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Nachtexpress

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Die Kälte schoss ihm in die Glieder als er aus dem Zug auf den kleinen Bahnhof trat. Sie ergänzte sich perfekt mit der inneren Kälte, die ihn auf den letzten Minuten seiner Fahrt überkommen hatte. Die Tür zu dem kleinen, heruntergekommenen Warteraum war nicht verschlossen, und er trat ohne Zögern ein und suchte nach dem Lichtschalter.

Als der grelle, kahle Schein der Neonröhren auf die verblasst gelben Wände traf, fiel sein Blick auf den Schaukasten mit dem ausgehängten Fahrplan. Der Wechsel auf den Winterfahrplan lag erst kurze Zeit zurück, und das frische, starke Papier bot dem Betrachter einen unwirklichen Kontrast.

Fröstelnd sah er sich um. An mehr als einer Stelle bröckelte der Putz von der Wand, und einige wenige, die sich in dieser Abgeschiedenheit einen festen Stift oder gar eine Spraydose hatten beschaffen können, hatten einfache Schriftzüge hinterlassen.

Wieder glitt sein Blick auf den Fahrplan. Obwohl er genau wusste, daß der Zug aus dem er gerade gestiegen war der letzte für heute war. Und selbst wenn es noch einen gegeben hätte - er hätte nicht seine übliche Strecke fahren können.

Die Bänke sahen hart aus, aber sie würden für die Nacht sein Bett sein müssen. Falls er schlafen konnte.

Draußen setzte sich der Zug schwerfällig in Bewegung. Durch den ganzen Zug war er noch gegangen, kurz vor dem Aussteigen. Nur zwei oder drei andere Fahrgäste. Kein Schaffner. Kurz hatte er überlegt etwas zu sagen, aber es hätte niemand auf ihn gehört.

Noch einmal trat er auf den Bahnsteig und blickte den beiden roten Lichtern hinterher. Aus dem letzten Wagen trat in großen weißen Wolken der Dampf der Heizung aus. Als der Zug unter dem Licht der letzten Bahnhofslaterne weggetaucht war, war nur noch kurz eine rot leuchtende Wolke zu sehen, wie ein blutgetränktes Tuch, das in der dunklen Nacht versank.

Ein sehr kitschiges Zeichen, dachte er bei sich, und vollkommen überflüssig. Er hatte es schon vorher gespürt, und deswegen stand er jetzt hier an diesem Bahnhof weit abseits seines Ziels und auch weit von irgendeinem ihm bekannten Ort entfernt.

Mühsam riss er seinen Blick von der Stelle los, an der die Bahn ins Dunkel getaucht war, und trat zurück in den kahlen Warteraum. Normalerweise war eine Nacht am Bahnhof zu verbringen nichts, was ihm Probleme bereitete. Allerdings hatte es sich dabei in der Vergangenheit um belebte Bahnhöfe in großen Städten gehandelt. Bahnhöfen mit Menschen, auch wenn es nicht immer die angenehmste Gesellschaft war. Bahnhöfe mit Bahnangestellten zu denen man hätte gehen können.

Sie hätten ihm auch nicht geglaubt.

Weil seine Augen kein anderes Ziel fanden, studierte er weiter den Fahrplan, bis ihn das Geräusch der aufgestoßenen Tür herumfahren ließ.

Trotz der kalten Nacht war Er nur leicht bekleidet. Hätte er Ihn irgendwo auf der Straße oder im Cafe gesehen, wäre er sicher erfreut gewesen über den schönen Anblick. Hier, in dieser absurden Umgebung, fiel ihm zuerst auf, was für eine Energie der neue Besucher mitbrachte.

Um Ihn herum leuchteten die blassen Farben des alten Warteraumes wieder gesund und frisch. Gleichzeitig wirkte die Nacht hinter Ihm noch dunkler und kälter.

»Äh... Hallo.« Mehr fiel ihm nicht ein. Der Fremde grüßte zurück, nannte ihn sogar beim Namen. Woher wusste Er...

»Ich weiß nicht nur das. Ich weiß auch, wieso du hier bist. Was du in diesem Zug gefühlt hast.«

Ob Er auch aus dem Zug gestiegen war? Vielleicht weil er sein besorgtes Gesicht beim Gang durch die Abteile bemerkt hatte? Es hatte mal einen Film gegeben, in dem hatte er gesehen wie dieses Mädchen dem Jungen mit der Vision gefolgt und deswegen nicht gestorben war. Aber sein Gegenüber war nicht in dem Zug gewesen. Das Gesicht wäre ihm aufgefallen, dessen war er sich ganz sicher. Also vielleicht doch aus dem Dorf?

»Was machst du denn hier um die Zeit?« konnte er sich durchringen zu fragen.

»Was würdest du denn gerne, daß ich mache?« kam die Gegenfrage, und Er trat aus der Tür und setzte sich auf eine der Bänke, direkt neben die Stelle, an der er sein Gepäck abgelegt hatte.

Je mehr er drüber nachdachte, desto weniger wollte er diese Frage beantworten. Außerdem war das hier weder der Ort noch die Zeit.

»Setz dich doch«, sagte Er in seine Überlegungen hinein. Zögernd kam er dem nach, was ihn nur entfernt an eine Bitte erinnerte. Zwar setzte er sich auf die gleiche Bank, auf der auch Er Platz genommen hatte, hielt jedoch einen misstrauischen Abstand ein.

»Wie bist du hierhergekommen?« versuchte er seine Frage anders zu formulieren.

»Genau wie du.«

»Aber du warst nicht in...«

»...im Zug? Neinein, ich bin nicht mit einem der Züge gekommen. Was ich meine ist, ich bin aus dem gleichenGrundhier wie du.«

»Weil du auch etwas gefühlt hast?«

»So kann man es sagen.«

»Hast du auch...«, er vermochte es noch nicht recht ausdrücken. So etwas war ja auch nicht normal. »Hast du auch gefühlt, daß etwas mit dem Zug...«

Als Er den Kopf schüttelte hielt er inne.

»Nein, nicht so genau. Ich habe gespürt daß du hier sein würdest, und daß du meine Hilfe brauchst.«

Langsam wurde es ihm wirklich etwas unheimlich. War er beim Lesen seines Fantasyromans eingenickt und träumte all das hier? Nein, er war sich sicher daß das Buch gut verstaut in seinem Rucksack ruhte, und daß der Warteraum und der Bahnhof und die blassen Wände alle sehr real waren. Nur bei seinem Gast war er da nicht ganz sicher.

»Siehst du«, fuhr Er fort, »da ist schon deine erste Frage.«

Nun rechnete er fest damit, Er würde ihm jetzt seine Frage sagen. Doch offenbar wartete Er darauf, daß er sie selber stellte.

»Wer... bist du? Oder was? Und..«

»Guter Anfang, also nichts überstürzen. Ich könnte anmaßenderweise etwas sagen wie 'Ich bin dein Schutzengel', aber das wäre etwas zu viel gesagt. Doch es geht vielleicht etwas in die Richtung.«

Für einen Moment guckte er Ihn nur zweifelnd an. Hatte Er das gerade gesagt?

»Ich weiß, es klingt komisch. Vielleicht sollten wir lieber über dich reden.«

Was gab es denn über ihn zu reden?

»Ich werde dir jetzt keine aufregende Abenteuergeschichte auftischen, wie 'Du hast außergewöhnliche Fähigkeiten unter Beweis gestellt als du gespürt hast, daß dieser Zug entgleist, und auch...«

Es war das erste Mal, daß es Wort für Wort bis in die Tiefen seines Kopfes vordrang. Der Zug würde verunglücken, schwer offenbar, und er hatte es vorrausge...spürt. Diese Erkenntnis zum ersten Mal aktiv verinnerlich ließ ihn erschaudern.

»...keine Szenarien von Geheimdiensten, die geheime Eliten aus Menschen mit besonderen Fähigkeiten zusammenstellen. Ich bin da, um dir selber zu helfen, mit dieser Situation klarzukommen.«

Irgendetwas in ihm wallte für einen Moment auf. »Mir zu helfen? Mit der Situation? Mir geht es doch toll, ich sitze an einem verlassenen Bahnhof in der Mitte von 'Überhaupt Nichts', ganz in der Nähe von 'Total Vergessen', und es ist saukalt und ich habe Hunger und Durst, aber im Vergleich zu den paar Leuten in der Bahn habe ich es doch eigentlich ganz gut getroffen oder?«

Dann schwand seine Wut und er sackte wieder in sich zusammen.

Einen Meter von ihm weg saß Er mit einem verständnisvollen Lächeln im Gesicht, aber auch mit einem sorgenvollen Ausdruck in den Augen. Wieder sprach Er:

»Siehst du? Das ist es was ich meine. Die Situation überfordert dich. Und ich kann dich ja auch verstehen.«

»Und jetzt?«

Kurz sah Er aus, als müsste Er angestrengt nachdenken. Dann erhellte sich Sein Gesicht.

»Jetzt könnten wir etwas Würfeln spielen!«

»Äh... Was?«

»Nicht? Naja muss ja auch nicht... Was würdest du denn jetzt gerne tun?«

»Ich weiß nicht. Sagtest du nicht du willst mir helfen? Musst du mich jetzt nicht eigentlich mit irgendwelchem Psychiater Kram zulabern?«

Für einen Moment dachte er, Er würde anfangen zu lachen, doch Er ließ es bei einem Lächeln und sagte: »Nein nein, an sich musst du das schon für dich selber verarbeiten. Ich leiste dir eigentlich nur Gesellschaft. Also?«

»Also was?«

»Na, was du gern tun würdest.«

Noch einmal musterte er den Körper seines Gegenüber, und obwohl er es wollte konnte er nicht widerstehen zu sagen: »Oh, ich glaube nicht, dass du das wissen möchtest.«

Der Angesprochene grinste nur. »Oh, ich glaube schon, dass ich das wissen möchte.«

»Na gut. Dann würde ich dich wahrscheinlich gerne... näher kennenlernen.« Noch einmal ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. »Möglichst an einem wärmeren Ort.«

Neben ihm hört er nur ein Kichern. »Siehst du, war doch garnicht schwer. Aber würdest du hinterher nicht grübeln, ob ich mich darauf nur eingelassen habe, um dir in der Situation zu helfen?«

»Oh, damitkäme ich klar.«

»Na wenn das so ist«, sagte er, schloss kurz die Augen, und er spürte wie es im Raum merklich wärmer wurde.

N-D

Nachwort

So, das war's auch schon. Hundert Gummipunkte wenn mir jemand sagt, wieso Er vorschlägt Würfeln zu spielen ;)

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