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Wege
Teil 6 - Orientierung
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Informationen
- Story: Wege
- Autor: Lichtreiter
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
„Scheiße!“
Mic suchte fluchend nach einem Pflaster, einen Finger im Mund. Natürlich fand er keins und wickelte schließlich ein Papiertaschentuch um den Finger. War ja kein tiefer Schnitt. Von den Zwiebeln allerdings konnte er einen ganzen Teil wegwerfen. Egal, beschloss er, das wären wahrscheinlich ohnehin zu viele für seine Bolognese gewesen.
Während die Bolognese leise vor sich hin köchelte, ging er duschen, das hatte er heute Morgen nicht mehr geschafft. Seit Wochen hatte er zum ersten Mal tief und fest geschlafen und dann prompt auch verschlafen. Er hatte es gerade noch rechtzeitig zur Schule geschafft. Den Schultag hatte er trotzdem erstaunlich gut überstanden. Danach war er einkaufen gegangen, eine dringend notwendige Maßnahme. Seitdem er am vorigen Nachmittag unter Richards strengen Blicken seinen Kühlschrank entseucht hatte, hatte dort gähnende Leere geherrscht.
Nach dem Duschen stellte Mic den Herd ab. Es reichte, wenn die Bolognese noch ein wenig zog. Es war inzwischen schon nach 17 Uhr, eigentlich müsste Babs schon zu Hause sein. Mic beschloss, bei ihr zu klingeln. Er fürchtete, dass er ihr einiges zu erklären hatte.
„Du?!?“, begrüßte sie ihn dann auch einigermaßen erstaunt.
„Freiwillig?!?“
„Ehm … ja. Darf ich reinkommen oder stör ich?“
„Nee, komm schon rein. Das heißt … wenn du nicht wieder total dicht bist.“
Prüfend sah sie ihn an.
„Nein, bin ich nicht. Richard war gestern da und hat mir ordentlich den Kopf gewaschen“, erwiderte Mic zerknirscht. Es schien, als hätte er sich bei Babs einiges versaut.
Babs ließ ihn in die Wohnung.
„Auch Kaffee?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, goss sie ihm einen Pott Kaffee ein und knallte eine Schüssel mit Müslikeksen daneben.
„Danke. Babs, ich wollte mich entschuldigen. Ich war in den letzten Wochen echt neben der Spur.“
„Neben der Spur? Du warst in den letzten Wochen echt ein Arschloch. Weißt du eigentlich, wie oft ich wie ein Idiot bei dir vor der Tür gestanden hab? Du hast einfach nicht aufgemacht.“
„Ja, ich weiß, und es tut mir leid.“
„Bist du mal auf die Idee gekommen, dass ich auch mal jemand zum Reden gebraucht hätte? Die Welt dreht sich nicht nur um dich. Was zum Teufel ist los mit dir? So kenn ich dich gar nicht! Ich dachte eigentlich, wir wären Freunde.“
Mic schwieg. Sie hatte ja Recht. Es war ja wirklich nicht ok gewesen, wie er sich benommen hatte. Und mal wieder hatte er nur sich gesehen, war in Selbstmitleid versunken.
„Babs, es tut mir wirklich leid. Ich … ach, ich weiß auch nicht. Ich wollte einfach nichts mehr hören und sehen. Bis zur Theaterpremiere hab ich noch irgendwie durchgehalten und dann ging irgendwie nichts mehr.“
Babs funkelte ihn an.
„Ich weiß, dass es dir beschissen ging, aber so, wie du dich verhalten hast, hast du nur dafür gesorgt, dass es dir noch beschissener gehen musste. Und nicht nur dir, anderen auch. Selbst deine Mutter stand letzte Woche bei mir vor der Tür. Sie hatte dir – wie ich übrigens auch – hundert Mal auf den AB gesprochen, aber den hast du ja nicht mal abgehört. Jedenfalls war er dann voll. Sogar diesen Jörg hab ich vor deiner Wohnungstür getroffen.“
Jetzt war Mic wirklich erschrocken. Offensichtlich hatte er einige Menschen in Sorge versetzt.
„Du meinst Jörn? Der war hier?“
„Na toll, Mic. Darauf springst du an, aber was mit uns war ist egal oder was? Richard und ich waren im Dauer-Skype, weil wir uns so Sorgen gemacht haben … und Sofia hat mir die Auflage gemacht, deinen Namen höchstens 10 mal am Tag in den Mund zu nehmen, weil sie es einfach nicht mehr hören konnte …“
Babs schimpfte eine ganze Weile mit ihm. Da musste er jetzt wohl durch, und er konnte sie ja auch verstehen. Mic wurde immer stiller, wartete einfach ab, bis Babs sich Luft gemacht hatte, und wirklich, nach einer Weile beruhigte sie sich. Dann hielt sie ihm ihren Kopf hin und deutete auf ihre Haare.
„Sieh mal nach, die Hälfte ist bestimmt grau geworden.“
Mic konnte kein einziges graues Haar entdecken. Was er aber entdeckte, war ein leichtes Grinsen auf Babs Gesicht.
„Babs, es tut mir wirklich leid. Ja, ich bin ein Arschloch. Du darfst mich hauen. Zufrieden?“
Jetzt lachte Babs kurz auf.
„Weißt du, wenn du wirklich ein Arschloch wärst, dann würd ich drüber nachdenken. Na komm schon her.“
Babs umarmte ihn.
„Ich bin doch einfach nur froh, dass du hier bist.“
Jetzt musste auch Mic lachen, so erleichtert war er.
„Danke Babs. Kommt nicht mehr vor, sowas.“
„Stimmt“, bestätigte Babs, „weil du mir nämlich einen Zweitschlüssel geben wirst. Nur für alle Fälle. Du kannst ihn mir morgen in den Briefkasten werfen.“
„Hm … nur wenn ich auch einen von dir bekomme.“
Babs ging grinsend in die Diele, hielt ihm dann einen Schlüssel hin.
„Bitte sehr.“
„Ehm … ok … Danke. Kann ich das rosa Plüschteil abmachen?“
Stirnrunzelnd betrachtete Mic den Schlüsselanhänger. Ein rosa Irgendwas. Beim besten Willen nicht definierbar, fand er.
„Untersteh dich! Pinky bleibt da dran!“
„Ok, ok, das Pinky-Monster bleibt dran. Babs, du bist manchmal peinlich.“
Mic verdrehte die Augen. Das Teil würde er irgendwo verstecken. Nicht, dass am Ende jemand dachte, er habe es ausgesucht.
Babs Gesicht war ein einziges, breites Grinsen.
„Schön, dass du wieder da bist, Mic.“
„Das ist nicht mein Verdienst. Weißt du eigentlich, dass Richard gestern so lange geklingelt, gebrüllt und geklopft hat, bis ich dachte, die Nachbarn rufen die Polizei. Also hab ich aufgemacht. Dann ist er wie eine der biblischen Plagen über mich und meine Wohnung hergefallen. Ich hatte sozusagen keine Chance, weiter depressiv auf dem Sofa zu hängen.“
„Weiß ich doch längst“, griente Babs.
„Hier, ich hab was für dich ausgedruckt.“
Mic nahm die Blätter, die Babs ihm hinhielt. Lauter Adressen von Psychologen und Psychiatern.
„Versprich mir, dass du wenigstens mal drüber nachdenkst“, forderte sie und Mic versprach es. Darüber nachdenken konnte er ja mal, das verpflichtete schließlich zu nichts.
Sie redeten eine Weile, Babs erzählte von Sofia, Mic von den letzten drei Wochen, wobei es da nicht wirklich viel zu erzählen gab. Als er erwähnte, dass Jörn gleich kommen würde, nickte Babs nur.
“Ja, ich weiß.“
Mic verdrehte die Augen.
„Richard! Erzählt er dir jetzt immer alles? Hab ich jetzt gar kein Privatleben mehr?“
„Doch, aber vorerst wirst du engmaschig überwacht, damit das klar ist.“
„Ich werde bespitzelt! Von wegen Schlüssel, du willst meine Wohnung verwanzen.“
Babs winkte ab. „Wie käm ich denn dazu? Wozu Wanzen, wenn es auch Kameras gibt?“
Wieder in seiner Wohnung setzte Mic Spaghetti-Wasser auf und wurde langsam nervös. Er hatte keine Ahnung, was er Jörn sagen sollte. Sein Kopf fühlte sich in etwa so sortiert an wie ein Wühltisch nach dem Schlussverkauf, wohl noch die Nachwehen der letzten drei Wochen. Wenigstens würden sie erst mal mit Essen beschäftigt sein. Lange Zeit hatte er jedoch nicht zum Sortieren seiner wirren Gedanken. Er hatte gerade den Tisch fertig gedeckt und die Spaghetti in das kochende Wasser befördert, als es klingelte.
Mic blieb in der Tür stehen und als er Jörn die letzten Stufen heraufkommen sah, ging sein Puls ruckartig noch weiter nach oben, als er ohnehin schon war. Da war es wieder, dieses Lächeln, das Mic so toll gefunden hatte.
Jörn hielt eine weiße Plastiktüte hoch.
„Hi, ich hab gedacht, wir könnten was zusammen essen, da bin ich noch schnell zum Chinesen. Magst du gebratenen Reis mit Hühnchen?“
Mic sah erst die Tüte, dann Jörn ungläubig an und erstarrte angesichts dieses Lächelns mal wieder zu einer Statue. Der sollte einfach aufhören, so zu lächeln! So hatte Mic sich das nicht vorgestellt.
„Wollen wir hier draußen essen? Oder darf ich reinkommen?“
Wieder trug Jörn diese abgewetzte Wildlederjacke, die er an jenem Freitag bei Mic vergessen hatte - und natürlich auch wieder so enge Jeans. Seine Löckchen hingen feucht vom Novembernebel und ziemlich wirr in sein Gesicht, ein paar winzige Tropfen hatten sich in den langen Wimpern verfangen.
„Soll ich lieber wieder gehen?“, fragte Jörn dann irgendwann, als Mic sich noch immer nicht rührte.
Da erst ging er einen Schritt zur Seite.
„Äh … nee … komm rein.“
„Oh … du kochst gerade …“, stellte Jörn fest, als sie in der Küche standen.
„Weißt du was? Dann bring ich den Reis einfach zu Babs rauf. Bin gleich wieder da.“
„Aber Babs …“ Doch da war Jörn schon wieder zur Tür raus. „… isst doch kein Fleisch …“, beendete Mic den Satz ins Leere.
Er setze sich, sprang wieder auf. Wo waren die verdammten Zigaretten? Das würde ja ein interessanter Abend werden. Er hatte nicht damit gerechnet, so zu reagieren, wenn er Jörn sehen würde. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, die Sache mit jenem denkwürdigen Freitag zu klären, als Jörn so fluchtartig verschwunden war. Er wollte einfach von ihm selber hören, wie es dazu gekommen war, und er selbst wollte auch ein paar Dinge klarstellen. Mehr sollte es nicht sein, aber plötzlich war er sich da gar nicht mehr so sicher. Das Bild von Jörn und dem Blondie tauchte wieder auf. Toll. Er hatte nicht die geringste Lust auf einen Typen, der bei der ersten Schwierigkeit abhaut und sich mit wem anders ablenkt, und doch … Dann dachte er an Richard, was ihn noch mehr durcheinander brachte. Richard war die ganze Zeit für ihn dagewesen. Das war Babs auch, aber bei Richard war das jetzt irgendwie anders seit gestern. Wie er ihn angeschaut hatte …
Mic hatte gerade die Spaghetti abgeschüttet und verteilte Olivenöl darüber, als es an seiner Tür klopfte. Mic ließ Jörn wieder rein. Der war seinen Reis natürlich nicht bei Babs losgeworden.
„Grüße von Babs. Hab grad schon gehört, dass du heute endlich mal bei ihr warst?“
„Ja. Komm, wir können essen. Was magst du trinken? Wasser? Cola? O-Saft?“
„Wasser.“
Eine seltsame Stimmung herrschte beim Essen. Mic traute sich nicht, Jörn anzusehen. Er wollte dieses Lächeln nicht sehen, diese Blicke. Er wollte doch nur mit ihm reden.
Jörn war es dann, der das Schweigen brach.
„Mic, wegen Andi … ich war auch durcheinander, weißt du? Ob du‘s nun glaubst oder nicht, aber für mich war das auch nicht so einfach. Ich wollte einfach nicht mehr an dich denken. Ich kenn Andi schon ewig und an dem Abend hatten wir einfach mal wieder Lust aufeinander. Wenn du nicht an der Theke gestanden hättest, wären wir schon längst weg gewesen. Ich wollt nur nicht an dir vorbei.“
Mic blieben fast die Spaghetti im Hals stecken. Andi war wohl der Blondie.
„Na super, ich habe das Etablissement ja dann verlassen. Da musstet ihr ja dann auch nicht mehr an mir vorbei. Musst du eigentlich so direkt sein?“
Mic raspelte kleine Parmesan-Häufchen auf seinen Teller.
„Direkt? Was meinst du? Ich sag nur, wie es war. Soll ich mal direkt sein? Ich hatte vor, den Abend durchzuficken, statt zu denken. DAS wär direkt.“
Mics Parmesan-Häufchen wurden langsam zu Parmesan-Haufen.
„Na danke, das hab sogar ich jetzt verstanden. Und weißt du was? Nachdem ich euch gesehen hatte, wollt ich auch nicht mehr an dich denken“, brach es aus Mic heraus, wobei er fleißig weiter raspelte.
„Mic, kannst du mich vielleicht ansehen, wenn du mit mir redest?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Zu gefährlich.“
„Das Risiko wirst du wohl eingehen müssen. Tu ich schließlich auch.“
Ja, ja, tat er auch, aber das war nicht vergleichbar, fand Mic. Welches Risiko ging Jörn schon ein? Jörn war es doch, der weggerannt war und sich ganz schnell was zum Ablenken gesucht hatte, nicht er. Jörn konnte sowas. Er nicht.
„Erzähl mir, warum du abgehauen bist“, forderte er schließlich, wobei er sich auf das Aufwickeln der Spaghetti konzentrierte.
„Erst, wenn du mich ansiehst.“
Mic ließ das Besteck fallen und spürte, wie sich angesichts dieses Erpressungsversuchs – so empfand er es - Verärgerung in ihm breit machte, ziemlich große sogar. Er wurde sauer und jetzt konnte er Jörn auch ansehen.
„Besser so? Ich hab keine Lust auf solche Spielchen. Erzählst du jetzt mal was?“
Jörn schien nun doch irritiert angesichts der Aggression in Mics Stimme.
„Du bist wütend? Nur weil ich will, dass du mich ansiehst?“
Mic antwortete nicht, blitzte ihn nur weiter an, bis Jörn schließlich mit den Schultern zuckte.
„Ok, was willst du wissen? Ich meine, Richard hat dir die Sache mit Emil doch eh schon erzählt. Ich wollte … ich will sowas einfach nicht nochmal erleben. Das hat mich damals so von den Füßen geholt, das muss ich einfach nicht nochmal haben. Ich weiß, Garantien gibt’s nie, aber als ich dann gehört hab, dass du eigentlich hetero bist, da sind bei mir einfach alle Sicherungen durch geknallt.“
„Hetero? Du hast echt gar nichts kapiert, oder?“
„Du bist auf Krawall gebürstet, hm? In dem Moment war es für mich so. Dass es vielleicht anders ist, kam erst später raus. Richard hat mir am nächsten Tag ein bisschen was erzählt und du warst ja eh immer wieder mal Thema.“
„Na toll. Richard wieder. Dann bist du ja im Bilde über die letzen Wochen. Babs hat er ja auch alles brühwarm erzählt.“
Jörn sah Mic aus zusammengekniffenen Augen an, er schien plötzlich aufgebracht.
„Fängst du jetzt auch an, auf Richard rumzuhacken? Wir sind Freunde und stell dir vor, ich brauchte auch mal jemand zum Reden. Weißt du eigentlich, dass ich das verdammte Interview von eurem Theaterdings da für den Sender zusammenschneiden musste? Wenn du denkst, das wär mir am Arsch vorbeigegangen, dann irrst du dich. Und dann hat Richard auch noch angefangen, sich Sorgen zu machen und mir NATÜRLICH alles erzählt. Ja, ok, deswegen weiß ich auch, wie die letzten Wochen so gelaufen sind für dich. Deswegen hab ich auch angerufen. Ich war sogar hier und das nach der Abfuhr, die du mir am Telefon erteilt hast!“
Das war allerdings wahr. Babs hatte auch erwähnt, Jörn vor Mics Wohnungstür getroffen zu haben.
„Ich hack auf niemandem rum, schon gar nicht auf Richard. Ich WOLLTE es dir ja erklären. Das hättest du sofort haben können. Damit wär der ganze Irrtum ganz schnell aus der Welt geräumt gewesen, aber du hast mir gar keine Chance gegeben. Du bist einfach abgehauen.“
Das Gefühl des Moments, als Jörn die Wohnung verlassen hatte, war plötzlich wieder überpräsent.
„Ja, bin ich. Ich sag ja gar nicht, dass das richtig war, aber auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ich hatte ziemliche Panik.“
Jörn schaute Mic jetzt etwa so finster an, wie Mic sich gerade fühlte.
„Weißt du“, fuhr Jörn fort, „du bist nicht das einzige Wesen auf der Welt, das vielleicht Probleme hat.“
Er legte das Besteck weg, lehnte sich zurück.
„Außerdem … was auch immer du erzählen wolltest, du kannst es jetzt, wenn du das noch willst. Ich renn auch sicher nicht weg.“
Wie bitte? Wie stellte Jörn sich das denn vor? Sollte er jetzt, in dieser Situation, mal eben sein Seelenleben vor ihm ausbreiten? Dazu brauchte es ein Gefühl von Vertrauen, aber das war nicht da. Wo bitte sollte er das denn jetzt hernehmen?
Mic sah Jörn an. Ja, er war sauer, ok, auch verletzt, aber nichtsdestotrotz bekam er weiche Knie, und … ok … da war auch dieses Kribbeln. Nur … wer war Jörn eigentlich? Was wusste er schon über ihn? Mics Gereiztheit wich einer Hilflosigkeit, die weit schwieriger auszuhalten war als Wut.
„Jörn, das kann ich jetzt nicht. In dem Moment hätt ich’s, glaube ich, gekonnt, aber jetzt …“ Er verstummte zitternd.
Jörn nickte.
„Schon ok. Das seh ich auch.“ Dann, nach einer Weile: „Was ist eigentlich mit dir und Richard?“
Aus irgendeinem Grund fühlte Mic sich ertappt.
„Was soll mit uns sein? Wir sind befreundet. Stört dich was daran?“
„Geh doch nicht direkt wieder hoch. Nichts stört mich daran. Ich hab mich nur gefragt, ob ihr wirklich nur befreundet seid. Richard scheint mir einfach sehr … engagiert?“
„Ich mag ihn sehr, wenn du es genau wissen willst. Er war da - im Gegensatz zu dir.“
„Autsch. Aber das hab ich wohl verdient. Dann … ich meine … Mic, warum bin ich hier? Was erwartest du jetzt? Du bist sauer auf mich, das kann ich ja verstehen. Aber worum geht’s hier?“
Mic spreizte in einer hilflosen Geste seine Hände.
„Ehrlich gesagt … ich weiß es irgendwie nicht mehr. Ich wollte irgendwie reden. Vielleicht will ich auch irgendwie rausfinden … was das war mit uns. Für dich mein ich. Ok, irgendwie auch für mich. Also … ich meine … das hängt alles irgendwie so in der Luft. Für mich zumindest. Ich wollte dir sagen, wie beschissen ich es fand, was du gemacht hast. Eigentlich wollte ich das alles nur irgendwie klären, aber irgendwie ist das jetzt doch nicht so einfach …“
Jörn lächelte, und Mic glaubte, einen Hauch von Spott in diesem Lächeln zu sehen.
„Das sind jetzt aber ziemlich viele Irgendwies.“
„Ja, irgendwie schon.“
Als Mic merkte, was er da gerade gesagt hatte, musste er unfreiwillig lachen, und Jörn lachte mit.
„Ich hab da IRGENDWIE eine Idee“, zog er Mic dann auf.
„Wie wär‘s, wenn wir uns ab und zu mal zum Tanzen treffen würden? Vielleicht mittwochs? Da ist ab 8 Uhr auf und wir hätten Platz genug.“
Mic schluckte. Ausgerechnet zum Tanzen? Damit hatte schließlich alles angefangen.
„Hm. Tanzen. Und dann?“
Jörn zuckte lächelnd die Schultern.
„Wir werden sehen.“
Mic schob eine Gabel voll Spaghetti in seinen Mund, nur um sie sofort wieder auszuspucken. So viel Parmesan konnte kein Mensch essen! Mic spülte mit Wasser nach und sah aus dem Augenwinkel, dass Jörn sichtlich erheitert war über seinen Ekelanfall. Jedenfalls grinste er über das ganze Gesicht, begann sogar zu kichern.
„Übermorgen um 8 dann. Und hör auf, so unverschämt zu grinsen!“
Jörn so grinsen zu sehen, das hatte nämlich ein Kribbeln in der Magengegend – und nicht nur dort – zur Folge.
Immerhin – die Stimmung war nun etwas gelöster, auch wenn sie beide an diesem Abend peinlich genau auf Distanz achteten, als hätten sie das vorher so vereinbart.
Wirklich lange redeten sie dann auch nicht mehr, Jörn verabschiedete sich bald. Ein „Bis morgen dann“ und Jörn spurtete die Treppen runter. Ach ja, morgen war ja schon Mittwoch.
Mic war nachdenklich. Geklärt war in seinen Augen eigentlich gar nichts. Zurück zum Anfang also? Aber vielleicht war das gar nicht die schlechteste aller Ideen. Zumindest würde er Jörn so besser kennenlernen … obwohl das Tanzen ihm da eher hinderlich schien. Tanzen … das löste einfach zu viel aus in ihm. War das nicht schlicht … kontraproduktiv? Wie sollte er denn da irgendwas sortieren können?
Immerhin war es noch früh genug, um Richard anzurufen und so Jörn mit dem Bericht über den Verlauf des Gesprächs zuvorzukommen. Mic hatte schon das Telefon in der Hand, dann zögerte er. Ob das jetzt wirklich eine gute Idee war, Richard anzurufen? Nein, vermutlich nicht. „Find erst mal raus, was du willst“, hatte er gesagt, und jetzt, nachdem Mic seine Reaktion auf Jörn wieder gespürt hatte, musste er ihm Recht geben. In dem Zusammenhang wurde Mic auch bewusst, dass er Jörn soeben belogen hatte, als dieser ihn auf Richard angesprochen hatte. Na ja, vielleicht nicht wirklich belogen, aber ehrlich war er auch nicht gewesen. Wieso hatte er das Gefühl, es wäre nicht gut gewesen, zu erzählen, was sich am vorigen Tag zwischen Richard und ihm abgespielt hatte? Jörn würde es ja wohl ohnehin von Richard erfahren. Oder doch nicht? Vielleicht maß er dem auch einfach zu viel Bedeutung bei.
Richard. Da war ein ganz warmes, intensives Gefühl, wenn er an ihn dachte. Und umgekehrt war Mic sich sicher, Richard nicht egal zu sein, soviel hatte er verstanden. Er mochte Richard sehr. Aber wie sehr? War das einfach nur der Wunsch nach einer Nähe, von der er lange nicht gewusst hatte, dass und wie sehr er sie vermisste? Was war das für ein Gefühl, das so ganz anders war als bei Jörn, nicht so alles überlagernd und drängend? Gleichwohl war da der Wunsch, Richard zu berühren, ihn ganz nah bei sich zu spüren. Und Richard? Was wollte der? Mic war sich auch da alles andere als sicher. Vielleicht hatte er ja nur angesichts von Mics Zustand nett sein wollen? Mic stellte fest, dass er mit Trockenübungen nicht weiter zu kommen schien. Er sollte wohl wirklich erst mal für sich herausfinden, was er wollte.
Als ahnte er, dass er dazu erst mal ein wenig Abstand von seinem Gefühlschaos brauchte, rief er Martin an, einen alten Schulfreund, und verabredete sich auf ein Bier mit ihm für die nächste Woche. Schließlich hatte es auch vor Babs, Jörn, Richard und all dem, was in der letzten Zeit so auf Mic eingestürmt war, ein Leben gegeben, und auch, wenn seine Mutter das gern behauptete, so hatte dieses nicht NUR aus Arbeit bestanden.
Bei dem Gedanken an seine Mutter fiel ihm siedend heiß ein, was Babs gesagt hatte. Seufzend rief er seine Eltern also auch noch an und beruhigte sie ein wenig, bevor er in sein Bett krabbelte. Für einen kurzen Moment war er versucht gewesen, sich einen Joint zu bauen, ließ es dann aber doch. Erstaunlicherweise schlief er dennoch schnell und ohne weitere Grübeleien ein.
Mic schaute auf die Uhr. Halb neuen und kein Jörn weit und breit. Na toll! Nach einer weiteren Viertelstunde des Wartens beschloss Mic, nach Hause zu gehen. Eigentlich war er ganz guter Dinge gewesen heute. Er hatte in der Schule einiges wieder gerade biegen können.
Mit seinem LK war er das Sachthema nochmal neu angegangen. Kein neues Thema, dazu war nun keine Zeit mehr, aber das linguistische Relativitätsprinzip ließ sich eben von verschiedenen Seiten beleuchten. Welche Auswirkungen hätte diese Theorie auf die Unumstößlichkeit physikalischer Gesetzmäßigkeiten? Das schienen dann doch alle ganz spannend zu finden, diese gedanklich in Frage zu stellen.
Er hatte sich mal wieder mit ein paar Kollegen unterhalten und hatte dabei anhand einiger neugieriger Fragen bezüglich der letzten Wochen feststellen müssen, dass das auch mal wieder bitter nötig gewesen war.
Für den nächsten Tag war eine Bandprobe angesetzt und Mic hatte sich vorgenommen, diesmal wieder dabei zu sein. Da war vermutlich eine Entschuldigung fällig.
Alles in allem war er heute recht zufrieden mit sich und dem Verlauf des Tages.
Ganz im Gegensatz zum heutigen Abend. Mic wollte sich gerade in Richtung Tür begeben, als Richard auf ihn zustürmte.
„Sag mal, kannst du mal ans Handy gehen? Dann hätte ich nicht extra herkommen müssen. Wo ist Jörn?“, ranzte Richard Mic ohne Begrüßung an.
Richards Gesichtsausdruck war alles andere als fröhlich, eher eine Mischung aus Wut und Sorge, und auch der Ton in seiner Stimme war nicht wirklich aufmunternd, eher aggressiv.
Was war denn jetzt los? Mic tastete nach seinem Handy, das elf Anrufe in Abwesenheit anzeigte, außerdem vier SMS. Alle von Babs und von Richard. Er hatte einfach jetzt mit niemandem reden wollen, außerdem hatte er gehofft, Jörn würde sich melden. Es war Mic ohnehin schon schwer genug gefallen, in die Bar zu gehen, um sich mit Jörn ausgerechnet zum Tanzen zu treffen.
„Was ist denn los? Warum maulst du mich so an? Ich warte auf Jörn.“
„Aha. Und wo ist er?“
„Nicht hier jedenfalls. Ich wollt grad gehen, ich warte seit fast `ner Dreiviertelstunde und ich kann mich beherrschen, noch länger zu warten.“
„Sein Handy ist aus …“, hörte er Richard sagen. Das klang irgendwie sehr nüchtern.
„Ja, ich weiß. Ist ja nicht so, dass ich nicht versucht hätte, ihn zu erreichen. Wer weiß, was der grad treibt. Jedenfalls kneift er, dabei war tanzen sein Vorschlag.“
„Mic, Babs ist im Krankenhaus. Sie sagt, du kennst dich bei ihr aus, hast einen Schlüssel, und sie braucht ein paar Sachen.“
Schon fühlte Mic sich nach draußen gezerrt, bevor er noch recht begriffen hatte, was Richard gesagt hatte.
Babs war blass, aber sie grinste, als Richard sie begrüßte: „Hello, err … can we have your liver …?“
„Blödmann. Noch lebe ich und hab auch nicht vor, das zu ändern.“
“No-one who has ever had their liver taken out by us has survived … aber für den Fall der Fälle haben wir dir ein paar Sachen mitgebracht.”
Mic umarmte Babs erst mal kräftig. Richard hatte ihm unterwegs erzählt, dass er mit Babs essen gewesen war, sie irgendwann plötzlich kreidebleich geworden war, um sich vor Schmerzen zu krümmen. Dann plötzlich hatte es den Anschein gehabt, als sei alles wieder ok mit ihr, und auf Richards Drängen hatte sie ihm gestanden, dass das schon öfter genau so passiert sei. Richard seinerseits hatte darauf bestanden, ins Krankenhaus zu fahren, wo sie dann in der Ambulanz den nächsten Schmerzanfall hatte. Nun lag sie hier, man vermutete Gallenkoliken.
„Hey, Mic, nichts Schlimmes. Mach nicht so ein Drama, ja? Davon hatten wir doch wohl genug in letzter Zeit. Tut halt nur saumäßig weh. Und ich hab Hunger. Die schöne Pizza … und hier bekomm ich erst mal nichts. Nur das da.“
Babs zeigte auf den Tropf, der neben dem Bett hing.
„Und das alles wegen dem da“, fügte sie auf Richard deutend hinzu.
Mic war erleichtert, sie so rummaulen zu hören.
„DER DA”, gab er zurück, „hat das schon ganz richtig gemacht. Wo ist eigentlich Heather?“
„Welchen Buchstaben von Sofia kannst du dir eigentlich nicht merken? Bei irgendeinem komischen Lesbentreffen. Ich hab ihr `ne SMS geschickt, sie kommt gleich her.“
Schweigen.
Nur das Knistern einer Chipstüte, die Babs‘ Bettnachbarin gerade bearbeitete, war zu hören.
„Hallo? Könnt ihr aufhören, mich so anzusehen, als müsste ich bald sterben? Das ist nicht grad aufmunternd. Hattet ihr nicht noch was vor heute?“
Richard grinste Mic an.
„Was machen wir mit der Kratzbürste?“
Mic zuckte mit den Schultern.
„Brauchst du noch irgendwas, Babs? Was ist mit der Arbeit? Soll ich da anrufen?”
“Nee, das mach ich schon. Ich bin schon groß, weißt du. Aber du könntest Predo füttern, bis ich jemand gefunden hab, der sich auskennt.“
Mic riss die Augen auf.
Predo war Babs nichtvegetarischer Mitbewohner. Mic fand die Ernährungsgewohnheiten von Babs‘ Jemenchamäleon zumindest … gewöhnungsbedürftig.
„Ok …“, sagte er zögernd und wenig begeistert.
„Wo bekomm ich denn die Heuschrecken her?“
Babs verdrehte die Augen.
„Die musst du natürlich fangen. Frische Luft würd dir eh nicht schaden.”
“Fangen? Wir haben November …”
Richard, der den Wortwechsel grinsend verfolgt hatte, klärte Mic auf.
„Die kann man in der Zoohandlung kaufen, und die werden dir schon sagen, welche die richtigen sind.“
Babs und Mic schauten Richard dankbar an, wenn auch aus verschiedenen Gründen.
„Also …“, erklärte nun auch Babs, „du musst einfach drauf achten, dass die Luftfeuchtigkeit stimmt. Der Luftbefeuchter ist kaputt, deswegen wär‘s schön, wenn du die Pflanzen wenigstens morgens und abends einsprühen könntest, am besten noch öfter. Flasche steht neben dem Terrarium. Das ist wichtig, weil Predo die Tropfen von den Blättern trinkt. Temperatur und Licht regeln sich von allein rauf und runter. Eine Pinzette zum Füttern liegt auch da, in dem Plastikbehälter daneben müssten noch ein paar Heimchen sein. Gib ihm nur so viel, wie er auch isst. Und nur lebende. Gurke und Bananen mag er auch, aber lass ihn kein gespritztes Zeug futtern, ja? So alle drei Tage stäubst du ihm das Futter ein bisschen mit Corvimin ein, steht auch da. Meinst du, das bekommst du hin?“
„Was meinst du, wie lange …“
„Keine Ahnung, Mic. Kümmerst du dich um Predo? Bitte?”
Mic seufzte. Mal abgesehen davon, dass ihm das Tier immer ein wenig unheimlich gewesen war mit seinen ca. 40 cm Länge und diesen Augen, die einem nahezu überall hin folgen konnten, hatte er keine Ahnung von Reptilien.
Mal wieder leistete Richard Beistand.
„Yeah. All right, you talked me into it. Ich kenn mich mit den Viechern zwar nicht sonderlich aus, aber wenn du willst, helf ich dir dabei.“
Mic sah ihn von Dank erfüllt an und nickte.
„Ok, Babs, das kriegen wir hin, denk ich. Sonst noch was?”
“Ja. Könnt ihr direkt heute Abend nochmal nach ihm sehen? Und vor allem das Grünzeug besprühen?“
Mic und Richard nickten unisono, als die Tür aufgerissen wurde.
„Babs! Was machst du denn für `nen Mist!?“
Sofia kam reingestürmt und ohne Mic oder Richard auch nur die geringste Beachtung zu schenken, stürmte sie zu Babs und küsste sie. Der rundlichen Dame im Nachbarbett fiel die Chipstüte aus der Hand, als sie die beiden anstarrte, dann setzte sie sich demonstrativ die Kopfhörer auf und wandte sich dem Fernsehprogramm zu.
„Well that's cast rather a gloom over the evening, hasn't it?”, grinste Richard, als er das nun etwas verkniffene Gesicht der Dame betrachtete.
Auch Mic konnte sich ein Lachen kaum verkneifen.
Babs und Sofia schienen nichts von dem mitbekommen zu haben, Babs erzählte Sofia gerade, was passiert war.
Richard räusperte sich.
„Ich glaub, wir gehen dann mal …“
“… und schauen nach Predo”, vollendete Mic den Satz.
Sie verabschiedeten sich von Babs, die sich nochmal überschwänglich bedankte, und auch von Sofia.
Predo machte eine Pose, die Mic als Drohgebärde interpretierte.
„Ich glaube, der mag mich nicht“, murmelte er.
Richard betrachtete mit fasziniertem Gesichtsausdruck die Heimchen in der Plastikdose, die er Mic nun hinhielt.
„Hier, vielleicht kannst du dich damit einschleimen.“
Skeptisch sah Mic sich die Tierchen an, die Predos Abendessen sein sollten, und griff tapfer zur Pinzette. Warum musste Babs auch ausgerechnet ein Chamäleon halten? Katzen waren doch auch ganz nett und vor allem kuscheliger. Was hatte sie nur an diesem Chamäleon gefressen? Vorsichtig öffnete er die Dose, erwischte tatsächlich eines von den Insekten mit der Pinzette und hielt es Predo hin. Der schnappte sich das Heimchen dann auch mit seiner dicken, klebrigen Zunge.
„Ist ja ekelhaft! Hast du das gesehen?“, entfuhr es Mic.
„Ihm scheint’s jedenfalls zu schmecken …“, entgegnete Richard, auch wenn seine Mine wenig Begeisterung verriet.
„Gib ihm noch eins“, forderte er Mic auf, der darauf die Heimchen-Dose wieder öffnete. Eines der Tiere geriet dabei auf seine Hand und vor Schreck ließ er die Dose fallen. Geschätzte 20 Heimchen witterten schnell die Freiheit und stoben in alle Richtungen auseinander. Offensichtlich strebten sie den dunkleren Teilen der Wohnung zu.
„Los, einfangen!“
Während Mic noch schreckensstarr auf die leere Dose schaute, ließ Richard sich auf die Knie fallen und erwischte auch direkt ein paar der Heimchen, die er wieder in die Dose beförderte.
„Mach schon, hilf mal mit! Die anderen sind glaub ich unters Sofa geflitzt.”
Mic versuchte, unter das Sofa zu schauen, aber es war einfach zu dunkel dort.
„Pass auf, ich schieb es weg und du fängst, ok? Auf drei. Eins … zwei … drei. Jetzt!”
Mic schob das Sofa mit Schwung weg und tatsächlich konnte Richard noch einiger Heimchen habhaft werden. Irgendwann beendeten sie ihre Jagd, Richard schüttelte sich vor Lachen.
„Jetzt musste ICH die Dinger fangen. Laut Babs war das eigentlich DEIN Job!“
Er saß auf dem Boden an das Sofa gelehnt und kriegte sich gar nicht mehr ein.
Mic ließ sich neben ihn fallen.
„Blöde Viecher. Zum Glück frisst Predo keine Schaben.”
Und dann plötzlich misstrauisch: „Tut er doch nicht, oder?“
„Keine Ahnung. Komm, lass uns noch das Gemüse einsprühen, dann sind wir fertig hier.“
Die beiden rappelten sich wieder hoch. Mic hob die Heimchen-Dose auf und wollte sie wegstellen, als sie ihm fast wieder aus den Händen gerutscht wäre. Diesmal war Richard aber schneller und fing sie auf. Dabei berührten sich ihre Hände einen Hauch zu lange und Mic fing einen kurzen, unsicheren Blick von Richard ein, der sich sofort abwendete und nach der Sprühflasche griff.
Mic, der unbewusst die Luft angehalten hatte, atmete hörbar aus.
„Warum war Jörn eigentlich nicht da?“, fragte Richard unvermittelt, während er sprühte, als wolle er den Ficus ertränken.
„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hat er es sich wieder anders überlegt und hält es nicht für nötig, mich darüber in Kenntnis zu setzen.“
„Bist du enttäuscht?“
Der Ficus tropfte inzwischen.
„Schon, ja, ein bisschen. Aber vor allem genervt. Sauer.”
Mic betrachtete Richard, wie er da stand, den Rücken zu ihm, und die Sprühflasche traktierte. Ohne groß darüber nachzudenken, nahm Mic ihm die Sprühflasche aus der Hand.
“Ich weiß nicht, ob Chamäleons schwimmen können.“
War es eben eine zufällige Berührung ihrer Hände gewesen, so war sie diesmal gewollt. Mic wollte ihn nochmal sehen, diesen Blick von eben … und den von Montag. Da hatte Richard ihn auch schon so angesehen.
Er zog Richard zu sich herum, aber er sah nicht das, was er erwartet oder zumindest gehofft hatte. Richard grinste.
„Was, Mic?”
Mic war für einen Moment sprachlos.
“Na sag schon, was willst du?”
“Ich …”
Mic fühlte sich schlagartig in der Defensive, als Richard nun seinerseits Mics Hände festhielt, und diesmal war es Mic, der sich von Richard löste.
Richard grinste noch immer.
„Das war es doch, was du wolltest, oder? Montag schon“, bemerkte Richard einen Schritt näher tretend, fast schon herausfordernd. Mic fühlte sich unsinniger Weise überrumpelt, wohl wissend, dass er selbst hier den Anfang gemacht hatte.
„Ich … ich weiß es nicht“, gestand er.
„Das sah aber eben noch ganz anders aus“, gab Richard zurück, während er Mic um die Hüften fasste und noch näher zu sich zog.
„Und bei dir klang das Montag noch ganz anders. Wie war das mit erst mal rausfinden, was mit Jörn ist?“
Was war das nur plötzlich mit Richard? Noch am Montag hatte er ihn auf Abstand gehalten, jetzt war es gerade eher umgekehrt. Mic war verwirrt, ratlos starrte er Richard an und wartete auf eine Antwort. Richard seinerseits lachte leise.
„Stimmt. Sieht ja aber nicht so aus, als kämest du in die Pötte, was Jörn angeht.“
Mic stierte Richard noch immer entgeistert an, wie ein Kaninchen vor der Schlange.
Ein Kuss.
In keiner Weise fragend oder zurückhaltend, eher ein wenig rau und fordernd. Mic ließ es geschehen, war in einem fast statischen Zustand, doch je heftiger und drängender Richard wurde, desto deutlicher spürte Mic, dass hier irgendwas falsch lief. Noch bevor er reagieren konnte, breitete sich das bekannte, schmerzhafte Ziehen in ihm aus, und Mic bekam ernsthafte Probleme zu atmen. Unbarmherzig und unaufhaltsam machten sich Bilder in ihm breit, überlagerten jede Realität. Mic war nicht mehr in Babs Wohnung, da war auch kein Richard mehr. Da waren nur noch Bilder, in die er hineingezogen wurde, bis er Teil des Films war, der vor seinen Augen ablief. Mic begann, um sich zu schlagen. Seine Hände wurden festgehalten, was die Panik nur noch verstärkte. Er wollte schreien, aber er konnte nicht, konnte es nie. Jede Faser seines Körpers schmerzte, er war festgebunden … Mic schloss die Augen. Er wusste, was jetzt kam … doch aus irgendeinem Grund geschah nichts.
Eine gefühlte Ewigkeit später drangen Wortfetzen in sein Bewusstsein.
„Ist ja gut …“, hörte er jemanden immer wieder sagen.
Mic öffnete die Augen und während er langsam in die Realität zurückkehrte, sah er Richard über sich, ihn festhaltend und aus der Nase blutend.
Noch ehe Mic Zeit hatte, die Situation vollends zu erfassen, spürte er, wie sich Flüssigkeit in seinem Mund sammelte und sein Mageninhalt die Speiseröhre hinauf drängte. Er versuchte, sich zur Seite zu werfen, doch Richard schien seine Bemühungen falsch zu verstehen und hielt ihn nur noch fester. Fast lag er auf Mic, geschätzte 20 kg schwerer als selbiger. Erst als Mic wirklich begann zu würgen, sprang Richard auf, ließ Mic los, so dass der erste Schwall gerade noch neben dem Sofa landete. Irgendwie schaffte Mic es dann ins Bad, konnte gar nicht mehr aufhören, sich zu übergeben.
Am Rande hörte er Richard fluchen, während Mics Magen sich immer wieder zusammenkrampfte und Magensäure nach oben beförderte. Die Anstrengung dabei trieb ihm Tränen in die Augen. Schemenhaft sah er, dass Richard ins Bad gekommen war und sich das Blut aus dem Gesicht wusch, seine Nase inspizierte und betastete.
Schließlich ließ das Würgen nach und Mic versuchte aufzustehen, merkte aber umgehend, dass das keine so gute Idee war. Ihm wurde sofort schwindelig, seine Beine gehorchten ihm nicht, und so ließ er sich wieder auf den Boden sinken.
Richard hielt ihm eine Hand hin, die Mic zögernd nahm, um mit Richards Hilfe zum Waschbecken zu gelangen. Das kalte Wasser tat gut.
„Tut mir leid, Richard“, murmelte er. „Tut mir so leid. Ich weiß gar nicht, wie …”
“Später”, wurde er unterbrochen. “Ich bring dich jetzt erst mal nach unten in deine Wohnung.”
Widerstandslos ließ Mic sich die Treppen runter in seine Wohnung aufs Sofa dirigieren.
„Ok, kommst du klar, jetzt im Moment? Brauchst du noch einen Eimer? Oder willst du ein Wasser oder irgendwas?“
Mic konnte verstehen, dass Richard jetzt weg wollte. Sein Gesicht war um seine Nase herum bereits angeschwollen. Immerhin blutete er nicht mehr.
„Sicher. Ich komm zurecht. Hör zu, im Eisschrank findest du einen Beutel crushed ice … und ich würd dir gern erklären …”
“Später, nicht jetzt!”, unterbrach Richard ihn diesmal fast hektisch.
Betreten schwieg Mic.
“Ich brauch ein paar Minuten für mich, ok? Ich geh eben rauf zu Babs und mach das Gröbste weg. Dann komm ich wieder, wenn du willst.”
Mic war erleichtert zu hören, dass Richard gar nicht weg wollte.
„Danke, aber das musst du nicht. Ich mach das später schon selbst weg.“
„Ist schon klar, dass ich das nicht muss, ich mach’s trotzdem. Also … soll ich nun wieder herkommen oder nicht?“
„Ja, bitte komm wieder. Nimm die Schlüssel mit, vorsichtshalber …“
Richard hielt etwas hoch, schüttelte klingelnd Mics Schlüsselbund.
„Bis gleich dann.“
Mic ließ sich nach hinten sinken und versuchte, sich ein wenig zu sammeln. Er hatte Richard ganz offensichtlich geschlagen. Dermaßen außer Kontrolle war er noch nie geraten, und das machte ihm ziemliche Angst. Wenn er jetzt anfing, in seinen seltsamen Zuständen andere zu verletzen, dann musste irgendwas passieren. So ging es jedenfalls nicht weiter.
Was war nur der Auslöser gewesen? Warum war das ausgerechnet jetzt passiert? Hätte das bei Jörn genauso geschehen können?
Seufzend ging er ins Bad, wollte eigentlich nur diesen üblen Geschmack im Mund loswerden, ging dann aber trotzdem nach dem Zähneputzen noch kurz unter die Dusche. Danach fühlte er sich etwas besser, ging in die Küche und kochte gerade Tee, als Richard die Wohnung wieder betrat.
„Ah, dir geht’s also besser. Hast sogar geduscht.“
“Ja. Willst du auch? Handtücher sind …”
“… im Schrank, ich weiß. Seit Montag kenn ich deinen Haushalt ganz gut, glaub ich. Gut, dann geh ich auch schnell duschen nach der Putzorgie grade …“
„Du hättest das wirklich nicht tun müssen, Richard.“
Der lächelte nur.
„Ich weiß.”
Damit verschwand er im Bad.
Mic suchte eine bestimmte CD. Er wusste genau, was er jetzt hören wollte: die 24 Präludien von Chopin. Von einem Gefühlsextrem ins nächste gerissen war das genau die richtige Musik für ihn. Mit einer Tasse dampfendem Roibush-Tee faltete er sich auf dem Sofa zusammen und lauschte der Musik und in sich hinein, versuchte, sich zu sortieren. Wie sollte er das erklären, was passiert war? Diese plötzliche Panik, die ihn geradezu eingesogen hatte in ein Geschehen, dass schon so viele Jahre her war … wie sollte er das nur vermitteln? Er dachte wieder an Richards Nase und schämte sich.
Völlig vertieft in seine Gedanken schrak er zusammen, als Richard nur mit einem Handtuch um die Hüften unvermittelt in seinem Blickfeld erschien. Richard wiederum ging sofort einen Schritt zurück.
„Entschuldige …“, beeilte sich Mic zu sagen.
„Ich hab dich nicht kommen hören.“
„Schon gut. Ich hab dich gerufen, aber du hast wohl nix gehört, hm? Meine Klamotten … na ja, sie stinken irgendwie nach dem Putzen. Ich wollt dich fragen, ob du irgendwas hast, das mir passen könnte.“
Mic stand auf.
„Wird sich schon was finden. Komm mit.”
Mic suchte aus seinem Schrank eine von seinen Schlabberhosen und ein Sweatshirt, das ihm eigentlich zu groß war.
„Meinst du, das geht? Meine Jeans dürften dir nicht passen …“
Richard nahm die Kleidungsstücke, warf das Handtuch aufs Bett und zog sich Hose und Shirt über. Mic, der ihn dabei beobachtete, schluckte.
„Perfekt. Danke“, lächelte Richard.
“Ja. Ehm … magst du Roibush-Tee?”
“Mag ich. Mit Zucker und Sahne am liebsten.”
Jetzt konnte auch Mic lächeln.
“Wie ich. Komm, steht alles drüben.”
Die beiden gingen also in Mics Wohnzimmer. Richard machte es sich Mic gegenüber in einem Sessel bequem und sah ihn geradeheraus an.
„Also? Ich höre. Was war das eben?”
Das klang in Mics Ohren zwar nicht andeutungsweise vorwurfsvoll, aber sehr ernst. Fast glaubte er, diesen forschenden Blick nicht ertragen zu können. Es war völlig klar, dass das, was sich eben in Babs‘ Wohnung abgespielt hatte, einer Erklärung bedurfte, aber er wusste noch immer nicht, wie und wo er anfangen sollte. Beklommen spürte er, wie sich schon wieder Tränen den Weg in seine Augen bahnten. Mic begann, diese Heulerei zu hassen.
„Hat was mit meiner Geschichte zu tun“, brachte er endlich heraus.
Richard rührte in seinem Tee, ohne Mic aus den Augen zu lassen.
„Ja, das denk ich mir wohl. Aber … du bist eben total ausgerastet und hast wie ein Irrer um dich gehauen.“
„Das hab ich selbst gar nicht so mitbekommen. Willst du nicht doch Eis auf die Nase tun?“
„Nee, lass mal. Sag mir lieber warum, Mic? Ich mein … ich hab doch nix gemacht, oder? Ich hab dich geküsst … so wie du das Montag bei mir versucht hast. Wenn du das nicht wolltest, hättest du es einfach sagen können, statt mir direkt eins auf die Nase zu geben.“
„Es tut mir leid. Ehrlich. Ich hab gar nicht gemerkt, was ich tu.”
Sie schwiegen eine Weile, tranken an ihrem Tee.
Richard räusperte sich, er sah niedergeschlagen aus.
„So kommen wir nicht weiter. Kannst du nicht ein bisschen mehr dazu sagen?”
Mic schloss die Augen.
“Ich war wie in einem Film gefangen, gar nicht mehr richtig hier.“
„Ein Flashback also.”
Erstaunt sah Mic auf.
„Woher …“
„Was denn? So blöd bin ich dann doch nicht, dass ich das nicht kapieren würd. Die Sache, zu der es keine Ultrakurzversion gibt, hm?“
„Ja, genau.“
„Hast du mal drüber nachgedacht, mit einem Therapeuten oder so darüber zu reden?“
„Babs hat mir Adressen ausgedruckt, aber … ich weiß nicht, ob ich darüber reden kann. Und will.“
Richard setzte sich auf, wirkte fast schon erschrocken.
„Heißt das, du hast noch nie mit jemand darüber gesprochen? Das ist doch nicht wahr, oder?“
„Doch, ist es“, nuschelte Mic.
Richard schüttelte heftig den Kopf.
„Ich fass es nicht. Du bist ja `ne tickende Zeitbombe. Meinst du nicht, es wird Zeit, endlich mal den Mund aufzumachen?“
Eine tickende Zeitbombe … war er das? Mics Blick blieb an Richards geschwollener Nase hängen.
„Vermutlich hast du Recht. Das ist jahrelang gut gegangen und jetzt holt mich das alles wieder ein irgendwie.“
Er zündete sich eine Zigarette an und sah dabei seine Hand zittern. Spüren tat er es nicht, das Zittern.
Richard nahm seine Tasse und setzte sich neben Mic aufs Sofa, ebenfalls mit Zigarette.
„Ok, Mic. Irgendwann musst du mal anfangen. Also los. Was ist passiert?“
“Oh Scheiße. Bist du sicher, dass du das hören willst?“
Richard lächelte, sagte leise: „Weißt du, mir ist schon klar, dass ich jetzt keine schöne Story zu hören bekomm. Und ich würd nicht fragen, wenn ich‘s nicht hören wollte, ok?“
Ein tiefer Zug an der Zigarette.
„Also gut. Ich versuch‘s.”
Richard lächelte ihn an, nickte ihm ermutigend zu.
„Ok. Also … da war mal jemand, in den war ich ziemlich verknallt. Bernd. Unser Jugendgruppen-Leiter …“
Schon nach diesem ersten Satz geriet Mic ins Stocken.
„Wie alt warst du da?”
„14.”
„Und er?”
„10 Jahre älter.”
„Ist es ok, wenn ich nachfrag?“
Mic bejahte das sofort.
„Hilft sogar.“
“Gut. Was war das für `ne Jugendgruppe? Sportverein? Pfadfinder? Oder was?”
“Nein. Heute würd man glaub ich OT sagen. Keine Ahnung. Katholisches Jugendheim eben. Viel mehr gab‘s da nicht, wo ich herkomme. Ist eben ein kleiner Ort. Freunde treffen, Billard oder Kicker spielen, Musik hören, mein Gitarrenkurs, zwei Mal im Monat Disco, ein paar Projekte. So was halt.“
„Ok, verstanden, I got the picture. Und dieser Bernd hat da die Jugendarbeit gemacht?“
„Viel davon. Der einzige Hauptamtler da. Da gab es auch so ein Anti-Gewalt-Projekt, mit Tanzen und so, das hat er geleitet, und da hab ich mitgemacht. Bernd war so … der war lustig, hatte immer so tolle Ideen und hat mich Verantwortung für kleine Teilbereiche übernehmen lassen. Das hat mir gut getan damals, der Selbstsicherste war ich nämlich nicht gerade. Ich konnte mich super mit ihm unterhalten und ich fand, er sah einfach toll aus. Groß, blond, grüne Augen, eine tolle Figur, also für meinen Geschmack zumindest.“
Mic seufzte tief, als er an diese Zeit dachte.
„Ich hab mich damals ziemlich gequält damit, ihn so toll zu finden. Und ich wollte schon gar nicht, dass das jemand merkt. Ich hab echt gehofft, das würde keiner mitkriegen, dabei bin ich, glaube ich, jedes verdammte Mal rot geworden, wenn Bernd mir in die Augen gesehen hat. Und das hat er immer öfter gemacht. Der hatte ziemlich schnell raus, was mit mir los war. Auf jeden Fall vor mir, da bin ich mir sicher.“
Richard grinste.
„Rot werden kannst du immer noch gut. Egal jetzt. Wie ging es weiter? Lief was mit dem Typen?”
“Ja, irgendwann lief da was, wenn du es so nennen willst. Ich war öfter bei ihm zu Hause. Nur wegen des Projekts natürlich. Und irgendwann … ach, egal. Jedenfalls war da was. Gar nicht so viel, aber hat gereicht, um mich auf rosa Wölkchen zu setzen.“
„Du warst 14, er dann ergo 24? Und dein Gruppenleiter? Das ist doch …”
“Ja und? Ich war eben ziemlich verknallt. Da hab ich über sowas nicht nachgedacht”, glaubte Mic sich verteidigen zu müssen.
“Nicht du. Der hätte mal sein Hirn einschalten sollen. Was wollte der den schon von dir? Poppen? Ich mein, was weiter will so ein 24-Jähriger von einem 14-Jährigen?”
Mic zuckte die Schultern.
„Gepoppt, wie du es nennst, haben wir jedenfalls nicht.“
„Aber Sex hattet ihr schon? Oder nicht?“
“Doch, ja … aber ich konnte eben auch gut mit ihm reden. Und irgendwie hat mir das alles auch gut getan, erst mal zumindest. Was aber echt schwierig war: Ich konnte mit keinem Menschen über ihn sprechen. Durfte ja keiner wissen, was da lief. Immer verstecken und in der Gruppe, wenn die anderen dabei waren, war Bernd auch plötzlich komisch zu mir. Total auf Abstand. Noch nicht mal Danni konnte ich davon erzählen, und die war damals meine beste Freundin. Ihr hätt‘ ich glaub ich alles erzählen können, wenn es nicht ausgerechnet Bernd gewesen wäre. Das hat sich damals ziemlich mies angefühlt. Da war ich das erste Mal verliebt und es war immer so, als wär es was Verbotenes, Schmutziges …“
Mic machte eine Pause, versunken in diesen Erinnerungen. Ja, nach ein paar Wochen hatte sich das alles nicht mehr so toll angefühlt wie im ersten Moment.
Richard berührte ihn am Arm.
„Mic? Da hattest du ganz schön was zu schleppen, das glaub ich. Das war sicher nicht so easy, aber das war doch nicht alles, oder?“
„Nein. War es nicht.“
Mic rang nach Worten. Noch nie hatte er versucht, das, was dann geschehen war, in Worte zu fassen. Am liebsten hätte er sich jetzt seine Joggingschuhe angezogen und wäre gelaufen. Einfach laufen, bis zur völligen Erschöpfung. Nichts mehr spüren müssen, das wollte er. Stattdessen saß er neben Richard, dem er eine blutige Nase verpasst hatte, und der wartete. Die Angst davor, weiterzureden, nahm Mic regelrecht den Atem.
Richard rückte vorsichtig ein kleines Stück näher und hielt ihm mit fragendem Blick seine offenen Arme hin. Mic nickte nur, drehte sich und lehnte sich mit dem Rücken an seine Brust. Richards Arme schlossen sich um ihn und wie schon am Montag fühlte es sich gut an, seine Arme schwer auf sich zu spüren, sich anlehnen zu können. Für einen Moment schloss Mic die Augen, genoss das sichere Gefühl dieses Augenblicks.
„An einem Freitag, als wir mal wieder heimlich in seiner Wohnung verabredet waren, hab ich sofort gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt. Bernd war sauer und hatte eine Fahne und war überhaupt wie ein anderer Mensch. Hat mich am Arm gepackt und mir wie irre seine Kündigung vors Gesicht gehalten und gefragt, warum ich das gemacht hab. Dabei hatte ich gar nichts gemacht …“
„Moment, Mic, heißt das, ihr seid aufgeflogen?“
„Ja. Keine Ahnung wie oder durch wen, aber ja.“
„Und was haben deine Eltern dazu gesagt?“
„Meine Eltern??? Wie kommst du jetzt auf die?“
“Na die werden das doch erfahren haben. Wie haben die reagiert? Haben die den Typen angezeigt oder was?”
Jetzt verstand Mic und lachte hart auf.
“Nein, die haben das nie erfahren.”
„Wie bitte? Das kann doch nicht sein …“
“Doch, doch, kann es. Bei der Kirche hielt sich das Interesse, die Sache an die große Glocke zu hängen, in Grenzen. Ich hatte später ein nettes Gespräch dazu.“
„Das ist … unglaublich …“
Der vermeintlich ungläubige Ton in Richards Stimme ließ Mic hoch- und herumfahren.
„Du glaubst mir nicht …“
Richard zog ihn mit einer ruhigen Bewegung wieder zu sich.
„Doch, Mic, jedes Wort. Ich find‘s nur zum Kotzen …”
“Wenn du das jetzt schon zum Kotzen findest … es kam nachher noch dicker für die Kirche, ohne dass jemand reagiert hätte. Aber das später.“
Mic fühlte, wie Richard ihn kurz an sich drückte.
„Ok, red‘ weiter. Dieser Bernd war stinkig, richtig? Und hat dir die Schuld für seine Kündigung gegeben?“
„Er dachte, ich hätte irgendwem von uns erzählt. Ich hab keine Ahnung, wie er darauf kam, aber er hatte sich da richtig reingesteigert. Der war wie irre. Ich lag auf dem Bauch, bevor ich überhaupt kapiert hab, was da abgeht. Die Dinger, mit denen der mir die Hände auf den Rücken gebunden hat, hab ich erst nachher gesehen. Und so `ne Rolle Gewebeband, sowas hatte ich über dem Mund … Lass mich los, ich muss …“
Mic sprang auf, um sich - diesmal rechtzeitig - über die eigene Kloschüssel zu hängen und den Roibush-Tee wieder auszuspucken. Es dauerte eine Weile, bis nichts mehr aus seinem Magen nach oben zu drängen schien und an Aufstehen zu denken war. Richard war neben ihm und dirigierte ihn wieder zum Waschbecken, drehte das kalte Wasser auf. Als Mic dort in den Spiegel sah, erschreckte er sich.
„Tut mir leid, Richard, ich kann das nicht erzählen …“, hörte er sich selbst schluchzen und Richard umarmte ihn sachte.
„Das musst du auch nicht“, sagte er ungewöhnlich sanft und Mic bemerkte, wie sein Rücken gestreichelt wurde, was sich gut anfühlte, besonders angesichts der Leere, die er in sich wahrnahm. Mic fühlte sich einfach nur leer und eine dumpfe Müdigkeit breitete sich in ihm aus.
„Ich bin plötzlich hundemüde …“, gestand er also, und Richard strebte entschieden mit Mic im Arm zum Schlafzimmer. Mic ließ sich aufs Bett fallen, Richard öffnete ein Fenster. Frostige Luft strömte ins Schlafzimmer, saubere, klare Winterluft. Es roch nach Schnee. Der nächste Sonntag war schon der erste Adventsonntag, ging es durch Mics Kopf. Er schlüpfte unter die Decke und atmete tief ein, während Richard am Fenster stand und schweigend hinausblickte.
Diese reine Winterluft war Mic mehr als willkommen. Damals hatte er Stunden in der Badewanne zugebracht in dem Bedürfnis, es loszuwerden, dieses schmutzige Gefühl. Weggegangen war es allerdings nie. Sicher, es war nicht immer im Vordergrund, aber dennoch stets an seiner Seite. Das und das Gefühl, schuld zu sein an all dem …
„Richard? Magst du … ich meine … würdest du ein bisschen zu mir kommen?“
Richard wirbelte herum, sah Mic fragend an.
Die Vorstellung, sich jetzt allein durch die Nacht quälen zu müssen, machte Mic Angst. Er wusste, er würde grübeln, sich dabei im Kreis um sich selbst drehen und nicht abschalten können – trotz dieser bleiernen Müdigkeit.
„Ich mag jetzt nicht allein sein“, gestand Mic. „Musst du unbedingt nach Hause?“
Richard schloss das Fenster. Seine Mine verriet Ratlosigkeit.
„Nein, muss ich nicht, aber ich muss morgen früh raus.“
„Ich doch auch.“
Nach einer Weile des Zögerns und Schweigens wedelte Richard mit den Händen.
„Ok …? Ok. Dann rück mal ein Stück.“
Dankbar kuschelte sich Mic an Richard, klammerte sich regelrecht fest. Ein paar Minuten lang lagen sie einfach nur da, dann hörte Mic Richard leise fragen: „Du hast den Typen nie angezeigt, oder?“
„Nein. Ich hab keinem davon erzählt. Das hätte ich nicht gekonnt. Ich kann’s ja jetzt nicht mal …“
Mic dachte wieder an die Therapeutenliste, die Babs ihm gegeben hatte. Der eigentliche Grund, warum ihn der Gedanke daran so erschreckte, war die Angst, dann alles erzählen zu müssen, denn immer, wenn er sich gedanklich den Ereignissen jenes Tages näherte, überfluteten ihn Bilder und vor allem Gefühle, die er nicht wollte. Eine Körperwahrnehmung, die er einfach nie wieder haben wollte.
„Außerdem war eine Anzeige nicht nötig“, schloss er, berührte vorsichtig Richards Nase. „Das tut mir so leid. Soll ich dir nicht doch Eis holen?“
„Nein, schon ok. Aber ich würd dich gern was fragen.“
„Dann frag.“
„Diesen Flashback eben, den hab ich ausgelöst. Womit? Kannst du sagen, was das war? Einfach nur, weil ich dich geküsst hab?“
Mic seufzte. Wie sollte er etwas erklären, das er selbst nicht so ganz verstand?
„Ich glaub es lag eher daran, wie du mich geküsst hast. Ich hab nicht damit gerechnet, war irgendwie … überrumpelt. Ich weiß auch nicht genau.“
„Du hättest sagen können, dass du das nicht wolltest.“
„So ist es aber nicht.“
Richard drehte sich zur Seite, stützte den Kopf in seine Hand.
„Was ist nicht wie? Ich werd einfach nicht schlau aus dir. Was willst du denn jetzt?“
Mic ging auf, dass er sein Gegenüber sehr verunsichert hatte. Kein Wunder, eigentlich. Was sollte er denn jetzt antworten? Und während sein Verstand noch versuchte, die Situation zu analysieren und sich eine adäquate Antwort zu überlegen, reagierte ein anderer Teil in ihm ganz spontan, küsste Richard und brachte damit den Verstand zu Schweigen.
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