ich aufpassen sollte. Ich schaue über die Masse von Schülern und kann aufatmen, als ich sehe, dass nichts Besonderes vorgefallen zu sein scheint.

Drogen werden ja auch nur auf den Klos verkauft und das fällt nicht in meinen Aufgabenbereich.

Ich hänge eine Weile meinen Gedanken nach und schaue gelangweilt in die Mittagssonne, die sich hinter einer dicken Wolkendecke versteckt, sodass mir beinahe entgeht, dass ein paar Unterstufenschüler sich gegenseitig mit Kieselsteinen bewerfen. Als ich die Sache wieder mehr oder weniger wieder unter Kontrolle gebracht habe, ist die Pause vorbei und ich mache mich auf den Weg zu Geschichte.

Im Klassenzimmer bezirzt Tobias schon wieder die Referendarin und dieser scheint es aber auch nicht ganz unangenehm zu sein. Sein Charme ist wahrscheinlich der Grund, warum er so lange am Gymnasium überlebt hat. So charismatisch wie der ist, sollte er eine Karriere im Marketing in Erwägung ziehen.

Ich stehe im Umkleideraum der Grundschule und lege gerade meine Knieschoner an und bin bereit ein paar Bälle über das Netz zu schmettern.

„Hey Claud, na, alles fit?“ Melanie kommt herein und begrüßt mich freudig mit einem Kuss auf die Wange.

Wir kennen uns schon seit der Grundschule. Jedoch trennten sich unsere Wege nach dieser. Ich kam auf das Gymnasium und sie besuchte die Realschule. Sie ist ziemlich attraktiv, schulterlange lila gefärbte Haare, Stupsnase und blaue Augen, die in einem gewagten Kontrast zu den Haaren stehen.

Vom Typ her würde sie mir gefallen, jedoch ist mir die Freundschaft zu ihr wichtiger.

„Aber sicher Mel.“

Ich gehe schon vor in die Halle, um mich etwas einzuspielen.

Nach zwei Stunden intensivsten Training, trete ich hinaus in die kalte Nacht. Der Mond scheint klar und ich höre nur das Rauschen der Autos, die auf der weiter entfernten Bundesstraße fahren. Während des Spielens hatte ich vollkommen vergessen, dass ich morgen zu diesem Treffen muss. Zu Hause angekommen, nehme ich noch eine Dusche und lasse mich in mein Bett fallen. Und im Papierkorb sind immer noch die Scherben der Porzellanfiguren.

3

29. September, Samstag

Schlaftrunken liege ich in meinem warmen, violett bezogenen Bett. Die Sonnenstrahlen scheinen durch die weißen Vorhänge auf mein Gesicht. Ich drehe mich noch einmal um und spüre deutlich einen Muskelkater. Gestern hatte ich wie eine Wilde auf die Bälle eingeschlagen. Das ist jetzt der Lohn.

Nachdem ich mich noch 4 Mal gewälzt habe, mache ich mich auf den Weg zum Bad. Meine schwarzen Haare fallen mir wirr ins Gesicht. Durch dieses Haargestrüpp schauen mir zwei dunkelblaue Augen mürrisch entgegen. Nach zwanzig Minuten Restauration bin ich wieder ein Mensch und mache mich auf den Weg in die Küche, wo meine Eltern mir Semmeln hingestellt haben. Sie sind höchstwahrscheinlich mal wieder meine kranke Tante besuchen. Ich frühstücke nur am Wochenende.

Gegen 14 Uhr tauchen meine Eltern auch wieder auf und ich kann die Hoffnung, dass meine Mutter das Treffen heute vergessen hat, doch begraben. Satan ist wieder völlig aus dem Häuschen, weil es bei meiner Tante immer recht viel und gut zu fressen für ihn gibt. Satan hat einen beachtlichen Umfang für einen Dackel. Nicht mehr lange und sein fetter Bauch schleift bei den kurzen Beinchen auf dem Boden – und dafür würden meine Eltern früher oder später sorgen.

Missmutig schwinge ich mich aus meinem Schlafanzug und ziehe mir alltagstaugliche Klamotten an. Zu Fuß dauert der Weg zu Sandra ungefähr dreißig Minuten und um Punkt 15:00 Uhr klingelt meine Mutter an dem Schild mit der Aufschrift „Klinger“. Klingers wohnen in einer Neubausiedlung, in der vor drei Jahren überall Wohnblöcke, die in allen möglichen Farben angestrichen wurden, entstanden sind.

Der Summer der Tür brummt und wir treten in den Hausflur ein. Nach vier Treppen stehen wir im zweiten Stock und werden an der weißen Haustür schon von Edith freudestrahlend begrüßt.

In der Wohnung riecht es noch überall nach frischer Farbe. Ich kann mir nicht helfen, aber dieser Geruch hat mir schon immer gefallen. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich mein Zimmer letztes Jahr dunkellila angepinselt habe. Edith führt uns ins Wohnzimmer. Es ist geräumig und in einem hellen Gelb gestrichen, die Couch ist weiß und die Möbel ebenfalls. Mir würde es persönlich so Ton in Ton nicht gefallen, aber das muss schließlich jeder für sich entscheiden. Trotz des freundlichen Empfangs ist es mir unangenehm in dieser Wohnung zu sein. Wir werden gebeten, am Couchtisch Platz zu nehmen und das tun wir auch. Eine Schwarzwälder Kirschtorte steht schon auf dem Tisch und Edith ist gerade in die Küche verschwunden, um den Kaffee zu holen. Da taucht auch schon Sandra auf, dicht gefolgt von einem großgewachsenen Jungen mit wirren dunkelblonden Haaren. Sandra begrüßt uns kurz und nimmt gegenüber vor mir auf dem Zweisitzer Platz. Ihr Freund daneben. Mit Unbehagen mustere ich den Jungen der mir gegenüber sitzt und dessen Unterkiefer hin und wieder unnatürlich zuckt. Dieser Kerl ist also Sandras Freund. Wieder sticht es in meiner Brust. Ich kann ihn nicht leiden, schießt es mir immer wieder durch den Kopf. Alle erdenklich schlechten Sachen dichte ich ihm in Gedanken an. Er ist bestimmt nicht gerade der Hellste. Ob er überhaupt einen Beruf ausübt oder aus einer guten Familie kommt? Unwirsch schüttle ich meinen Kopf und könnte mich selber ohrfeigen für meine Gedankengänge. Ich verurteile hier jemanden, den ich gar nicht kenne. Und warum? Es ist als würde mir jemand ein Brett vor den Kopf schlagen, als mir mein Verhalten und meine Gefühle von den letzten Wochen plötzlich so bewusst werden. Ich bin eifersüchtig. Eifersüchtig auf diesen Kerl, der mit Sandra alles erdenklich machen kann. Der von ihr vermutlich geliebt wird und den sie jeden Abend vor dem Schlafen gehen einen Gutenachtkuss gibt. Die Innenwände meiner Nase fangen an zu brennen und ich merke, wie wieder einmal ein großer Kloß in meiner Kehle steckt und mich kaum atmen lässt. Ich habe mich verliebt und es fühlt sich an, wie ein Sturz ins Bodenlose.

Der Kuchen schmeckt ausgezeichnet und meine Mutter und Edith mimen die Alleinunterhalter, was ihnen anscheinend wenig ausmacht. Sandra räumt pflichtbewusst die leeren Teller zusammen. Als sie meinen Teller nimmt streift mein Blick ihr Handgelenk. Wie zierlich es wirkt und die Haut scheint mir so zart. Verschämt senke ich den Kopf.

Ihr Freund hat mehr als ein „Hallo“ nicht über die Lippen gebracht. In meinen Augen recht unhöflich, wobei ich auch nicht viel mehr heraus gebracht habe. Er hat eine auffallend dunkle Whiskeystimme. Er verkörpert wohl den klassischen Mann.

Als Sandra durch die Stubentür verschwunden ist, springt auch er auf und folgt ihr. Ich komme mir ziemlich verlassen vor, dennoch bin ich unsagbar froh mit dem Pärchen nicht in einem Raum sein zu müssen. Doch dann taucht Sandras Kopf noch einmal im Rahmen der Stubentür auf:

„Claudia, möchtest du mit auf mein Zimmer kommen?“

Ich bin völlig überfordert, stehe dennoch auf und haue mir prompt den Zeh an dem Glastisch an. Im letzten Augenblick kann ich mir einen obszönen Fluch verkneifen und trotte hinter Sandra her.

Sandras Zimmer ist pink gestrichen. Nicht rosa, sondern NEONPINK. Das Parkett ist ziemlich hell, ähnlich wie in meinem Zimmer und die Möbel allesamt schwarz. Selbst die Couch, die eine Schlafcouch zu sein scheint. Sie ist ausgezogen und es liegen eine Decke und zwei Kopfkissen darauf. Ich versuche nicht weiter darüber nachzudenken und setze mich auf den ledernen Schreibtischstuhl.

„Und, wie gefällt es dir so?“

Die Frage ist tatsächlich an mich gerichtet und klang verdammt freundlich. Unheimlich freundlich. Mein Herz macht einen Sprung.

„Sehr extravagant, aber dennoch cool.“

Aus meiner Antwort hätte man viele Sachen heraus lesen können, die im Grunde gar nicht gemeint sind.

Sandra lacht kurz auf. Ihr Freund mustert mich abschätzig.

„Und wie gefällt euch Gladbach bis jetzt so?“

Die Frage ist an beide gerichtet, mehr oder weniger.

„Es braucht seine Zeit sich hier einzuleben. Die Leute hier sind irgendwie ziemlich kleinkariert und absolut konservativ. Das gabs eben in Köln nicht. Naja, in Köln war halt alles anders.“ Sie wirft dem Blonden einen Blick zu und lächelt. Stillschweigend betrachtet dieser seine Freundin. Komischer Kautz.

Sandra und ich unterhalten uns über dies und das. So gut haben wir uns noch nie verstanden. Wir lachen sogar zusammen. Ich fühle mich wohl bei ihr. Fast schon zu wohl, wenn man die derzeitigen Umstände bedenkt. Augenblicklich trüben diese Gedanken wieder meine Laune und innerlich ziehe ich mich wieder zurück.

Nach einiger Zeit wird Sandra von ihrer Mutter in die Küche gerufen. Nun bin ich allein mit einer Person, die sich mir noch nicht mal vorgestellt hat. Wir schweigen uns an. Draußen hört man ein Auto vorbei fahren.

„Wie geht es Sandra wirklich?“. Ich zucke zusammen, in seiner Tonlage liegt etwas Bedrohliches.

„Hä?“, eine blöde Angewohnheit von mir.

„Ich kann Sandra nicht glauben, dass es ihr hier gut geht.“, wiederholt er noch einmal die Frage.

„Ich kann dir darüber auch nicht wirklich Auskunft geben. Wir reden nur ziemlich oberflächlich miteinander.“ Jetzt fällt mir gerade auf, dass ich Sandra wirklich überhaupt nicht kenne und dennoch so fasziniert von ihr bin. Ich habe sie noch kein einziges Mal gefragt, wie es ihr geht. Dabei frage ich doch jeden Volltrottel wenigstens nach seiner Gesundheit.

„Und wie wird sie in der Schule behandelt? Sicherlich rennen ihr die Kerle wie die Köter hinterher, immer bereit sie bei jeder sich bietenden Möglichkeit zu besteigen.“ Seine Aggressivität schlägt mir entgegen wie eine Faust. Unruhig rücke ich auf dem Leder des Stuhls hin und her. Ich blicke zur Tür und hoffe, dass Sandra jeden Moment herein kommt. Doch sie tut es nicht. So muss ich mich wieder ihm zuwenden. Das war also das, was Sandra mit den Fragen damals meinte. Also mache ich mich bereit, nach Strich und Faden zu lügen.

„Nein, eher nicht. Sandra gehört nicht zu dem Typ, hinter dem die Kerle hier her sind.“, lüge ich nach allen Regeln der Kunst und zugleich habe ich das Gefühl, dass er mir das nicht ganz abkauft.

„Ach, wirklich? Willst du mir etwa sagen, dass die Kerle hier unten nicht hinter so einer scharfen Braut wie Sandra her sind?“

„Nö, sind alle schwul und Bauern.“

AUTSCH. Ich besitze zwar ein gewisses Maß an Spontanität, jedoch ist diese qualitativ eher erbärmlich.

In seinem scharf geschnittenen Gesicht bewegt sich eine Braue nach oben. Ich werde noch nervöser und fange an mir die Nagelhaut weg zu kratzen.

„Schwul und Bauern sagst du also…“

„Klar und alles Sodomiten.“

Tada, tada, der Karren steckt richtig tief im Dreck. Ob ich das noch als Scherz abtun kann? Wohl eher nicht, denke ich verzweifelt.

Die Tür geht auf und Sandra kommt mit einem Tablett herein, auf dem sie drei Gläser Saft etwas wackelig transportiert. Meine Rettung. Vorerst.

Carsten, den Namen hat mir Sandra verraten, redet für den Rest des Abends nicht mehr viel, Sandra umso mehr - und zwar mit mir.

Gegen 7 Uhr kommen meine Mutter und ich daheim an. Satan begrüßt uns freudig und ich verschwinde sogleich in mein Zimmer, lege mich auf mein weiches Doppelbett und betrachte die weiße Zimmerdecke.

So ist es also um mich bestellt. Ich habe mich tatsächlich Hals über Kopf in eine Person verliebt, die ich nicht mal kenne? Wenn ich früher so etwas in Filmen gesehen habe, hielt ich es immer für völlig überspitzt und kitschig. Doch es passiert wirklich und es gibt keine Chance auf Besserung für mich. Sie hat einen Freund. Ob sie mit ihm wirklich glücklich ist, kann ich nicht sagen. Sie kamen mir nicht vor wie ein Paar, aber was kann ich als Außenstehende schon sagen. Und selbst wenn sie kaum an ihm hängt, heißt das noch lange nicht, dass ihr plötzlich einfällt, dass die Mitschülerin, von der sie sich weggesetzt hat, eine gute Alternative sein könnte. Mein Herz krampft sich zusammen. Ich rolle mich auf die Seite und vergrabe meinen Kopf im Kissen. Warum? Warum muss es ausgerechnet mich treffen und das ohne jegliche Chance auf ein Happy End? Ich wäre absolut bescheuert, würde ich mir auch nur die geringsten Hoffnungen machen, weil sie heute so offen mit mir gesprochen hat. Doch scheinbar bin ich bescheuert, denn ich mache mir Hoffnungen. Mein Herz macht einen Sprung, wenn ich an sie denke. Heute als ich sie das erste Mal ausgelassen lachen gesehen habe. Ich kann es nicht vergessen. Ich könnte schreien vor Wut und heulen vor Verzweiflung zugleich.

Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinem Gedanken. Hastig reibe ich mir über die Augen.

Meine Mutter kommt herein, dicht gefolgt von Satan, der es sich sogleich auf meiner Bettdecke bequem macht. Meine Mutter sieht ziemlich ernst aus.

„Hey, ich hab mich doch benommen, also was ist los?“ knurre ich in mein Kissen. Sie soll nicht sehen, dass meine Augen gerötet sind.

Meine Mutter schaut mich verwundert an und fängt an zu grinsen.

„Nein, nein, es geht nicht um dich. Es geht mir vielmehr um Sandra.“

Ich schaue sie nun doch fragend an.

„Um Sandra?“, wiederhole ich ziemlich dümmlich und erhebe mich von meinem Kissen.

„Ja, Edith scheint ziemlich besorgt um sie zu sein.“

Jetzt bin ich neugierig. Klar, so ein Umzug in eine völlig fremde Gegend ist nie leicht, aber sie ist auch kein kleines Kind mehr.

„Sie wollte es mir zwar nicht offen sagen, aber anscheinend hatte Sandra in Köln ziemliche Probleme und anscheinend hat sie auch was gegen ihren Freund. Das scheint wohl auch mit ein Grund gewesen sein, warum die Familie weggezogen ist. Meinst du, du kannst dich ein bisschen um sie kümmern? Damit sie sich hier nicht ganz so verlassen vorkommt.“

Gegen Sandras Freund habe ich auch etwas, denke ich bitter.

Unwirsch streiche ich meine dunklen Haare aus dem Gesicht. Wenn meine Mutter wüsste, wie es gerade um mich bestellt ist, würde sie nie darum bitten. Aber ich kann ihr auch gerade nicht beichten, wie es in mir aussieht, das würde nur noch mehr Probleme verursachen und davon habe ich schon genug.

Auf der anderen Seite tut mir Sandra auch schrecklich Leid und es sticht in meiner Brust, wenn ich daran denke, dass sie hier vielleicht wirkliche Startschwierigkeiten hat. Hin und her gerissen ringe ich mich nun doch zu einer Entscheidung ganz nach den Wünschen meiner Mutter durch, obwohl ich tief im Inneren zu wissen scheine, dass es nicht gerade das Beste für mich ist.

„Na gut, Mama. Aber ich kann nichts versprechen.“

Glücklich nimmt sie Satan vom Bett, wünscht mir noch eine gute Nacht und verschwindet dann durch die Tür.

Auf was habe ich mich da mal wieder eingelassen. Seufzend vergrabe ich wieder mein Gesicht in meinem Kissen.

Da es mir dann doch zu doof ist, den Samstagabend alleine im Bett zu verbringen, rufe ich Mel an, um mich mit ihr zu verabreden. Ablenkung ist immer gut und vielleicht kommen mir heute Abend auch ein paar Lösungsvorschläge, wobei ich nicht wirklich daran glaube. Eine Stunde später treffen wir uns vor unserer Lieblingsbar und schaffen es gerade noch rechtzeitig zur Happy Hour.

30. September, Sonntag

Das wir die Happy Hour noch erwischt haben, stellt sich gerade als Fluch heraus. Ich liege in meinem Bett und bin der Meinung, dass sich dieses ziemlich schnell dreht. Leider bin ich auch nicht in der Lage zum Aufstehen, da mein Kopf, der die Größe eines Medizinballs angenommen zu haben scheint, sich noch nicht mal heben lässt. Draußen zwitschern schon wieder diese gottverdammten Vögel ihre Liedchen. Müssten sich die nicht langsam nach Süden verziehen?

Gegen 15 Uhr schaffe ich es nun doch endlich aus dem Bett und quäle mich ins Bad um dem Unheil ins Gesicht zu blicken. Dafür, dass ich mich noch nicht mal daran erinnern kann, wie ich nach Hause gekommen bin, sehe ich noch relativ gut aus. War schon mal schlimmer.

1.Oktober, Montag

Das Wochenende hängt mir immer noch in den Gliedern und jeder Versuch meine Hausaufgaben vollständig zu erledigen schlug ebenfalls fehl. Lissi redet immer noch kein Wort mit mir und die Kiddies sind gewohnt motiviert und hyperaktiv. Zu allem Überfluss ist das Wetter regnerisch. Passend zu meiner Stimmung.

Ich schlängle mich durch die Menschenmassen und komme schließlich in dem Raum an, in dem der Chemieleistungskurs stattfinden soll. Was kann es schöneres am Montagmorgen geben als einen Chemieleistungskurs an dem man organische Stoffe bis zum Erbrechen durchkaut?

Kurz vor acht fehlt immer noch die Hälfte der Klasse. Wahrscheinlich liegt ein Großteil noch vor irgendeiner Dorfdisco und ist sich noch nicht einig, wie er wieder heim finden soll. Auszuschließen wäre diese Möglichkeit jedenfalls nicht. Ich grinse in mich herein und schon taucht Sandra in der Tür auf. Sofort vergeht mir wieder das Grinsen. Die Worte meiner Mutter hallen noch immer durch meinen Kopf „Kümmere dich um sie“. Die Frage ist nur, wie soll ich mich um sie kümmern, wenn sie noch nicht einmal neben mir hockt? Sandra steht unschlüssig im Raum und blickt umher.

Unsere Blicke treffen sich. Ihre tiefen grünen Augen. Ich bin gefangen. Auch ihr Blick verweilt auf mir. Und zwar länger als die üblichen drei Sekunden, mit denen man jemanden normalerweise registriert. Sie mustert mich. Ich schlucke. Ich merke wie mir das Blut in den Kopf schießt. Ich will meinen Mund öffnen, um sie zu begrüßen, jedoch kommt kein Ton heraus. Die Zeit steht still.

Der Moment des Zaubers ist jedoch schnell gebrochen als Hanni zur Tür herein kommt und verkündet, dass Chemie heute ausfällt. Ein Maulen geht durch die Klasse. Ich bin immer noch wie benebelt und versäume es sogar mich darüber aufzuregen, dass ich, hätte ich das eher gewusst, länger schlafen hätte können. Sandra steht immer noch unschlüssig da. Die anderen aus meiner Klasse packen ihre Sachen zusammen und machen sich auf den Weg ins Kollegstufenzimmer, wo das Elixier des Lebens steht – der Kaffee. Ich werfe ihr einen schüchternen Blick zu, wende mich aber schnell wieder ab und greife nach meinem neongrünen Ordner. Alle sind aus dem Klassenzimmer verschwunden. Nur noch ich und sie sind da. Stille.

Ein Stuhl schabt über den Boden, eine Tasche wird auf den Tisch geworfen. Die Geräusche kommen von meiner Rechten. Ich drehe langsam den Kopf. Sie sitzt neben mir. Ihr ganzer Körper ist mir zugewandt, ihren Kopf hat sie auf ihre linke Hand gestützt. Ihre Katzenaugen mustern mich intensiv. Ihre roten Lippen sind leicht geöffnet, sie leckt sie sich. Ob sie wohl auch so weich sind, wie sie aussehen? Ich werde rot. Noch immer herrscht Stille.

Ich schlucke erneut.

„Hi“, bringe ich mit großer Not hervor. Sie neigt ihren Kopf noch etwas mehr zur Seite.

„Hi“, antwortet sie mit einer freundlichen, aber zugleich abwesenden Stimme.

Okey, Sackgasse. Schweigen. Auf dem Flur ist es nun still. Der Unterricht hat überall angefangen.

„Wie geht es denn deinem Freund so? Ist er jetzt wieder in Köln?“ versuche ich den Faden wieder aufzunehmen. Sie neigt ihren Kopf in die andere Richtung. Ihr Blick wendet sich nicht von mir ab. Ich werde noch nervöser.

„Ja, er ist wieder in Köln.“

Sie sitzt hier, schaut mich eindringlich an, will aber keine Unterhaltung mit mir anfangen?

„Ähm…“ mache ich ziemlich unbeholfen.

Sie spielt mit den langen, schlanken Fingern in ihren Haaren. Ihre Nägel sind mit einem durchsichtigen Lack überzogen.

„Du wirkst so nervös. Verunsichert weil ich mich nicht so leicht in ein Gespräch verwickeln lasse wie am Wochenende?“ sie grinst mich an. Es ist ein undurchdringliches Lächeln was sie mir schenkt. Will sie mit mir spielen? Will sie. Das Spiel zwischen Ignoranz und Zuneigung? Aber warum gerade ich, schießt es mir verzweifelt durch den Kopf. Es gäbe doch noch 90 andere Kollegschüler mit denen sie das ebenfalls machen könnte. Aber warum sucht sie sich dann genau die aus, die stillschweigend versucht ihre Gefühle vor Allem und Jedem zu verbergen, die noch nicht mal genug Mut hat, um sich vor ihren Eltern zu outen? Genau genommen habe ich mir hier gerade selber die Antwort gegeben.

„Wie sieht es eigentlich mit deiner Menschenkenntnis aus?“ bringe ich etwas stockend heraus. Sie grinst. Nein, nicht schon wieder. Ich habe das dumme Gefühl, dass ihr ziemlich klar ist, was ich hier gerade versuche.

„Ich denke, sie ist besser als deine.“

Abermals stocke ich. Ich bin ein Beobachter, deshalb habe ich eigentlich gelernt, Menschen relativ genau einschätzen zu können. Jedoch gelingt mir das bei Sandra so ganz und gar nicht. Mag es daran liegen, dass ich sie anders anschaue wie die Menschen in meiner näheren Umgebung oder vielleicht liegt es an ihrem sonderbaren Wesen an sich? Ich weiß es nicht.

Sie schwingt ihren Kopf nach hinten und lächelt mich sanft an.

„Ich kann dich ziemlich schnell aus der Fassung bringen und wie es mir scheint, bin ich hier die Einzige, die das so perfektioniert beherrscht. Du stehst dir selber mächtig im Weg und bemerkst es noch nicht mal.“ Sie macht eine Pause. Gespannt halte ich den Atem an. „Und lass dir eines gesagt sein. Misch dich nicht in mein Privatleben ein. Egal was du von deiner Mutter über mich erfahren haben magst. Du hast mit dir genug zu tun und ich bin glücklich mit meinem Freund.“

Mein komplettes Blut rauscht nach unten. Mein Herz scheint gerade einen Aussetzer zu haben. Es ist nicht die Tatsache, dass sie scheinbar glücklich mit ihrer Beziehung ist. Vielmehr ist ihr anscheinend klar, was ich für ein Problem mit mir selber habe und welche Rolle sie in dieser Geschichte spielt. Ich schlucke. Und schlucke. Und schlucke.

Ihr Blick ist ruhig auf mich gerichtet. Sie betrachtet mich von oben bis unten.

Ich muss etwas sagen. Ich muss mich verteidigen. Ich muss meine Fassade wieder aufbauen. Ich fühle mich so ertappt.

„Meinst du wirklich?“ Ich atme schwer. Meine Finger fangen an zu zittern. Ich beiße mir auf die Lippe, die sofort anfängt zu bluten.

Sandra zieht ihre gut gezupften Augenbrauen nach oben.

Ein kaltes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. Diese unverhüllte Arroganz.

„Nun, ich irre mich selten.“ Sie rückt näher an mich heran und haucht mir ins Ohr

„Meine Menschenkenntnis ist außerordentlich gut.“

Meine Nackenhaare stellen sich auf. Sie ist mir ganz nah. Mein Herz hat wieder angefangen zu schlagen – und wie.

Ich muss meine Augen schließen, aus Angst, dass ich vom Stuhl fallen könnte. Das kann ich sie nicht glauben lassen.

„Schön, wenn du dich so gut auf deine Menschenkenntnis verlassen kannst. Es kommt ja äußerst selten vor, dass sich Menschen irren.“

Ein Wunder ist geschehen. Ich habe es tatsächlich geschafft diesen Satz so auszuformulieren, dass er glaubhaft und überzeugend ist. Nur leider mit einer Kälte, die mir fast das Blut in den Adern gefrieren lässt. Wenn sie jetzt widerspricht bin ich verloren.

Sandra sitzt immer noch recht nahe bei mir. Ihr Gesicht ist wie eine Maske. Absolut ausdruckslos. Als hätte sie gerade die Karte, auf die sie alles gesetzt hatte, verloren.

Sie rückt wieder ein Stück von mir weg und schlägt die langen Beine übereinander, die in eine enge dunkle Jeans gehüllt sind. Ihre Augen fixieren mich immer noch. Ich versuche ihrem Blick Stand zu halten. Spannung liegt immer noch in der Luft. In weiter Ferne hört man einen Lehrer schreien, der sich wahrscheinlich wieder über einen dieser so genannten Problemschüler aufregt.

Sandras Gesicht ist immer noch wie gemalt. Das Eis zwischen uns scheint meterdick zu sein.

„Und hat es deinem Freund hier gefallen?“, ich starte einen hilflosen Anlauf wieder ins Gespräch zu kommen um die peinliche Stille zu durchbrechen und von mir abzulenken. Ihre Aussage völlig außer Acht gelassen, dass ich mich ja nicht in ihr Privatleben einmischen soll. Aber es geht gerade nicht anders. Ich muss von mir ablenken. Egal wie.

An ihrer Schläfe zuckt eine Ader. Ich bekomme augenblicklich Beklemmungen und könnte mich selber dafür ohrfeigen, dass ich diese dämliche Frage gestellt habe.

„Misch dich einfach nicht weiter ein.“ Mit diesem Satz lässt sich mich sitzen, packt ihre Sachen und verschwindet zur Tür hinaus.

Ihre Schritte verhallen im Flur. In meinem Kopf herrscht unendliche Leere. Vor mir hätte ein Haus einstürzen können und ich hätte wahrscheinlich wenig davon mitbekommen.

Nach gefühlten zehn Minuten kehrt allmählich mein Verstand zurück und ich versuche mit Mühe und Not meine Gedanken zu ordnen. Was für eine Abfuhr. Was ist das nur für ein Mensch, der jemand anderen solche Worte an den Kopf werfen kann? Und das aus heiterem Himmel. Verzweifelt vergrabe ich mein Gesicht in meinen Händen und kann nur noch mit dem Kopf schütteln. Wie kann es sein, dass mich dieses Biest so dermaßen fasziniert und in ihren Bann zieht? Ein Stechen geht durch meine Brust. Lass es bleiben Claudia. Sie ist glücklich vergeben und hat keinerlei Interesse an dir. Das kann doch keine Zukunft haben.

Das grelle Läuten der Schulglocke reißt mich aus meiner Trance. Wie viel Zeit ist vergangen? Noch immer wie benebelt packe ich mein Zeug zusammen und mache mich auf den Weg zur Schülerbesprechung. Heute sollen sich die neuen Kandidaten für meinen Posten vorstellen. Als ich in dem kleinen stickigen Zimmer ankomme ist ein Großteil der Mitglieder schon anwesend. Seit der Bekanntgabe meines Rücktritts wird mir nur noch eine gespielte Freundlichkeit entgegen gebracht. Ich habe sie enttäuscht.

Die Kandidaten sind hauptsächlich popularitätsgeile 11. Klässler die versuchen uns mit ihren idealistischen Vorstellungen zu beeindrucken.

Am Ende der Kandidatengespräche frage ich mich immer mehr, wie ich es eigentlich geschafft habe, in so ein Amt zu kommen.

Nach drei Freistunden, an denen ich kläglich versucht habe, die noch immer unerledigten Hausaufgaben zu machen, habe ich Physik. Wieder zwei Stunden in denen ich mit Sandra in einem Raum sein werde. Ich hätte nie gedacht, dass eine Person jemals so meine Gedanken vereinnahmen könnte. Sie hat mir das Gegenteil bewiesen. Und nicht nur in dieser Hinsicht. Eigentlich sollte ich sie nach der Sache vorhin, nicht mehr ausstehen können. Nur leider geht das nicht so einfach, wie ich mir das vorgestellt habe.

Wie immer trudeln meine Kurskameraden nach und nach ein. Tobias ist mal wieder der Letzte. Sandra ist nicht aufgetaucht. Ich blicke mehrmals über meine Schulter und suche mit den Augen das Klassenzimmer ab. Doch sie ist nicht anwesend.

„Hey“, flüstere ich unserem Klassenprimus Mathias zu

„Wo ist denn Sandra abgeblieben, die ist doch heute früh noch da gewesen.“

Mathias beugt sich vor und antwortet.

„Die ist vorhin an mir vorbei gestürmt und zum Schultor raus. Keine Ahnung was mit ihr los war. Vielleicht hatte sie Durchfall.“

Ich hebe eine Augenbraue und drehe mich wieder nach vorne. Mathias spricht zu oft laut aus, was er so denkt und das sind gewiss oft keine Sachen, die man gerne hören würde.

Sandra gehört nicht zu den Leuten, die den Unterricht schwänzen. Jedenfalls in diesem Punkt bin ich mir ziemlich sicher. Ist das vielleicht eine Reaktion auf unser Gespräch von heute Morgen? Wohl kaum. Sandra ist ja nicht ansatzweise so emotional instabil wie ich. Jedenfalls denke ich das.

Der Gedanke an sie lässt mich wieder einmal nicht los und so klingt die monotone Stimme des Physiklehrers nur wie ein fernes Echo in meinem Kopf. Auf dem Block, der vor mir liegt, male ich unentwegt die Kästchen aus. Das Ticken des Sekundenzeigers meiner Armbanduhr schallt in meinen Ohren wieder. Die Stunde zieht sich noch länger hin als gewöhnlich. Meine Augenlider werden immer schwerer. Ich fühle mich wie im Delirium und vor mir erscheint nur das blasse Gesicht mit den roten Locken.

Nach unendlichen 90 Minuten kommt die Erlösung. Ohne mir die Hausaufgaben zu notieren werfe ich meinen Block in die Schultasche und stürme aus dem Klassenzimmer. Das Schulgebäude ist fast leer, nur hier und da streunen ein paar Schüler umher die aus ihren Nachmittagsarbeitsgemeinschaften kommen. Ich laufe ohne nachzudenken hinaus. Das Wetter hat sich gebessert und die Sonne ist durch die Wolkendecke gebrochen. Meine Füße tragen mich immer weiter in eine Richtung, die nicht die meines Heimweges ist. Ich komme durch den Stadtpark in dem immer die alten Leute am Nachmittag Schach spielen und in dem ich viel Zeit in der Mittelstufe verbracht habe. An einem Fußgängerüberweg bleibe ich stehen. Ich bin in einem Wohngebiet. Nicht gerade die beste Gegend. Hier wohnt Sandra. Ich muss schlucken. Ich will nicht weiter gehen. Nicht zu ihr. Ich biege links in eine Straße ein. Dort befindet sich ein alter Spielplatz. Ich steuere zielstrebig darauf zu. Der Spielplatz ist deutlich von der Zeit gezeichnet; das Holzklettergerüst ist morsch und hat kaum noch Farbe, nur noch zwei Schaukeln sind intakt und die Rutsche fehlt vollkommen. Kein schöner Ort für Kinder. Ich lasse meine Schulsachen auf die unkrautüberwucherte Wiese fallen und setze mich auf die alte Holzschaukel. Eine leichte Brise weht mir um die Nase. Mir wird flau im Magen, wenn ich an sie denke. Ich schließe die Augen und schaukele leicht hin und her. Auf der Straße fährt ein Auto vorbei. Die Blätter der Bäume rauschen im Wind.

Plötzlich spüre ich zwei Hände auf meinem Rücken die mich unsanft nach vorne stoßen. Ich reiße die Augen auf und kralle mich an den Seilen der Schaukel fest. Ich schwinge wieder zurück, sodass ich keine Zeit habe, einen Blick auf die Person zu werfen die mich angestoßen hat. Wieder drücken zwei Hände gegen meine Rücken und stoßen mich nach vorne. Ich lasse die Seile los und lande 2 Meter weiter vorne im Gras. Blitzartig drehe ich mich um. Und da steht sie. Sandra.

Wieder mit dieser ausdruckslosen Miene.

Es ist eine Szene wie aus einem kitschigen Liebesfilm. Wir stehen beide auf einem alten Spielplatz, schweigen uns an und hätten uns vielleicht doch so viel zu sagen, können aber nicht den Mut aufbringen es zu tun. Die Schaukel auf der ich eben noch gesessen hatte, schwingt noch immer heftig hin und her. Jedoch bleibt mir nur der kurze Moment der Illusion und schon bin ich wieder in der Realität angekommen.

„Dich hätte ich hier am wenigsten erwartet.“ Sie lässt sich auf die zweite noch intakte Schaukel nieder und starrt auf den Boden. Auch ich hocke mich wieder auf meine Schaukel.

Ich schweige. Sie schweigt. Wir schweigen.

Und wieder liegt diese Spannung in der Luft. Mein Magen kribbelt. Man könnte meinen ich hätte mich schon an dieses Gefühl gewöhnt, jedenfalls in Sandras Gegenwart, jedoch ist dem nicht so und das Gefühl wird mit jeder Minute stärker in der wir uns anschweigen. Dabei hätte ich so viele Fragen, auf die ich gerne eine Antwort hätte. Oder zumindest glaube ich, dass ich die Antworten auf meine Fragen hören will.

Die Zeit verstreicht.

„Ich habe mir Sorgen gemacht, warum warst du nicht in Physik?“. Ich wage einen kurzen Blick. Sie hebt auch langsam den Kopf - und lächelt.

„So, du hast dir also Sorgen gemacht? Komisch, dass ich dich dann hier treffe und nicht vor meiner Haustür. Oder hast du hier nur den Plan mühevoll ausgearbeitet, der nötig ist um mich zu besuchen?“. Sarkasmus steht ihr wirklich gut. Ich wende mich lachend ab und merke sogleich, dass sie mit dieser Reaktion nicht gerechnet hat. Ich fasse Mut.

„Hättest du es denn gerne gehabt, wenn ich bei dir zu Hause aufgetaucht wär?“

Ich mache mich auf eine, vor Ironie triefende, Antwort gefasst und beobachte den Passanten, der gerade mit seinem Hund an dem Spielplatz vorbei geht ohne groß Notiz von uns zu nehmen.

„Ich hätte es schön gefunden.“

Ich schlucke. Sie hätte es als schön empfunden, wenn ich sie besucht hätte? Ungläubig drehe ich meinen Kopf in ihre Richtung. Sie sieht mich an. Ihre Augen sind klar. Sie legt den roten Lockenkopf leicht zur Seite.

„Du bist ein ganz schöner Masochist, Claudia.“

Ich sehe sie wortlos an. Das Gefühl in meinem Bauch hat sich trotz der unangenehmen Situation in eine Art von Wohlbefinden umgewandelt.

„Reitest du eigentlich gerne auf Schwächeren rum?“. Meine Stimme klingt ernst und fremd. Sie blinzelt.

„Nein. Ich vergreife mich außerdem nicht an Schwachen.“

Die Sonne bricht durch die leichte Wolkendecke und die Strahlen bringen ihre helle Haut und ihre Haare zum leuchten. Unbeirrt starrt sie nach vorne und beobachtet ein paar gelbe Blätter ,die fast unbemerkt über die Wiese wehen.

„Du solltest dir gegenüber nur etwas mehr Vertrauen haben und nicht jedes Mal panisch davon laufen, wenn jemand etwas näher an dich heran kommen könnte. Damit stehst du dir und deinem Glück nur selbst im Weg.“

Entsetzt starre ich sie mit geweiteten Augen an. Sie hat Recht. Woher hat dieses Geschöpf nur diese scharfe Beobachtungsgabe? Zwei Wochen sind seit unserer ersten Begegnung vergangen und sie scheint aus mir lesen zu können wie aus einem guten Buch. Und wer sie ist? Das Mädchen aus Köln.

„Es ist schwer einem anderen Menschen die ganze Wahrheit zu sagen, wenn man davor Angst haben muss, ihn deswegen zu verlieren.“ Traurig senke ich den Kopf und starre auf den erdigen Boden zu meinen Füßen. Meine Gedanken schweifen zu den Menschen die mir sehr wichtig sind. Meine Eltern und meine Freunde. Was würden sie nur zu meinen Neigungen sagen? Würden sie mich verachten und auslachen? Oder vielleicht ganz normal reagieren und es als Kleinigkeit abtun? Es gäbe so viele Möglichkeiten.

Ich atme tief durch. Wäre es bei ihr möglich, ein Stückchen von der Wahrheit zu lassen? Ich schätze sie nicht so ein, dass sie sich darüber lustig machen oder es jedem sofort auf die Nase binden würde. Wobei es eigentlich schon recht seltsam wäre, so etwas genau der Person zu sagen, für die man heimlich schwärmt. Doch hat sie mich nicht denn schon längst enttarnt, als sie zu mir sagte, dass ich aufpassen sollte, dass meine Maske nicht zu bröckeln beginnt. Der Druck in meinem Inneren steigt stetig an und ich habe manchmal das Gefühl, daran irgendwann zu ersticken.

Es ist sowieso schon alles zu spät, denke ich verbittert und ringe mich zu einer Frage durch, die mir unbewusst wohl schon die ganze Zeit durch den Kopf geschwirrt ist. „Woher weißt du, dass ich mich nicht für Männer interessiere?“, unterstelle ich ihr.

Sandras Augen weiten sich. Ihre Lippen sind leicht geöffnet. Sie schluckt. Ihre Schläfe pocht.

„Du bist also wirklich vom anderen Ufer?“, flüstert sie kaum hörbar.

Ich muss husten.

„WAS?“, kreische ich ziemlich schrill. Sandra fängt an lauthals zu lachen.

„Nun“, sie versucht sich zu beherrschen, „ich hatte es mir schon irgendwie gedacht. Mir war klar, dass du ein ziemliches Problem mit dir selbst hast. Die anderen haben mir ziemlich viel über dich erzählt. Wie du dich für die anderen Schüler einsetzt und anscheinend noch nie einen Freund hattest. Deswegen bin ich eben ein bisschen stutzig geworden – und entschuldige die Lachanfall, ich hatte bis zum Schluss nicht geglaubt, dass an meiner Vermutung wirklich so viel dran sein könnte.“

Ich bin wütend. Erst spielt sie mir die Allwissende vor und letztendlich ist es nur eine Vermutung von ihr gewesen. Ich kralle meine Hände in die Seile. Miststück. Ich rase vor Wut. Am liebsten hätte ich meine Sachen gepackt und wäre davon gestürmt. Doch etwas hielt mich hier.

Sie fasst meine linke Hand und streicht zärtlich darüber. Das Blut schießt mir in den Kopf. Blitzartig drehe ich den Kopf in ihre Richtung und meine Wut ist wie weggeblasen. Ruckartig zieht sie ihre Hand weg. Ihre blassen Wangen erröten ein wenig. Sie atmet geräuschvoll ein und aus und lächelt sanft.

„Keine Sorge, dein Geheimnis ist bei mir sicher. Also, mach dir keine Sorgen um deinen ach so guten Ruf.“

Das ist nicht der Punkt. Momentan wäre es mir sicherlich egal ob sie es in alle Welt hinaus schreien würde, was ich bin und wie ich fühle. Jedoch weiß ich innerlich ziemlich genau, wenn diese Situation wirklich eintreffen würde, wäre es mir im Nachhinein nicht mehr egal.

„Nein, darum geht es nicht Sandra.“

„Und entschuldige bitte, dass ich dich ein wenig angeflirtet habe. Du warst einfach zu süß, wie du da auf deinem Stuhl saßt und mir diesen hilflosen Blick zugeworfen hast.“ Sie kichert.

So ist das also, ich scheine in ihr wohl so etwas wie Mitleid zu wecken.

Ich seufze. Erleichterung und Enttäuschung machen sich in mir breit. Sie scheint nicht gemerkt zu haben, dass ich mich vielleicht ein bisschen in sie verguckt habe. Anderseits, was wäre denn wenn sie es wüsste? Sie hat einen Freund und ich brauche mir auch keine Hoffnungen zu machen, dass ihre Neigungen vielleicht doch nicht nur in diese eine Richtung tendieren. Abermals ergreift mich diese Bitterkeit. Ein Windstoß fegt über den Spielplatz. Ein angenehmer Geruch steigt in meine Nase. Der Geruch von Herbst liegt in der Luft. Doch da ist noch etwas. Ich schnuppere und ich erkenne einen blumigen Geruch der von meiner rechten kommt. Es ist Sandra. Mein Herz wird schwerer. Verschämt richte ich meinen Blick wieder auf den Boden und schaukele ein wenig hin und her. „Dein Freund … bist du wirklich glücklich?“

Sandra schweigt, blickt in den Himmel und dann wieder zu mir. Ihr Lächeln ist verschwunden und ihr Porzellanpuppengesicht ist wieder da.

„Natürlich, sonst wären wir ja nicht zusammen. Außerdem habe ich dir diese Frage schon einmal beantwortet.“ Ein bedrohlicher Unterton liegt in ihrer sonst so weichen Stimme. Sie lügt. Vertrauen tut sie mir nicht. Leider.

Noch gebe ich nicht auf und starte einen neuen Versuch. Zuviel weiß sie von mir und viel zu wenig weiß ich von ihr.

„Trinkst du gerne Kakao?“. Sandra zuckt. Das Puppengesicht ist verschwunden und zum Vorschein kommt wieder ein Mensch.

„Ja.“ Sie guckt verwirrt. Niedlich.

„Gut, dann lade ich dich am Freitag auf einen Kakao zu mir ein. Also, man sieht sich. Ich muss zum Training.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten schnappe ich mein Zeug und spurte davon. Das mit dem Training war gelogen, aber die Angst vor einer Absage war zu groß. Noch mehr kann ich heute nicht ertragen.

4

Meine Faust schlägt auf den Sandsack ein. Wieder und wieder. Meine Knöchel fangen an zu schmerzen, doch ich kann nicht aufhören. Der Schmerz erfüllt mich mit Leben. Mein Karate-Gi ist schweißgetränkt. Mein wunderbar geordnetes Leben – wo ist es hin? War es doch vor zwei Wochen noch so perfekt und harmonisch wie eine Puppenwelt, so ist es jetzt chaotisch und schmerzhaft.

Nach 1 ½ Stunden Training mache ich mich auf den Heimweg. Meine Trainingstasche geschultert wandere ich durch die dunklen Straßen der Stadt. Es ist kurz vor zehn und die Straßen sind menschenleer. Früher hatte ich immer fürchterliche Angst durch die Dunkelheit zu laufen. Mittlerweile fühle ich mich sicher, da ich Vertrauen in meine eigene körperliche Stärke fassen kann.

Der Oktober beginnt wie fast jedes Jahr regnerisch und die Lehrer haben angefangen ihren Stoff in schriftlicher Form abzuprüfen. Trotz des Montags verhält sich Sandra nicht anders als sonst mir gegenüber. Wir sitzen immer noch getrennt, aber immerhin reicht es schon für ein freundliches „Guten Morgen“.

Die Woche vereinnahmt mich vollkommen mit Training und Schule und ich habe somit wenig Zeit meine Gedanken zu ihr abwandern zu lassen. Unerwartet hat unser Karatetraining einen Freundschaftswettkampf gegen einen Verein in der Nachbarschaft angekündigt. Zu allem Überfluss soll ich auch noch daran teilnehmen. Und weil es ja ein rein freundschaftlicher Wettkampf ist, versucht mein Trainer mir jede erdenkliche Kraftreserve heraus zu locken, damit ich am Samstag in Topform bin. Weil es in einem Freundschaftswettstreit ja nicht um das Gewinnen geht.

5 Oktober, Freitag

Ich rutsche nervös auf meinem Stuhl hin und her. Die Armbanduhr zeigt 12:09 Uhr. Noch sechs Minuten bis zum Unterrichtsende. Noch sechs Minuten bis ich mich mit Sandra treffe und sie mit mir nach Hause kommt. Draußen regnet und stürmt es. Die Geschichtsreferendarin erzählt munter weiter. Tobias macht sich an dem Tanga seiner temporären Banknachbarin zu schaffen. 12:11 Uhr. Mein Herzschlag wird schneller. Die Situation erinnert mich immer mehr an die eine US-amerikanische Sendung die in Echtzeit abläuft. 12:12 Uhr. Die Referendarin schreit Tobias an, er solle sich auf den Unterricht konzentrieren. Ob was zwischen den beiden gelaufen ist? Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, zumal es nicht das erste Mal wäre, dass Tobias eine Lehrerin in der Bibliothek vernascht. 12:13 Uhr. Ich packe mein Zeug zusammen. Die Referendarin ist immer noch mit Tobias beschäftigt. Endlich, die erlösende Schulglocke. Ich springe wie von der Tarantel gestochen auf, klemme Ordner und Tasche unter den Arm und sprinte los in Richtung Schultor. Die Kiddies haben zum Glück erst um eins aus, somit ist die Bahn frei. Unmittelbar vor Erreichen des Schultors verlangsame ich meine Geschwindigkeit und versuche tief und gleichmäßig durchzuatmen. Sandra steht schon da. Mein Herz macht einen Sprung und mein Magen beginnt augenblicklich zu kribbeln. Ich kann nicht mehr sagen, wann es war, aber die Gedanken, Sandra vollkommen aus dem Weg zu gehen, habe ich so schnell verworfen wie sie gekommen waren.

Es regnet immer noch. Die Wassertropfen verfangen sich in ihren roten Locken und sehen aus wie kleine Glitzerperlen.

„Können wir?“, fragt sie sanft lächelnd.

„Kleinen Moment noch“, ich krame in meiner Tasche auf der Suche nach meinem Miniregenschirm in knallorange.

Gemeinsam unter dem Regenschirm. Es kommt mir vor als wären wir ein frisch verliebtes Pärchen. Ein fahler Geschmack macht sich auf meiner Zunge breit. Es stürmt ziemlich und ich muss mir Mühe geben den Regenschirm gegen den Wind halten zu können. Immer wenn sich unsere Ellenbogen sanft berühren, zucke ich zusammen. Sandra scheint das wenig auszumachen. Sie schaut zielstrebig gerade aus. Der Weg zu mir nach Hause kommt mir außergewöhnlich kurz vor. Ich schließe die weiße Haustür auf und Satan wuselt mir sogleich um die Beine, in der Hoffnung ein Leckerchen zu bekommen oder einfach nur um meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu ergattern – wobei er damit heute sichtlich schlechte Karten hätte. Meine Mutter ist bei meiner kranken Tante 30 km entfernt und mein Vater auf Dienstreise in Hamburg. Folglich haben wir bis sechs Uhr das Haus ganz für uns. Genügend Zeit um sonst was für Dinge anstellen zu können.

Nachdem Satan Sandra ausgiebig beschnüffelt hat, zeige ich ihr mein Zimmer. Sie steht in der Mitte des Raumes und schaut sich um.

„Nicht schlecht“, sagt sie mehr zu sich selbst als zu mir.

Ich verschwinde in die Küche um Kakao und den Kuchen zu holen. Meine Mutter war äußerst entzückt, dass ich Sandra zu uns eingeladen hatte und hat kurzerhand noch einen Schokoladenkuchen gebacken. Ob sie immer noch so erfreut wäre, wenn sie meine wahren Absichten kennen würde? Schwer zu sagen, ich habe dieses Thema noch nie daheim angeschnitten, aus Angst auf Ablehnung oder Ekel zu stoßen bzw. schlimmstenfalls auf Enterbung.

Als ich das Zimmer wieder betrete, steht Sandra vor meinem Holzregal und betrachtet ein Foto in einem Glasrahmen von mir und Mel. Sie scheint mich nicht rein kommen gehört zu haben. Ihr Blick ist starr auf das Bild gerichtet. Sie streckt ihre zarte Hand danach aus und streicht leicht über das Glas des Bilderrahmens. Ihre schönen runden Lippen sind leicht geöffnet. Ich stelle die Tassen etwas unsanft auf den kleinen Couchtisch um meine Anwesenheit zu bestätigen. Sandra zuckt zusammen und zieht schnell ihre Hand zurück. Ich lächele sie an. Ihr scheint das Blut in den Kopf zu schießen, denn ihre zarten Wangen haben sich schlagartig gerötet. Ich gehe zu ihr hinüber, nehme das Foto in die Hand und deute mit dem Finger auf das hübsche Mädchen mit den türkisfarbenen Strähnen in den schwarzen Haaren.

„Das ist meine beste Freundin aus Kindertagen.“ Ich lächle sie sanft an. Sie atmet immer noch ziemlich schnell und ihr Blick ist auf das Foto fixiert.

„Magst du dich nicht setzen?“, versuche ich sie aus dieser merkwürdigen Situation zu befreien. Ob sie wohl das gleiche für mich tun würde? Die Antwort darauf wäre definitiv nein.

Stumm nickt sie.

Sie lässt sich auf meine weiße Ledercouch mit dem silbernen Metallgestell, die vor der lilafarbenen Wand steht, fallen. Ich gehe rüber zu meiner Stereoanlage und krame in den CDs die wild auf dem Regal herum liegen. Unsicher ob ich jetzt das selbst zusammengesellte Metallica-Album rein tun soll, drehe ich mich nochmals zu ihr um.

„Ist Metallica in Ordnung?“

Sie nickt kaum merklich.

Ob ihr wohl die Situation mit mir allein in einem Raum zu sein unangenehm ist? Wenn ja, dann hätte sie sich nicht auf das Treffen eingelassen. Oder wurde sie womöglich von ihrer Mutter gezwungen und das ist ein Geniestreich unser beider Mütter?

Die Hoffnung die ich in diesen Tag gesetzt hatte, schwindet allmählich bei diesen Gedanken.

Ich lasse mich neben sie fallen und reiche ihr Kakao und Kuchen. Wir fangen schweigend an zu essen. Im Hintergrund läuft „Sad but true“. Wie passend.

Nach fünf Minuten unendlichen Schweigens ergreife ich erneut das Wort.

„Schmeckt er dir?“

„Ich liebe Schokolade, aber ich kann nicht davon ausgehen, dass du es selber gebacken hast, oder?“, erwidert sie und zwinkert mir zu.

Ich greife neuen Mut und gehe darauf ein.

„Traust du mir etwa so wenig zu?“.

Sie stellt ihren leeren Teller auf den Couchtisch zurück und stützt sich auf ihre Hand. Ihr Blick durchbohrt mich förmlich. Ich muss schwer das saftige Schokoladenkuchenstück herunter schlucken und könnte mich im selben Moment für diese bescheuerte Frage selber ohrfeigen.

„Ich traue dir so einige Sachen zu, aber Backen gehört definitiv nicht dazu.“ Sie kichert wie ein kleines Kind.

Immer noch den Klang in meinen Ohren, ist mir bewusst, dass das Eis jetzt für eine kurze Zeit gebrochen ist.

Sie scheint bemerkt zu haben, dass ich wieder einmal ziemlich sprachlos bin und ergreift wieder das Wort.

„Du wohnst hier doch schon länger, wo kann man hier eigentlich gut weggehen. Ich meine dort hin wo auch gute Musik gespielt wird und nicht diese Dorfdiscos?“

Ich stelle meinen leeren Teller auf ihren und wische mir mit dem Handrücken den Mund ab. Sehr damenhaft.

„Das einzige was hier wirklich etwas taugt, ist das Fegefeuer. Ansonsten gibt es nur noch ein paar Cocktailbars und Proletendiscos. Und ab Mitte April fangen auch wieder die Hallenfeste an, wobei das eher für die Leute ist die auf Komasaufen stehen. Ich weiß, dass wir hier nicht so viel zu bieten haben wie vielleicht in Köln, aber im Fegefeuer ist man unter sich und jeder kennt irgendwie jeden. Wenn du Lust hast, kannst ja mal mitkommen. Wir sind immer mit mehreren Leuten unterwegs.“

Ich lächle sie aufmunternd an.

Sandra taxiert mich immer noch und nickt nur leicht um ihre Zustimmung zu bekunden. Unruhig rutsche ich auf dem weißen Leder meines Sofas hin und her und muss prompt daran denken, dass Sandra mit ihrem Freund auf ihrer schwarzen Couch geschlafen und sonst was noch gemacht hat. Der Schokoladenkuchen in meinem Magen hat sich in eine Bleikugel verwandelt.

Plötzlich springt Sandra auf und geht zur Stereoanlage. Es läuft gerade „Nothing else matters“. Sie drückt es weg. „Astronomy“. Sie streift durch mein Zimmer. Leichtfüßig. Als hätte sie als Kind einmal Ballettunterricht besucht. Mein Parkett knarrt leicht unter ihren vorsichtigen Schritten. Sie bleibt am Fenster stehen und schaut herunter, wo meine Sporttasche vom Karatetraining liegt. Sie kniet sich nieder und zieht meine Zubon, die weiße Karate Hose, heraus. Feuer bricht auf meinen Wangen auf, da ich das Zeug nach dem letzten Training vom Donnerstag noch nicht in die Wäsche geschmissen habe und jetzt wühlt sie da auch noch drin rum. Und schon hat sie den violetten Obi in der Hand. Sie mustert ihn genau, rollt ihn wieder zusammen und legt ihn zurück in die schwarze Tasche. Über ihre linke Schulter wirft sie mir einen verstohlenen Blick zu.

„4. Kyu, ich bin beeindruckt. Du musst ziemlich gut in Form sein.“

Ich frage mich, ob es überhaupt möglich wäre, das Feuer auf meinen Wangen zu löschen. Amüsiert kommt sie wieder auf mich zu und lässt sich auf das Sofa fallen.

„Ich mache Karate nicht der Fitness wegen, sondern um mit mir selber ins Reine zu kommen. Der trainierte Körper ist eher ein angenehmer Nebeneffekt dieses Sports.“

Die rote Locke die ihr ins Gesicht gefallen war, streicht sie mit den Fingerspitzen zurück hinter das Ohr.

„Klingt ja recht poetisch.“

Meine Wangen haben sich mittlerweile wieder abgekühlt und ihr spöttischer Unterton in der Stimme reizt mich.

„Nun, wenn du niemals so einen Sport gemacht hast, wirst du kaum wissen worüber ich rede. Betätigst du dich überhaupt sportlich oder machst du ständig Diät um deine Figur beizubehalten?“

Wieder streicht sie die Strähne zurück und beißt sich auf die Unterlippe. Hatte sie nicht damit gerechnet, dass ich ihr auf ihre spöttische Bemerkung kontere?

„Ganz recht, ich habe noch nie einen solchen Sport gemacht. Jedoch bin ich nicht ganz untätig, ich war in Köln im Verein für Rhythmische Gymnastik. Habe sogar an Wettkämpfen teilgenommen. Na, beeindruckt?“

Ihre bissige Stimme fordert mich nur noch mehr heraus und ich setze wieder an, um ihr etwas zu erwidern.

„Um mich zu beeindrucken bedarf es schon etwas mehr.“

Ihre Augen verengen sich zu kleinen Schlitzen und sie saugt scharf die Luft ein und atmet sie geräuschvoll wieder aus. Würde sie diese Gestik in einer bestimmten Situation machen, würde es mich vermutlich Sinn und Verstand kosten.

„Ach und was braucht es so um dich zu beeindrucken? Dich zu verwirren reicht ja anscheinend schon, etwas über dich zu wissen, was nicht 'normal' ist.“

Sie sucht Streit. So viel ist mir mittlerweile klar. Was sie damit bezwecken will, ist mir jedoch unverständlich. Eine Wut steigt in mir auf und ich muss mich beherrschen nichts Unüberlegtes zu tun. Es herrscht Ruhe im Raum. Die CD ist zu Ende – jedoch noch nicht unser Gespräch.

Erneut setzt sie an.

„Na, darauf weißt du jetzt keine Antwort. Wahrscheinlich bist du heimlich noch in deine beste Freundin verschossen.“

Sie grinst mich kampflustig an.

Jetzt reicht es mir. Das war zu viel. Zu viel für mich.

Ich packe unsanft ihre Hand, die wieder nach der Haarsträhne greift, die ihr ins Gesicht fällt, und ziehe sie ruckartig an mich heran. Sie japst vor Schreck.

„Wer bist du schon, dass du so über mich urteilen kannst ohne auch nur ansatzweise zu wissen wovon du redest? Es gibt zwar Sachen bei denen du mit deinen Spekulationen richtig lagst, jedoch solltest du dich nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen und vorher lieber etwas mehr in Erfahrung bringen, meine Liebe.“

Ich keuche heftig und spüre meine Ader an meiner Schläfe pochen. Unsere Gesichter sind knappe zehn Zentimeter voneinander entfernt. In ihren Augen sehe ich mein Spiegelbild in der Mitte eines grünen Sees. Auch sie hat den Mund leicht geöffnet und keucht leise. Ihre Augen sind weit aufgerissen und starren mich an. Ist es Entsetzen was in ihrem Gesicht geschrieben steht? Ich kann es nicht lesen.

Die Minuten scheinen dahin zu gehen, ohne dass wir es merken. Schlagartig lasse ich ihr Handgelenk wieder los. Schwer fällt sie nach hinten auf das weiße Sofakissen.

„Wer ich bin fragst du?“ In ihrer Stimme liegt ein leichtes Zittern. Schlagartig steigen Schuldgefühle in mir auf, die mir die Brust zuschnüren.

„Wer ich bin?“, wiederholt sie noch einmal so, als ob ich sie das erste Mal nicht hätte hören können.

„Du bist das Mädchen aus Köln“, bringe ich mit einer heiseren Stimme heraus. Jegliches Gefühl scheint aus meinen Beinen gewichen zu sein.

Sandras Finger krallen sich in das weiße Kissen mit den schwarzen Ranken und ihr Gesicht verzerrt sich zu einer unangenehmen Grimasse.

„Das Mädchen aus Köln also.“

Ihre Augen bohren sich in die meinen. Ich weiß nicht ob ich nicken oder versuchen soll, meine Worte zu revidieren. Doch ich tue nichts.

„Mehr bin ich also nicht. Eine einfache Göre aus Köln, die dir hier das Leben zur Hölle macht, was? Ein Weibsbild das deine ach so übermoralische Welt ins Wanken bringt!“ Sandras Stimme klingt schrill in meinen Ohren

„Klar, dass du mich nicht leiden kannst oder das ich dir nicht ins Leben passe. Bin ja nichts weiter als ein lästiger Störfaktor. Am Ende gibst du mir noch die Schuld daran, dass du nicht noch ein Jahr Schulsprecher werden wirst, weil du Angst hast, dass ich dein kleines Geheimnis ausplaudere!“

Sie springt auf und greift nach einem Sofakissen. Es fliegt mir sogleich entgegen. Ich fange es mit einer leichten Handbewegung hab. Gleichzeitig springe ich los, um Sandra daran zu hindern einen Teller nach mir zu werfen, in dessen Richtung sie schon verdächtig gelangt hat. Wie in Trance mache ich einen Satz nach vorne und packe sie wieder an beiden Handgelenken. Sie versucht sich aus meinem Griff heraus zu winden wie eine Schlange, doch ich bin ihr überlegen.

„Lass mich los“, zischt sie in einem bedrohlichen Ton.

Ich muss das jetzt klarstellen, sonst kann ich wieder von vorne anfangen, rast es mir durch den Kopf.

„Lass los!“, brüllt mir Sandra mitten ins Gesicht. Mein Griff lockert sich nicht.

„Sandra, hör doch zu“, fange ich verzweifelt an, doch sie schüttelt heftig den Kopf und versucht mich zu kratzen.

„Hey…“, starte ich einen neuen Versuch. Wieder sträubt sie sich. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Atem rast.

„Lass mich los“, wimmert sie.

Schlagartig lasse ich sie los. Nun steht sie vor mir. Ihre Schultern schlaff nach unten hängend. Die Augen immer noch geschlossen. Den Kopf gesenkt. Ihre Erscheinung ist bemitleidenswert und zerreißt mir fast das Herz. Was war nur in sie gefahren? Sie war doch nicht der Mensch, der durch einen hitzigen Schlagabtausch so dermaßen die Selbstkontrolle verliert. Spielten etwa noch andere, mir unbekannte Faktoren eine Rolle? Mit ziemlicher Sicherheit.

Sandra steht immer noch wie angewurzelt da und bewegt sich keinen Millimeter. Nur ihre Brust hebt und senkt sich unter dem wieder langsamer gewordenem Atem.

Sanft fasse ich mit meiner linken Hand auf ihre Schulter. Sie zuckt.

„Sandra, nun hör mir doch mal zu. Du… ich…“, ich finde keine Worte und warte auf eine Reaktion. Nichts passiert.

„Hey…“, beginne ich wieder und lege noch meine rechte Hand auf ihre andere Schulter.

„Schau mich bitte an“, flehe ich verzweifelt. Langsam hebt sie ihren Kopf, die Locken hängen ihr wild ins Gesicht. Ihre Augen glänzen feucht und sind rot umrändert. Erwartungsvoll blickt sie mich an.

„Ich… du, hast mich vollkommen falsch verstanden. Ich weiß, ich habe etwas zu grob reagiert, aber du hast mir fast keine andere Wahl gelassen. Du hast mich zu sehr provoziert. Du urteilst fortwährend über mich, ohne auch nur ansatzweise zu wissen wie es wirklich um mich beschaffen ist. Was weißt du denn schon groß über mein Gefühlsleben. Gar nichts! Sonst würdest du doch wohl kaum solche alberne Vermutungen aufstellen, wie die, dass ich in meine beste Freundin verschossen wäre. Und – ich konnte doch nicht ahnen, dass du es dir so sehr zu Herzen nimmst, dass ich dich auch mal kritisiere. Ich meine, du bist kein einfaches Mädchen aus Köln. Du bist aus Köln und das ist fast das Einzige was ich über dich weiß. Um ehrlich zu sein, wäre ich sogar sehr gerne mit dir befreundet, aber damit das möglich ist, musst du mir schon etwas Vertrauen entgegen bringen und nicht nur immer die kühle Schönheit spielen.“

Ich atme geräuschvoll aus. Ihr Blick haftet immer noch auf meinen Lippen. Eine Träne läuft leise ihre geröteten Wangen herunter und bleibt am wohlgeformten Kinn hängen. Ich nehme meine Hände von ihren Schultern und greife sogleich nach ihrer rechten Hand und begutachte ihr Handgelenk, das leicht gerötet ist.

„Tuts weh?“

Sie schüttelt den Kopf und noch mehr Locken fallen in ihr Gesicht. Meine Hand lässt die ihre los und streicht ihr die Haare erst hinter das linke, dann hinter das rechte Ohr.

„Sag doch bitte etwas“, ich atme tief ein „es tut mir wahnsinnig L…“. Weiter komme ich nicht.

Ihr Zeigefinger liegt auf meinen Lippen.

„Schon gut“, wispert sie, „ich hätte nicht gedacht, dass du so impulsiv sein kannst. Und mir sollte es eigentlich leidtun… aber…“, sie bricht den Satz hab, fasst mich am Handgelenk und zieht mich auf die Couch.

Verwirrt lässt sie mich auf dem Zweisitzer zurück und geht zu meiner Musikanlage. Nach kurzer Zeit schallt Umbra et Imago mit „Rock me Amadeus“ durch meine Lautsprecher.

Sandra sitzt wieder neben mir und schenkt mir und ihr Wasser in zwei grüne Gläser ein.

Sie seufzt leise. Was soll das?

„Du wärst gerne mit mir befreundet?“, die Frage stellt sie vielmehr sich selbst. Dennoch beantworte ich sie mit einem kurzen Nicken.

„Das freut mich, aber ich denke damit es funktioniert bedarf es Zeit und vor allem Vertrauen, wie du schon sagtest. Claudia, ich mag dich gerne, sehr sogar, aber ich bin mir nicht sicher ob es so funktionieren würde…“

Unsicherheit machte sich auf ihrem Gesicht breit.

„Mir ist bewusst, dass das mit Freundschaft nicht von null auf hundert funktioniert, aber egal was für Enttäuschungen du in der Vergangenheit erlebt haben magst, du solltest nicht vergessen, dass es auch noch andere Menschen gibt, die nicht so sind.“

Ihre Hand greift nach dem Wasserglas, führt es zum Mund und macht halt.

„Danke, ich weiß. Ich bitte dich nur um einen Gefallen“, abermals hält sie inne und atmet tief durch. Das Glas was sanft an ihren Lippen liegt beschlägt von innen, „kandidiere du für den Posten des Schulsprechers. Mit wem zusammen ist mir egal.“

Mit diesem Satz war unser Gespräch beendet. Sie macht sich relativ früh wieder auf dem Heimweg, jedoch nicht ohne das Versprechen, dass wir Tage wie heute wiederholen würden. Zurück lässt sie mich mit einer Menge an Fragen und einem wohlig warmen Gefühl in der Magengegend.

6. Oktober Samstag

Vollkommen eingenommen vom vorhergehenden Tag mit Sandra stehe ich in einer großen Halle, die mit Schaumstoffmatten ausgelegt ist. Nochmals ziehe ich meinen lilafarbenen Obi fester um die Hüften. Völlig durch den Wind steuert mein Trainer durch das Team und gibt jeden noch einmal gute Tipps und Ratschläge. Die Szene ist vergleichbar mit einer Mutter, die ihre Kinder zum ersten Mal alleine in die Schule schickt.

Das gegnerische Team macht einen leicht aufgeregten Eindruck. Unter ihnen sind viele jüngere Teilnehmer, die wie Küken unter den wenigen Älteren wirken. Der Verein ist aus der Nachbarstadt, doch ich kenne einige von ihnen von früheren Wettkämpfen. Besonders fällt mir Manuel Schmidt ins Auge und deren Schwester Daniela. Manuel ist recht gut aussehend, hat hellbraune kurze Haare und einen ungebrochenen Kampfgeist, für den ich ihn sehr bewundere. Er könnte mir sogar gefallen, wenn sich Sandra nicht in den letzten Wochen so stark in meinen Gedanken verankert hätte. Seine Schwester Daniela ist klein gewachsen und hat dunkelblonde Haare. Sie ist weniger begeistert von dem Sport wie ihr Bruder und Gerüchten zufolge wird sie mit ihrem 18. Geburtstag aus dem Sportverein austreten, da sie damals von ihren Eltern zu diesem Sport gezwungen worden war. Mürrisch läuft sie hin und her und redet mit ein paar Mädchen aus ihrer Gruppe, die mindestens genau so mies gelaunt schauen wie sie. Manuel bemerkt, dass ich zu ihm rüber gucke und winkt mir fröhlich zu. Lachend winke ich zurück. Ein netter Kerl.

Auf den Bänken am Rand der Halle nehmen verschiedene Leute Platz, wobei es sich wohl hauptsächlich um Elternteile oder Verwandte handelt.

Zuerst sind die rangniedrigeren Kämpfer an der Reihe. Für viele ist es das erste Mal, dass sie an einem Wettkampf teilnehmen. Dementsprechend gehen sie sehr vorsichtig an die Sache ran und die meisten Punktsiege basieren auf Zufallstreffer oder Fouls der Gegner. Unser Verein liegt knapp hinten.

Unser Trainer kaut nervös auf seinen Fingernägeln herum und fasst sich jedes Mal an den Kopf, wenn einer seiner Schützlinge hart auf die Kampfweste getroffen wird und der Schiedsrichter laut die Punkte vor dem Publikum verkündet.

Jetzt sind die Kämpfer der 4. Kyu dran. Meine Gruppe. Meine 3 weiteren Teamkollegen und ich gehen vor zum Schiedsrichter und ziehen unsere Gegner.

Auf dem Zettel steht Stefanie Holz geschrieben. Ich kenne sie nicht und blicke fragend in die Runde.

Der glatzköpfige Schiedsrichter zeigt mir mit einer unfreundlichen Gestik, dass ich gleich als erste an der Reihe bin. Ich stelle mich auf dem Kampfplatz auf und halt nach meiner Gegnerin Ausschau. Und da kommt sie schon und stellt sich mir mit einem selbstgefälligen Grinsen gegenüber. Stefanie Holz ist alles andere als ansehnlich. Für ihre beträchtliche Körpergröße von geschätzten 1,80 m hat sie einen verdächtig kleinen Kopf auf dem kurze rot gefärbte Haare sprießen. Ihre Körperhaltung ähnelt sehr stark der eines Primaten, selbst in der Kampfstellung die sie soeben eingenommen hat. Noch nicht mal eine Verbeugung bin ich wert, wenn das nicht mal Punktabzug bedeutet. Ich verliere trotzdem nicht die Fassung und verbeuge mich brav. Mehr als ein höhnisches Grinsen hat sie nicht übrig. Mal sehen wer zum Schluss lacht, schießt es mir durch den Kopf. Mag ja sein, dass ich ein ganzes Stück kleiner und jünger bin, aber das hatte noch nie großen Einfluss auf den Ablauf eines Kampfes.

Ich nehme die Kampfstellung ein und warte auf das Zeichen des Schiedsrichters.

Ein lautes „Hey“ durchbricht die Stille. Das Zeichen. Es geht los.

Der Riesenaffe setzt zum Angriff an, ihre Bewegungen sind schwerfällig und langsam. Sie setzt zum Sprungkick an. Ich weiche zur Seite aus und nutze ihre schlechte Deckung um ihr einen Handkantenschlag in die Kampfweste zu geben.

Punkt.

Sie konnte mich nicht mal berühren, dennoch weicht ihr Grinsen nicht von ihrem Gesicht.

Es geht weiter. Wieder greift sie mich an, diesmal mit einer Handtechnik. Ich kann rechtzeitig blocken, da sie um einiges langsamer ist als ich und meine Reaktionen nicht vorhersehen kann. Wieder ein Punkt für mich, diesmal aber durch eine Fußtechnik.

Bei fünf ist Schluss. Fehlen nur noch 3. Ihr Schweiß verklebt die kurzen roten Haare.

Wieder bleibe ich defensiv und lasse sie in eine Falle rennen. Klatsch. Eine Hebeltechnik. Sie ist leichter als gedacht und liegt jetzt zu meinem Füßen, meine Hände umgreifen immer noch stark ihre Arme, sodass sie sich nicht mehr bewegen kann. Triumphierend steht mein Trainer am Rand. 3 -0 für uns.

Diesmal gehe ich zum Angriff über und wende eine Sprungtechnik an, sie macht einen Kreuzblock, mein rechter Fuß trifft mit voller Wucht auf ihre vor der Brust verschränkten Arme. Sie gerät ins Taumeln, ich lande sicher auf dem Boden und setze noch einen Push-Kick hinterher. Sie verliert das Gleichgewicht und fällt auf die Matte. Wie dieser Tölpel die 4. Kyu erreichen konnte, ist mir ein Rätsel. Noch ein Punkt, dann ist die Sache erledigt.

Auf den Zuruf des Schiedsrichters geht es weiter. Sie geht wieder in die Offensive, ihr Gesicht ist wutverzerrt. Sie bekommt meinen Arm zu packen, ich versuche durch einen Hebel mich wieder zu befreien, ihre Fingernägel bohren sich in mein Fleisch. Ich setze zu einem Seitenkick in ihren Bauch an, doch zu spät. Ihre Faust schlägt mir mitten ins Gesicht. Mir wird schwarz vor Augen.

„Claudia, Claudia…“ höre ich jemanden rufen. Ich wandere durch einen dichten Nebel.

„Sandra, bist du es?“

„Ja.“ Antwortet die Lichtgestalt, die vor mir erscheint.

„Wie schön dich zu sehen.“, murmele ich.

Sandras weiche Hände legen sich um mein Gesicht, sie kommt näher, immer näher. Unsere Lippen sind nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Ich greife nach ihrem engelsgleichen Gesicht, um es näher an das meine heran zu ziehen und schließe meine Augen. Gleich, gleich wird es soweit sein…

„Claudia, wach doch endlich auf. Hey, hörst du nicht.“ Mit einem Mal schlage ich die Augen auf und vor mir – nicht das Gesicht von Sandra, sondern das von Manuel, der mich entsetzt ansieht. Sein Kopf ist fest in meinem Griff und nur noch wenige Zentimeter sind unsere Lippen voneinander entfernt. Mit einem kurzen Schrei lasse ich seinen Kopf los und stoße ihn von mir weg. Ich liege auf einer Bahre im Krankenzimmer der Turnhalle. Mein Dogi ist schweißgetränkt und mein Schädel dröhnt.

„Was, was ist passiert?“, frage ich verwirrt. Außer Manuel ist noch mein Trainer und der Trainer des gegnerischen Teams im Zimmer.

„Frau Holz hat dir einen Faustschlag mitten ins Gesicht gegeben“, antwortet mein Trainer kopfschüttelnd.

„Du bist dann ziemlich weit geflogen und warst knappe zehn Minuten bewusstlos“, fügt Manuel noch hinzu.

„Oh“, ich fasse mir an die rechte Gesichtshälfte und spüre deutlich, dass diese geschwollen ist.

„Aber so schlecht scheinst du ja nicht geträumt zu haben, dass du versucht hast mich zu küssen“, Manuel fängt an zu lachen.

Ich murmle etwas Unverständliches in mich hinein.

„Wie fühlst du dich?“, der Trainer der gegnerischen Mannschaft sieht mich besorgt an. Ich richte mich auf und klettere von der Liege. Etwas wackelig auf den Beinen bestätige ich ihm, dass es mir gut geht.

„Frau Holz wird nicht mehr gegen dich antreten, ich habe sie aus dem Verein geworfen. Sie hatte schon immer ein hohes Gewaltpotenzial, aber solche Ausmaße wie heute hat es noch nie angenommen.“ Der Mann um die 50 schämt sich aufrichtig für seine ehemalige Schülerin und entschuldigt sich noch mehrere Mal bei mir.

Zusammen mit Manuel gehe ich zu den Anderen hinaus. Die beiden Trainer haben scheinbar noch etwas miteinander zu besprechen. Er packt mich am Arm.

„Ist wirklich alles mit dir in Ordnung?“, fragt er aufrichtig und hält mich am Arm fest.

„Ja, es geht schon. War schon mal schlimmer“, versuche ich zu scherzen.

„Sag mal, von wem hast du eigentlich vorhin geträumt? Du hattest die ganze Zeit, als du bewusstlos warst, so ein merkwürdiges Grinsen auf dem Gesicht.“

Der Eisbeutel, den ich gegen meine schmerzende Gesichtshälfte gedrückt habe, scheint sich schlagartig mit kochend heißem Wasser gefüllt zu haben. Mein Blut rauscht durch meinen Kopf.

Was habe ich bewusstlos gesagt? Oder was habe ich getan?

Mir wird schlecht. Wie viel haben Manuel und die Anderen mitbekommen?

Ich muss schlucken.

„Ach, kennst du nicht.“, antworte ich nervös und drücke den Eisbeutel fester auf mein Gesicht, so dass es nur noch mehr schmerzt.

Manuel taxiert mich noch eine Weile, dann gehen wir weiter.

„Ich nehme an, dass du mich ins Krankenzimmer getragen hast. Danke noch mal.“ Ich versuche mich zu einem Lächeln zu zwingen.

„Ach, kein Problem. Für so hübsche Mädchen tu ich fast alles.“ Er zwinkert mir verschmitzt zu und lässt mich stehen. Der Wettkampf ist, dank dem kleinen Zwischenfall, jetzt vorbei. Mein Trainer hat meine Eltern informiert, die mich daraufhin vor der Halle abholen und mir eine Moralpredigt halten, wie gefährlich doch Karate sei. Auf der Fahrt durch die dunklen Straßen habe ich aber nur wenig für ihr Gerede übrig, sondern bin gedanklich immer noch bei dem wunderbaren Traum den ich von Sandra hatte.

5

8. Oktober, Montag

Nun habe ich einen Vorsatz gefasst. Ich will Sandra diesen Gefallen tun, trotz dem Stapel an Hausaufgaben der sich auf meinem Schreibtisch türmt und dem Veilchen das ich im Gesicht habe. Vielleicht macht mich das ja besonders verwegen – oder so ähnlich.

Mit diesem Vorsatz betrete ich voller Tatendrang am Montag in der Mittagspause den Besprechungsraum der Schülerverwaltung. Den mies gelaunten Gesichtern meiner Mitschüler kann ich entnehmen, dass sie noch immer nicht weiter gekommen sind mit der Wahl des Schülersprechers bzw. immer noch verzweifelt auf der Suche nach Kandidaten sind.

Tobias kommt mit seinem Zahnpastalächeln auf mich zugestürmt, um mich erst einmal auf seine Art zu begrüßen – nämlich mit Küsschen, links, rechts und Mitte. Jedoch bleibt er kurz vor meinem Gesicht stehen und schaut mich aufgerissenen Augen auf mein Lila-blaues Veilchen. „Claudia, was zum Teufel hast du schon wieder getrieben? Du hast dich doch nicht etwa mit jemandem auf dem Schulhof geprügelt?“. Grinsend verneine ich die Frage. Tobias geht misstrauisch guckend wieder zurück auf seinen Platz und beugt sich über einen Papierstapel.

Ich räuspere mich. Einige Köpfe heben sich, senken sich jedoch gleich wieder über ihre Schreibblöcke. Mein Blick schweift über die Runde und bleibt bei Lissi hängen, die immer noch nicht mit mir redet. Vergnügt räuspere ich mich erneut. Diesmal hebt keiner den Kopf, außer Tobias, der in seiner Tasche kramt und mir ein Hustenbonbon entgegenstreckt.

„Kratzen im Hals, hast dir was eingefangen?“.

„Nein, aber einen gesunden Hals werde ich brauchen, wenn wir dieses Jahr wieder auf Stimmenfang gehen müssen“. Tobias zieht erstaunt die Augenbrauen hoch und schaut mich verwirrt an.

„Wie meinst du das?“

Noch ehe ich wieder das Wort ergreifen kann, fängt Lissi in einem abfälligen Ton an zu sprechen.

„Sie meint, sie wird selber Werbung machen müssen für die ganzen ungeeigneten Kandidaten, in der Hoffnung, dass mindestens einer von denen eine akzeptable Mehrheit hat“.

Lissis blonder Pony fällt ihr schwer ins Gesicht, sodass man die scharfen blauen Augen kaum darunter erkennen kann, die mich gerade mit einem geringschätzigen Blick mustern und auf meinem Veilchen hängen bleiben. Ich sehe ihr an, dass sie liebend gern wüsste, was da passiert ist.

Immer noch vergnügt greife ich das Wort wieder auf.

„Du bist zwar nicht auf den Kopf gefallen Lissi, aber es haben sich einige Sachen am Wochenende geändert. Ich werde jetzt doch im November zur Wahl antreten.“

Stille liegt im Raum und fragende Blicke treffen mich.

„Ja ja, sehr lustig Claudia. Jetzt hör auf uns zu verarschen und erfüll wenigstens noch deine Pflicht vom letzten Schuljahr.“

Lissi lässt sich genervt auf ihren Stuhl zurück fallen und kaut auf ihrem Kugelschreiber herum. Die Stirn ist in tiefe Falten gelegt, als wäge sie gerade ab, wie viel Wahrheit in meiner Aussage stecken könnte.

Ich trete hinter ihren Stuhl, fasse sie leicht an den Schultern und hauche in ihr Ohr:

„Ich verarsche euch nicht. Es ist mein voller Ernst“. Lissi zuckt merklich zusammen. Lachend lasse ich von ihr ab und schwinge mich in voller Zufriedenheit und unter johlenden Zurufen meiner Mitschüler in meinen Stuhl zurück fallen, um meine Arbeit wieder aufzunehmen.

Die Pause verging schneller als gewöhnlich und ich mache mich in Richtung Deutsch, das heute ausnahmsweise von Dienstagmorgen auf Montagnachmittag verschoben wurde. Auf den Weg zum Klassenzimmer beschwänzelt mich Tobias mit Fragen, was mich dazu bewegen würde das Amt nun doch aufzunehmen und was es denn mit meinem Gesicht auf sich hätte. Natürlich hüte ich mich davor, ihm den wahren Grund für meine Kandidatur zu nennen und antworte auf seine Fragen nur mit schnippischen Halbwahrheiten.

Im Deutschkurs habe ich mir einen Platz in der hintersten Reihe gesucht. Der Grund dafür ist ein recht unnatürlicher. Entgegen dem Phänomen, dass wenn man zur 1. Stunde im neuen Schuljahr zu spät kommt, man nur die Plätze in der ersten Reihe bekommt, so ist das bei diesem Fach anders. Zur ersten Stunde dieses Schuljahres kam ich in Deutsch zu spät und musste mich wundern, dass sich alle Mädchen in die erste und zweite Reihe gedrängt hatten. Dahinter saßen in einem geschlossenen Block alle männlichen Mitschüler, bis auf Tobias natürlich, der sich neben die hübschesten Weibsen der Klasse in die vorderste Reihe gehockt hatte. Ich nahm somit in der letzten Reihe Platz und hatte schon die Hoffnung gehegt, dass in der 13. Klasse urplötzlich ein bisher unbekannter Lernwille aufgetaucht sei.

Der Grund für diesen Andrang nach Vorne wurde mir jedoch ziemlich schnell klar, als unser neuer Deutschlehrer Herr Sebastian Hacker den Raum betrat. Er war von großer Statur und gerade frisch aus der Referendariatszeit heraus. Sein Lächeln machte dem von Tobias eine ernsthafte Konkurrenz und der Körper der sich unter den Polohemd erahnen ließ, entspricht wohl den feuchten Träumen vieler Frauen.

Trotz seines angenehmen Wesens und guter Unterrichtsführung, kann ich die Euphorie meiner Mitschülerinnen nicht teilen. Gründe dafür gibt es viele und so gebe ich mich während Deutsch gerne den Tagträumen von einer ganz bestimmten Person hin.

Ich sitze hinten in der letzten Reihe und lasse mich von der wohlklingenden Stimme des Deutschlehrers berieseln, der irgendetwas über Stilmittel und dessen Wirkung auf den Leser erzählt. Höchstwahrscheinlich ist es mal wieder Abiturrelevant, doch ich mag bezweifeln, dass das in diesem Moment irgendjemanden interessiert. Viel mehr beschäftigt mich seit dem Wochenende das Treffen mit Sandra und deren Worte. Sie ist sich nicht „sicher ob eine Freundschaft funktionieren könnte?“ Das heißt meiner Meinung nach entweder, dass sie mich vom Charakter her überhaupt nicht leiden kann oder aber, dass sie unsterblich in mich verliebt ist und das sie deshalb meine Nähe nicht erträgt. Beides halte ich für relativ ausgeschlossen. Letztendlich bleibt mir wieder einmal nichts anderes übrig als stillschweigend zu warten was die nächste Zeit mir bringt. Dieser Zustand beginnt allmählich zu einer unangenehmen Gewohnheit zu werden. Doch was mich an der Gesamtsituation am meisten beschäftigt, ist, dass ich keinerlei Kontrolle über das Geschehen habe.

Seufzend lege ich mich auf meinen neongrünen Schulordner auf den alten Tisch ab und richte meinen Blick wieder nach vorne zur Tafel.

Zuhause angekommen hocke ich mich sogleich vor den Rechner und klicke wahllos durch irgendwelche Internetseiten, die zu 90% aus blinkenden Werbebannern bestehen. Ein Messenger-Fenster öffnet sich unten rechts am Bildschirmrand. Mel ist online gekommen. Kein Wunder, es ist ja schon fünf und sie hat meist um vier Uhr Feierabend. Ich frage mich, ob Sandra auch einen Messenger hat. Einen PC habe ich auf jeden Fall bei ihr auf dem Schreibtisch stehen sehen und heutzutage ist ein Internetanschluss ja auch für jedermann durchaus erschwinglich geworden. Doch bevor ich sie nach ihrer Emailadresse frage, sollte ich vielleicht erstmal ihre Handynummer ergattern. Handynummern habe ich von allen möglichen Idioten aus meinen Kursen, nur natürlich von ihr mal wieder nicht.

Ich versuche mich von dem Gedanken abzulenken und öffne ein Strategiespiel, in dem ich mit Mühe und Not versuche meine Siedler in die nächste Epoche zu bekommen.

Vertieft in mein Spiel bemerke ich nicht, wie jemand in mein Zimmer kommt und mir die Hand auf die Schulter legt. Ich schreie auf. Mit rasendem Herz drehe ich mich um und blicke in das amüsierte Gesicht meiner Mutter

„Telefon für dich“, sie hält mir das schwarze Handgerät hin. Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu, doch sie dreht sich nur um und geht wieder zur Tür hinaus.

„Manner“, melde ich mich freundlich.

„Hallo Claudia, hier ist … Sandra“. Ich bin schockiert. SIE ruft MICH an? Macht sie sich etwa Sorgen um mich, weil ich heute mit einem blauen Auge in die Schule gekommen bin? Wohl kaum, sie hatte mich ja noch nicht einmal gefragt, was da passiert ist. Dennoch rutsche ich aufgeregt auf meinem Schreibtischstuhl hin und her und merke noch nicht mal, dass meine Siedler gerade von einer Bande Räuber überfallen und umgebracht werden.

„Ah, Sandra, schön dass du anrufst… was gibt’s denn?“, versuche ich meine Nervosität durch einen lässigen Tonfall zu ersetzen, doch es gelingt mir nur mäßig.

„Ich wollte eigentlich nur wissen, was wir alles in Chemie aufhaben. Sonst nichts.“

War ja mal wieder klar. Aber nun gut, ich krame also mein Hausaufgabenheft hervor und diktiere ihr die Buchseiten.

„Danke, also bis morgen in Physik dann. Machs gut.“ Klack. Sie hat aufgelegt. Enttäuscht werfe ich mein Hausaufgabenheft mit einem lauten Knall auf die hellen Dielen und versuche mich wieder auf meine Siedler zu konzentrieren, die mittlerweile alle gestorben sind und nur noch hölzerne Kreuze an ihre Existenz erinnern. Entnervt verlasse ich das Spiel und stehe von meinem Stuhl auf, um mir etwas die Beine zu vertreten. Durch die weißen Vorhänge sieht man die goldene Oktobersonne langsam untergehen. Die letzten Sonnenstrahlen durchbrechen mein Zimmer und tauchen es in ein weiches Licht. Mein eigener langer Schatten zeichnet sich auf dem hellen Parkettboden ab. Auf dem Boden liegt einsam und verlassen mein Hausaufgabenheft, dass ich in einem Anfall der Wut auf den Boden geschmissen hatte. Doch da ist noch etwas. Ein kleiner Zettel liegt neben dem Bettpfosten. Ich bücke mich um ihn aufzuheben. Es ist ein herausgerissenen Stück von einem karierten Blockblatt, auf dem mit einer feinen geschwungenen Handschrift geschrieben steht: Sandra-Klinger2@yahoo.de . Mehr nicht. Meine Augen weiten sich, ich ringe nach Atem. Ich stürze zurück zum PC, öffne meinen Messenger, gehe auf Kontaktsuche und gebe die Emailadresse ein. Tatsächlich. Ein Treffer. Meine Vorderzähne bohren sich in meine Unterlippe hinein, sodass es schmerzt, doch das ist nichts gegen mein Herz, das in meiner Brust zu zerspringen droht.

Den Zettel muss sie mir heute in der Schule zugesteckt haben. In mein Hausaufgabenheft – deswegen der Anruf? Oder war das nur Zufall?

Wie gebannt warte ich darauf, dass Sandra mich in ihre Kontaktliste aufnimmt. Aber vielleicht ist sie gar nicht online. Ich muss mich ablenken. Rage, dass ist jetzt genau das richtige. Und schon klingen E-Gitarren durch die schwarzen Boxen und ich tippe rhythmisch mit den Fingerspitzen auf dem Holz meines Schreibtisches zu dem Bass.

Ein undefinierbarer Pfeifton verrät mir, dass sie mich aufgenommen hat. Wie gebannt starre ich auf meine Kontaktliste. Sie ist online. Das Mädchen aus Köln.

Gefühlte fünf Minuten starre ich wie eine Geisteskranke auf den Bildschirm, da ich mich nicht traue sie anzuschreiben. Ein Fenster poppt mit einem leichten klimpern auf. Mich reißt es fast von meinem Stuhl. Mein Herz macht einen Satz. Ich öffne das blinkende Symbol in der Taskleiste. Eine Nachricht von… Mel.

Mel (18:02): >>Na, wie geht’s dir? Heute Volleyballtraining? <<

Nudel of Doom (18:03): >>Hey, nja, mir geht’s den Umständen entsprechend. Habe am Wochenende eine beim Wettkampf verpasst gekriegt und ich lasse das jetzt erstmal die Woche mit dem Sport<<

Mel (18:03): >> Himmel, wie ist denn das schon wieder passiert? <<

Ich erzähle ihr von dem Wettkampf, jedoch lasse ich die genauen Details weg. Immer wieder schaue ich auf Sandras Namen in meiner Liste und warte darauf, dass sie mich anschreibt.

Mel und ich führen noch ein wenig Smalltalk, bis es mir reicht. Ich muss sie anschreiben. Mit zitternder Hand klicke ich auf den Button „Online-Nachrichtensitzung einrichten“. Ein Fenster öffnet sich. Als Avatar hat sie ein Kätzchen auf hellblauem Hintergrund.

Nudel of Doom (18:08): >> Hi, ich bin’s, Claudia.<<

Sandra (18:09): >> Hallöchen Claudia. Hast den Zettel nun doch gefunden. Freut mich.:-D <<

So, der Anfang wäre gemacht. Ich atme tief durch und lege erneut meine Hände auf die schwarze Tastatur.

Nudel of Doom (18:10): >> Kommst du mit Chemie klar? <<

Sandra (18:12): >> Chemie, hatten wir da etwas auf? <<

Nudel of Doom (18:13): >> Ja klar, du hast mich doch noch vor 30 Minuten angerufen und gefragt. Du bist lustig…<<

Verwirrt schüttele ich den Kopf.

Sandra (18:17): >> Ach ja, stimmt. Voll verplant. Peinlich. Du sag mal, wie hast du eigentlich das blaue Auge bekommen? Wurdest du verhauen? <<

Nudel of Doom (18:18): >>Nein, nein, ich hatte am Samstag einen Wettkampf und da wurde ich gefoult. Sieht schlimmer aus, als es wirklich ist. und was hast du am Wochenende gemacht? <<

Sandra (18:20): >> Ach, ein bisschen gechillt und so. Wow, ich find’s ziemlich cool, dass du auf so Wettkämpfe gehst. Echt jetzt, ich bewundere dich voll. <<

Was ist plötzlich mit Sandra los? Seit wann redet sie so offen mit mir? Ist sie betrunken? Das würde auch ihre etwas primitive Jugendsprache erklären. Aber vor einer halben Stunde klang sie noch ganz nüchtern. Ich lege die Stirn und Falten und schreibe weiter:

Nudel of Doom (18:23): >> Danke. Was ist eigentlich mit dir los? Du wirkst so verändert…<<

Sandra (18:25): >>Wie kommstn jetzt darauf? Jeder ist doch so im Internet n bisschen anders als sonst und so. Nichts Besonderes. Aber ich wollte jetzt mal ganz ehrlich mit dir reden. Ich finde dich echt toll und ich glaube, ich habe mich ein bisschen in dich verliebt… <<

Mein Herz macht einen Aussetzer. Kann es wirklich sein, dass Sandra nur durch das Internet so offen über ihre Gefühlen reden kann? Was ist nur plötzlich los? Hat sie die ganze Zeit nur darauf gewartet mit mir offen reden zu können? Aber warum hat sie das dann nicht schon am Freitag getan. Ich reiße mich schwer zusammen. Ein Fenster poppt wieder auf. Mel will mir erzählen, wie es in der Arbeit war, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit. Meine Finger zittern als ich sie wieder auf die Tastatur lege. Das kann doch nicht wahr sein?

Nudel of Doom (18:26): >>Sandra, wenn das jetzt ein Scherz sein soll, ist das gewiss nicht witzig…<<

Sandra (18:27): >> Ach kom, das ist doch gewiss kein Scherz. Eigentlich müsste sich doch jeder in deinen schnuckeligen Hintern verlieben, auch die ganzen Boyz schauen dir doch hinterher<<

Ich muss wieder schlucken. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das was gerade hier passiert der Realität entsprechen soll? Wie ist das möglich?

Nudel of Doom (18:29): >>Und was ist mit Carsten, ich dachte du wärst mit ihm zusammen oder habt ihr euch getrennt? <<

Wie auf Brennnesseln sitzend rutsche ich hin und her. Die Minuten vergehen. Aus der Stereoanlage dröhnt immer noch Rage. Mel lässt ebenfalls nicht locker.

Endlich, die erlösende Antwort. Jetzt hängt alles von dieser einen Antwort ab.

Sandra (18:35): >> Wer ist schon Carsten. Wir haben uns getrennt. Deinetwegen. Also, wie sieht es aus, liebst du mich auch? <<

Sie liebt mich? Wie ist das nur möglich, wie kann ein so wundervolles Geschöpf wie sie, nur in mich verliebt sein? Womit habe ich diesen Segen verdient?

Jetzt erfordert es pure Konzentration. Ich muss ihr erwidern, dass ich mich auch in sie verliebt habe und das ich mit ihr zusammen sein will. Sie berühren, sie küssen und noch vieles, vieles mehr. Mein Herz schlägt bis zum Hals und ein leichter Schwindel vernebelt mir die Sinne.

Nudel of Doom (18:38): >> Ja, ich habe mich auch in dich verliebt, aber es gäbe noch so viel mehr, was ich dir zu sagen hätte, als diese einfachen Worte. Lass uns bitte morgen vor der Schule noch einmal miteinander reden. <<

Sandra (18:39): >>Abgemacht. Dann treffen wir uns um 07:30 Uhr auf in der Seitenstraße, wo der Lehrerparkplatz abzweigt. Ich muss jetzt dann auch wieder los. Hab noch einen Termin. Bis dann, freu mich voll <<

Und weg ist sie. Meine Sinne sind betäubt, mein Herz rast immer noch und ich kann es immer noch nicht fassen. Sie liebt mich und wir sind zusammen? Das ist alles viel zu schön, um wahr zu sein.

9. Oktober, Dienstag

5:00 Uhr. Die ganze Nacht lag ich wach und habe über das gestern Geschehene nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es wahr sein muss. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

Um sieben Uhr mache ich mich ohne Frühstück und nur mit einem Kaffee im Magen auf den Weg zur Schule. Auf die Frage meiner Mutter, warum ich denn heute so früh losginge, habe ich nur mit einem kurzen „habe noch was zu erledigen“, geantwortet.

Es nieselt leicht, doch meine Füße tragen mich mit Leichtigkeit zu dem vereinbarten Treffpunkt. Je näher ich dem Ziel komme, desto schneller schlägt mein Herz. Gleich werde ich sie sehen und sie endlich in die Arme schließen können. Meine geliebte Sandra. Ich muss kichern, wie schnell sich doch ein Leben verändern kann – und das auch noch zum Positiven. Fortuna meint es wirklich gut mit mir.

Am Treffpunkt angekommen ist die Straße noch menschenleer und nur einige Autos stehen auf dem Lehrerparkplatz. Von Rostlauben bis Bonzenkarren ist alles dabei. Wie unterschiedlich doch Lehrer bezahlt werden oder liegt es daran, dass gewisse Lehrkörper ihr Geld einfach in andere Sachen investieren? Wer weiß. Ich schaue an mir herunter und frage mich, ob ich für diesen Anlass überhaupt richtig gekleidet bin. Blaue Turnschuhe, Jeans und roter Pullover? Ob sie mich jetzt wohl mit anderen Augen sieht und etwas an meinem Stil auszusetzen hat? Wer weiß, abwarten. Jedenfalls wäre ich sicherlich bereit alles für sie zu tun.

Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass es fünf Minuten nach halb acht ist. Sie kommt zu spät. Nervös wippe ich von dem einen auf das andere Bein. Dann plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Freudestrahlend drehe ich mich um, um sie in Empfang zu nehmen. Doch es ist nicht Sandra. Es ist Mandy, das Klassenliebchen. Mir wird speiübel.

Grinsend kommt sie auf mich zugestöckelt auf ihren High Heels und knallengen Röhrenjeans. Ich fange an zu beten, dass sie einfach nur zufällig hier vorbei kommt und einfach nur auf dem Weg zur Schule ist.

„Hi Claudi“, sie grinst mich an und bleibt vor mir stehen. Irgendetwas gefällt mir an der ganzen Sache ganz und gar nicht.

„Guten Morgen, Mandy“, brumme ich ihr etwas mies gelaunt entgegen und schaue sogleich hinter sie, in der Hoffnung Sandra dort kommen zu sehen. Aber da kommt niemand.

„Hältst du nach jemand bestimmten Ausschau?“ fragt sie mit ihrer schrecklich gekünstelten Stimme.

„Wie kommst du da drauf?“ versuche ich fast beiläufig zu klingen. In meinem Magen macht sich ein übles Gefühl breit.

„Du wirkst, als wärst du verabredet.“, fängt sie an zu gurren. Ich werfe ihr einen stechenden Blick zu und knirsche mit den Zähnen. Erschrocken tritt sie einen Schritt zurück.

„Mh, ich dachte du könntest vielleicht auf Sandra warten.“ Ein ekelhaftes Lächeln umspielt ihre rosa angeschmierten Lippen. Ich kämpfe stark mit dem Würgereiz. Was hat das zu bedeuten? Wurde sie von Sandra geschickt um mir zu sagen, dass sie nun doch nichts von mir will und sich geirrt hat und gestern Abend einfach zu betrunken gewesen sei, dass sie nicht mehr weiß, was sie geredet hat?

„Was sagst du da?“, mir bricht der Schweiß aus und ich merke wie das Blut in mir zu kochen beginnt.

„Du wartest mit ziemlicher Sicherheit auf Sandra, meine Liebe. Ihr wart doch für heute hier verabredet um euch gegenseitig eure Liebe zu bekunden.“ Sie lacht überheblich auf. Meine Nackenhaare stellen sich auf.

„Das Mädchen aus Köln scheint dir ja wirklich nicht mehr aus dem Kopf zu gehen. Ich habe euch schon länger beobachtet und vor allem dich. Du hast dich nie annähernd für Boys interessiert und auch auf der letzten Klassenfahrt ,als alle anderen mit den Kerlen rumgeflirtet haben, saßt du da und hast mit ein paar anderen Versagern Karten gespielt, obwohl du doch recht sweet bist.“ Wieder fängt sie an dümmlich zu kichern.

In mir steigt purer Hass empor. Ich bin ein Opfer einer Intrige geworden. Der Intrige einer billigen Schlampe.

Das Verlangen ihr ihre künstlichen Fingernägel in die Augen zu rammen, muss ich mit viel Selbstbeherrschung herunter schlucken.

„Was willst du?“, frage ich in einem bedrohlichen Ton, dass mir meine Stimme so fern und fremd vorkommt. Schlagartig hört Mandy auf zu lachen und rückt wieder ein Stück von mir weg. Ich scheine ihr nicht ganz geheuer zu sein. Wieder fällt ihr Blick auf mein Veilchen.

„Gut, du hast ziemlich schnell erkannt, dass ich etwas ganz bestimmtes von dir will.“ Ihre Stimme wirkt auf einmal kühl und berechnend.

„Ich will, dass du mir einen kleinen Gefallen tust, als Gegenleistung, dass ich dein kleines Geheimnis nicht in der ganzen Schule herum posaune und vor allem nicht deiner Süßen erzähle. Wäre doch ziemlich unschön, für einen Schulsprecher vor der ganzen Schule geoutet zu werden.“

Ich sehe ein, dass meine Situation aussichtslos ist und ringe mit mir selber ob ich es wirklich riskieren sollte und fragen, was das für ein Gefallen sei oder ob ich sie einfach ignoriere und ich vor der ganzen Schule geoutet werden würde. Jedenfalls würde ein Outing vor 1200 Leuten sicherlich in der nächsten Schülerzeitung erscheinen.

Zähne knirschend ringe ich mich dazu durch, den Satz so freundlich wie möglich rüber zu bringen.

„Und was wäre das für ein Gefallen, wie du so schön sagst?“

In ihren Augen funkelt etwas bedrohliches, jedoch scheint sie sich ihres Triumphs ebenfalls sicher.

„Tobias“, sie haucht den Namen aus, als wäre er der Rauch einer Zigarette, den sie soeben genussvoll inhaliert hatte.

„Was?“, frage ich ziemlich verwirrt.

„Ich will ihn. Ich will ihn ganz für mich alleine.“ In ihren Augen lodert pures Begehren auf. Ich bin verwirrt. Warum will sie ausgerechnet ihn und warum hat sie ihn nicht schon längst. Die beiden sind so ziemlich die beliebtesten Schüler der ganzen Schule, was vielleicht auch daran liegen mag, dass sie schon mit einem Teil der Schule geschlafen haben mussten.

„Wenn du Tobias haben willst, warum nimmst du ihn dir nicht einfach?“ frage ich fast beiläufig.

„Ach Claudia, Tobias ist wie eine Biene, die von Blüte zu Blüte fliegt und immer nur so lange bleibt bis der beste Nektar aufgebraucht ist. Versteht die kleine Jungfrau was ich meine?“. Erneut kocht Wut in mir auf.

„Jetzt schau doch nicht so, das weiß doch mittlerweile jeder, dass du noch unberührt bist. Aber es geht hier nicht um dich. Du sollst Tobias dazu bringen, dass er nur noch mich begehrt. Solltest du das nicht schaffen, wird dein kleines Geheimnis sicherlich das Thema der Woche werden. Ach was sage ich denn da, des Monats. Und ich weiß ja nicht, was deine Lehrer oder deine Eltern zu der ganzen Angelegenheit sagen werden. Stress vorm Abitur können ja die wenigsten gebrauchen, nicht wahr?“

Sie dreht sich um, fährt sich durch das lange, wasserstoffblondierte Haar und stöckelt davon. Meine Füße scheinen eins geworden zu sein mit der Straße. Ich kann mich nicht vom Fleck bewegen – und ich will es auch nicht.

Mit einem Klatsch fällt mein Ordner auf den Asphalt. Die Kraft in meinen Armen hat mich verlassen, wie auch das Glück, was ich noch vor zehn Minuten in den Händen gehalten zu haben glaubte. Meine Beine geben nach und ich falle auf die Knie. Heiße Tränen rinnen mir über die kalten Wangen und meine Haare sind feucht vom Nieselregen. Ich kann nicht aufhören zu heulen, da ich genau weiß, wie auswegslos meine Situation ist.

Tobias von den Weibern fern zu halten, ist genauso utopisch als würde man versuchen Albert Einstein vom Denken abzuhalten. Meine Felle sind davon geschwommen. Und zwar ein für alle Mal.

Wie theatralisch. Ich knie auf der nassen Straße und habe das Gefühl, dass mein ganzes Leben gerade an mir vorbei zieht. Wie durch Watte höre ich die Schulglocke läuten. Ich will nicht in die Schule, es wird mit Sicherheit eh bald jeder wissen, wie es um mich beschaffen ist und ich werde das Gespött der Schule sein. Es werden sich alle vor mir ekeln oder mich wie Dreck behandeln. So ist das nun mal in ländlicheren Gegenden. Hier ist es nicht wie in der Großstadt, wo so etwas als normal angesehen und toleriert wird. Hier werden die Dinge bestenfalls irgendwann totgeschwiegen. Respekt kann ich nicht erwarten und Verständnis sowieso nicht. Das Veilchen beginnt wieder schmerzhaft zu pochen.

„Ach Gott, Claudia, was machst du denn da im Regen“, von einer mir sehr vertrauten Stimme werde ich aus meinem Selbstmitleid gerissen. Ich drehe mich um. Es ist Lissi.

Als sie mein gerötetes und schminkeverschmiertes Gesicht entdeckt, steht ihr pures Entsetzen ins Gesicht.

„Claudi, was ist denn mit dir passiert?“, sie kniet sich zu mir herunter und legt den Arm um meine Schulter.

„Steh erstmal auf“, sie hilft mir auf.

Ich fange an zu schluchzen und schlinge mich um ihren Hals, weil ich ganz genau weiß, dass ich es ihr nicht sagen kann. Ich kann es niemanden sagen.

Lissi sieht verzweifelt aus, sie versucht mich zu beruhigen, aber ich kann nicht anders, sondern schluchze nur noch mehr.

In ihrer Verzweiflung packt mich Lissi am Arm.

„Du kommst jetzt mit, ich wohne hier gleich um die Ecke. Auf die Schule pfeifen wir heute mal. Meine Eltern sind sowieso nicht da.“

Ich versuche ihr noch zu widersprechen, jedoch bekomme ich nur einen erstickenden Ton hervor.

Die Knie fest an die Brust gezogen sitze ich auf einem gelbbezogenen Bett, dass unter meinem leichten hin und her wippen ächzt. Die weiße Zimmertür geht auf, ich blicke kurz auf und sehe durch meine geschwollenen Augen Lissi, die zwei dampfende Teetassen herein bringt. Sie stellt vorsichtig die beiden blauen Tassen auf einen kleinen Beistelltisch, der neben dem Bett steht. Schwer lässt sich Lissi auf das Bett neben mich fallen. Ihr Blick ist auf mich gerichtet und mustert mich von oben bis unten.

Eine Hand fährt über meinen Rücken, meine Nackenhaare stellen sich auf und mich durchfährt ein leichter Schauer.

„Claudia, was ist passiert?“

Ich kann nicht. Ich schüttele nur meinen Kopf, in der Hoffnung, dass sie sich mit dieser Antwort begnügt und von mir ablässt.

„Claudia, was ist los und denke daran, ich weiß, wann du lügst.“ In ihrer Stimme liegt etwas Beengendes, doch auch etwas sehr Warmherziges, wie ich es während unserer Meinungsverschiedenheit missen musste.

Ihre Augen funkeln, als sich unsere Blicke treffen. Kann ich ihr trauen? Wobei es auch egal wäre, weil in mindestens einer Woche es sowieso die ganze Schule weiß. Andererseits kennen wir uns mittlerweile schon seit drei Jahren und sie gab mir in dieser Zeit noch nie Anlass ihr zu misstrauen.

Über persönliche Dinge haben wir jedoch äußerst selten gesprochen, da sich nie die Gelegenheit bot und aber auch, da die Distanz zwischen uns nun doch zu groß ist.

Doch in einem schwachen Moment wie diesem, ist es wohl das Beste über den Schatten zu springen und den tief verborgenen Gefühlen freien Lauf zu lassen?

„Lissi, ich will dich nicht anlügen, aber ich bin mir nicht sicher ob es klug wäre, dir die Geschichte zu erzählen. Es hängt so viel davon ab.“

Sie zieht eine Augenbraue nach oben und kräuselt ihre erdbeerroten Lippen.

„Das viel an dieser Angelegenheit hängt ist mir schon aufgefallen, aber du scheinst ja auch nicht sonderlich gut allein damit klar zu kommen, wenn ich mal an deine Reaktion von vor einer halben Stunde denke.“

Niedergeschlagen lasse ich den Kopf hängen und schäme mich zugleich für mein Misstrauen. Lissi ist kein schlechter Mensch, das weiß ich.

„Es gibt Sachen Lissi, für die du vielleicht kein Verständnis aufbringen kannst. Wir kennen uns nicht so gut, deshalb kann ich deine Reaktion auf diese Geschichte nicht einschätzen. Versuch doch bitte zu verstehen, dass ich Angst habe.“

In ihrem Gesicht kann ich erkennen, dass ihr die ganze Sache zu viel wird und, dass sie wohl bald die Geduld verlieren wird. Lissi ist recht impulsiv, jedoch ist immer auch eine große Portion an Herz und Verständnis mit dabei – bisher.

„Claudia, ich frage dich jetzt noch ein letztes Mal. Was ist los?“

Warme Arme umschließen mich, heiße Tränen steigen mir wieder in die Augen und ich merke, wie sich mein innerer Widerstand zu lösen beginnt.

„Ach Liss, du bist zu gut für diese Welt“, schluchze ich in einen pastellfarbenen Maschenpullover.

„Ich weiß und jetzt schieß los.“

Eine Stunde sitzt sie schweigend da und hört mir einfach nur zu. Es tut gut, sich endlich aussprechen zu können – eine starke Schulter zu haben an die man sich lehnen kann. Egal was passiert. Diesen sicheren Hafen scheine ich in ihr gefunden zu haben. Beim Reden nickt sie hin und wieder zustimmend und sobald ich stoppe, wirft sie mir einen aufmunternden Blick zu, der mich veranlasst weiter zu reden. Ich kann keine Abscheu oder Ablehnung in ihren Gesichtszügen erkennen, was mir ein wohlig warmes Gefühl um das Herz beschafft. Als ich meine Geschichte nach dem Vorfall mit Mandy beende, senkt Lissi nachdenklich den Kopf. Minuten vergehen ohne, dass jemand etwas sagt. Ich nippe an dem Tee, der inzwischen kalt geworden ist, um meine trockene Kehle zu befeuchten. Lissi hat ihren noch nicht einmal angerührt. Ihre in Falten gelegte Stirn verrät mir, dass sie stark über etwas nachdenkt. Plötzlich hebt sie den Kopf und spricht mir klar und deutlich ins Gesicht. In ihren Augen schimmert ein Ehrgeiz, den ich sonst nur von aussichtsvollen Schulprojekten kenne.

„Tobias ist ein Macho, er liebt es, wenn er von Frauen umschmeichelt wird. Doch noch mehr liebt er die Herausforderung, allein der Selbstbestätigung wegen. Er will immer etwas besonders lange und hartnäckig, wo er weiß, dass er es nicht kriegen kann.“

Verständnislos blicke ich sie an. Was hat Tobias Triebverhalten mit meiner Geschichte zu tun? Will sie mich nicht fragen, wie lange ich schon weiß, dass mich Männer kalt lassen oder will sie nicht einmal wissen, wie ich jetzt vorgehen will?

Auf einmal fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Sie will mir helfen. Deswegen analysiert sie Tobias Verhalten? Will sie eine Strategie ausarbeiten wie ich Mandy mit Tobias verkuppeln kann?

„Wie meinst du das mit ‚er will das, was er nicht kriegen kann‘?“

„Mensch Claudi“, Lissi verdreht entnervt die Augen, „wen versucht er denn schon die ganze Zeit rum zu kriegen? Na ganz bestimmt nicht die Kollegstufenschlampen, die jedes Wochenende einen anderen zwischen den Beinen haben.“

„Du meinst – mich?“

„Gratulation Sherlock Holmes und warum will er dich wohl?“

„Was weiß ich denn was in dem Kopf von einem 19jährigen Mann vorgeht.“

„Oh man, du scheinst echt auf den Kopf gefallen zu sein. Er will dich rumkriegen, weil du ihm immer die kalte Schulter zeigst. Tobias sammelt Frauen wie Trophäen, je schwerer sie zu bekommen sind, desto mehr spornt es ihn an und je mehr Interesse zeigt er an ihnen. Verstehst du denn nicht, dass genau das der Schlüssel zu deinem Problem ist? Wenn wir Tobias klar machen, dass Mandy absolut schwer zu haben ist und sich nur mit den Besten der Besten einlässt, dann will er sie besitzen. Allein schon seines Egos willen. Wie lange er dann mit ihr zusammen bleiben wird ist fraglich, aber das war ja auch nicht Bestandteil der Abmachung.“

Mir fällt die Kinnlade runter. Sind Männer und vor allem Tobias wirklich so simpel gestrickt, dass sie auf so einen billigen Trick reinfallen würden? Wenn das wahr wäre, dann müssten wir nur ein bisschen Mandys Image polieren und dann stünde der Sache doch nichts mehr im Wege - außer vielleicht ein paar lästige Nebenbuhlerinnen. Das ist genial.

„Lissi…“, ich bin sprachlos. Sie winkt ab.

„Ja ja, schon gut. Jetzt müssen wir nur noch dieser Schnalle zu Ruhm und Ansehen verhelfen – außerhalb des Schlafzimmers versteht sich.“

Sie grinst mich verschmitzt an.

„Danke“, ich nippe erneut an dem kalten Tee und beobachte sie aus dem Augenwinkel. Ihre Augen sind auf mich gerichtet und sie verfolgt aufmerksam jede meiner Bewegungen.

„Frag ruhig“, bricht es aus mir heraus.

Sie lacht.

„War es denn so offensichtlich, dass mir etwas auf der Zunge brennt?“

„Intuition. Und jetzt frag ruhig“.

„Sandra, sie scheint es dir echt angetan zu haben. Aber meinst du, dass sich der Aufwand für sie wirklich lohnt und ob sie überhaupt deine Gefühle erwidert?“

Die Zweifel, die ich die ganze Zeit hege, hat endlich jemand in Worte gefasst. Doch ist mein Verstand weit hinter meinem Herzen zurück geblieben. Verträumt schaue ich hinaus aus dem Fenster. An der Fensterscheibe perlen die Regentropfen ab und der Himmel ist grau wie eh und je. Dennoch hege ich immer noch die Hoffnung, dass sich für mich alles zum Guten wenden wird.

„Sie ist auf jeden Fall den Aufwand wert, auch wenn es vielleicht niemals ein ‚uns‘ geben wird. Sie ist ein wunderbarer Mensch.“

„Ein wunderbarer Mensch, der dir nicht einmal die Wahrheit sagen will. Dennoch – ich werde dich unterstützen, denn du bist ja unsere Schulsprecherin.“ Eine Bitterkeit liegt in ihrer Stimme die mich stutzen lässt. Ich denke nicht weiter drüber nach und freue mich innerlich über ihre Unterstützung. Meine Arme schlingen sich erneut um ihren Hals. Ihr Blick ist immer noch skeptisch und leidvoll, jedoch umfasst auch sie mich und klammert sich in den Pullover, den sie mir geliehen hat.

Der Tag vergeht recht schnell, ohne das es aufhört zu regnen und ohne einen Schulbesuch. Wir trinken Tee und essen Plätzchen. Meine Geschichte kommt nicht noch einmal zur Sprache. Lissi wirft mir hin und wieder Blicke zu, die ich nicht deuten kann, aber ich mache mir keine Gedanken darüber sondern genieße einfach nur die Offenheit und Fröhlichkeit die sie mir entgegen bringt.

Voller neuer Hoffnung mache ich mich auf den Weg nach Hause. Ich schwelge in meinen Wunschträumen über meine Zukunft mit Sandra. In glücklicher Harmonie vereint. Händchen haltend durch die Stadt zu gehen und das Wetter des Sommers genießend. Doch noch ist nicht Sommer. Es ist Herbst und mir steht noch ein langer Weg bevor.

6

Ich liege in meinem Bett und die Geschehnisse des Tages rauschen durch meinen Kopf. Mein erstes mehr oder weniger geplantes Comingout und das auch noch vor einem Mädchen, das ich nur über die Schule kenne. Es mag wohl die Ironie des Schicksals sein, dass es so gekommen ist. Der Hass auf Mandy wird von einer befriedigenderen Erleichterung ummantelt und liegt tief in meiner Brust. In meinen wildesten Vorstellungen hatte ich es mir nicht einmal ansatzweise so ausgemalt. Doch das Rad ist nun ins Rollen gebracht worden und ist nicht mehr aufzuhalten. Mit einem zuversichtlichen Gefühl in der Magengegend schließe ich die Augen und falle sofort in einen tiefen Schlaf.

10. Oktober, Mittwoch

Der Plan den ich gestern mit Lissi geschmiedet hatte, gilt es heute in die Tat umzusetzen. Wir wollen Mandy zu einer begehrenswerten Lady machen – und falls es mit Tobias nicht klappen sollte, vielleicht gibt sie sich ja auch mit einem anderen Mann zufrieden.

Um Mandy ein gutes Beispiel zu liefern, schwinge ich mich heute eine halbe Stunde vor meiner üblichen Aufstehzeit aus dem Bett und mache mich auf den Weg ins Bad. Dort angekommen, stelle ich mich unter die kalte Dusche, in der Hoffnung meine Augenringe weg zu bekommen. Das ständige Heulen von gestern hatte nun doch äußerliche Spuren hinterlassen, die es galt zu retuschieren – ebenso wie das Vielchen, das nur langsam abklingt. Das kalte Wasser tut seinen Dienst. Mit leicht geröteter Haut und dem Handtuch um die Brust gewickelt stelle ich mich nun mit nassen Haaren vor den Badezimmerspiegel. Meine schulterlangen Haare stehen durch das trocken rubbeln in alle Richtungen. Normalerweise mache ich mir nur wenig aus diesem Zustand und binde sie kurzerhand trocken oder auch nicht, zusammen. Doch heute kann ich mich dazu durchringen den Föhn in die Steckdose zu stecken und meine Haare mit einer Rundbürste zu bearbeiten. Nach zehn Minuten ziepen und zerren, umschließen mein Gesicht leicht gelockte schwarze Haare. Auch wenn die Dusche die Spuren von gestern zu einem Großteil beseitigt hat, helfe ich mit ein wenig Makeup nach und bringe meine gesichtlichen Vorzüge dezent zur Geltung. Das ist ebenfalls eine Sache, die man Mandy dringend beibringen muss. Masse statt Klasse funktioniert in den seltensten Fällen und Schminke ist definitiv ein Sektor bei dem es nicht funktioniert. Auf stark pink geschminkte Augen stehen die wenigsten Männer, außer vielleicht welche die schon als Kind sehr gerne in den Zirkus gegangen sind und schon immer mal mit einem Clown ins Bett springen wollten.

Zurück in meinem Zimmer werfe ich lässig das klatschnasse Handtuch auf mein Bett und betrachte meinen Kleiderschrank. Ich entscheide mich für meine graue, figurbetonte Stoffhose und dazu einen beigen Rollkragenpullover. Zu auffällig für die Schule, wie ich finde. Jedoch beweist es eine gewisse Stilsicherheit. Ein Punkt den es auch bei Mandy zu bearbeiten gilt, denn weiße Miniröcke und dazu schweinchenrosane, bauchfreie Oberteile findet man in jedem noch so billigen Bordell – und das weiß mit ziemlicher Sicherheit Tobias auch recht gut. Ich schnappe meine schwarze Umhängetasche und mache mich schnell auf den Weg nach unten. Die ganze Aufbrezlerei verschlingt ein immenses Pensum an Zeit. Die erstaunten Blicke meiner Mutter lassen mich kalt und ich schlüpfe in meine Lederstiefel.

Rechtzeitig komme ich in der Schule an und marschiere mit erhobenem Haupt in das Klassenzimmer, wo wir in der ersten Stunde Biologie haben. Als ich an dem Tisch von Mandy vorbeikomme, die mir einen spöttischen Blick durch ihre übertuschten Wimpern zu wirft, werfe ich ihr beiläufig einen Zettel auf das aufgeschlagene Modemagazin.

'Nach der Stunde'.

Ich lasse mich auf meinem üblichen Platz in der ersten Reihe am Fenster nieder. Sandra ist ebenfalls schon da und mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

Mein Blick fällt auf Sandra, dann auf Mandy, die mir zustimmend zunickt.

„Guten Morgen Claudia“, sagt sie mit einer honigsüßen Stimme, die mir eine Gänsehaut über den Nacken jagt.

„Guten Morgen Sandra“, lächele ich glücklich zurück. Sie scheint noch nichts zu wissen oder sie weiß ziemlich gut ihr Wissen zu verbergen.

„So schick heute“, ihr Blick fährt über mein Gesicht und meinen Körper. Meine Wangen fangen an zu brennen.

„Man tut was man kann“. Erwidere ich kurz um mich nicht in unnötige Diskussionen einzulassen.

„So so, und was hast du neuerdings mit unserem Klassenliebchen zu schaffen?“, ich muss schlucken. Weiß sie doch etwas? Oder ist sie einfach nur eine verdammt scharfsinnige Beobachterin?

Ich schlage unsanft mein uraltes Biologiebuch von 1973 auf und lege es über meinen Schreibblock.

„Nun, ich habe auch meine kleinen Geheimnisse.“ Verschwörerisch grinse ich sie an, in der Hoffnung, dass sie es als Scherz abtut und mich in Ruhe lässt.

Stattdessen kommt eine unerwartete Reaktion.

„Sie gefällt mir nicht. Pass auf was du tust und vor allem sagst. Sie ist verdammt hinterlistig.“

Ich muss seufzen.

Wenn sie nur wüsste, dass ich Mandy längst auf den Leim gegangen bin und jetzt richtig tief drin stecke, würde sie mich wahrscheinlich auslachen und mir gleich noch einen Korb hinterher schicken. Sandra ist nicht gehässig, aber sie spielt zu gerne mit ihrer Menschenkenntnis und besonders ich scheine in dieser Hinsicht ihr Lieblingsopfer zu sein. Ob mich das zu etwas Besonderen macht? Wer weiß.

Die zwei Pflichtstunden Biologie sind relativ schnell abgesessen und ich kann Mandy an der Klassenzimmertür abpassen.

Grob packe ich ihr Handgelenk und ziehe sie hinter mir her, jedoch nicht ohne, dass es Sandra bemerkt. Ich verschwinde mit Mandy in einen leeren Gang und ich lasse Sandra mit fragendem Blick zurück.

„Hey, nicht so grob“, sie schüttelt meine Hand ab und wirft mir einen beleidigten Blick zu. Verächtlich ziehe ich meine Hand zurück.

„Also, pass' auf Mandy, ich bin ein umgänglicher Mensch und ich will auch keine Schwierigkeiten bekommen. Du willst Tobias und ich will, dass du schweigst. Und damit wir beide das bekommen, was wir wollen, sind ein paar Veränderungen nötig.“, lässig werfe ich meine Haare zurück. Mandy lehnt sich an die beige Wand und sieht mich fragend an.

„Und was sollen das für Veränderungen sein?“ fragt sie geringschätzig.

„Nun ganz einfach“, ich gehe einen Schritt auf sie zu „du musst aufhören dich aufzuführen wie eine billige Schlampe, ansonsten sind deine Chancen sehr, sehr gering bei Tobias“.

Wut steigt in Mandys Gesicht auf. Wie ein Raubtier bleckt sie ihre weiß gebleichten Zähne, bereit mich jederzeit anzugreifen.

„Denk dran, wenn du nicht mitspielst, bekommen wir beide nicht das was wir wollen“

Missmutig wendet sie sich von mir ab. Sie scheint es eingesehen zu haben. Meine Strategie hat funktioniert. Jedenfalls bis hier her. Ihr scheint es also ernst zu sein. Ein Vorteil für mich.

„Gut, du scheinst es also kapiert zu haben. Das mit der Schlampe war ernst gemeint. Tobias interessiert sich nicht für Frauen, die leicht zu haben sind und die auch noch so aussehen. Der braucht kein Modepüppchen, sondern eine die ihm zeigt wo es lang geht. Und da du ein Modepüppchen bist, dass sich ständig unterordnet und in Gegenwart von Kerlen aufführt wie ein Huhn ohne Kopf, müssen wir dich ein wenig aufpolieren.“

„Ach und du bist hier jetzt wohl das große Paradebeispiel? Glaubst du wirklich, es reicht um einen stattlichen Mann wie Tobias rum zu kriegen sich einfach in andere Klamotten zu werfen.“

„Möglich“

„Möglich? Ist das Alles?“

„Ich zeig’s dir. Komm mit.“

Wie erwartet befindet sich Tobias im SMV-Zimmer im 5. Stock. Ich betrete das Zimmer und halte Mandy dazu an, vor der Tür stehen zu bleiben und das Geschehen durch den Spalt zu beobachten. Ich habe keinerlei Garantie, dass mein hochgestochener Plan funktioniert. Doch das ist für mein weiteres Vorgehen unabdingbar.

Tobias hockt lässig auf dem alten Holzstuhl und liest ein Magazin. Den Penthouse. Die perfekte Angriffsfläche.

„Interessante Schullektüre“, hauche ich ihm ins Ohr. Tobias zuckt zusammen und schaut mich von unten bis oben an.

„Ach Claudi, man hast du mich erschreckt. Schleich dich doch nicht so an. Siehst gut aus, hast ein Vorstellungsgespräch?“

Ich wedle um ihn herum und lehne mich lässig gegen den alten Holztisch.

„Nein, ein Vorstellungsgespräch habe ich nicht.“ Mit meinen schlanken Fingern fahre ich mir durch die schwarzen Haare.

Tobias Pupillen weiten sich und er befeuchtet mit der Zunge seine Lippen.

„Nun“, meine Beine schlagen sich übereinander „was meinst du? Wie wird die Wahl ausgehen?“

Er lacht hell auf und rutscht auf dem Stuhl hin und her. Er ist nervös.

„Wir natürlich. Wir sind doch das Traumteam schlecht hin.“ Ich beuge mich tiefer zu ihm herab. Unsere Gesichter sind ganz nah beieinander. Sein Atem wird immer schneller und seine Zunge fährt immer wieder über seine Lippen. Ich habe ihn da, wo ich ihn haben will. Das muss als Beweis für Mandy reichen.

„Gut, ich bin auch dafür, dass wir gewinnen.“

Schlagartig drehe ich mich um, klopfe ihm mit der Hand auf die Schulter und verlasse den Raum.

Die Tür schnappt ins Schloss. Mandy hockt neben der Tür. Sie hat alles gesehen.

Ich schaue auf sie herab und versuche ihren Gesichtsausdruck zu erkennen. Ihr steht immer noch der gleiche verbissene Ausdruck im Gesicht.

„Du hast also alles gesehen. Und, bist du jetzt bereit ein paar Veränderungen vorzunehmen?“

Mandy schweigt. Der Kajal den sie um die Augen trägt, ist vollkommen verschmiert. Hat sie geheult? Ein ungewohnter Anblick.

„Hey, was ist los?“, frage ich ungeduldig. Die Pause ist bald aus und ich habe noch vor mit Lissi zu reden, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen.

Wie von der Tarantel gestochen springt Mandy auf und drückt mich gegen die Wand.

Bewegungsunfähig stehe ich da und starre ihr in das tränenverschmierte Gesicht.

„So etwas wie heute, wirst du nie wieder tun. NIE WIEDER. HAST DU VERSTANDEN?“, brüllt sie mir entgegen und krallt ihre künstlichen Fingernägel in meine Oberarme. Wut steigt in mir auf.

„Was glaubst du warum ich den ganzen Scheiß denn hier abziehe?! Bestimmt nicht um so einen Primaten rum zu kriegen. Ich tu das alles nur für Sandra.“

Unter Schluchzen läuft Mandy davon. Es war nicht zu hart. Ich hoffe nur, dass sie jetzt verstanden hat, worum es geht und was sie ändern muss. Es klingelt. Die Pause ist vorbei.

Glücklicherweise habe ich jetzt eine Freistunde bevor es in der vierten Stunde wieder mit Chemie weiter geht. Ich mache mich in Richtung Aufenthaltsraum für die Oberstufe um dort noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen. Die Gänge sind leer und überall liegen Reste von Pausenbroten und Papier auf dem Boden. Wann lernen die Schüler eigentlich mal Ordnung zu halten? Wahrscheinlich nie, denn sie folgen meist dem Beispiel ihrer Eltern, die während des Autofahrens Müll aus dem Fenster werfen. Traurig.

Im Oberstufenzimmer brodelt die Kaffeemaschine munter vor sich hin und einige Schüler sitzen mit verzweifelten Blicken über aufgeschlagenen Büchern und kritzeln unsicher Formeln und Definitionen auf ihre Schreibblöcke. Ich lasse mich an einem leeren Tisch in der Ecke nieder und überlege angestrengt, wo ich Lissi in der nächsten Pause nach der vierten Stunde finden könnte, um mit ihr zu beraten, wie wir jetzt als nächstes vorgehen sollten. Eine solche Reaktion von Mandy war nicht zu erwarten und es müssen jetzt gegebenenfalls einige Schritte geändert werden. Alles kommt mir zu unrealistisch vor. Es ist fast wie in einem schlechten amerikanischen Liebes-Teeny-Film.

In Gedanken versunken bemerke ich nicht, wie sich jemand neben mich hockt. Es ist Sandra. Mittwochs haben wir die gleichen Fächerkombinationen.

Erschrocken zucke ich zusammen.

Wieder streift einer ihrer undeutbaren Blicke mein Gesicht.

„Hast du ein schlechtes Gewissen oder warum erschreckst du so?“

„Schlechtes Gewissen? Nein, eigentlich nicht.“. Mit Unbehagen drehe ich mich wieder weg und starre auf meinen leeren Schreibblock. Um mich abzulenken wühle ich in meinem roten Lederfedermäppchen nach einem ganz bestimmten Kugelschreiber. Ihr immer bedrohlicher werdender Blick ruht noch auf meinem Nacken. Mir wird flau im Magen.

„Mandy scheint ja derzeit bei dir Recht hoch im Kurs zu stehen.“ Lässig schlägt sie ihre langen Beine übereinander, die von einer engen schwarzen Jeans umschlungen werden.

Ich übergehe ihre Frage und deute mit dem Finger auf einem Chemiehefteintrag über Kohlenwasserstoffverbindungen.

„Verstehst du das?“

Glücklicherweise lässt sie sich mit so etwas abspeisen und erklärt mir willig, alles was ich wissen will, obwohl es eigentlich gar nicht nötig wäre.

Nach Chemie haben wir frei. Besser gesagt nennt es sich Studienzeit, was viele, um genauer zu sein, alle Schüler jedoch mit Freizeit gleich setzen.

Mit besorgter Miene mache ich mich nach Chemie auf den Weg ins SMV Zimmer, in der Hoffnung dort Lissi anzutreffen. Meine Vermutung hat sich bestätigt und sie sitzt mit angespannter Miene an dem großen alten Holztisch auf dem sie mehrere Blätter ausgebreitet hat.

„Hey“, begrüße ich sie kurz und hocke mich krampfhaft auf den Stuhl rechts neben ihr. Meine Beine schmerzen, da ich es nicht gewohnt bin, Absätze zu tragen.

„Hey,“ sie blickt auf und strahlt mich fragend an.

„Und wie ist es gelaufen mit Mandy?“. Prüfend werfe ich einen Blick auf die Tür. Außer uns ist niemand im Raum. Ich senke meine Stimme und erzähle ihr die ganze Geschichte. Zwischendurch nickt sie zustimmend oder legt die Stirn in Falten.

„... und was denkst du?“, schließe ich meinen Monolog.

Ihre Hand reibt über ihr breites Kinn.

„Nun, so wie du mir die ganze Sache geschildert hast, sieht es meiner Meinung nach ganz gut für uns aus... ich meine für dich. Mandy ist uns in die Falle getappt, nun müssen wir nur noch warten bis sie wieder auf uns zukommt und ich denke, dass wird sehr bald passieren. Also, denk dir schon mal ein paar nette Übungen für sie aus, damit wir die Sache recht schnell hinter uns bringen können. Ich habe nämlich keine Lust, dass ewig hin zu ziehen.“

Etwas verwundert über ihre letzten Worte rücke ich mit dem Stuhl einen paar Zentimeter zurück und lehne mich gegen die Stuhllehne.

„Da könntest du wirklich recht haben. Es wäre nicht gut, wenn sich die ganze Geschichte zu sehr in die Länge zieht. Das gibt nur unnötiges Aufsehen. Sandra hat mich heute auch schon darauf angesprochen. Sie ist wirklich verdammt scharfsinnig.“ Ich muss kichern. Lissis Miene bleibt versteinert und sie beugt sich wieder über ihre Blätter. Sind wahrscheinlich Hausaufgaben. Ich denke mir nichts dabei, verabschiede mich kurz und mache mich auf dem Heimweg und schwöre mir, morgen keine Absatzschuhe anzuziehen.

Zuhause angekommen schalte ich sogleich den Rechner an und schiebe mir eine Thunfischpizza in den Ofen. Mir ist einfach danach. Nachdem das geschehen ist befreie ich mich aus den spießigen Klamotten und springe nur mit Unterwäsche bekleidet durch das Haus.

Pizzakauend klicke ich durch meine Emails. Ein MSN Fenster poppt auf. Pseudo-Sandra.

Ob Mandy diesen Account wohl öfter benutzt. Kurzerhand beschließe ich sie anzuschreiben.

Nudel of Doom (12:18): >> Na, hast dich wieder beruhigt.<<

Ich will so wenig mit ihr reden wie nötig, aber das gehört jetzt wohl zu meinem Pflichtanteil.

Sandra (12:19): >> Ja. Ich habe mir das reichlich überlegt. Ich nehme deinen Vorschlag an. Jedoch will ich ein Zeitlimit. Ich hab keinen Bock, dass sich das bis zum Schuljahresende hinzieht und du dann lachend aus dem Abitur läufst.<<

Ich muss schlucken. Soweit hatte ich noch gar nicht gedacht, jedoch hoffe ich innigst, dass ihre Zeitvorstellung im Bereich des Machbaren liegt.

Nudel of Doom (12:20): >> Welches Zeitlimit stellst du dir denn vor?<<

Sandra (12:20): >> 1. November <<

Ach du heiliger Strohsack. Das sind ja knapp drei Wochen. Das kann echt heiß werden. Die Thunfischpizza ist vergessen und ich könnte auf der Stelle kotzen.

Wenn ich das schaffen will, dass muss ich jetzt sofort anfangen und kann nur hoffen, dass Mandy auch gehorsam und von schnellem Verständnis ist.

Ich muss schnellsten anfangen. Am besten sofort.

Nudel of Doom (12:22): >> Keine Sorge, ich habe auch keine Lust dich ewig an der Backe zu haben. Was hast du heute vor?<<

Sandra (12:23): >> Noch nichts, aber ich kann doch sicherlich davon ausgehen, dass du mich heute Abend zu dir einlädst, damit wir gleich anfangen können<<

Ich kann aufatmen. Ihr liegt wirklich was an der Sache und sie ist schneller von Begriff, als immer angenommen habe. Wir verabreden uns für um 15:00 Uhr bei mir und mir ist jetzt schon klar, dass ich das Training heute Abend vergessen kann. Dabei hätte ich zu gerne auf einen Sandsack eingeschlagen und mir dabei ein ganz bestimmtes Gesicht vorgestellt.

Anders als bei Sandra wirft Mandy meinem Zimmer einen abschätzigen Blick zu und lässt sich auf meine Couch fallen. Jedoch nicht ohne sie vorher mit der Hand abzuwischen.

Unhöfliches Miststück. Was denkt die denn, was auf dem Sofa so treibe?

„Ihr seid ja ganz schöne Bonzen.“

„Hä?“, mache ich ziemlich dämlich und schaue sie fragend an.

„Nja, ihr habt ein megagroßes Haus, nen großen Garten und das was ich bisher bei euch gesehen habe, zeugt nicht gerade von Armut. Will echt nicht wissen, was deine Eltern an Kohle heim bringen.“

Genau genommen arbeitet nur mein Vater und meine Mutter ist einfache Hausfrau. Der Grund für unser etwas größeres Einfamilienhaus ist ganz einfach. Als meine Oma vor 8 Jahren verstorben ist, hat sie uns das Grundstück, samt einem älteren Haus, vererbt. Meine Eltern haben sich dann kurzerhand dazu entschlossen, die alte Hütte abzureißen und einfach ein neues Haus drauf zu bauen. Ich gehe davon aus, dass Mandy auf die hohen Grundstückspreis anspielt die in dieser Gegend herrschen. Jedoch muss ich ihr ja nicht sagen, wie es wirklich war. Soll sie nur in ihrem Glauben bleiben.

Was das Haus angeht, so ist es relativ großzügig geschnitten. Das Büro meines Vaters und das Schlafzimmer meiner Eltern sind durch eine Art Hobbyraum mit großer Glasfront verbunden. In diesem Hobbyraum steht ein älterer Billardtisch. Eine Leidenschaft meiner Mutter. Neben dem Schlafzimmer ist mein Zimmer. Das Treppenhaus besteht aus einer Galerie. Von da aus kann man in den Flur und Eingangsbereich im Erdgeschoss schauen. Im Erdgeschoss selber befindet sich eine Küche mit integriertem Esszimmer. Gleich daneben ist ein Wintergarten voller Grünzeug angebaut worden. Durch den Wintergarten kommt man auf eine kleine Terrasse. Das Wohnzimmer ist ebenfalls groß geschnitten und besitzt eine Glasfront. Da meine Eltern sehr viel von Holz und Naturtönen halten, ist fast das komplette Untergeschoss in diesen Farben gehalten.

Was wohl recht spießig auf Außenstehende wirken könnte sind die großen, weißen Fenster und die weiße Glastür mit etwas protzigen Verzierungen, wie man sie oft in London in den Vororten findet. Das Haus ist komplett in einem hellen Gelbton gestrichen und meine Eltern legen sehr viel Wert auf einen gepflegten Garten.

„Was meine Eltern verdienen geht dich ja auch nichts an. Wir betreiben diesen ganzen Aufwand schließlich nur, damit du an deinen Tobias ran kommst und ich endlich wieder in Frieden leben kann.“

Sie stimmt mir verbissen mit einem Nicken zu.

„Okey, dann wollen wir doch mal anfangen...“.

An diesem Abend habe ich verzweifelt versucht ihr Tobias' Denkweise näher zu bringen und ihr klar zu machen, dass, wenn sie sich jetzt nicht ändert und ihren Charakter zum Guten wendet, dass sie niemals einen Hauch einer Chance haben wird. Tobias ist nach wie vor ein Eroberer und interessiert sich nicht für leicht erschließbares „Gebiet“.

Nach drei Stunden wilder Diskussionen und zickiger Auseinandersetzungen kann ich sie jedenfalls davon überzeugen, nicht mehr mit Minirock und bauchfreien Oberteilen in die Schule zu gehen und sich etwas dezenter zu schminken. Die High Heels konnte ich ihr noch nicht ausreden, jedoch wird das einer meiner nächsten Schritte sein, bevor ich mich an ihren Charaktereigenschaften zu schaffen mache. Eigentlich sollte man einen Menschen nicht versuchen grundlegend zu ändern, jedoch muss ich in dieser Hinsicht zu allererst an mein eigenes Wohl denken und darf keine Rücksicht auf Verluste nehmen. Womöglich wird sie mir später sogar einmal dankbar dafür sein – jedenfalls wenn alles so klappt wie ich es mir vorstelle.

Mit schweren Augenlidern und trockenen Mund, vom vielen Reden, liege ich in meinem Bett. Satan hat es sich am Fußende bequem gemacht und grunzt vor sich hin. Meine Mutter wirft mir einen fragenden Blick zu, als sie Mandy aus dem Haus gehen sieht. Jedoch hat sie es noch nicht fertig gebracht nach ihr zu fragen, obwohl ihr die Neugierde förmlich ins Gesicht geschrieben stand. Mir ist es eigentlich ganz recht, dass sie nicht fragt, denn ich habe mir noch keine plausible Geschichte ausgedacht, die ich ihr erzählen könnte, damit die Wahrheit nicht raus kommt.

Mir ist durchaus bewusst, dass ich nicht ewig so weiter lügen kann, aber ein bisschen Zeit werde ich wohl noch haben dürfen.

11. Oktober, Donnerstag

Zu meiner Verwunderung hat Mandy genau das befolgt, was ich ihr gestern in stundenlanger Kleinarbeit versucht hab begreifbar zu machen. Sie trägt eine Jeans, einen violetten Pullover und dazu einen goldenen Glitzergürtel. Gut, der Glitzergürtel ist akzeptabel und ich denke, ich habe etwas bei ihr erreicht. Ich für meinen Teil bin wieder in meine gemütliche Alltagskleidung geschlüpft, da ich zum einen große Blasen an den Füßen habe und ich es zum Anderen als unangenehm empfinde, so übertrieben gekleidet in die Schule zu kommen.

In der ersten Stunde steht Geschichte auf dem Stundenplan. Geschichte habe ich glücklicherweise nicht mit Sandra zusammen und somit kann ich vorerst unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen. Auch Mandy besucht nicht den Geschichteleistungskurs – aber dafür Tobias. Ich habe mir heute vorgenommen mich etwas bei Tobias in Sachen Frauen umzuhören.

Die Lehrerin hat Verspätung. Ich nutze sofort die Gelegenheit und schwinge mich lässig neben Tobias auf den freien Stuhl.

„Guten Morgen Tobias, der 1. November rückt ja immer näher. Und, bist du schon aufgeregt?“, ich zwinkere ihm zu, um meine eigene Nervosität zu unterdrücken, da für mich der 1. November eine viel höhere Bedeutung hat, als nur eine Schulsprecherwahl, die meiner Meinung nach eh ähnlich wie im Vorjahr ausgehen wird.

„Ach, mit dir an meiner Seite brauche ich doch nicht nervös werden.“ Er lacht hell auf und leckt sich über die Lippen.

Wie leicht er doch zu durchschauen ist, denke ich amüsiert und ich muss mir ein spöttisches Grinsen verkneifen.

Gut gelaunt fange ich an, den Faden wieder aufzunehmen und auf mein wirkliches Anliegen einzugehen.

„Na dann ist ja gut, aber lass das mal bloß nicht deine aktuelle Flamme hören.“

Dem Aspekt, dass Tobias vielleicht vergeben ist und dass das ein ziemliches Problem für meinen Plan darstellen konnte, hatte ich die ganze Zeit ziemlich außer Acht gelassen. Das wurde mir gestern Abend schlagartig klar und ich hatte mir für heute vorgenommen, die Sache abzuklären. Ich hatte mir sogar schon einen recht miesen Plan ausgedacht, für den Fall, dass er vergeben wäre.

In solchen Momenten wird mir immer wieder klar, wie sehr ich doch Sandra verfallen bin. Früher hätte ich nie im Traum daran gedacht, ein Paar für meinen eigenen Vorteil auseinander zu bringen – und jetzt? Ich würde wahrscheinlich alles Erdenkliche tun, um Tobias von seiner Freundin los zu kriegen. Ich habe das Gefühl, dass ich kaum viel besser bin als Mandy, wenn nicht noch schlimmer und niederträchtiger.

„Welche Flamme? Ich bin derzeit noch auf dem Markt!“ Ich jubele innerlich auf. Diese Hürde wäre gemeistert. Es kostet mich sehr viel Anstrengung nicht sofort aufzuspringen und im Kreis um ihn herum zu tanzen.

„Oh, na dann.“ Die Lehrerin kommt wie bestellt herein und knallt einen Stapel Blätter auf den Tisch. Ich verschwinde wieder auf meinen Platz und fange mir noch einen fragenden Blick von Tobias ein, dem ich nicht weiter Beachtung schenke.

Nach einer zweistündigen Diskussion über die Vor- und Nachteile des Kommunismus, werden wir von dem Läuten der Pausenglocke erlöst.

Draußen auf dem Schulhof scheint die Sonne und ich mache mich auf, um mich auf die alten Treppen zu setzen, die in dem Laufe der Jahre zu einem Art Lieblingsplatz für mich geworden sind. Ein leichter Wind weht durch meine Haare. Ich fühle mich unbeschwert und kann für einen kurzen Moment, meine Probleme vergessen. Ich schließe die Augen und inhaliere die modrig süße Herbstluft.

Eine warme Hand legt sich auf meine Schulter. Ich habe Sandra im Verdacht und drehe mich mit einem Lächeln um, um sie zu begrüßen. Zu meiner Enttäuschung blickt mir Lissi entgegen.

Etwas verwundert begrüße ich sie.

„Na, was gibt es neues?“ Sie lässt sich neben mir auf den Stufen nieder und ich berichte ihr über den Stand der Dinge.

„Wenn das so weiter geht, legst du ihr einen echten Soloflug hin und bald brauchst du mich dann gar nicht mehr.“

Bei diesen Worten scheint ihr Blick in die Ferne zu schweifen und ich merke, dass sie schwer am Nachdenken ist. Was ist bloß los mit ihr? Wahrscheinlich ist es Stress in der Schule. Letztes Jahr ging es mir genauso. Man fängt in der 12. Klasse an sich Gedanken über den beruflichen Werdegang zu machen und stößt dabei oft auf Sackgassen.

„Ach was, ohne dich wäre ich nie so weit gekommen und ich würde wahrscheinlich immer noch auf dem Gehweg sitzen und heulen.“, versuche ich sie etwas aufzumuntern.

Ohne dass sie mich eines Blickes würdigt, antwortet sie mit ihrer noch leicht mädchenhaften Stimme:

„Wohl wahr, aber sobald du dein Ziel erreicht hast und vielleicht bei Sandra landest, wirst du mich vergessen und wir sind wieder nur flüchtige Bekannte.“

Ihre Art und ihr Verhalten lösen in meinem Magen ein sehr unangenehmes Gefühl aus. Hat sie etwa Angst, dass ich sie, nach dem was alles passiert ist, nur wieder als Bekannte ansehe, wenn ich an meinem Ziel angekommen bin? Sie weiß mehr über mein Innenleben als meine Eltern und oder meine beste Freundin. Aber das ist ihr scheinbar nicht bewusst. Seufzend lege ich meinen Arm um ihre Schultern und schüttele sie sanft.

„Red' keinen Quatsch. Nach all dem was du weißt, wäre es doch eh unmöglich, dich nur noch als Bekannte anzusehen.“ Ich schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln und sie gibt sich damit zufrieden. Anschließend fängt sie an über ihre Geburtstagsfeier zu reden, die am 3. Januar stattfinden soll.

Herr Dünster wirbelt durch das Klassenzimmer und sucht verzweifelt nach einem weiteren Strommessgerät, da er das, was er gerade in der Hand gehabt hatte, durch eine unachtsame Bewegung vom Tisch gefegt hat und es nun nichts mehr anzeigt.

Sandra sitzt schweigend neben mir und malt auf der Innenseite ihres Ordners herum. Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel, ihre schlanken Finger und gepflegten Fingernägel, die sanft den blauen Kugelschreiber umfassen. Sie malt Herzen, ganz viele. Niedlich. Jedoch ist ihr Blick leer und sie scheint gedanklich ganz woanders zu sein, während sich die halbe Klasse über den aufgebrachten Physik- und Chemielehrer amüsiert, der wie ein Wiesel über den Boden in der Aufbewahrungskammer für Physikutensilien kriecht. Sandra schüttelt heftig ihre roten Locken und streicht mit einer energischen Bewegung alle soeben gemalten Herzen wieder durch.

Sie lehnt sich zurück und wirft ihren Stift auf den Tisch.

„Was ist los?“, frage ich vorsichtig.

Sie blickt mich mit glasigem Blick an und haucht ein :

„Nichts“.

Aus dem Abstellraum ist erst ein Scheppern und dann ein Fluchen zu hören. Dünster scheint sich gerade den Schädel angehauen zu haben.

„Wie geht es Carsten?“, frage ich fast beiläufig.

Sandra zuckt desinteressiert mit den Schultern und schaut an mir vorbei aus dem großen Fenster heraus. Da sie heute nicht sonderlich gesprächig ist, entschließe ich mich dazu, sie vorerst in Ruhe zu lassen.

Die Physikstunde endete mit einem Wutanfall von Herrn Dünster, so dass er die komplette Klasse eine Stunde eher aus dem Unterricht gehen lässt. Als der Letzte hinter sich die Türe geschlossen hat, kann man ihn noch schreien hören. Ich hasse Choleriker und bei seinem Gewicht ist es sicherlich nicht gut für die Gesundheit wenn er sich so aufregt.

Donnerstags haben wir glücklicherweise immer nach der fünften Stunde aus und somit kann ich mich jetzt auf den Heimweg machen. Mandy hat sich heute in Gegenwart von Tobias anders als sonst aufgeführt. Eher zurückhaltend. Im Allgemeinen ist heute zu beobachten, dass sie sich sehr introvertiert verhält – allen Personen gegenüber. Sandra trottet neben mir die breite Steintreppe herunter. Einige unserer Klassenkameraden laufen vor uns und machen sich immer noch über das Missgeschick des Physiklehrers lustig. Als ob ihnen noch nie so etwas passiert wäre.

Jemand packt mich am Handgelenk. Ich wirbele herum und sehe Mandy direkt in das, immer noch recht intensiv geschminkte, Gesicht. Auch Sandra hat Mandys Griff mitbekommen und beobachtet das Geschehen aus dem rechten Augenwinkel heraus. Ich werde nervös und befreie mich schnell aus ihrem Griff.

„Was ist?“, zische ich kaum hörbar in ihre Richtung.

„Ich muss mit dir reden, komm mit“. Ohne ein weiteres Wort von mir zu hören, packt sie mich abermals am linken Handgelenk und schleift mich von der immer noch lachenden Schülermeute weg. Ich kann erkennen, dass Sandra uns noch kurz hinterher guckt, mit dem Kopf schüttelt und dann in Richtung Ausgang verschwindet.

Auf dem Gang ist es still geworden und das Lachen unserer Mitschüler ist nur noch wage zu hören.

„Also, worum geht es?“,frage ich nochmals ziemlich entnervt und hänge gedanklich immer noch bei Sandra.

„Wie wollen wir weiter machen, hast du heute schon mit Tobias geredet?“, fragt sie mich ziemlich ungeduldig und blickt sich panisch nach rechts und links um, aus Angst irgendjemand könnte etwas von unserem Gespräch mitbekommen.

„Ja, ich habe heute Morgen kurz abgeklärt, wie es mit seinen Beziehungsstatus steht. Er ist noch zu haben. Also hast du fast freie Bahn. Aber ich befürchte, dass wir euch kaum in der Schule zusammen bringen können. Also müssen wir mal ein Treffen außerhalb der Schule organisieren.“

Mandy scheint zu verstehen, dass ich Recht habe und nickt mir zustimmend zu.

„Wirst du auch dabei sein, wenn ich mich mit Tobias außerhalb der Schule treffen werde?“. Die Frage kam unerwartet. Soweit war ich mit meinem Plan noch nicht gekommen bzw. ich hatte mir noch gar nicht überlegt, wie ich Tobias zu einem Treffen außerhalb der Schule bewegen konnte.

Ich lege meine Stirn im Falten und Mandy scheint ebenfalls zu bemerken, dass ich stark am Nachdenken bin und wirft mir einen herablassenden Blick zu.

„Du solltest etwas mehr Zeit in deine Planung investieren, ansonsten fliegt die Sache schneller auf als du 'Sandra' sagen kannst. Das schwöre ich dir.“ Mit diesen Worten lässt sie mich stehen und stolziert Richtung Treppenhaus.

Um meine aufkochende Wut zu unterdrücken beiße ich mir ziemlich stark auf die Lippe – zu stark. Es blutet. Ich könnte schreien. Dieses intrigante Miststück. Irgendwann, irgendwann werde ich es ihr heimzahlen. Ich bin kurz davor den ganzen Plan sausen zu lassen und Sandra einfach selber die Wahrheit ins Gesicht zu knallen, in der Hoffnung, dass sie dasselbe empfindet.

Diesen Gedanken verwerfe ich doch wieder recht schnell und mache mich wutentbrannt auf den Heimweg. Um meine überschüssige Energie loszuwerden, die ich durch den gestrigen Ausfall des Trainings habe, jogge ich die drei Kilometer zu mir nach Hause.

Insgeheim hatte ich vielleicht noch gehofft, Sandra abpassen zu können, um weiter nachzuforschen was sie bedrückt.

Jedoch habe ich weniger Glück und komme verschwitzt und keuchend zu Hause an. Mein Vater ist in der Arbeit, meine Mutter wahrscheinlich beim Einkaufen und so begrüßt mich nur Satan freudig. Nachdem ich meinen Magen mit einem Knoblauchbaguette gefüllt und mir den Schweiß vom Körper geduscht habe, schalte ich meinen Rechner an. Kaum hat sich mein PC mit dem Internet verbunden, poppt ein Fenster auf. Es ist mal wieder Mandy unter dem Account von „Sandra“.

Um Sandras Namen nicht weiter mit dieser Person in Verbindung zu bringen, ändere ich ihr Pseudonym auf „Mandy Werther“. Eigentlich bin ich kurz in Versuchung eine weniger schmeichelhafte, aber dafür meiner Meinung nach passendere Bezeichnung für sie zu wählen, aber mein weiß ja schließlich nie, wer die eigene Kontaktliste einmal zu Gesicht bekommt. Und ich kann gut und gerne auf jegliche Art von weiteren Auseinandersetzungen verzichten.

Mandy Werther (12:45): >>Heute wieder um die gleiche Uhrzeit<<

Es klang weniger nach einer Frage, eher nach einer schon feststehenden Tatsache. Zähneknirschend lasse ich mich auf meinen Schreibtischstuhl zurück fallen und sehe keine Notwendigkeit ihr schnell zu antworten. Nach der 'Unterhaltung' von vorhin sehe ich es nicht ein, noch höflich zu ihr zu sein und das werde ich sie auch in Zukunft spüren lassen. Auch wenn ich das Risiko eingehe, dass sie mein kleines Geheimnis in der gesamten Schule herum erzählt. Wobei ich andererseits eh keine Gewährleistung habe, dass sie es nicht tut, auch wenn ich sie mit Tobias zusammen bringen sollte. Würde sie das jedoch tun, würde ich alles Menschenmögliche in Bewegung setzten, dass ihr Glück nur von kurzer Dauer ist.

Bei diesen Gedanken werden meine Mundwinkel von einem gehässigen Grinsen umspielt. Schnell vergrabe ich wieder meine Rachegelüste und antworte ihr.

Nudel of Doom (12:54): >> Abgemacht. Ich kann aber nur bis 17:30<<

Für weitere Unterhaltungen bin ich nicht bereit und setzte meinen Messenger-Status auf 'Beschäftigt'. Ich habe nicht wieder vor, wegen diesem Mädchen mein Training sausen zu lassen.

Mit einer leichten Verspätung steht Mandy klatschnass vor meiner Haustür. Es gab einen Platzregen und sie scheint mitten rein geraten zu sein. Es gibt anscheinend doch eine höhere Macht, die kleine Sünden sofort bestraft. Ohne ihr ein Handtuch für die nassen Haare anzubieten, gehen wir beide auf mein Zimmer. Dort versuche ich ihr wieder erneut klar zu machen, welche Verhaltensweisen Tobias wohl als besonders störend empfinden mag. Nach einer Stunde Diskussion scheint sie es wohl doch einzusehen. Jetzt gilt es nur noch das in die Tat umzusetzen, was in meiner Vorstellung so wunderbar funktionieren könnte.

„Und, hast dir schon überlegt, wie ich Tobias am besten außerhalb der Schule treffen könnte?“.

Diesmal bin ich auf diese Frage vorbereitet und habe mir auch einen fast bombensicheren Plan ausgedacht.

„Natürlich.“

Ich hatte mir aus passendem Anlass überlegt, Tobias zu fragen ob er nicht Lust hätte am Samstag mit Lissi und mir einen Kaffee trinken zu gehen, um dort noch einige Dinge über die Kandidatur zu besprechen. Wie ich Tobias einschätze, wird er sich eine Gelegenheit über sich selbst zu sprechen nicht entgehen lassen und mit Freude meinem Vorschlag zustimmen. Mandy wird auch dabei sein, obwohl sie kein Mitglied SMV ist. Wir werden Tobias erzählen, dass ich Mandy vorher Nachhilfe in Physik gegeben habe und sie der Höflichkeit halber noch gefragt hätte, ob sie nach getaner Arbeit nicht noch Lust auf einen Kaffee hätte. Sobald wir ungefähr eine viertel Stunde im Café gesessen haben, wird Lissi einen Anruf bekommen. Ihr Opa ist plötzlich ins Krankenhaus gekommen und sie müsse sofort dorthin. Da ihr Opa leider 30 Kilometer von unserer Stadt entfernt wohnt und nicht in das städtische Krankenhaus eingeliefert wurde, sondern in das der Nachbarstadt, muss ich sie mit dem Auto dorthin fahren. Nun ist Mandy mit Tobias alleine und es liegt an ihr, wie sie sich anstellt.

Mandy schaut mich erwartungsvoll an.

„Das heißt im Klartext, ich soll ihn selber um den Finger wickeln und du leistest nur diese minimale Vorarbeit?“ Etwas sehr giftiges liegt in ihrer gekünstelten Stimme.

Es verunsichert mich. Ist der Plan doch gar nicht so gut, wie ich ihn mir in meinem Gedanken ausgemalt hatte?

Schnell verwerfe ich diese Gedanken wieder und besinne mich der Realität.

„Ich kann ihn ja wohl schlecht für dich anflirten und um den Finger wickeln. Das wäre etwas kontraproduktiv.“

Anscheinend hat jetzt auch Mandys Gehirn angefangen zu arbeiten und sie stimmt mir zu. Braves Mädchen. Sie verabschiedet sich recht schnell, denn sie ist immer noch klatschnass. Gut gelaunt schlage ich die Haustür hinter ihr zu und hüpfe zurück in mein Zimmer. Ich bin ein Genie.

7

12. Oktober, Freitag

Voller guter Hoffnung mache ich mich Freitagmorgen auf den Weg in die Schule. Das Wetter ist gut und die verdammten Vögel zwitschern ihr Lied. Müssten die sich nicht bald mal Richtung Süden machen? Oder sind das welche die hier bleiben? Mit Vögeln kannte ich mich noch sonderlich gut aus, das war auch der Grund, warum mir meine Grundschullehrerin im zarten Alter von 9 Jahren eine 5 in Heimatkunde ins Zeugnis eingetragen hat. Meine Eltern waren kurz davor mir für den Rest meines Lebens Hausarrest und was damals noch schlimmer war – lebenslanges Fernsehverbot zu geben. Zu meinem Glück hatte ich dann in der 4. Klasse eine andere Lehrerin und andere Themengebiete und es hinderte mich nichts mehr daran, auf das Gymnasium zu gehen. Und das Fernsehverbot war auch aufgehoben.

Ich biege gerade in eine kleine Straße, die eine mehr oder weniger sinnvolle Abkürzung zu meiner Schule ist, als ich Lissi erblicke. Sie lehnt an einen Stromkasten und tippt in gleichmäßigen Abständen mit dem Fuß auf den asphaltierten Fußweg. Ob sie auf jemanden wartet? Anscheinend.

Ich gehe auf sie zu und begrüße sie herzlich.

„Was machst du denn schon so früh in der Gegend. Deine Wohnung liegt doch in der entgegensetzten Richtung?“

Sie wirft mir einen undefinierbaren Blick zu und meint trocken:

„Ich habe auf dich gewartet. Ist gestern noch irgendetwas gewesen?“.

Lissi hängt sich wirklich voll und ganz in die Sache rein, fast so als würde es auch um sie gehen. Natürlich bin ich froh über jede Unterstützung die ich bekommen kann, aber langsam wird mir die Sache mit ihr etwas suspekt.

Schnell verwerfe ich die verschiedenen – wenn auch sehr absurden Gedanken und fange an ihr alles zu berichten.

„Mal sehen ob dein Masterplan wirklich so funktioniert wie du dir das alles ausgemalt hast. Zu wünschen wäre es dir ja und hoffentlich ist Sandra der ganze Aufwand auch wert. Wäre ja wirklich schade, wenn sie dich nur als Spielzeug sieht.“

Schon wieder eine Kritik an Sandra. Langsam scheint es mir so, als hätte Lissi eine leichte Aversion gegen Sandra. Gut, sie ist der Grund für den ganzen Trubel in den sie nun auch mit rein gezogen worden ist, dennoch ist es doch kein Grund Sandra deswegen so streng zu verurteilen. Natürlich könnte sie recht haben, mit dem was sie sagt. Aber das sind Dinge über die ich mir vorerst keine Gedanken machen sollte – und vor allem nicht will.

Im 2. Stock verabschieden wir uns und Lissi macht sich auf den Weg zu Latein. Ich steige weiter die alten Steintreppen zu dem in dritten Stock liegenden Chemiesälen hoch. Auf den Treppen herrscht reges Treiben. Links und rechts sitzen Schüler und schreiben panisch irgendwelche Hausaufgaben ab oder versuchen sich noch krampfhaft auf mögliche bevorstehende Tests vorzubereiten.

Oh ja, an diese Zeit in der Unter- und Mittelstufe kann ich mich noch sehr gut erinnern.

Wie es in der Oberstufe so üblich ist, tauchen die meisten Schüler am Freitag verspätet oder gar nicht erst zum Unterricht auf. So ist es auch diesen Freitag. Als ich den Chemiesaal mit den fünf Sitzreihen und den recht eng gehaltenen Mittelgang erreiche, sind nur wenige Schüler anwesend, obwohl es zwei Minuten vor Unterrichtsbeginn ist.

Tobias ist einer von ihnen. Ich nutze die Gelegenheit, dass es nur wenige neugierige Ohren gibt und spreche ihn direkt an.

„Guten Morgen Tobias“. Ich schenke ihm ein süßes Lächeln, das so künstlich ist, dass ich wahrscheinlich ausspucken würde, wenn ich mich selber im Spiegel ansehen müsste.

Tobias scheint das nicht bewusst zu sein, sondern er grüßt freudestrahlend zurück.

„Guten Morgen Claudia, Mensch, du bist ja echt in letzter Zeit total nett und umgänglich. Mir gefällt dein Charakterwandel.“

Er zwinkert mir zu. Ups, das gehört jetzt nicht zum Plan.

Ich übergehe seine Anspielung und komme gleich zum Punkt.

„Was hältst du davon, wenn wir uns am Samstag mit Lissi zusammen auf einen Kaffee treffen und noch ein bisschen was für den Fall der Wiederwahl vorbereiten? Es gäbe da noch ein paar Dinge die ich dringend besprechen möchte und ich finde, dass das in der Schule immer so ... ungemütlich ist.“

Himmel, das klingt ja wie eine billige Anmache. Matthias unser Klassenprimus schaut mich über den Rand seiner rahmenlosen Brille fragend an und versenkt auch sofort wieder seinen Nase über einem Buch über die Relativitätstheorie, als ich seinen Blick erwidere.

Tobias scheint über meine Frage ebenso erstaunt wie Matthias, lehnt sich lässig zurück und richtet seinen Gürtel.

„Stimmt, das wäre sicherlich eine gute Idee, aber warum willst du denn Lissi dabei haben?“.

Blöde Frage, damit ich einen Grund habe von dort abzuhauen. Mittlerweile ist mir ziemlich klar, von welcher Richtung der Wind weht. Tobias denkt wahrhaftig, dass ich was von ihm will und will mir die Chance geben, dass ich ihn alleine treffen kann. Wirklich überaus freundlich von ihm. Ob diese Taktik bei Frauen wirklich hin und wieder funktioniert?

„Lissi hat meist ziemlich brauchbare Ideen, deshalb hätte ich sie gerne dabei. Also machen wir um 13:00 Uhr im Gusto. Du weißt ja wo es ist. Ich muss an meinen Platz, der Dünster kommt.“

Wie bestellt watschelt der dicke Physiklehrer in das Klassenzimmer mit seiner abgenutzten braunen Lederaktentasche unter dem Arm hinein und klatscht diese lieblos auf das mit Fliesen bedeckte Pult.

Sandra, die normalerweise in Chemie wieder neben mir sitzt, kommt heute nicht in die Schule. Ich frage mich ob sie einfach nur krank geworden ist oder ob ihr Fehlen mit ihrem Verhalten von gestern in Verbindung steht.

Bevor ich meine Gedanken weiter fortführen kann, fordert unser Lehrer uns auf, die Trennwände aufzustellen und unsere Schreibutensilien heraus zu holen. Wir schreiben einen Test.

Anscheinend müssen das viele Leute aus der Klasse geahnt haben, denn es sind nur 12 von 29 Schülern anwesend. Ich gehöre nicht zu den Leuten die es geahnt haben.

Nach dem Test lasse ich Mandy, die ziemlich verzweifelt drein schaut und immer wieder vor sich hin hüstelt, einen Zettel zu kommen mit dem Inhalt: „Samstag geht klar“. Sie nickt mir kurz zu und wirft den Zettel unachtsam in ihre weiße Handtasche mit den übergroßen Strasssteinen.

Die Pause verbringe ich im Kollegstufenzimmer, in der Hoffnung noch etwas kalten Kaffee vom Morgen ergattern zu können, da der von heute Morgen offenbar seine Wirkung verfehlt hat.

Ich habe Pech und der Kaffee ist bis auf den letzten Tropfen aufgebraucht. Immer diese koffeinabhängigen Schüler.

Ein Stapel weißer Blätter fällt in mein Blickfeld, der neben der alten Kaffeemaschine liegt.

Ich nehme mir einen Zettel und schaue drauf. Eine Liste aller Schüler aus der 13. Klasse mit Telefonnummer und Adresse. Stimmt ja, das war ja einer unserer Verbesserungsvorschläge vom letzten Jahr. Mir ist gar nicht bewusst gewesen, dass der schon so früh in die Tat umgesetzt wurde. Normalerweise dauert so etwas immer Monate. Da fällt mir ein, dass mich Sandra ja auch vor einiger Zeit angerufen hat und ich mich nicht daran erinnern könnte, ihr jemals meine Nummer gegeben zu haben.

Mit den Augen fahre ich die alphabetisch sortierten Nachnamen nach. Da ist es. Klinger. Sandras Anschrift und Heimnummer, wie ich feststellen muss.

Den Zettel stopfe ich schnell in meine schwarze Umhängetasche und mache mich auf den Weg ins SMV Zimmer, in der Hoffnung da noch etwas von dem dunklen Lebenselixier zu ergattern.

Rasch schließe ich die weiße Haustür auf und öffne sie so schwungvoll, dass ich beinahe Satan, der vor der Tür gewartet hat, erschlagen hätte. Mit zwei schnellen Bewegungen streife ich meine braunen Turnschuhe von den Füßen und feuere sie in die Ecke in der schon meine anderen Schuhe liegen. Ohne auf Satans wildes Kläffen zu achten, nehme ich immer gleich drei Stufen unserer hellbraunen Nussholztreppe mit dem roten Eisengeländer. Ich knalle meine ebenfalls weiße Zimmertür hinter mir zu und werfe meinen neongrünen Schulordner und meine Schultasche unachtsam auf das massive Holzbett mit dem weißen Bettbezug. Hastig packe ich mein Telefonhandgerät und stürme zurück zum Bett und krame wild in meiner Tasche, bis ich die Liste heraus geholt habe. Ich wähle Sandras Nummer und atme noch einmal tief durch. Satan ist vor meiner Tür kurz vorm Durchdrehen und ich lasse ihn herein. Sogleich springt er auf die Couch und sieht mich strafend an. Ich drücke auf das grüne Telefonsymbol. Das Telefon wählt und ein Freizeichenton ist zu hören.

Ob es eine gute Idee ist sie anzurufen? Vielleicht hat sie eine schwere Mandelentzündung und kann gar nicht sprechen. Noch bevor ich die Möglichkeit habe, wieder aufzulegen, meldet sich eine freundliche Frauenstimme am Telefon.

„Guten Tag, bei Klinger.“ Es ist Sandras Mutter Edith.

„Ja, hallo, hier ist die Claudia, die Tochter von der Christiane. Ist denn Sandra zu sprechen?“, frage ich so freundlich wie ich kann, mit der leisen Hoffnung, dass Sandra doch nicht zu Hause ist. In meinem Magen kribbelt es.

„Ach, Claudia. Schön das du anrufst. Sandra ist in ihrem Zimmer. Moment bitte.“

Verdammt, sie ist doch da und Satan, schau mich nicht so an. Ich weiß was ich tue – glaub ich.

Es vergehen einige Sekunden, bis sich eine mir vertraute Stimme meldet.

„Hallo Claudia“.

„Hallo Sandra, ich wollte eigentlich nur fragen wie es dir geht, weil du doch heute nicht in der Schule warst.“

Vor lauter Nervosität fange ich an, an den Nähten des Volleyballs herum zu fummeln, den ich mir zuvor auf den Schoß gelegt habe.

„Achso, ja, ich hatte heute eigentlich keine Lust. Außerdem war ich der Meinung, dass der Dünster heute etwas in Chemie schreibt, weil wir ihn doch gestern so ausgelacht haben.“

Hätte sie mir das nicht sagen können? Oh man, diese Frau hat mich eiskalt in die Ex rein laufen lassen.

„Stimmt, wir haben tatsächlich was geschrieben. Also geht’s dir gesundheitlich gar nicht schlecht?“

„Nein, gesundheitlich nicht.“

Auf so eine Aussage gehört es sich normalerweise zu fragen, wie es denn mit dem geistigen Wohlbefinden aussieht. Nicht so bei Sandra, da diese es mir wahrscheinlich eh nicht auf die Nase binden würde, wie es mit ihrem Innenleben aussieht.

„Das freut mich zu hören. Hättest du denn Lust am Samstagabend etwas zu unternehmen. Ich meine, es ist sicherlich nicht schön, das ganze Wochenende zu Hause zu sitzen und nichts zu tun.“

Innerlich bereite ich mich schon auf eine schwache Ausrede, die bloße Wahrheit oder einen gemeine Abfuhr vor.

„Klar, gerne. Ab wann hättest denn Zeit?“

Mit einem Mal klingt Sandra ziemlich aufgeschlossen und nicht mehr so desinteressiert wie zu Beginn unseres Gespräches.

Erleichtert und verwundert atme ich auf.

„Ich denke um neun wäre eine gute Zeit. Soll ich dich dann abholen?“

„Ja klar. Ach und ich lass mich überraschen wo du mich hinbringst. Haben wir Hausaufgaben auf?“

Das Gespräch plätschert noch mit ein wenig Smalltalk vor sich hin.

Als sie auflegt, macht mein Herz einen Sprung. Ich muss daran denken, was Sandra gesagt hat. 'Ich lass mich überraschen wo du mich hinbringst'. Das klingt ja fast so, als wäre ich ihre Liebhaberin und ich hätte sie gerade zu einem romantischen Rendezvous eingeladen. Glücklich überlege ich, was wir machen könnten, da poppt auch schon wieder ein MSN-Fenster auf. Langsam hege ich eine Aversion gegen dieses Programm. Es ist mal wieder Mandy. Diesmal will sie sich nicht mit mir am Nachmittag treffen, sondern möchte nur die genaue geplante Vorgehensweise für morgen erfahren.

Mit Lissi ist dann auch alles ziemlich schnell abgeklärt und ausgemacht. Sie hat sogar eine Freundin gefunden, die ohne viel zu fragen zu der vereinbarten Uhrzeit anruft und die Geschichte mit dem Opa erzählt. Es könnte nicht besser laufen. In meiner Euphorie bemerke ich nicht wie Satan die Schokoladenkekse frisst, die auf meinem hölzernen Sofatisch liegen.

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