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Drei Leben - Ein Weihnachtswunder
Weihnachtschallenge 2024
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Informationen
- Story: Drei Leben - Ein Weihnachtswunder
- Autor: LeChuck
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Weihnachten, Challenge
Bayerisch Sibirien - nicht umsonst hatte diese Gegend ihren Namen erhalten und machte demselben gerade an jenem Tag alle Ehre. Eigentlich sollte man glauben, dass man nach Jahrzehnten der Bahnfahrt durch dieses Gebiet gelernt haben sollte, im Schienenverkehr mit diesen widrigen Bedingungen zurechtzukommen. Doch Frau Holle meinte es an diesem 24. Dezember offenbar allzu gut mit denen, die sich nach einer weißen Weihnacht gesehnt hatten und schüttelte kräftig sämtliche Betten über Hochfranken und dem Fichtelgebirge aus, sodass die Fahrt des spärlich besetzten RE31 zwischen Hof und Nürnberg vorzeitig ein Ende fand. Zwar schaffte es der Zug noch aus Oberfranken hinaus, musste sich dann aber in der angrenzenden Oberpfalz den Schneemassen geschlagen geben, wo das Flockentreiben in einen regelrechten Sturm überging. Die Reisenden wurden mittels Ansage informiert, dass es erst einmal für sie nicht mehr weiterginge und das Zugpersonal über die weitere Entwicklung informieren werde.
Adrian schaute aus dem Fenster hinaus in den einsamen Bahnhof und versuchte, durch die dichten Schneeflocken hindurch Lichter von menschlicher Behausung um sie herum zu erkennen. Neusorg, so hatte der Schaffner ihren außerplanmäßigen Halt genannt. Wie passend, dachte sich Adrian, nachdem er es endlich geschafft hatte, seine alten Sorgen hinter sich zu lassen. Die resolute Zugbegleiterin mit dem charmant-autoritären sächsischen Akzent ging durch die Reihen, um sich einen Überblick über die Passagiere zu verschaffen. Am Heiligabend am späten Nachmittag waren bei dieser Wetterlage nicht viele unterwegs. Zufrieden nickend ging sie zur Lokführerkabine zurück und wenig später kam die Durchsage, dass man sich um Unterkünfte für alle Reisenden für diese Nacht kümmern werde. Der Zugverkehr auf dieser Strecke werde bis auf Weiteres eingestellt, man sei aber zuversichtlich, dass die Fahrt am nächsten Morgen fortgesetzt werden könne.
Zwei Reihen hinter Adrian echauffierte sich schließlich lautstark ein elegant gekleideter Mann, den Adrian eigentlich eher in der ersten Klasse verortet hätte, als hier unter dem gemeinen Volk. Der Anzugträger stand nach seiner Schimpftirade über die Deutsche Bahn schließlich auf und ging auf Adrian zu, der hoffte, er würde vorbeilaufen und ihn nicht ansprechen. Doch wie so oft, hatte Adrian falsch gehofft und der Mann, vielleicht Ende 30, Anfang 40, mit schmutzig blonden gegelten Haaren blieb stehen, die Arme zu beiden Seiten auf die Sitzlehnen gestützt und fragte an Adrian gewandt, ob ihm dieser nicht zustimme, dass das eine unheimliche Sauerei sei und mal wieder so typisch Deutsche Bahn. Man hätte den Zug gar nicht abfahren lassen dürfen. So viel vorausschauende Planung könnte man doch wohl erwarten. Adrian zuckte peinlich berührt mit den Schultern und meinte, das sei wohl höhere Gewalt. Und bevor der Anzugträger antworten konnte, drehte sich auf der gegenüberliegenden Seite zwei Reihen weiter vorne ein anderer Mann um und meinte provozierend: “Sie hätten sich doch auch beschwert, wenn wir nicht losgefahren wären.”
“Mit Ihnen rede ich doch gar nicht", erwiderte der elegant gekleidete Herr, dessen Auftreten jedoch gar nicht vornehm wirkte. Mr. Armani, so hatte Adrian ihn spontan getauft, ohne eine Ahnung davon zu haben, von welcher Marke der Anzug tatsächlich stammte - in Anbetracht von Adrians Kompetenz in Sachen Anzuglabels, hätte es durchaus auch ein Modell von C&A sein können - nahm nun einfach im Sitz gegenüber von Adrian Platz, die Unterarme auf den Knien, die Hände gefaltet. Ungeniert setzte er seinen Monolog fort und erklärte Adrian, dass er sich das nicht gefallen lassen werde und die DB mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen habe. Und überhaupt habe es sowas nicht gegeben, als die Bahn noch ein Staatskonzern gewesen sei. Dies hatte offensichtlich auch die Oma mitgehört, die am Ende des Abteils saß und aus der Entfernung ihre Zustimmung krächzte und davon erzählte, dass sie nun leider ihre Enkelkinder am Heiligabend nicht sehen könne. Dabei habe doch gerade der Ludwig so dem Besuch seiner Omi entgegengefiebert. Mr. Armani, sichtlich erfreut darüber, eine Mitstreiterin gefunden zu haben, ging zur Oma und durfte sich die Sprachnachrichten von Enkel Ludwig an seine Omi anhören und ereiferte sich schließlich mit der Dame weiter über ihre missliche Lage.
Der Mann, der Herrn Schickimicki Kontra gegeben hatte, wandte seinen blonden Schopf in Richtung Adrian und verdrehte seine eisblauen Augen über das neue Lästerpärchen, was Adrian nur mit einer schiefen Grimasse kommentierte. Er wollte einfach in nichts hineingezogen werden, mit niemandem reden, wenn es sich vermeiden ließ. Sollten sie doch alle fluchen und streiten, das war ihm doch egal, solange er nichts damit zu tun hatte.
Dann kam laut Namensschild Frau Engel, die Schaffnerin, zurück ins Abteil und verkündete den Anwesenden in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, die frohe Botschaft, dass man für alle 15 Reisenden eine Unterbringung organisieren konnte. 12 Personen könne man bei Mehrfachbelegung im fußläufig erreichbaren Hotel unterbringen und hier hätten natürlich die Familie mit den drei kleinen Kindern, die drei älteren Herrschaften, die zwei allein reisenden jungen Frauen und der Diabetiker sowie der Rollstuhlfahrer Vorrang. Für die drei Herren - und Adrian, Mr. Armani und dem Blondschopf wurde sofort klar, dass damit sie gemeint waren - habe man ein kleines Ferienhaus in einem 2 km entfernten Dorf als Schlafstätte für die Nacht auftun können.
Ein spöttisches Lachen entfuhr daraufhin Mr. Armani und er fragte, wie sie bei dem Schneesturm dort hingelangen sollten, es käme doch bei diesen Straßenverhältnissen kein Auto vorwärts und ob man etwa Hundeschlitten einsetzen wolle. Bei dem Gedanken an eine Schlittenfahrt kam Adrian sofort die Folge von Michel aus Lönneberga in den Sinn, bei der Michel, um seinen Freund Alfred zu retten, sich alleine durch den Schneesturm von Katthult nach Mariannelund mit dem Schlitten und Pferd Lukas aufmacht. Als Kind hatte er Michel immer gerne geschaut, gerade wie jetzt zur Weihnachtszeit. Adrian schmunzelt vor sich hin.
“Da scheint sich wohl jemand auf eine Schlittenfahrt zu freuen”, grinste der Blonde, dem Adrians Reaktion nicht entgangen war. Frau Engel preschte rigoros dazwischen und erklärt, dass die Besitzer des Ferienhauses einen Bauernhof hätten und zudem mit dem Winterdienst in dieser Gegend beauftragt seien. Der Bauer und sein Sohn würden die drei Herren auf ihren Traktoren mitnehmen und dann ihren Räumdienst fortsetzen.
“Na, das kann ja heiter werden!”, bemerkte der feine Herr bei der Aussicht auf die Trekkerfahrt und erntete einen finsteren Blick von der Dame aus Sachsen, die ihm anschließend erklärte, dass sie jetzt später auch lieber bei ihrer Familie feiern würde, sie aber die Nacht stattdessen im Bahnhof mit dem Lokführer in der DB-Unterkunft für das Personal verbringen müsse.
“Hört sich nach einer heißen Weihnacht an. Sieht er denn gut aus, der Lokführer?”, fragte Blondie frech.
“Weil Weihnachten ist, will ich Ihre Bemerkung mal überhört haben, junger Mann!”, erwiderte Frau Engel und wedelte mit dem Zeigefinger.
Felix hob entschuldigend die Hände, ohne dass sein Grinsen aus dem Gesicht verschwand und zwinkerte dem jungen Kerl, der sich aus allem rauszuhalten schien, zu, welcher seinem Blick jedoch auswich. Der Typ könnte auch mal ein bisschen entspannter sein, dachte Felix bei sich und holte schon einmal seine Sporttasche von der Gepäckablage. Mehr hatte er nicht dabei, mehr hatte er auch nicht gebraucht, weil ihm dort, von wo er herkam, alles, was er brauchte, zur Verfügung gestellt und ihm doch zugleich alles genommen worden war.
Schließlich kam von Frau Engel die erlösende Nachricht, dass die Traktoren angekommen seien. Natürlich drängelte sich das Anzuggroßmaul vor und erklärte, dass er sicher nicht auf die zweite Tour warte. Felix schaute seinen zurückhaltenden baldigen Ferienhausmitbewohner an, der nur scheu wie ein Reh mit seinem Trolley im Gang des Zuges stand, seine Jacke überzog und stumm blieb.
“Nach Ihnen!”, sagte Felix lächelnd und deutete mit einer ausladenden Geste und einer leichten Verbeugung Richtung Abteiltür.
“Danke”, nuschelte Bambi nur und ging an Felix vorbei nach draußen.
Hübsches Gesicht, dachte sich dieser, als er den dunkel gelockten, sportlichen Typen passieren ließ. Und der Arsch war auch nicht zu verachten. Aber was machte er hier eigentlich? Mit wildfremden Typen flirten und ihnen auf den Hintern schauen, obwohl sein Freund auf ihn wartete? Zumindest vielleicht auf ihn wartete. Ach, wem wollte er etwas vormachen? Wahrscheinlich wartete er nicht auf ihn und auch sonst niemand.
Felix beobachtete, wie die beiden Männer ihr Taxi der etwas anderen Art bestiegen und wie das Rehlein sportlich elegant das Gefährt erklomm und das Großmaul umständlich hinauf kletterte, sehr darauf bedacht, seinen edlen Zwirn nicht zu beschädigen. Dem arroganten Bastard hätte er einen Sturz vom Fendt gegönnt. Keinen schlimmen, aber einen kleinen Freiflug in den Schneehaufen zumindest.
Felix blieb alleine im Waggon zurück. Nur die Zugbegleiterin und der Lokführer waren noch da und plauderten munter bei Thermoskannenkaffee vor der Lokführerkabine. Der Engel aus Sachsen konnte ihm nichts weismachen: da lief später noch was in der Personalunterkunft. Felix holte sein Handy hervor, obwohl ihm der Ausgang dieser Aktion schon vorher klar war: keine neuen Nachrichten. Er öffnete den Chat mit Benedikt, doch die letzte Nachricht blieb jene von vor seiner Inhaftierung. Dabei hatte er ihn doch anfangs noch besucht und sie hatten regelmäßig telefoniert, bis vor zwei Monaten plötzlich Funkstille eintrat. Deshalb hatte Felix Benedikt vorsichtshalber geschrieben, ganz altmodisch per Briefpost, dass er am 23.12. entlassen werde. Doch kein Benedikt war in Sicht, als sich die Pforten der JVA St. Georgen hinter Felix geschlossen hatten, keine verpassten Anrufe, keine ungelesenen Nachrichten. Und als Felix Benedikts Nummer wählte, nahm niemand ab. Auch kein Empfangshaken von Felix’ Nachrichten bei Whatsapp. Das unverkennbare Motorgeräusch eines Traktors riss Felix aus seinen Gedanken und der Engel deutete ihm, dass er nun an der Reihe war.
David spähte durch das nächtliche Schneetreiben hinaus und konnte zumindest Umrisse von Gebäuden erkennen, sowie im Scheinwerferlicht des Traktors einen Garten mit einem Schaukelgerüst und Rutsche, welches noch aus dem Schnee herausragte. Sein Fahrer erklärte ihm mit schwerem oberpfälzischem Akzent, dass das vor ihnen die Ferienunterkunft “Gabis Gästehaus” sei, benannt nach seiner Frau, Gabi eben. Man habe auch eine eigene Website, sei aber ebenso auf Booking.com zu finden und habe dort eine Bewertung von 9,6. David blieb skeptisch. Unterkünfte, die Namen wie "Gabis Gästehaus” trugen, gehörten bislang nicht zu seinen Buchungsoptionen.
David zog den Kragen seines grau-schwarz melierten Wollmantels von Hugo Boss hoch und trat hinaus in die windige Kälte. Der Bauer hiefte für ihn freundlicherweise seinen Koffer nach unten, den David dann mühsam dorthin schleppte, wo angeblich der Eingang zum Gästehaus sein sollte und wo zumindest ansatzweise das schwache Licht einer Laterne zu erahnen war. Als er in das Haus eintrat, fand er bereits das eierlose, milchgesichtige Bürschchen mit einer Frau Anfang 60 in der Diele, von der er annahm, dass es sich um besagte Gabi handeln müsse. Genau als solche stellte sie sich auch gleich vor und duzte die Männer sofort. David klopfte ausgiebig seine Kleidung und Schuhe ab.
“Und da reden sie ständig von Klimawandel”, schüttelte er den Kopf.
“Ihnen ist schon der Unterschied zwischen Wetter und Klima klar?”, kam es nur tonlos von seinem Leidensgenossen.
So ein Klugscheißer, dachte David, behielt es aber für sich. Natürlich war ihm der Unterschied bewusst. Er wollte doch einfach nur Konversation betreiben und sein Repertoire an Gesprächsthemen in Gesellschaft mit Oberpfälzer Ureinwohnern war sehr beschränkt. Aber der bisher so schweigsame junge Hüpfer musste ihn natürlich gleich in die Aluhut-Ecke stellen, weil er keinen Spaß verstand.
“Ich glaube, ihr findet sicher noch ein Thema, das für den Heiligabend besser geeignet ist, als der Klimawandel”, versuchte Gabi freundlich zu vermitteln und erklärte, dass es im Dachgeschoss zwei Schlafzimmer gebe, einmal mit einem Doppelbett und einmal mit zwei Einzelbetten. Oben sei auch ein Badezimmer mit Wanne und hier unten im Erdgeschoss ein kleines Duschbad. Anschließend führte sie die beiden Männer in die relativ geräumige Küche und fragte, was sie an Lebensmitteln bräuchten. Sie könnte da schon das ein oder andere aus der Vorratskammer bringen und vom Abendessen habe sie noch frisch zubereitetes Sauerkraut übrig, falls Interesse bestehe. David meinte, es komme ja noch ein Herr und vielleicht habe der Lebensmittelunverträglichkeiten. Gabi nickte und sagte, sie komme gleich noch mal rüber und dann könne der andere Gast gegebenenfalls auch noch Wünsche äußern.
David schaute sich in der urigen Küche um und entdeckte zu seiner Freude einen alten Ofen, mit einer kleinen Herdplatte und Backofen, so wie er ihn noch von seiner Oma kannte, obwohl auch ein moderner Elektroherd eingebaut war. Oma Gerda war vor 8 Jahren mit 86 gestorben und David war mal wieder in der Weltgeschichte unterwegs, als das passierte, und hatte sie davor länger nicht gesehen, etwas, das er sich bis heute nicht verziehen hatte. Immerhin war Oma Gerda die Einzige, die David wirklich verstanden und ihn so akzeptiert hatte, wie er war. David warf einen Blick neben den Herd und stellte zufrieden nickend fest, dass auch Kohlebriketts vorrätig waren. Im Wohnzimmer hatte er außerdem einen Kachelofen gesehen, ebenfalls ganz traditionell mit grünen Nischenkacheln und einer kleinen Sitzbank drumherum. Ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit überkam ihn, das er schon lange nicht mehr verspürt hatte in der Welt, in der er die letzten 15 Jahre zu Hause war: der Welt des Erfolgs, des ständigen Wandels, der Hast und Hetze, der Gleichgültigkeit und menschlichen Kälte. Doch das alles war jetzt vorbei. Leider oder Gott sei Dank? David starrte den Ofen an und schüttelte schließlich die lästigen Gedanken ab.
“Worauf hast du Lust?”, fragte David an den jungen Mann gewandt, der ihn nur irritiert ansah. “Ich bin übrigens David”, stellte er sich vor, entschlossen, seinem Mitreisenden noch mal eine Chance zu geben, neu anzufangen und auch sich von einer anderen Seite zu zeigen, und streckte ihm die Hand entgegen.
“Adrian”, kam es knapp und kühl von seinem Gegenüber.
“Was willst du essen, Adrian?”, wiederholte David seine Frage.
“Wir werden wohl nehmen müssen, was da ist und uns nicht großartig was wünschen können", grummelte Adrian.
In das Grummeln hinein öffnete sich die Küchentür und Gabi trat mit dem dritten Schicksalsgenossen ein sowie einem großen Korb.
"Gemütlich", stellte der Blonde anerkennend fest, als er sich umsah.
Gabi stellte den Korb auf den Tisch und packte diverse Lebensmittel aus. Zum Vorschein kamen Kloßteig, eine Tupperdose mit Sauerkraut, Zwiebeln, Brot, Butter, Margarine, ein Töpfchen Griebenschmalz, eine Hartwurst, Scheibenkäse, Marmelade, Honig, Nutella, ein Päckchen Instantkaffee, ein Tetrapack Milch, ein Päckchen Sahne, passierte Tomaten sowie Erbsen in der Dose, eine Packung Bandnudeln, ein 10er Pack Eier, ein paar Kartoffeln und Karotten und als Bonus eine Flasche Heidelbeer- und eine Flasche Apfel-Zimt-Glühwein sowie eine Dose Plätzchen. Gabi erklärte, dass ihr Sohn gleich noch einen Kasten Wasser in die Diele stelle und sie die Heizung ruhig aufdrehen und wenn sie möchten, auch den Kachelofen anschüren könnten.
“Dann hätte ich gerne eine Maronenschaumsuppe als Vorspeise, Feigenravioli mit Kürbiscreme als Hauptgang und ein Marillensorbet als Dessert”, bestellte Adrian, nachdem Gabi gegangen war.
Der Neuankömmling zog verwundert eine Augenbraue hoch.
“David nimmt gerne Bestellungen an”, ergänzte Adrian.
David verdrehte die Augen und erklärte, dass er sich anböte, etwas zu kochen, es sei denn, einer der beiden anderen fühle sich dazu berufen.
“Ihr habt euch also schon bekannt gemacht”, stellte der Blonde fest. “Ich bin Felix.”
“David, wie du ja jetzt schon weißt”, stellte sich David vor.
“Adrian”, kam es erneut kurz und bündig vom Jüngsten in der Runde.
“Ich kann euch jetzt zwar kein Sterne-Menü zaubern, aber aus den Zutaten ließe sich schon was machen und Gewürze habe ich in den Schränken auch schon gesehen", fuhr David fort.
“Tu dir keinen Zwang an”, sagte Felix. “Ich komme bereits bei der Zubereitung von Fertignudeln an meine Grenzen und esse grundsätzlich alles.”
David blickte Adrian erwartungsvoll an. Dieser zuckte mit den Schultern und meinte, er sei Vegetarier und würde sich auch schon mit Brot und Käse zufriedengeben.
“Dann überlasst das mir", verkündete David und legte grüblerisch seine Hand ans Kinn.
Brot und Käse, dachte Adrian und starrte auf sein Handy. Dabei wären die Speisen, die er ursprünglich aufgezählt hatte, tatsächlich sein Weihnachtsmenü gewesen. Mama hatte dieses Jahr das Essen extra auf ihn zugeschnitten und sich viele Gedanken gemacht. Für die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Alle hatten sie ihm geschrieben, ihn angerufen und sich so auf seine Heimkehr gefreut. Sogar Papa war ungewöhnlich emotional geworden. Und was tat Adrian? Er konnte nichts tun, als ihnen Sorgen zu bereiten. Und jetzt auch noch das Schneechaos. Er musste seiner Familie wenigstens eine Nachricht schicken, dass er nun für die Nacht ein Dach über dem Kopf und Verpflegung hatte. Als der Zug noch im Bahnhof stand, hatte Papa noch geschrieben, er könne ihn ja mit dem Auto abholen, aber dieses unmögliche Unterfangen hatte Adrian seinem Vater untersagt.
Adrian drückte auf “Senden”, doch wartete vergeblich darauf, dass seine Nachricht nach draußen ging. Auch als er ans Fenster trat, tat sich nichts. Adrian seufzte.
“Habt ihr hier Netz?”, fragte er die anderen beiden, welche sogleich mit dem Kopf schüttelten.
"Hier hast du nur mit O2 Empfang, hat mir der junge Mann, der mich hergebracht hat, gesagt”, erklärte Felix.
“Fuck!”, fluchte Adrian.
“Was denn? Kannst deiner Süßen nicht schreiben, wie sehr du sie vermisst?”, spottete David.
Adrian sah David finster an.
“Meine Familie macht sich vielleicht Sorgen und wäre erleichtert zu wissen, dass es mir gut geht”, giftete er schärfer als beabsichtigt zurück.
Dann flackerten die Decken- und Wandleuchten in der Küche noch kurz viermal hintereinander auf und die drei saßen im Dunkeln. Nur der batteriebetriebene Weihnachtsstern im Fenster erhellte den Raum noch spärlich.
“Nicht euer Ernst!”, kam es von Felix, der zu Adrian ans Fenster kam und nach draußen blickte. Auch gegenüber im Bauernhof war es zappenduster und die Straßenbeleuchtung hatte sich gleichermaßen verabschiedet.
Die Sekunden vergingen und die Männer schwiegen und warteten darauf, dass sich das Zimmer gleich wieder erhellte. Doch das Weihnachtswunder blieb aus und in der Stille der Nacht fanden sich die drei zwangsweise mit ihrem Schicksal am heutigen Tag ab.
“Hilft nix”, sprach David schließlich und fing an, sich auszuziehen. Felix pfiff anerkennend, bevor David sich einen grauen Sweater und eine ebenso farblose Jogginghose aus seinem Koffer überzog, um seinen teuren Anzug nicht unnötig zu beschmutzen. Er griff zum Stabfeuerzeug neben dem Ofen und hantierte routiniert mit selbigem sowie mit Feueranzündern und der Kohle und im Handumdrehen knisterten die Flammen im Kaminofen und verbreiteten ein wohlig warmes Licht.
Eigentlich wäre Adrian am liebsten nach oben in ein Zimmer gegangen, um sich hinzulegen und zu schlafen. Aber er hatte Hunger und außerdem, ja außerdem war es oben dunkel und er war dort allein. Und es wurde immer am schlimmsten, wenn es dunkel und Adrian alleine war. Wenngleich der Funke der Sympathie zu seinen Mitreisenden nicht unbedingt übergesprungen war, so erschien es Adrian doch erträglicher hier im Schein von Stern und Herd und der Aussicht auf eine warme Mahlzeit in Gesellschaft zu bleiben.
Mit seinem Handy leuchtete er in seine Umhängetasche und kramte nach seinen Tabletten. Er nahm sich die Opipramol und seine Wasserflasche und schluckte seine abendliche Dosis hinunter, in sehnsüchtiger Erwartung ihrer beruhigenden Wirkung. So sehr er auch Fortschritte in der Klinik gemacht hatte, so konnte er doch nicht von heute auf morgen die Medikamente absetzen. Ausschleichen müsse er sie, hatten ihm Ärzte und Therapeuten mehrfach gesagt. Und ambulant würde er die Behandlung bei Dr. Leitgeb auch fortsetzen müssen, doch die Prognose, da waren sich alle einig gewesen, sei positiv. Nur Adrian fiel es schwer, wirklich Licht am Ende des Tunnels zu sehen.
David zündete noch ein paar Teelichter an und fing an, seine Kochutensilien bereitzulegen. Diesem Miesepeter Adrian würde er es schon zeigen! Von Oma Gerda hatte er gelernt, auch mit einfachen und wenigen Zutaten etwas Köstliches auf den Tisch zu zaubern, während sich sein älterer Bruder dafür zu fein war. Zwar hatte David sich zuletzt keine Gedanken mehr über sein Essen machen müssen und konnte mit teuren und exotischen Komponenten experimentieren, aber er hatte die Basics nie verlernt. Wie oft musste er sich von seinen Kollegen die spöttischen Kommentare über die selbstgemachten Grießnockerl in der Tupperdose anhören, die aber zugleich von neidischen Blicken begleitet waren. Adrian sollte Vorspeise, Hauptgang und Nachspeise haben.
“Wie wäre es, wenn ihr euch auch nützlich macht?”, fragte David und teilte Adrian letztendlich zum Schnibbeln und Felix zum Anfeuern des Kachelofens ein.
“Was wird das denn jetzt?”, wollte Adrian wissen, während er unerträglich langsam eine Karotte schälte.
“Schäl weiter und lass dich überraschen”, gab sich David geheimnisvoll.
“Willst du die Deutsche Bahn immer noch verklagen?”, versuchte Adrian entgegen seinem Naturell die Unterhaltung am Laufen zu halten.
David schmunzelte. “Ich hab mich da vielleicht angesichts meiner Verärgerung über die Umstände ein wenig reingesteigert”, gab er zu.
Ein letztes Mal auf dicke Hose machen, dachte er insgeheim. Denn er hatte sonst nichts mehr zu melden. Zwar wurde offiziell nur sein Vertrag nicht verlängert, aber im Grunde genommen war es ein Rausschmiss. Und weil die Bastarde in der Branche natürlich gut vernetzt sind, waren seine Bewerbungen bei der Konkurrenz von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Aber wollte er wirklich zurück in diesen Wahnsinn? Klar, seine schicke Maisonettewohnung in Friedrichshain würde er schon vermissen. Aber wie oft hat er sich dort wirklich aufgehalten, war er doch ständig unterwegs? Seine Anzüge würde er verkaufen müssen, damit er die letzten Monatsmieten noch bezahlen können würde. Von der Kündigungsfrist wollte der Vermieter natürlich nicht absehen und auf die Schnelle einen Nachmieter zu finden, erwies sich angesichts der Preissteigerung für die Neuvermietung als utopisch.
David wusste noch immer nicht, wie er es seinen Eltern sagen sollte, dass er bald vorübergehend wieder bei ihnen einziehen musste. Andererseits war das immerhin Oma Gerdas Haus und Oma Gerda hatte bis zuletzt gewollt, dass er es einmal bekommen sollte, auch wenn sich David das bis vor drei Wochen. nicht vorstellen konnte. Der Geruch der Zwiebeln beim Anschwitzen vertrieb seine düsteren Gedanken und machte der Erinnerung seiner zahlreichen Kochsessions mit Oma Gerda Platz.
Felix schaute zufrieden in die lodernden Flammen im Brennraum des Kachelofens. Was dieser Anzugträger konnte, schaffte er schon lange. Gut, nicht das Kochen, aber zumindest das Feuermachen. Was Benedikt wohl gerade machte? Ob Benedikt sich umgekehrt fragte, was Felix in diesem Moment tat? Die mögliche Antwort machte Felix Angst. Er hatte niemanden außer Benedikt, zu dem er gehen konnte. Alle anderen hatten sich von ihm abgewandt - wegen Benedikt. Adrian fuhr zu seiner Familie, David wahrscheinlich ebenfalls oder zu einer heißen Braut, nur Felix fuhr ins Ungewisse.
Felix schloss die Ofentür und ging in die Küche zurück, die von Essensduft erfüllt war.
“Setz dich. Der erste Gang ist gleich fertig", sagte David und deutete auf einen Stuhl, während Adrian Suppenteller und -löffel verteilte. David rührte, probierte und salzte noch einmal und stellte dann den Topf in die Tischmitte und schöpfte jedem Suppe ein.
"Kartoffel-Möhren-Ingwer-Cremesuppe, die Herren. Vielleicht noch ein wenig stückig, da ich mangels Strom keinen Pürierstab nutzen konnte und der Kartoffelstampfer herhalten musste", präsentierte David das Essen.
“Na, dann…n’Guten!”, sprach Felix und prostete den anderen beiden mit seinem Wasserglas zu.
Felix war hungrig und ihm war egal, ob die Suppe stückig war oder nicht. Hauptsache kein Knastfraß mehr, obwohl der manchmal gar nicht so übel war.
“Das ist echt gut”, stellte Felix überrascht fest.
David bedankte sich für das Lob und stand auf, um in einer Pfanne zu rühren und um anschließend Klöße aus dem Wasser zu holen.
Als Zwischengang servierte er anschließend gebratene Kloßscheiben mit Sauerkraut, bevor als Hauptgang ein Karotten-Erbsen-Curry in würziger Tomatensoße mit Bandnudeln folgte. Zum Schluss holte David von der Fensterbank drei Gläser rein, die, wie sich herausstellte, mit einer Nutella-Sahne-Creme und Haferkekscrumble gefüllt waren. Die Haferkekse hatte David aus seiner Wegzehrung gespendet.
“Hammer!”, konstatierte Adrian am Ende nur.
“Du hättest Koch werden sollen”, pflichtete ihm Felix bei.
“Wer sagt denn, dass ich kein Koch bin?”, wollte David wissen.
“Na ja”, Felix zog erneut eine Augenbraue hoch, “du siehst jetzt nicht gerade wie der klassische Koch aus, also so wie du im Anzug rumläufst.”
“Weil Köche keine Anzüge tragen?”, hakte David nach.
“Bist du einer oder nicht?”, wollte Felix wissen.
“Nein, du hast Recht. Ich bin keiner”, antwortete David und setzte den Glühwein auf.
Adrian spürte die angenehme Wärme der Tasse in seiner Hand und sog den süßlichen Duft des Heidelbeerglühweins ein. Es war keine gute Idee ihn zu trinken, denn die Aussicht auf die Wechselwirkung von Alkohol mit Opipramol und Citalopram war nicht unbedingt verlockend. Aber heute Abend war eine Ausnahmesituation und ein paar Schlückchen warmer Würzwein konnten so schlimm wohl nicht sein.
Die drei hatten es sich im Wohnzimmer bequem gemacht und die Holzscheite im Kachelofen knackten behaglich vor sich hin.
“Wenn du kein Koch bist”, Felix nahm einen Schluck Wein, “als was arbeitest du dann?”
Da war sie, die Frage, der David am liebsten ausgewichen wäre. Aber musste er zwei Wildfremden denn die Wahrheit sagen?
“Projektmanagement”, antwortete er knapp.
“Was darf sich denn ein ungebildeter Mensch wie ich darunter vorstellen?”, hakte Felix nach.
David nippte an seinem Becher, bevor er antwortete: ”Ich hab schon viele Marketingkampagnen für namhafte Firmen geplant. Dafür muss man ein ganzes Team an kreativen Köpfen und deren Ideen koordinieren und das ganze mit den Vorstellungen und dem Budget des Kunden in Einklang bringen.”
“Klingt wichtig, Kann mir aber trotzdem nicht wirklich ein Bild davon machen”, kaute Felix und nahm sich gleich noch ein Butterplätzchen.
“Na ja, man sorgt halt dafür, dass zum Beispiel die Einführung eines neuen Produkts wie eines Parfums reibungslos über alle Kanäle funktioniert und dass es ein Verkaufsschlager wird. Da hast du mit Grafikdesignern, Werbetextern, Social Media Leuten, dem Einzelhandel, Datenanalysten und der Finanzabteilung zu tun und sorgst dafür, dass alle an einem Strang ziehen und die Deadline einhalten, damit der Auftraggeber am Ende sein Produkt erfolgreich auf den Markt bringen kann.”
Felix biss genüsslich von einem Spitzbuben ab und schaute David an. War ja klar, dass der Typ irgendwo im Management war, so wie der rumlief. Vermutlich waren bei dem auch Hoodie und Jogginghose von Louis Vuitton. Wahrscheinlich würde er sich nach den Feiertagen mit seinen reichen Freunden zum Skiurlaub in Garmisch oder sonst einem noblen Wintersportort treffen und beim Après Ski von seinen erfolgreichen Projekten erzählen, links und rechts im Arm eine operierte Schnalle. Felix konnte es sich lebhaft vorstellen.
“Du leistest also einen unverzichtbaren Beitrag zum Kapitalismus”, fasste Felix schließlich zusammen.
David leerte seine Tasse und überlegte, was er erwidern sollte.
“Ich zahle jedenfalls Steuern. Wie sieht’s bei dir aus?”
“Ich hol mir noch eine Tasse. Für dich auch?”, wich Felix aus, stand auf und ging mit den beiden Bechern in die Küche, nachdem David genickt hatte.
Verdammt! War doch klar, dass sie ihn auch fragen würden, wenn er selbst so neugierig ist und sich mal wieder einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen konnte. Felix stellte die gut gefüllten Tassen auf dem Couchtisch ab.
“Und? Was arbeitest du?”, ließ David nicht locker.
“Hab bis vor Kurzem noch in einer Gärtnerei gearbeitet.” Das entsprach sogar der Wahrheit.
“Jetzt nicht mehr?”, hakte David nach.
Felix schüttelte den Kopf.
“In Hof?”, fragte David.
“Nein, in Bayreuth”, erklärte Felix und hoffte, dass David das bald genug Info sein würde.
“Welche Gärtnerei denn?”, David war echt wissbegierig.
“In St. Georgen”, antwortete Felix wahrheitsgemäß.
“St. Georgen? Da ist eine Gärtnerei?”
“Ja.” Scheiße, warum hatte er sich nicht was anderes einfallen lassen?
“Ich hab ja in Bayreuth studiert. Aber zu meiner Zeit gab es in St. Georgen nur die Gärtnerei der JVA”, überlegte David.
Er hatte es ausgesprochen und Felix schwieg und nahm noch einen kräftigen Schluck vom Glühwein.
“Bist du ein Knacki?”, mischte sich nun auch Adrian mit und das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das war’s! Die Katze war aus dem Sack.
“Ex-Knacki, bitteschön!”, empörte sich Felix gespielt und erhob seinen Zeigefinger.
“Scheiße! Weswegen hast du eingesessen? Nach Bayreuth kommt man nicht, wenn man nur ein Kavaliersdelikt begangen hat", behauptete Adrian.
“Erstens: Mach dir nicht ins Hemd, Kleiner. Zweitens: Halbwissen ist gefährlich. Drittens: Ich bin euch keine Rechenschaft schuldig”, stellte Felix klar.
“Bist du erst kürzlich entlassen worden?”, fragte David, froh darüber, dass er nun nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses stand.
“Ich bin gestern rausgekommen", erzählte Felix.
“Und jetzt fährst du nach Hause?” David schien ehrlich interessiert.
“Na ja, nicht ganz. Ich hab eigentlich vor der Haft in Hof gewohnt, doch als ich gestern zur Wohnung gefahren bin, war die leer.”
“Ist doch klar, wenn man aus dem Knast die Miete nicht bezahlt”, kam es von Adrian. Hübsches Gesicht hin oder her, so langsam bekam Felix Lust darauf, seine Faust darin zu verewigen.
“Ich hab da nicht alleine gewohnt, du Schlaumeier! Ich hab dort mit meinem Freund gewohnt, ok?”
“Wahrscheinlich wollte er nichts mehr mit einem Straftäter zu tun haben”, schlussfolgerte Adrian.
Felix lachte nur böse. “Junge, wenn er etwas gegen Straftäter hätte, müsste er vor sich selbst davonlaufen. Der Typ ist überhaupt erst Schuld, dass ich auf die schiefe Bahn geraten bin.”
“Na klar, immer schön die Verantwortung abgeben und die Schuld bei anderen suchen”, entgegnete Adrian. Er lief jetzt so richtig warm und der Glühwein hatte seine Zunge gelockert, auch wenn er merkte, dass sein Denkprozess sich verlangsamte und seine Worte immer schwerfälliger wurden.
“Hör zu”, und Felix atmete tief durch “du weißt nichts von mir, ok? Du hörst ehemaliger Knacki und schon hast du deine vorgefertigte Meinung.”
“Ich weiß nur, dass man normalerweise nicht umsonst dort landet und dass man ab einem gewissen Alter sehr wohl dazu in der Lage ist, moralisch zu handeln und wenn man sich bewusst dazu entscheidet, gesellschaftsschädigend unterwegs zu sein, dann hat man es nicht anders verdient”, versuchte Adrian seine Gedanken halbwegs zu sortieren.
“Dein Freund hat also die Bude leergeräumt und ist weggezogen, ohne dir Bescheid zu geben?”, fragte David und nahm ein wenig die Spannung aus der Unterhaltung.
“So wie es aussieht, ja. Die Nachbarn konnten mir nicht viel dazu sagen, nur, dass er jetzt angeblich in Nürnberg wohnt, habe ich rausbekommen.”
“Lautet die Adresse zufällig Mannertstraße?”, warf Adrian bissig ein.
“Das weiß ich nicht, Süßer. Und bevor du fragst: Ja, ich bin selbst auch schon auf den Gedanken gekommen, dass er in der Mannertstraße gelandet sein könnte”, erwiderte Felix und leerte seine zweite Tasse Glühwein. Natürlich hatte er die Möglichkeit schon in Erwägung gezogen, dass Benedikt in Nürnberg in der JVA einsaß. Sicher hatte er sein kriminelles Treiben nicht eingestellt, nachdem sie Felix eingebuchtet hatten. Aber er musste ihn noch einmal sehen und mit ihm sprechen, auch wenn es nur dazu diente, einen Schlussstrich zu ziehen.
“Was wirst du tun, wenn du ihn findest?”, fragte David.
Felix zuckte mit den Schultern und die Sorge davor, dass Benedikt ihn wieder um den Finger wickeln könnte, so wie es ihm Tausendmal davor schon gelungen war, schlich sich in seinen Kopf.
“Was rennst du einem Kriminellen hinterher? Wäre es nicht klüger, du würdest jetzt von solchen Leuten Abstand nehmen, jetzt wo du raus bist?” Adrian klang weniger aggressiv, dafür umso mehr belehrend.
“Weil die Dinge nicht so einfach sind, wenn man mal jemanden geliebt hat”, rutschte es Felix heraus. Warum nicht gleich alle Karten auf den Tisch legen?
Adrian machte große Augen und schluckte und für einen Moment blitzte etwas wie Mitgefühl für Felix in seinen Gesichtszügen auf.
“Doch genug von mir. Jetzt bist du dran, Adrian! Spuck es aus! Wo nimmst du deine ganze Lebensweisheit her?”, fragte Felix herausfordernd.
“Genau! Lass mal hören, Adrian”, stimmte David mit ein.
Adrian starrte kurz in seine halb leere Tasse. Typisch für ihn war sie nicht halbvoll.
“Da gibt es nicht großartig was zu erzählen. Ich studiere Englisch und Sport auf Gymnasiallehramt und bin unterwegs zu meinen Eltern in Nürnberg. Das war’s.”
“Wo studierst du?”, wollte Felix wissen.
“An der FAU Erlangen Nürnberg”, antwortete Adrian mechanisch.
“Also du studierst in Nürnberg und deine Eltern leben in Nürnberg. Wo kommst du dann gerade her?”, setzte Felix sein Verhör fort.
Adrian spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg, als er daran dachte, wo er herkam und wie er vor zwei Minuten noch über Felix geurteilt hatte. Adrians Kopf war zu träge, um zu lügen. Die sedierende Wirkung von Opipramol und Alkohol legte sein Gehirn lahm.
“Vom Arsch der Welt, da komm ich her. Musste gefühlt 10 Mal umsteigen.”
“Und wie heißt dieser Arsch der Welt?”, hakte Felix nach.
“Dermbach in der wunderschönen thüringischen Rhön.” Die Gegend war tatsächlich schön, musste Adrian im Nachhinein zugeben. In der Klinik lag sein Fokus aber woanders, sodass er blind für die Schönheit der Natur um ihn herum gewesen war.
“Wanderurlaub?”, kam es von David.
Adrian musste kichern. Felix und David schauten ihn leicht verwundert und zugleich erwartungsvoll an.
“Mann, das ist ja hier fast wie in der Gruppentherapie”, schüttelte Adrian den Kopf und fuhr sich durch die braunen Locken. Dann pustete er durch, gönnte sich einen Schluck aus der Tasse und gestand lachend: “Aus der Klapse. Ich komm aus der Klapse. Aber nicht entflohen, keine Sorge! Ganz regulär entlassen und für meine Mitmenschen ungefährlich.”
Adrian fiel es sichtlich schwer, sich klar zu artikulieren.
“Wie alt bist du, wenn ich fragen darf?”, sprach David.
“24.”
“Was für ein schweres Schicksal hast du mit deinen 24 hinter dir, das dich in die Klapse gebracht hat?” Davids Ton gefiel Adrian nicht, aber er antwortete trotzdem.
“Mittelschwere depressive Episode in Kombination mit einer Angststörung.”
“Aber was ist die Ursache? Du bist doch sicher tief in dich gegangen und hast dein Innerstes nach außen gekehrt, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen.”
David hatte kein Mitleid mit Adrian. Erst im Zug schön untertauchen und bloß nicht aufmucken, dann klugscheißen und anderen Vorhaltungen über ihren Lebensweg machen. Wahrscheinlich beruhte sein Trauma darauf, dass Papa ihm zum 18. nicht den BMW, sondern nur den Opel gekauft hatte. Und dann macht die weinerliche Gen Z auf emotional labil und lässt sich in einer Reha-Klnik betüdeln und sich einreden, dass sie ja so arm dran ist.
“Möglicherweise”, antwortete Adrian nur.
“Hast du den Tod deines Hamsters mit 7 Jahren nicht verkraftet?”, schlug David vor.
Adrians Augen verengten sich und er sah David direkt an.
“Nein, kein toter Hamster. Ich hatte eine tolle Kindheit, eine schöne Jugend, kein verstecktes Trauma. Ich hab sogar echt erfolgreich Fußball gespielt, wirklich erfolgreich. Zentrales offensives Mittelfeld. Bis in die U17 des DFB hab ich es geschafft.” Adrian brach plötzlich ab und starrte wieder in seine Tasse.
“Wow! U17! Und warum sehen wir dich heute nicht in der Bundesliga spielen?”, triezte David Adrian weiter.
“Weil da für Schwuchteln kein Platz ist”, entgegnete Adrian trocken. Nun war David ruhig und Felix hielt mitten im Kauen inne.
“Ich hatte mit 16 meinen ersten festen Freund und ich musste mich entscheiden: entweder zu meiner ersten großen Liebe stehen oder weiter erfolgreich Fußball spielen, beides geht nicht. Und, na ja, was tut man nicht, wenn man jemanden liebt, stimmt’s Felix?”
Adrian plapperte nun munter drauf los.
“Der Freund ist natürlich längst weg, aber schwul bin ich immer noch und einmal geoutet hast du deinen Stempel weg. Da kann der Hitzlsperger noch so oft sagen, er würde sich wünschen, dass mal ein aktiver Fußballer in Deutschland sein Coming Out hat. Der hat gut reden. Hat sich doch selbst erst getraut, als er seine aktive Karriere beendet hatte. Das hat schon seinen Grund, warum es keine aktiven, offen schwulen Fußballer gibt. Ich war echt gut, wirklich gut.”
Adrian merkte, wie vor seinen Augen langsam alles verschwamm. Gott, jetzt bloß nicht losheulen, redete er sich gut zu. Das konnten nur der Alkohol und die Medikamente sein, sonst wäre er jetzt nicht kurz davor zu flennen.
Eigentlich hatte Adrian angenommen, dass er seinen Traum vom Profifußball erfolgreich ad acta gelegt hatte. Das Lehramtsstudium mit Sport schien ihm eine gute Alternative. Doch kurz nach dem 6. Semester kam diese Nachricht von Henrik, mit dem er in der U17 gespielt hatte, in den Medien, dass er nun den Sprung in den Profikader eines Erstligavereins geschafft hatte. Das hatte in Adrian etwas ausgelöst, ihn Jahre zurückgeworfen, ihn an seine große verpasste Gelegenheit erinnert und Szenarien darüber, was alles hätte sein können, heraufbeschworen. Das hätte er sein können, anstatt Henrik, nein, sein müssen. Wahrscheinlich hätte er es schon viel früher zu den Profis geschafft, war er doch wesentlich begabter. Auf einmal stellte er den Weg, auf dem er sich befand, in Frage. War es wirklich das, was er wollte? Würde er damit zufrieden sein und später ohne Reue zurückblicken können?
Während Felix Adrian nach diesen Worten nachdenklich betrachtete, schnaubte David nur verächtlich: “Ich finde, du hast keinen Grund rumzuheulen. Wenn’s dir wirklich wichtig gewesen wäre, hättest du es nicht für einen Kerl aufgegeben. Jetzt auf Psycho zu machen bringt es auch nicht. Kneif’ die Arschbacken zusammen und ändere was an deinem Leben, wenn’s dir nicht passt.”
Nun reichte es Adrian und er fuhr David an: ”Meinst du, ich hab mir das ausgesucht? Ich kann mir doch selbst am wenigsten erklären, wie das passieren konnte. Aber auf einmal kriecht da eine Angst und Panik in dir hoch und du kannst rein gar nichts dagegen tun. Dein Verstand beginnt sich aufzulösen, du hyperventilierst und bist dir sicher, dass du im nächsten Moment sterben wirst. Und dann sind da die anderen Momente, wo dich eine unsichtbare Kraft daran hindert, dass du aufstehen kannst, die dich runterzieht in einen schwarzen Abgrund, ins unendliche Nichts. Nur weil man es nicht physisch wahrnehmen kann, bedeutet es nicht, dass es nur eingebildet ist und dass man es einfach so abschütteln könnte, indem man sich zusammenreißt. Und ich sag dir eins: nicht einmal meinem schlimmsten Feind würde ich das wünschen. Verstehst du?”
Felix stand auf: “Ich stell dann mal den Apfel-Zimt-Glühwein auf den Herd.”
David blickte betroffen drein und nahm sich aus Verlegenheit einen Lebkuchen. Was sollte er sagen? Er kannte es halt nicht anders. Depression, Borderline, Angststörung, Schlagmichtot. Für ihn waren das Modeerscheinungen, mit der die Gesundheitsindustrie Geld machen konnte und symptomatisch für eine zunehmend verweichlichte Jugend, die sich selbst für das Zentrum des Universums hielt. Sich anstrengen, durchkämpfen, das kannten die doch nicht mehr. Wenn man am Boden liegt, sich alleine aus dem Dreck ziehen. Himmel, er klang wirklich schon wie sein Vater! Der Vater, der David immer das Gefühl gegeben hatte, weniger wert zu sein als sein großer Bruder. Vielleicht war das nicht unbedingt der richtige Blickwinkel auf die Welt.
Felix kam mit dem Glühweinnachschub zurück und stellte jedem einen neuen Becher hin. Auch Adrian griff danach, obwohl er schon sichtlich Mühe hatte, die Augen offen zu halten. Sein Schlussplädoyer hatte ihm viel Kraft gekostet, trotzdem setzte er den Becher an den Lippen an.
“Na, wie ist es so, mit zwei kaputten Typen abzuhängen, erfolgreicher Manager?”, fragte Felix an David gewandt.
Erfolgreicher Manager. Stimmt ja. So hatte er es ihnen vorhin verkauft. Sollte er jetzt auch einen Seelenstriptease hinlegen vor zwei Menschen, die er bis vor wenigen Stunden noch nicht kannte? Ausgerechnet noch zwei Schwule! Das Schicksal hatte sich wirklich einen bösen Scherz mit ihm erlaubt. Wollte es ihn testen? Prüfen, ob das mit den Escorts nur Ausrutscher waren? Nur Versuche, um herauszufinden, wie es ist, mit einem Kerl? Wie viele “Versuche” brauchte man dafür eigentlich? Aber das hätte zur Krönung des heutigen Tages gerade noch gefehlt: der Versagersohn kehrt heim und entpuppt sich als schwul. Nein, niemals. Er war nicht wie die beiden.
“Wer wartet auf dich heute vergeblich?”, holte Felix ihn aus seinen Gedanken.
“Meine Eltern und mein Bruder mit seiner Familie”, antwortete David.
“Wo wohnen die?”
“In Pegnitz, meiner Heimatstadt."
“Lass mich raten: Du bist der reiche Onkel, der die Luxusgeschenke mitbringt.”
Während Felix nachbohrte, starrte Adrian geistesabwesend auf einen fernen Punkt an der gegenüberliegenden Wand.
“Falsch geraten. Ich bin nur ein schlechter Abklatsch von meinem Bruder”, gestand David und nestelte an der Kordel seines Sweatshirts.
“Oh, jetzt kommen wir dem Drama schon näher. Was macht dein Bruder beruflich?”, rieb sich Felix erwartungsfroh die Hände.
“Er ist fünf Jahre älter als ich, Gynäkologe mit eigener Praxis, verheiratet und hat drei Kinder und sie wohnen in einer modernen Stadtvilla in Pegnitz. Und zu Weihnachten kommt bei ihnen nur das Feinste vom Feinsten auf den Tisch, auch wenn es schmeckt wie Scheiße, weil Cordula nicht kochen kann.”
“Wer ist Cordula?”, fragte Felix.
“Seine Frau. Er hat sie im beruflichen Kontext kennengelernt”, erklärte David.
“Sag bitte nicht, dass sie auf seinem Untersuchungsstuhl saß.”
David lachte ein wenig und schüttelte den Kopf: ”Nein, der andere Klassiker.”
“Seine Arzthelferin”, kam es auf einmal von Adrian, der offenbar doch geistig nicht so abwesend war, wie es den Eindruck machte.
“Genau. Sie war seine Sprechstundenhilfe.” David nickte bestätigend. “Cordula könnte glatt einem Tradwife Blog entsprungen sein und sie lässt mich jedes Mal spüren, dass ich mit Günther nicht mithalten kann.”
“Cordula und Günther!”, kicherte Adrian.
“Hey, du bist ein erfolgreicher Projektmanager. Da kann Cordula sagen, was sie will”, wollte Felix David aufmuntern.
“Ich hab meinen Job verloren”, ließ David endlich die Bombe platzen. “Ich hab mich bei der Weihnachtskampagne für einen Kunden zeitlich total verplant und die Kampagne konnte so erst Mitte Dezember starten. Ich hab’s versaut. Auch schon davor. Immer wieder sind mir kleinere Fehler unterlaufen, ich habe Details übersehen oder ich kam schlecht vorbereitet zu Meetings. Mein Versagen bei der Weihnachtsaktion war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.”
Die Runde schwieg.
“Ehrlich, ich bin einerseits erleichtert. Mich hat meine Arbeit nur noch angekotzt. Immer hab ich nur etwas gemacht, um mit Günther mithalten zu können, um nicht dauernd in seinem Schatten zu stehen. Das ist jetzt vorbei. Jetzt hat Günther gewonnen und Vater kann ihn weiter in den Himmel loben und mich als den Versager abstempeln, für den er mich schon immer gehalten hat", fuhr David fort.
“Aber dafür heißt Günther wie er heißt und hat eine Frau, die nicht kochen kann. Und du hingegen kannst ausgezeichnet kochen”, wandte Adrian ein.
“Ja, das kann ich wirklich gut”, sprach David wehmütig mehr zu sich selbst und erinnerte sich, wie er mit Oma Gerda fantastische Ideen von seinem eigenen Restaurant gesponnen hatte und an die Worte seiner Oma, als er verkündete, dass er sich für BWL eingeschrieben hatte: “Wenn es das ist was du willst, David. Betriebswirtschaft kann man später sicher brauchen, wenn man ein eigenes Restaurant hat.” Davids Mundwinkel zuckten auffällig und er versuchte, den dicken Kloß im Hals herunterzuschlucken.
“Ihr zwei habt meiner Meinung nach gar keinen Grund, so ein Gesicht zu ziehen. Ihr habt eine Familie, die auf euch wartet und ihr habt Talente. Auf mich wartet keine alte Sau und können, tu ich schon mal gar nichts, außer klauen, dealen und schlägern”, stellte Felix verbittert fest.
“Jeder kann irgendwas und sich nützlich machen”, entgegnete David.
“Benedikt war der einzige, der mich das jemals glauben ließ", erklärte Felix. “Ich bin im Heim aufgewachsen, nachdem beide Eltern sich totgesoffen hatten, und ich kann mich an keinen erinnern, der mir gesagt hätte, dass was aus mir werden könne. Du willst auf die Realschule? Hauptschule reicht doch. Verreisen? Ist kein Geld da. Du willst Gitarre lernen? Blockflöte tut es doch auch. Ich will den Mist nicht rechtfertigen, den ich gebaut habe, aber kann man da nicht verstehen, dass ich Benedikt aus der Hand gefressen hab, als er mir ein ums andere Mal gesagt hat, wie toll ich doch sei? Klar, jetzt weiß ich, dass ich nur ein nützlicher Idiot für ihn war, der seine Scheiße ausbaden sollte. Aber ich hab doch sonst niemanden.” Felix Lippen zitterten und er sah sich in der Zukunft und sah nichts.
“Bist du eigentlich Single, David?”, durchbrach Adrian das betretene Schweigen.
“Äh, ja, Single”, stotterte David ein wenig überrascht.
“Ex-Frau? Kinder? Gehörst ja doch schon eher zur, äh, reiferen Fraktion,” meinte Adrian frech. Der Alkohol löste wirklich alle seine Fesseln.
“Nein, nein und nein,” entgegnete David. “Reifer? Ernsthaft?”
Adrian lachte: ”Reifer heißt ja nicht gleich alt und schlechter.”
Nun wurde Felix von Adrians Lachen angesteckt.
“Sag uns bitte, dass du auch schwul bist, David! Dann wären wir das perfekte Trio!", gluckste Adrian.
“Ich, also, ich, jetzt hör mal. Das geht jetzt aber zu weit!”, protestierte David.
“Das hat sich für mich aber nach keinem Nein angehört”, sagte Felix und Adrian pflichtete ihm bei.
David schnaubte empört und sein Gesicht nahm eine auffällige rote Färbung an.
Inmitten des Gelächters kippte Adrian plötzlich seitlich in den Sessel zurück und war auf einmal weg.
“Ist er jetzt eingeschlafen?”, fragte David ungläubig.
“Man schläft doch nicht von einer Sekunde auf die andere mitten im Lachen ein”, schüttelte Felix den Kopf und beugte sich über Adrian. Da kein Heben und Senken des Brustkorbs zu erkennen war, suchte er mit seinen Fingern den Puls am Hals, während David selbiges am Handgelenk tat.
“Er atmet noch, aber ganz flach", konstatierte Felix.
“Das ist doch nicht normal, oder?” David schaute Felix leicht panisch an.
“Wenn der aus einer Psychoklinik kommt, nimmt er wahrscheinlich irgendwelche Medikamente gegen seine Zustände", vermutete Felix richtig.
“Hey, Adrian! Bambi! Aufwachen!”, schrie Felix und tätschelte Adrians Gesicht. “Real Madrid hat angerufen! Du sollst für fünf Jahre verpflichtet werden, hörst du?”
Doch Adrian reagierte nicht.
Die zwei beratschlagten sich kurz und kamen zu dem Entschluss, dass David mangels Mobilfunkempfang das benachbarte Bauernhaus alarmieren sollte, während Felix Adrian in die stabile Seitenlage brachte.
Infolgedessen rannte David in Socken durch den Schnee und klopfte panisch an sämtlichen Fenstern und Türen, bis Gabi ihm öffnete. Anschließend kam Gabi mit ihrem Handy, das O2 sei Dank Empfang hatte, mit David zu Adrian und Felix zurück, während ihr Mann Sabine, ihres Zeichens Krankenschwester, bei der Freiwilligen Feuerwehr und zwei Häuser weiter lebend, alarmierte. Sabine kam dann auch schnell im Snoopy Weihnachtspullover mit ihrem Equipment und Ausrüstung der Feuerwehr herbeigeeilt und schilderte dem ärztlichen Bereitschaftsdienst, den Felix mit Gabis Handy angerufen hatte, die Lage. Der Rettungsdienst würde heute nicht zu Gabis Gästehaus durchdringen.
Mit der Gelassenheit einer erfahrenen Pflegefachkraft folgte Sabine den Anweisungen des ärztlichen Bereitschaftsdienstes, führte Messung der Atem- und Herzfrequenz und des Blutdrucks durch sowie der Sauerstoffsättigung, lobte Felix dafür, dass er Adrian in die stabile Seitenlage gebracht hatte, suchte mit David in Adrians Umhängetasche nach den Medikamenten und gab sie dem Bereitschaftsdienst durch. Felix tigerte unruhig durch das Wohnzimmer auf und ab, während David sich irgendwann auf die Toilette begab, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen.
Nach scheinbar endlosen Minuten dann endlich die Entwarnung. Adrian war kurz ansprechbar, nickte gleich darauf aber wieder weg. Allerdings gab die erneute Messung der Vitalzeichen Anlass zur Zuversicht und Schwester Sabine verabschiedete den Bereitschaftdienst mit dem Versprechen, dass sie den Rest der Nacht beim Patienten bleiben würde.
“Danke, danke, danke, dass Sie das machen!”, zeigte sich Felix erleichtert.
“Ja, haben Sie vielen Dank!”, sagte auch David.
Sabine winkte nur ab und meinte, die zwei Herren sollten sich doch hinlegen und versuchen, etwas Schlaf zu finden. Sie kümmere sich schon um ihren Freund.
An Schlaf konnten David und Felix diese Nacht aber nicht mehr denken. Erschöpft ließen sie sich in der Küche auf der Fensterbank nieder.
“Mit Depression und Angststörung ist offenbar nicht zu spaßen", sagte David zerknirscht.
“Jetzt weiß ich das auch.”
“Hey, solange du dazu lernst", lächelte Felix schief.
“Und hat der Kleine eigentlich Recht gehabt?”
“Was? Womit?” David sah Felix fragend an.
“Na, damit, dass du auch schwul bist.”
David seufzte: “Ich weiß nicht. Vielleicht, nein, ich will jetzt nicht darüber nachdenken.”
“Ist ok", lächelte Felix wissend, “ist ok.”
Am nächsten Morgen wurden sie von der Sonne geweckt, die durch das Küchenfenster schien. Am Ende waren sie dann doch eingeschlafen. Im Wohnzimmer fanden sie Adrian mit Sabine vor. Er war wach, aber noch ein wenig groggy und begrüßte die zwei mit einem verschämten Lächeln. Der Schneefall hatte aufgehört, der Strom war zurück und die Deutsche Bahn hatte bei Gabi angerufen und mitgeteilt, dass der Zugverkehr wieder aufgenommen wurde. Die drei Männer sollten von einem Taxi zum Bahnhof gebracht werden.
Mit ihrem Gepäck traten sie hinaus in den strahlenden Sonnenschein und bestaunten die weiße Pracht um sich herum.
“Hammer!”, bemerkte Adrian.
“Ja, echt schön", nickte David und Felix sagte lachend: “Lasst uns das mal wieder machen!”
6 Monate später
Geräuschvoll drehte sich der Schlüssel in der Altbauwohnung im Nürnberger Stadtteil Schoppershof und Adrian trat mit einer Brötchentüte im Arm ein. Noch leicht verschwitzt zog er sich seine Laufschuhe aus und ging in die Küche.
“Oooh, mein liebster Mitbewohner war beim Bäcker”, flötete Felix, der vor einer Tasse Kaffee saß und auf seinem Handy scrollte.
“Was tut man nicht alles für die gute Stimmung in der WG?", lachte Adrian und stellte die Tüte auf den Tisch.
“Übertreibst du es nicht ein wenig mit dem Training?”, fragte Felix und beobachtete Adrian dabei, wie dieser sich noch einmal dehnte.
“Ich bin so nervös. Und außerdem möchte ich mir am Ende nicht vorwerfen, dass es an meiner mangelnden Ausdauer gescheitert ist”, erklärte Adrian
Da betrat David die Küche und grinste die beiden an.
“Na, steht der große Tag bald bevor", sagte er mit Blick auf Adrian.
“Es ist nur ein Probetraining und auch nur bei einem mäßig erfolgreichen Zweitligaverein. Und wahrscheinlich suchen die sowieso eher jemanden für die zweite Mannschaft", relativierte Adrian.
“Und deshalb trainierst du jeden Tag wie verrückt?”, zwinkerte ihm Felix zu und Adrian grinste zurück.
Wie sehr sich der Junge doch verändert hatte im letzten halben Jahr, überlegte Felix. Manchmal war zwar noch ansatzweise etwas von dem scheuen Reh zu erkennen und auch den Besserwisser ließ er gelegentlich noch raushängen, aber ansonsten war Adrian ein total Lieber geworden, der gerne und viel lachte, der auch für Felix’ oft platten Humor empfänglich war. Die Therapie hatte Adrian abgeschlossen und die Medikamente waren ausgeschlichen. Und nicht lange, nachdem er wieder im Hochschulsport aktiv war, hatte sich die SpVgg Greuther Fürth bei ihm gemeldet und ihn zu einem Probetraining eingeladen.
“Hast du es jetzt eigentlich schon deinen Eltern gesagt?”, fragte Felix nach.
Adrian schüttelte den Kopf.
“Willst du keine Hoffnungen wecken, aus Angst sie zu enttäuschen?”, stellte David die Vermutung in den Raum.
"Nein", lachte Adrian, “ich hab Angst, dass mein Vater mich enterbt, wenn er erfährt, dass ich beim Kleeblatt bin. Der wurde bei der letzten Mitgliederversammlung für 40 Jahre Vereinsmitgliedschaft beim Club geehrt und kann sich bei seinen Kameraden wahrscheinlich nicht mehr sehen lassen, wenn bekannt wird, dass der Sohn beim Erzrivalen trainiert.”
“Dabei ist Fürth eine so schöne Stadt. Und ich hab außerdem gehört, die sollen eine ausgezeichnete Gastronomie haben”, bemerkte David schmunzelnd.
“Natürlich! Und ein Gasthaus sticht besonders hervor", lachte Adrian.
David hatte doch tatsächlich in einem Fürther Restaurant angefangen. Erst mal als Küchenhilfe und im September sollte es mit der Ausbildung zum Koch losgehen.
“Ich würde schnell unter die Dusche hüpfen, deshalb vorsichtshalber die Frage in die Runde, ob ich dort Gefahr laufe, einem “Übernachtungsgast” zu begegnen. Und ja, ich schau bewusst in deine Richtung, David", meinte Adrian.
David hob abwehrend die Hände und verkündete, dass er letzte Nacht ganz brav gewesen sei. Gut, der Verdacht von Adrian war nicht ganz unbegründet, denn David hatte es zuletzt schon ordentlich krachen lassen und war sehr aktiv auf Grindr, Romeo und wie sie alle heißen unterwegs. Er hatte immerhin einiges nachzuholen.
“Ich würde uns Frühstück machen, wenn ihr mit dabei seid”, bot Felix an.
“Für mich bitte Rührei und einen Cappuccino, danke!”, sagte Adrian und verschwand unter die Dusche.
“Ich helfe dir", erklärte David und begann den Tisch zu decken.
Felix stellte das Essen bereit und plötzlich fielen ihm Davids Haferkekse aus dem Schrank entgegen und für eine Sekunde war er wieder am gemütlichen Kaminfeuer an jenem schicksalhaften Heiligabend in Gabis Gästehaus. So viel hatte sich seitdem getan.
Benedikt war tatsächlich in Nürnberg im Knast gelandet, allerdings nur wegen einer Lappalie bezogen auf seine Verhältnisse. Das hatte Felix von einem alten Bekannten erfahren, den er bei einem Projekt der Mudra, der Alternativen Jugend- und Drogenhilfe Nürnberg, wieder getroffen hatte. Da Felix früher nicht nur Dealer, sondern auch Konsument war, wurde ihm nämlich vom Jobcenter zunächst einmal eine Maßnahme bei der Mudra im Garten- und Landschaftsbau angeboten. Das taugte ihm und der Mudra so sehr, dass er nun im Herbst offiziell mit einer Umschulung zum Gärtner - GaLa anfangen würde. Es war zwar nicht das, was er im Knast gemacht hatte, aber er mochte es, im Freien zu arbeiten, ordentlich anzupacken und etwas zu erschaffen. Auch würde er kaum Geld verdienen, weil die Mudra als gemeinnütziger Verein nur eine symbolische Umschulungsvergütung von 100 Euro monatlich zahlen musste und ihm somit nichts weiter übrigblieb, als ergänzend weiter Bürgergeld zu beziehen, jedoch ging er endlich einer ehrbaren Arbeit nach und würde sich beweisen können. Und vielleicht, aber auch nur vielleicht, würde er sich einer gewissen Person als würdig erweisen können. Irgendwann, möglicherweise.
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