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Halt dich an deiner Liebe fest

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Es sind verflucht nochmal viel zu viele gottverdammte Stufen bis zu meiner verfickten Wohnung in diesem Dreckshaus ohne beschissenen Aufzug.

Eine Million Stufen und ebenso viele Flüche später erreiche ich mit meinen tonnenschweren Einkaufstaschen mein zugemülltes Zuhause, sortiere schnell das Zeug aus dem Einkauf, das gerne gekühlt oder gar gefroren werden möchte, lasse den Rest irgendwo auf dem Boden liegen, trete dem Computer kurz gegen den Anschalter, angele mir eine Limoflasche aus dem Flur und werfe mich in den Sessel vorm Monitor.

Als sich der Rechner endlich hochgequält hat setzt er mir auch gleich meine Mails vor. Viel Müll, ein Newsletter von der Videothek, einer von Nickstories, meine Mutter erinnert mich daran meine Schulden zurückzuzahlen, und schließlich noch eine Mail von Fabien.

Mit Fabien bin ich zur Schule gegangen, er war mein erster Freund, und seitdem wir uns verhältnismäßig freundlich getrennt haben halten wir uns noch mehr oder weniger regelmäßig über unser jeweiliges Leben auf dem Laufenden.

Heute schreibt er über den frischen Januarschnee vor seinem Haus, von den Feierlichkeiten zum Jahreswechsel und davon wie alleine er sich fühlt. Klar hängt er mit Leuten rum, bringt auch mal nen Jungen mit nach Hause, aber anscheinend fühlt er sich als fehlten ihm richtige Freunde und vor allem ein richtiger Freund.

"Manchmal glaub ich echt, wenn ich morgen nicht mehr da wäre, es würde sich keiner fragen wo ich bin," schreibt er. Und dann gleich weiter: "Aber keine Wange (ich weiß auch nicht warum er immer Wange statt Bange schreibt), ich halte das Leben schon durch." Das will ich hoffen für ihn. Als er das letzte Mal so dumme suizidale Andeutungen gemacht hat, habe ich ihn gepackt, geschüttelt und ihm ins Gesicht gezischt wenn er das täte, dann käme ich hinterher, und dann würde ich ihm zeigen was es wirklich heißt ein beschissenes Leben (danach) zu haben. Ich denke, das hat er sich gemerkt.

Ich wühle eine Packung Kekse aus meinen verstreuten Einkäufen und mache mich daran, die Mail zu beantworten. Eigentlich habe ich ihm das schon tausend mal erklärt, aber ich tu es doch gerne immer wieder.

"Fabien,

dich kann man auch nicht ändern, oder? Erinnerst du dich an damals, zu unserer Zeit? 'So verliebt, man könnte die ganze Welt küssen'? Und wie ich schon danach meinte, es hält uns doch niemand davon ab, auch sonst so zu fühlen. Geh raus und fühl dich gut, hab die Welt lieb, und dann hat sie dich auch lieb."

Es ist wirklich immer die selbe Qual mit ihm.

***

Fabiens nächste Mail kommt im Mai. Nachts um halb vier, als ich eigentlich gerade ins Bett gehen will.

Seit Wochen schon haben ihn die Frühlingsgefühle voll erwischt. Dieser Junge den er an der Uni kennengelernt hat ist ja sooooo... er schwärmt Absatz nach Absatz, bis er dann zum kritischen Punkt an der Sache kommt - bis auf gelegentlichen Small Talk zwischen den Vorlesungen ist ziemlich Funkstille. Und doch: "Manchmal glaube ich, ich komme von ihm los, und dann fragt er mich einmal kurz wie spät es ist, lächelt mich an, und ich bin wieder total geschmolzen. Dann träume ich nachts sogar von ihm, und wenn er mich gerade küssen will wach ich auf, und dann?"

Dann heulst du dich bei deinem Ex aus. Und der notiert sich innerlich, morgen genug Koffein mit zur Arbeit zu nehmen, und spielt den Klempner.

"Hey Ex-Schatzi,

voll erwischt also, ja? Tja, da würde ich mich ja eigentlich gerne für dich freuen, denn es klingt ja schon deutlich besser als beim letzten Mal, aber, wie ich ausnahmsweise gerne zugeben werde, noch nicht ganz optimal. Was rät also Dr. Sommer heute? Loslassen oder die Hoffnung nicht sinken lassen? Finde vielleicht deinen Mittelweg. Freu dich auf jeden Tag, an dem du ihn in der Uni sehen kannst (und auf jeden anderen Tag natürlich auch). Aber blockiere dich nicht selber. Lass nicht die anderen Hübschen da draußen an dir vorbeiziehen, während du daheim sitzt und dem einen hinterhertrauerst. Und wenn er doch noch zu dir kommt, na umso besser."

***

Das ungemütliche Novemberwetter treibt mich von der Arbeit nach Hause, und die Aussicht auf Wärme lässt mich alle Stufen auf einmal hinauf fliegen.

Mein Rechner läuft noch, weil ich morgens wohl vergessen habe, den Ausknopf zu treten. Der Donnervogel gibt mir zu verstehen, er hätte Post für mich.

Fabien inmitten der schönsten Herbstdepri. Sein Angeschmachteter fragt mittlerweile lieber seine neue freundin nach der Uhrzeit, und auch sonst ist kein netter Junge vorbeigekommen. "Alles is Scheiße und ich sitze mittendrin. Und damit ich nicht mehr ständig enttäuscht aufwache und merke, dass ich wieder viel zu frohes Zeug geträumt habe, liege ich jetzt nachts stundenlang wach, bis ich übermüdet und unruhig und frierend wegdöse. Und allein. Das hauptsächlich."

Was soll man da noch groß schreiben?

"Na du Unglücklicher,

warum geht es uns schlecht, wenn unser Begehren nicht erfüllt wird? Ist es nur das pure Selbstmitleid, die Trauer um die eigene Einsamkeit, alles ein großes egoistisches Selbstbeflennen?

Ich glaube nicht. Denn ist es nicht auch die Traurigkeit darüber, auf seiner eigenen Liebe sitzen zu bleiben? Nicht das geben zu können was man selber vermisst?

Wenn du das nächste mal frierend nachts im Bett liegst, dann stärke dich und deine Liebe mit einem großen Pott Schoki, futter Kekse dazu, dann schlaf, und am nächsten Morgen nimmst du deine aufgestaute und frisch gestärkte Liebe und führst sie hinaus, und suchst ihr ein neues Zuhause. Für dich UND für die Welt. Frohe Weihnachten. (Das ist ein Befehl!)"

Nachwort

Der Titel sowie die Inspiration gehen zurück auf Rio Reiser.

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